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Die Beschaffenheit des Bodens hatte gewonnen, seit Kontrolleur Hendricks in die Gegend gekommen war. Er hatte eine für die Inländer vorteilhafte Verlegung der Rieselkanäle durchgesetzt, dem heftigen Widerstand de Bakkers zum Trotz, der das Wasser für seine Rohrplantagen brauchte und begehrte und der alles daran gesetzt hatte, um die alten Leitungen zu erhalten, indem er die Behörden der Dessas heimlich bedrohte oder bestach und die Regierung mit Gesuchen bestürmte, in denen der Untergang der Zuckerindustrie und demzufolge auch der der gesamten einheimischen Bevölkerung prophezeit wurde. Tag für Tag hatte er während der Saat- und Pflanzzeit auf den Feldern verbracht, um durch seine Gegenwart die äußerlich fügsamen, aber innerlich widerspenstigen Inländer dazu zu zwingen, daß sie die Vorschriften befolgten, die sie eine zweckmäßigere Art des Ackerbaus lehrten als die, welche sie von ihren Vätern übernommen, so daß der besser bearbeitete Boden reichere Frucht gegeben. Die Ernte der zweiten Gewächse war in diesem Jahr besonders gut gewesen. Nichtsdestoweniger dachten die meisten in der Dessa besorgt an das kommende Reishalbjahr, die üppige und doch karge Zeit, während der alles wächst und nichts reif ist; sie hatten von der überflüssigen Ernte nicht viel gehabt oder behalten; die Steuer hatte davon bezahlt werden müssen und alte Schulden, die durch Wucherzins auf Wucherzins gewachsen waren. Viele auch hatten ihren Mais »Kotella« Kotella = eine mehlige Frucht, wie eine süß schmeckende Kartoffel. und »Katjangbohnen« ganz billig an die Aufkäufer abgegeben, die im Dienst der Chinesen von Kaliwangi und mit einer Schnellwage und einem vollen Geldsack auf ihrem Karren an den reifen Feldern entlang fuhren. Sie wußten wohl, daß diese Männer Lockfinken des listigen Handelsmannes waren, frühere Schuldner, die jetzt, ob sie wollten oder nicht, andere in den Schlag hineinpfeifen mußten, in dem sie selbst gefangen saßen: aber das blinkende Geld hatte sie so bestochen, daß sie die Arbeit der heißen Monate, die Notdurft der Regenzeit und all' ihre schlimmen Erfahrungen darüber vergessen hatten. So waren denn die meisten in Not, jetzt da es galt Reissaat zu kaufen und Büffel zum Pflügen der »Sawahs« zu mieten.
Wer nicht zum Chinesen gehen wollte oder zu Said Mohamad, der wegen seiner unmenschlichen Hartherzigkeit noch mehr gefürchtet wurde als der andere wegen seiner List, versuchte es bei einem der wenigen wohlsituierten Dorfbewohner.
Er legte seine besten Kleider an und lud den Reichen zu einer Mahlzeit ein. Dieser wußte, was das zu bedeuten hatte; er dankte für die Aufforderung, wenn er nicht helfen wollte. Nahm er an, so war der andere glücklich; seine Frau ging ans Kochen und Braten und borgte sich hier einen Teller, da eine Schüssel, dort eine hübsche Matte. Nach Ablauf der Mahlzeit, wenn der Gast und der Gastgeber zusammen eine Strohzigarre rauchten, wurde dann gefragt und gegeben. Die Familie war der Not enthoben bis zu dem Augenblick, da das Gegebene zurückgefordert werden würde; das war noch lange hin, niemand dachte daran.
An Tagen, da in der Umgegend Passar gehalten wurde, wimmelte es in der Dessa und auf der Landstraße von Frauen, die Früchte von ihrem Grundstück, Kuchen und andere Süßigkeiten und Wannen voll auseinandergezupfter Blumen und fein geschnittener stark duftender Blätter zu Markte trugen. In einer langen Reihe hintereinander hergehend, sprachen sie unterwegs darüber, ob es wohl möglich sein würde, soviel dafür zu fordern, daß es mit dem Verdienst der vorigen Woche und dem, was noch dazu käme, wenn ein Stück Haus oder Feldgerät ins Pfandhaus getragen wurde und mit ein wenig zufälligem Glück, reichen würde zu einer Kabaja aus Zitz oder einem hübschen Kopftuch. Es gab manchmal Enttäuschungen, aber doch verloren sie den Mut nicht; sie hatten noch ein paar Wochen Zeit, und in ein paar Wochen kann sich viel Glückliches ereignen.
Die Abende, die während der ermüdenden Arbeitsmonate so still sind in der Dessa, waren jetzt voll fröhlichen Lärmens. Gelächter und Stimmen erklangen von einem Grundstück zum andern über die duftenden Hecken hinüber, und hier und dort die schrill süße Weise einer Flöte. Männer und Mädchen sangen einander »Pantoens« zu: scherzende Liebeserklärungen und Neckereien.
»Woher kommt der Blutegel? aus dem Bach kam er in den Wasserkrug.«
»Woher kommt die Liebe? aus den Augen kam sie in das Herz.« Das gleichmäßige Rauschen des Regens mit dem Stakkato einzelner schwer niederschlagender Tropfen klang als Begleitung und Antistrophe der Melodie. Ruhig und in zufriedener Empfänglichkeit lagen die Menschen und die Felder unter dem milden Regenhimmel, Kraft trinkend für die Zeit der schweren Arbeit und der Erzeugung hundertfältiger Frucht.
Über dieses Leben in der Dessa versuchte van Heemsbergen, der seit seinem Gespräch mit Ada ab und zu dort hinkam, so viel in Erfahrung zu bringen, als er für seine Arbeit nötig erachtete. Er arbeitete mit großem Eifer. Die anhaltende Anstrengung erhielt ihn elastisch, und die Befriedigung über neue Klarheiten, die er schuf, und neue Zusammenhänge, die er in seinem Thema entdeckte, und die Sicherheit auf wissenschaftlichem Gebiet, zu der er allmählich gelangte, brachten es zuwege, daß er das Fehlen jener anderen Befriedigung und jener anderen Sicherheit, die ihm erst so vollkommen unentbehrlich erschienen war, nicht mehr so intensiv empfand.
Das Verlangen danach war nicht geringer geworden, aber es war gleichsam verschwunden, versunken in eine Tiefe seines Wesens, von wannen es den Weg in das alltägliche Leben nicht mehr zurückfinden konnte. Er wollte nicht mehr daran denken und mied mit beinahe ängstlicher Sorgfalt alles, was ihn auch nur im entferntesten daran erinnern konnte: den Umgang mit de Bakkers, Gespräche über die Zeit auf Kalimas, den Prozeß Heuvelink und sogar bei Spaziergängen mit Ada die Wege, die nach dem Walde führten, so oft sie auch dorthin gewollt hatte, um das Bildnis der Göttin zu sehen, dem die Dessaleute, wie sie wußte, Blumenopfer darbrachten.
Nichtsdestoweniger empfand er noch immer das Bestehen dieses zurückgedrängten Verlangens, so wie jemand, der in einem abgelegenen Gemach seines Hauses heimlich einen Gefangenen eingesperrt hält, dessen Anwesenheit empfindet durch seine scheinbar ruhigen Tage und Nächte hindurch; stets mußte er auf seiner Hut bleiben, daß es nicht zum Ausbruch käme und ihn wieder überwältigte, so wie in jener Nacht im Walde. Er kam nicht dazu, das Glück zu genießen, das so still und weit um ihn her lag, wie die stillen weiten Lüfte um die Hügellande.
Am schärfsten fühlte er das, wenn er mit Ada zusammen war; zwischen sich selber und ihr empfand er jenes Geheimnis seiner Seele wie eine Trennung, und wenn er sie auch noch so sehr in all' sein übriges Denken und Empfinden hineinzog, es half nichts. Sogar darin blieb eine Trennung, ein Abstand, ein Unterschied, sodaß es ihm oftmals erschien, als ob sie neben und mit ihm gehend, auf demselben Fleck Erde und unter denselben Verhältnissen, doch in einer anderen Welt sei, umgeben von anderen Dingen als die, welche er sah.
Sie half ihm bei seiner Arbeit und dem Sammeln und Zusammentragen von allerlei Details bezüglich des Lebens in der Dessa, die sie durch den täglichen Umgang mit den Eingeborenen erfuhr; und jedesmal wieder frappierte es ihn, wie anders sie dem gegenüber stand als er selber. Er suchte nur die Tatsachen in ihrer relativen Bedeutung: sie dachte stets an die Menschen, die diese Tatsachen angingen, und an die Art und Weise, wie sie sie empfanden, sodaß, wenn er von Bestimmungen hinsichtlich der Bewässerung sprach, sie sich über Wirja bekümmert fühlte, dessen Feld, wie dieser fürchtete, bei dem neuen System zu viel Wasser bekommen würde. Oder wenn er ein Beispiel suchte, an dem er die alten Erbrechtgesetze klarmachen könnte, sie ihm von der Eintracht in der Familie Masanis erzählte, wo der jüngste Bruder alles geerbt habe, aber wo sich alle in alles teilten, sowohl in die Arbeit wie in den Ertrag. Er nannte sie wohl manchmal »kleine Sentimentale« wegen dieser übermäßigen Empfindsamkeit dem Inländer gegenüber und jener Neigung, alle sachlichen Dinge zu persönlichen zu machen, die er echt weiblich und unlogisch nannte. Aber doch schien es ihm oft, als käme sie auf diese Weise dem Kern der Dinge näher, als er ihm jemals gewesen war. Wenn er ihre Auffassungen mit den seinigen verglich, so hatte er das Empfinden, als ob sie tatsächlich griffe und festhielte, während er, wie ein Mensch, der in einen Spiegel schaut, links nach dem Bilde tastete, das sich rechts befand. Und dann fragte er sich verwundert, wie dieses junge unerfahrene, träumerische Mädchen wohl diese Sicherheit gewinne in dem ihm, dem Manne, stets wieder von neuem entgleitenden Leben. Sie trat ein, dort, wo ihm eine Leere zu sein schien; und sogleich war es da voll und reich. Durch ein Wort, das sie ganz einfach aussprach über irgendein ganz gewöhnliches Ding, wurde das Ding für ihn ungewöhnlich, völlig neu. So wie er sich früher, ihre Briefe lesend, über das Leyden wunderte, in dem sie wohnte – es glich seinem Leyden, wie ein Palast dem Haufen von Brettern und Steinen gleicht, aus denen der Baumeister es zusammengefügt hat – so wunderte er sich jetzt über das Indien um sie her, indem er es mit dem Indien verglich, in dem er selber lebte.
Woher kam doch dieser plötzliche Reichtum, der entstand, wo sie war? – diese ungeahnte Kraft und Neuheit über allen Dingen, diese Frische, die über dem längst Verbrauchten lag? War er mit ihr, so schien es ihm, als gelange er aus Reflexen in die Wirklichkeit. Da, wo ein schwacher Schein gewesen, stand etwas Starkes und Schweres, eine Tiefe tat sich unter der Oberfläche auf, aus einem Umriß ward ein Körper, aus einer Hohlheit eine Fülle, alle Dinge gewannen neue Proportionen. Er hatte bisher Menschen, Zustände, Handlungen, Sitten als das genommen, was sie zu sein schienen, und als etwas einmal Gegebenes, das aber im allgemeinen nicht viel Nachdenken und Interesse wert sei. Aber zu seiner Verwunderung kam ihm, wenn er mit Ada sprach, stets wieder die Empfindung von etwas sehr Wunderbarem und Herrlichem hinter alledem, von einem kräftigen schönen Sinn sogar in den Konventionen, einer Auslegung von unbedeutenden Handlungen, die ihnen den Wert von Taten verlieh, vollführt unter einem heilsamen Gesetz, das alles Leben regierte.
In Ada – er ahnte das, ohne es zu verstehen – war dieses Bewußtsein beständig; sie kannte die Übereinstimmung und den Zusammenhang der Dinge, sie stand in vollkommener Gewißheit. In Mußestunden, wenn die Springflut der stolzen Kraft, die seine Arbeit aus den Tiefen in ihm emporzog, wieder verebbt war, fühlte er seine eigene Armut im Vergleich zu diesem ruhigen Überfluß. Namentlich in der Dämmerung war das so, wenn sie, zusammen auf den hölzernen Stufen der kleinen Vordergalerie sitzend, sahen, wie es zu dunkeln begann zwischen den Sträuchern, und die emporstrebenden Blätterbüschel der Palmenbäume, die am längsten noch einen matten Schein aus dem langsam sich verfärbenden Westen aufgefangen hatten, verblaßten und in aufsteigendes Grau zerflossen, während die Geräusche menschlichen Lebens ringsum erstarben, eines nach dem andern – ein verspäteter Karren, der in der Ferne knarrte, eine Stimme, die rief, und eine, die antwortete. Diese Dämmerstunde, die er halb haßte, halb fürchtete wegen des Verschwindens all der äußerlichen Dinge, an deren Widerstand er seine eigene Kraft maß, war ihr lieb. »Jetzt ist alles gleich,« pflegte sie dann zu sagen. Sie vermochte nicht recht zu antworten auf seine Frage, was sie denn eigentlich mit diesen unklaren Worten meinte; sie geriet in Verwirrung und schwieg mit einem halb glücklichen, halb verlegenen Lächeln.
Er erriet, was in ihr war – das Bewußtsein, daß für kurze Zeit keinerlei Gegensätze mehr existierten, keine Trennung, keine Härte, daß die ganze wirre Welt zur Ruhe und zu sich selber gekommen still dalag in der steigenden Flut jenes unnennbaren ewigen Einen, darauf die Sterne treiben neben dem allergeringsten und schwächsten Augenblickswesen. Ihre Hand in der seinen haltend, fühlte er sie doch unerreichbar weit von sich entfernt. Er hätte vor ihr auf die Knie fallen und sie anflehen mögen, nicht so von ihm zu gehen, ihn zu sich zu nehmen, ihm zu helfen. Aber wie hätte sie ihn wohl begreifen können – ihn, der selber nicht begriff, welcher Art die Hilfe war, deren er bedurfte?
Es war Anfang Februar. Auf den Äckern war die Arbeit in vollem Gange, und auf den Zuchtbeeten wurden die jungen Schößlinge mit jeder Stunde höher und grüner.
Solange die Saat bloß und klein in den offenen Furchen gelegen, hatten die Kinder der Dessa sie gegen die Vögel bewacht, die behenden Reisdiebchen, Reisdiebchen = kleine braune und rote Vögel, die zur Zeit der Reissaat zu Tausenden auf die Felder niederstreichen. die in ganzen Wolken aus der Ebene, wo der Reis sehr grün und stark war, zu den Hügelfeldern hinaufgeflogen kamen.
Vor Morgengrauen gingen die Kleinen aufs Feld, vor ihren Vätern herhüpfend, die, mit dem Spaten oder dem leichten Holzpflug über der Schulter, die Büffel vor sich hertrieben, und gingen, um den Acker umzugraben und zu pflügen.
An den Wächterhäuschen, dick und dunkel auf ihren hohen Bambuspfeilern wie Nester von Wasservögeln im Schilf, standen die schwippenden Leitern aufgerichtet; sie kletterten hinauf und schlüpften durch die runde Öffnung in das Häuschen hinein. Dort drinnen schmiegten sie sich in die dunkle Enge wie junge Vögel ins Nest, die Näschereien, die ihnen die Mutter mitgegeben hatte – Reis, der in einem Säckchen aus frischen Blätterfasern gekocht war, Maiskuchen und klebrige Süßigkeiten – neben sich aufgestapelt zu bequemem Genuß, die eine Hand unter dem Kopf und in der andern das Seil, das eine Reihe von über das Feld gespannten Leinen in einem Knoten zusammenhielt. Bei jedem Ruck gerieten die bunten Lappen, die daran hingen, die Büschel Stroh, die Bambushalme in Aufruhr: und schwirrend schoß eine bräunlich-rosige Wolke von Reisdiebchen empor, während glänzend schwarze Krähen schwerfällig davonflogen. Die kleinen Wächter schauten aus dem dunklen Nestchen in den Himmel hinauf nach dem leuchtenden Weiß und Grau treibender Wolken, und sie fühlten, wie ihnen die Augen schwer wurden und wie sie zu blinzeln begannen; das Ziehen an dem Seil ging langsamer, setzte aus, hörte ganz auf; eine kleine braune Faust lag still im Sonnenschein vor dem Pförtchen. Dann rief von hier oder von dort ein Kamerad, der sich wach gehalten hatte, indem er immerfort dieselbe endlose Melodie vor sich hinsummte, und mahnte den kleinen Schläfer zum Erwachen, wenn die Reisdiebchen wieder zwischen den unbeweglichen Leinen niedergestrichen waren. Die hohen Stimmchen glichen so sehr dem Zwitschern der Vögel, daß, wer ferne stand, das eine für das andere hielt und erst horchen mußte, um zu unterscheiden.
Das Wetter war umgeschlagen.
Die graue Flut von Wolken, Nebel, Regen und Dunst, die wochenlang steigend und fallend die Hügel umspült hatte, wie ein dünner Ozean mit lautlosen Wogen um die Schiffe einer verstreuten Flotte, wich einem plötzlichen Sturm aus dem Osten. Die Sonne brach durch, das triefende Land leuchtete, die Gipfel der Berge hoben sich fein und hell wie Edelsteine von dem immer klarer werdenden Horizont ab. Aus der kurzen Abenddämmerung tauchten die Sterne auf wie aus einem Bade, feuchtglänzend. Das Siebengestirn, das die Javaner »den Bambus« nennen, wegen der Fülle seiner hervorsprießenden Strahlenbündel, die es am dunklen Himmel ausbreitet zur Zeit, da auf den Bergen der Wald voll neuer Triebe steht und die Ebene grün wird von sprießendem Kraut, leuchtete auf halbem Wege zu seinem Höhepunkt. Und über die östlichen Berge emporgestiegen, stand das große Bild, das am javanischen Himmel das Zeichen der Zeiten ist, der Verkünder der Sonnenjahreszeit am Morgenhimmel des Juli, der Anführer der Regenmonate am abendlichen Januarhimmel, Horion, »der Pflüger«, der das ackerbauende Jahr regiert.
Vor zwei Monaten, als die Ernte der zweiten Gewächse eingeholt war, hatte er seinen Pflug umgekehrt liegen lassen am westlichen Rande des Himmelsfeldes, zum Zeichen, daß die Arbeit abgetan, und war gegangen. Und so lange er fort blieb aus dem Himmel, blieben auch die Menschen aus dem Felde fort.
Aber nach wenigen Wochen waren seine Vorboten wieder erschienen.
Der fliegende Oktobersturm voran. Durch Himmel, die der Blitz bläulich-weiß aufflammen ließ, aus denen der Donner losbarst mit einer Gewalt, als springe das ganze Himmelsgewölbe auseinander, kam er dahergeschossen, ein von Staubwolken umwirbelter Renner, brüllend.
Darauf der West-Monsun, der Wasserträger, der keuchend und beschwitzt, Regenstrahlen wie triefendes Haar ums Gesicht, aus der See ihm entgegeneilte, gebeugt unter seinem Joch, mit übervollen Wolkeneimern, aus denen er die Regenflüsse über das triefende Land ausgoß.
Und endlich das lichte Sternengewächs, der »Bambus«, das gleich einer üppigen Pflanze dem reich getränkten Boden wie ein Zeichen bevorstehender Fruchtbarkeit dem wolkigen Himmel entsproß: es näherten sich bereits seine Schritte.
Denn da erschien schon über den östlichen Bergen sein langsam daherschreitendes Gespann, der gewaltige Büffel links, rechts die kleine Kuh und mitten zwischen ihnen die leuchtende Spitze der schräg emporragenden Pflugnase. Das helle Pflugmesser blitzte auf. Und jetzt erhob sich und stand auf den Höhen der himmlische Ackersmann selber. Sein strahlendes Auge maß die unabsehbare Furche: an seinem Fuße, zu rotem Sternenglanz verherrlicht, blutete die Wunde des Landmannes, der sein Tagewerk in der überschwemmten »Sawah« verrichtet. Während des Pflügens der überschwemmten Felder bekommen die Landleute oft Wunden und Geschwüre an den Füßen. Und die lange Nacht hindurch trieb das Sternwesen seinen Sternenpflug, von Sternen gezogen, durch das bläulich schwarze Himmelsfeld und durchwatete Mondenglanz und Wolken und dämmerige Klarheiten, während es die unendliche Furche schnitt, die sich vom Osten nach dem Westen hinzieht.
Dann, wenn vor den Hufen seines Gespanns der schwarze Acker bleicher ward und er in seinem Nacken die Kühle fühlte, die dem Morgengrauen vorangeht, hörte er mit der Arbeit auf und legte sich schlafen auf den westlichen Bergen.
Vom roten Morgenlicht geweckt, erhoben sich die Pflüger der Erde.
Sie holten die Büffel aus dem Kraal, wo sie warm und schläfrig im Schlamm ruhten, legten den leichten Pflug über die Schulter und gingen aufs Feld.
Alles stand unter Wasser: Täler waren Seen geworden, Ebenen Sümpfe und Moräste, Hügelabhänge von braunen Deichen eingeschlossene Teiche. Die langen Reihen der Graber, Pflüger und Egger bewegten sich über eine umgekehrt widergespiegelte Welt: die Bäume längs der Landstraße, die Gipfel der Hügel ringsumher und das breite Dreieck des Tjeremai lagen unter ihren Füßen zwischen Wolken und Himmelsblau. Wer den Spaten aus dem Boden löste, hob ein Stück Himmel auf: wie reines Sonnenlicht floß das Wasser daran entlang. Die klatschenden Hufe der Pflugbüffel brachen durch weiße und perlmutterbraune Wolken hindurch, die, sich kräuselnd, auseinandertrieben und sich wieder versammelten. Und dem Pflüger, der seine Tiere nach dem Takt einer eintönig gesungenen Weise im Schritt hielt, spielte ein Glitzern von Weiß, Blau und Gold ins Gesicht, durch den Schlagschatten seines Sonnenhutes hindurch.
Das arbeitende Volk maß Zeit und Arbeit an dem Schrumpfen seines eigenen Schattens; wenn er von der riesenhaften Länge der Sonnenaufgangsstunde so viel eingebüßt hatte, daß sie ihn mit etwa zehn Schritten messen konnten, hörten sie auf. In der Mittagsstunde lag alles in stiller Ruhe, die Männer bei ihrem Mahl im dunklen Hause, die Büffel in einer Schlammgrube, wo sie die heißen schweren Leiber im kühlen Schlamm wälzten. Wenn die Schatten wieder länger zu werden begannen, um ein oder zwei Uhr, kehrten Mann und Tier an die Arbeit zurück. Und die langen Reihen bewegten sich über das Teichfeld, bis der Purpur des Sonnenunterganges in Rosenrot und Gelb erstarb, während gesenkte Augen bereits aus einem einzigen matten unsicheren Schein das Leuchten der großen Sterne in den Höhen errieten.
Des Abends war es schon früh still in der Dessa; nur ein paar gedämpfte Frauenstimmen ließen sich hin und wieder noch vernehmen. Die Frauen waren noch nicht an der Reihe in dem großen Spiel, das Sterne, Erde und Menschen miteinander spielten, sie kamen erst hinzu, wenn die Reissaatlinge aus den Zuchtbeeten in die »Sawahs« hinübergepflanzt wurden. Bis dahin blieben sie in ihren Häuschen bei leichter Tätigkeit. Von denjenigen, die weben und batiken konnten, waren die geschicktesten Tag für Tag in Frau Meerhuysens Schule beschäftigt.
Bei dem schönen Wetter waren sie aus der Hintergalerie in den Garten gekommen, in den Schatten der blühenden Bäume. Die Farbenkübel standen in einer Reihe unter dem Vordach, spiegelnde Kreise von Himmelsblau, Honiggelb, Karmoisin und Braun. Zwischen den Sträuchern hingen bunte Strähnen Seide, dünn und fein. Rot wie Granatblüten und grün wie Gras leuchtete das Gewebe der karierten Sarongs in der Sonne, und der glatte Stoff auf dem Rahmen der Batikerinnen zeigte stets mehr Blumen und Ranken und Schmetterlinge. Die da arbeiteten, waren beinahe lauter junge Frauen und Mädchen; sie amüsierten sich untereinander, es war ein Lachen und ein leises Geplauder ohne Ende, und das hörte auch nicht auf, wenn Frau Meerhuys hinzukam; es wurde nur ein wenig leiser.
Sie, in Sarong und Kabaja, die nackten Füße in ledernen Pantoffeln, ging auf und ab zwischen den Blumenbeeten, wo sie säete und pflanzte, und all dem jungen Frauenvolk, das sie nicht ohne Mühe dem alten Schlendrian entrissen und einem besseren und freudigeren Dasein entgegengeführt hatte. Wohlgefällig schaute sie es an, wie es da mit dem glänzenden Haar und den glatten Kleidern bei der zierlichen Arbeit saß. Es schien, als ob die Sonnenflecken und die Schatten, die mit leichter Bewegung aus dem Laub herniedertropften, daran mithalfen; unter der Buntheit der blühenden fruchttragenden Bäume war die Buntheit des Gewebes und der Farben gleichfalls wie eine Blüte, wie jene hervorgekommen aus Sonnenschein und Regen und Wind und frisch emporquellenden Säften. Einige Wochen lang dauerte die Farbenpracht, sich mit jedem Tage und jeder Stunde verändernd; bis eines Nachmittags, plötzlich wie vor einem Windstoß die Blütenfülle der Zweige, auf denen in aller Stille die Früchte schon zu schwellen begonnen, Arbeit und Arbeiterinnen fortgestoben waren und der Garten leer lag unter den Bäumen.
Das Dessahaupt hatte die Frauen zum Überpflanzen des Reises aufgerufen.
Jenen Abend und jene ganze Nacht hindurch hüpften die kurzen Töne des »Gamelan« über das Hügelland. Männer, Frauen, Kinder, die ganze Dessa war beisammen und feierte mit einer Opfermahlzeit und Musik das Weihefest der Sawahs.
Und am folgenden Morgen bei beginnendem Tagesgrauen gingen die Frauen an die Arbeit.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie die Felder erreichten, wo der Doekoen-Sawah das Opfer für die Reisgöttin entzündete und die Büschel der Reissaatlinge auf den terrassenförmigen Deichen bereit lagen.
Es war stilles Wetter, lange weiße Nebelschleier hingen über allen Hügeln. Der Wald verschwand in einer Wolke, der Fluß, die vielen kaum entsprungenen Bächlein, die Gräben rings um die sumpfigen Sawahs, alles Wasser, das am Boden lag, hing nebelhaft verdoppelt in der Luft wie ein Netz von Nebelflüssen und Lachen um ein Nebelmeer. Die zusammengekauerten Gestalten der Pflanzerinnen waren undeutlich in dem Dunst.
Langsam schoben sich ihre Reihen über den Acker fort. Die Büschel der Reissaatlinge aus ihrer Hülle von »Pandanblättern« loswickelnd, pflanzten sie fünf oder sechs Halme zugleich in das Loch, das sie mit dem langen spitzen Pflanzstock in den schlammigen Boden stießen, und drückten dann behutsam die Erde fest, rings um die schlaff umfallenden Stengel. Keine sprach. Ebenso wie der klamme Boden, wie die matten duftlosen Blumen, wie die Vögel in den Zweigen, die beinahe unhörbar piepten und mit gesträubten Federn auf die Sonne warteten, waren sie umfangen von der feuchten Kühle; die Kleider zogen sie fröstelnd um sich her und verrichteten ihre Arbeit mit kleinen Bewegungen.
Aber ein mattroter Schein, der wie sichtbares Sonnenleben sich durch das Nebelweiß zu verbreiten begann, ward plötzlich purpurn; leuchtend und in farbenfunkelnden Fetzen und Streifen trieb die Nebelschicht auseinander. Der heiße Tag überflutete die Felder, jetzt öffnete sich alles. Die Luft war plötzlich voll lieblichen Geläutes, voller Farbe der Boden. Die Frauen riefen einander zu von dem einen Feld nach dem andern, wo die dunkelbraune Erde leicht überzogen war von einem Hauch feinen Grüns.
Von ferne waren die braunen Gestalten in ihren dunklen Gewändern nicht deutlich von dem braunen Boden zu unterscheiden; aber ihre Gegenwart ließ sich erraten an jenem mattgrünen Dunst, der, sich langsam ausbreitend, im Sonnenschein leuchtete.
Über den Langeanschen Hügelfeldern lag er noch zart wie ein Hauch. Dichter schon und frischer färbte er halbwegs die hohen Abhänge dort, wo gleich einem Lerchennest in hohem Weidegras das braune Soemberbaroe hinter seinem Bambushag versteckt lag.
Er wurde immer kräftiger nach der Ebene zu, die in ihrer breit ausgegossenen Glattheit wie ein grünes Meer funkelte. Dort war der junge Reis zuerst entsprossen unter den Händen hunderter von pflanzenden Frauen, und so wie von dorther jene Glut von Grün aufgestiegen war zu den Höhen, an den langsamen Wellen des Bodens entlang, die sich schwellend zu den leuchtenden Gipfeln der fernen Berge emporklimmen, so hatte sich das Frauenvolk aus jener ganzen unabsehbar weiten Umgegend, vom Strand, aus der Ebene, von den Hügeln, von der ganzen Insel, Hütte an Hütte, Dorf an Dorf, aufgemacht zu der ihrer harrenden Arbeit, still, allmählich und unwiderstehlich, wie eine freundliche elementare Macht, dank welcher die gesegnete Erde grünend entsprießt.
Van Heemsbergen war schon seit Sonnenaufgang mit Kontrolleur Hendricks und dem Dessahaupt auf dem Feld gewesen. Er selber glaubte, daß er mitgegangen sei in der Hoffnung, etwas für seine Arbeit Wichtiges zu sehen und zu hören; im Grunde genommen aber hatte ihn eine blinde Unrast in seinen Gedanken, die es ihm schon seit einigen Tagen unerträglich machte, zu Hause über seinen Büchern zu hocken, die Hügel hinaufgetrieben in den werdenden Tag hinein. In immer größerer Entfernung folgte er den beiden, die durch triefend nasses Gras und Unkraut, und bis zu den Knöcheln in den Sumpf einsinkend, auf die Hügeläcker gingen, wo die Frauen bei der Arbeit waren. Gelangweilt endlich und enttäuscht kehrte er wieder um auf dem Pfad, der sich zwischen den Feldern und dem buchtigen Waldrande hinschlängelte und über die Hügel nach der Landstraße führte.
Die Augen auf den Boden geheftet, ging er, während er gedankenlos mit seinem Stock gegen die tropfenden Farren schlug, mechanisch weiter, bis ihn der Ruf einer klaren Stimme aufblicken ließ. Es war Ada. Den blonden Kopf unbedeckt unter dem weißen Sonnenschirm, umwogt von den Falten ihres weißen Kleides, kam sie leuchtend durch den Sonnenschein gelaufen, ihm entgegen. Sie hatte einen Strauß Blumen in der Hand, mit dem sie ihm fröhlich winkte. Der Morgenwind hatte ihre Wangen weiß und rot gefärbt, ihr Haar hing voll Regentropfen und wirren Glanzlichtern, und Stengel von dem blühenden Grase, durch das sie gegangen war, steckten in dem feuchten Saum ihres Kleides. Unwillkürlich lächelte van Heemsbergen, während er sie ansah.
»Sie haben einen Wettlauf veranstaltet auf der Sawah, und ich bin Schiedsrichter gewesen,« rief sie. »Denke dir doch nur, sie wollten ...,« und indem sie sich selber lachend unterbrach, erzählte sie, wie drei Gruppen von Pflanzerinnen, von denen jede eine gleiche Anzahl der ungleichen Terrassenfelder zu bepflanzen bekommen hatte, den Streit um die schmalsten Ackerstreifen durch einen Wettlauf geschlichtet hatten, und wie die langsamste der drei, behutsam durch den Schlamm watend, ihre übereifrigen Nebenbuhlerinnen besiegt hatte, die durch Springen und Straucheln auf halbem Wege zu Fall gekommen waren.
»Und geschrien haben sie und einen Spaß hatten sie! o Gys, zu schade, daß du nicht dabei warst!«
Ihre Augen leuchteten. Man sah es ihr an, daß sie am liebsten selber mitgelaufen wäre.
»Du wolltest doch nicht etwa nach Hause, bei diesem wunderbaren Wetter, bei dem einem die Welt zu klein wird? Laß uns mal – ach, eine Goldamsel! Hörst du sie? Wo die nur sitzt? O schnell, da, da, da fliegt sie wie ein Sonnenstrahl! Gerade in den Wald hinein! Goldamsel! Gold–am–sel!«
Sie jauchzte dem gelben Vogel nach.
»Komm mit, Gys!«
»Mit? Wohin?«
»Wir wollen in den Wald gehen. Es wird dort jetzt so herrlich sein mit all der Sonne in den Zweigen – wir wollen uns die Statue der Göttin ansehen, der so viel Opfer dargebracht werden. Weißt du, daß noch mehr Statuen gefunden sind?«
Van Heemsbergen zögerte einen Augenblick.
»Es ist nichts Besonderes an der Statue. Du hast solche im Museum zu Leyden schon dutzendweise gesehen.«
»Ach, im Museum! – die sind alle längst tot!«
»Das Bildnis im Walde ist auch tot. Ein totes Stück Stein.«
»Nein, nein! Hier ist sie in ihrem eigenen Land! ... Du verstehst mich schon! Komm jetzt mit, Gys, ich bitte dich.«
Er ließ sich mitführen, den Hügelpfad hinauf bis an den Waldsaum, wo bei einigen provisorisch aus Soden und bemoostem Stein zusammengefügten Stufen und einer in Bambusschlingen wie in Scharnieren hängenden Bambushecke der Weg zu der geweihten Stätte der heiligen Gräber und des verfallenen Tempelchens begann.
»Jetzt habe ich sie,« dachte er; es war wie eine Antwort auf eine verworrene Klage und ein Angstruf in ihm. Dennoch fühlte er mit leichtem Widerwillen, wie sich die Schatten des Waldes auf ihn senkten. Und trotzdem er das Gefühl hatte, daß er etwas sagen müsse, gerade jetzt und hier, irgend etwas, ganz gleichgültig was, ging er schweigend weiter durch die Waringin-Allee, die breit und gerade zu dem Platz um die Ruine führte.
Ada schien sein Schweigen nicht zu bemerken; ihre grauen Augen, beinahe blau jetzt, während sie zu dem blauen Himmel emporblickte, der zwischen den Baumwipfeln leuchtete, erstrahlten in dem Glanz eines vollkommenen Glückes. Sie ging durch die Schatten und das grünlich goldene Leuchten, über den von gelben Sonnenflecken bunten Boden, als ließe sie sich, ohne selber zu wollen, nur so dahintragen von einer unsichtbaren Kraft, wie ein Hauch im Winde, wie ein Glanzlichtchen im Sonnenschein. Während er sie ansah, überkam ihn wieder das nämliche Gefühl, das ihn so oft schon überwältigt hatte, wenn er sie, so wie jetzt, still und froh in der Natur gesehen – das Gefühl ihrer reinen Harmonie mit schönen, stillen, frohen Dingen, denen er fern stand und fern stehen mußte. Würde er sie denn niemals durchbrechen können, diese unsichtbare, ungreifbare, unübersteigbare Mauer, die ihn von ihr und von jedem Glücke trennte?
Sie hatten sich der Stelle genähert, wo von den Lichtchen und den Schatten eines mit feinem Laub und hunderten hellvioletter Blüten bedeckten Baumes, grau zwischen zwei schwärzlichen Ungeheuern, das Bild der Göttin dunkelte. Der gefällte Baumstamm, auf dem er in jener Nacht gesessen, lag noch da; sein Blick suchte und fand die grauen Aschenreste von dem Feuer der Wächter. Er wußte nicht, ob es nicht gegen seinen Willen geschah, daß ihn seine Füße dorthin trugen.
Den Kopf leicht geneigt unter einer hohen helmartigen Krone, die Hände vor den nackten Busen gelegt, saß die Göttin da mit flach hingestreckten Knien auf einem Lotoskelch, in jedem Arm einen Lotosstengel, dessen volle Blütenknospe sich an ihre Schulter schmiegte. Die Sonne schien ihr auf die gesenkten Augenlider; über dem langlinigen Antlitz mit den vollen Wangen und dem üppigen Mund lag der Glanz eines Lächelns.
Einer, der soeben erst zu ihr gebetet haben mußte, hatte sein Opfer – weiße Jasminblüten, ein Ei und stark duftende Salbe auf einem grünen Blatt – ihr zu Füßen gelegt.
Ein schwarzer Riese hielt rechts von ihr die Wacht, auf einem plumpen, fetten Knie ruhend und in der rechten Faust eine zum Zerschmettern und Niederschlagen bereite Keule. Das breite Gesicht mit den aus ihren Höhlen tretenden Augäpfeln und dem groben Maul, aus dem Hauzähne wie die eines Ebers zum Vorschein kamen, war drohend gerunzelt.
Ihm gegenüber kauerte eine seltsame Gestalt, auf menschlichem Rumpf einen Elefantenkopf tragend, in dem nachdenklich ein Paar gelassene Augen standen. Die Hände wie in stiller Ergebenheit auf die Knie gelegt, zwischen denen der lange Rüssel herabhing, saß das mißgestaltete Wesen da und starrte vor sich hin: ein Gott-Tier. Es schien, als habe in ihm der seit Jahrhunderten über das Weltenrätsel grübelnde Künstler allem geduldigen stummen Getier Geistesrang und Würde zuerkennen wollen.
Und die Göttin, so still lächelnd zwischen diesen Ungeheuern, schien in ihren beiden vor den mütterlich vollen Busen gehaltenen Händen den Keim aller zwischen Haß und Neid blühenden Lieblichkeit der Welt zu halten, den Anfang eines unvergänglichen, ewig durch sich selber erneuten, schönen und glücklichen Lebens.
Sei es, daß ihr undeutlich aber stark ein solcher Gedanke durch die Seele fuhr, sei es, daß sie die Frömmigkeit des Betenden mitempfand, der eben hier sein Opfer dargebracht: in einer plötzlichen Aufwallung legte Ada die Hälfte ihrer Blumen in den Schoß der Göttin, und, indem sie van Heemsbergen die andere reichte, murmelte sie:
»Du auch, Gys!«
Er fragte mit einem etwas erzwungenen Lächeln:
»Ein Opfer? dem genius loci, auf klassische Weise?«
Sie beachtete seinen Spott nicht; lächelnd wiederholte sie:
»Gib sie ihr.«
Er legte die Blumen auf den zu Frauenknien umgemodelten Stein und sagte mit einem Achselzucken:
»Das ist ja ein ziemlich harmloser Götzendienst.«
Allein bei der Berührung durchfuhr ihn wie ein krankhaftes Schaudern wiederum die nämliche Empfindung grenzenlosen Jammers wie in jener Nacht, als er die vor seinen schwindligen Augen Ada ähnlich werdende Göttin um Hilfe angerufen. Er fühlte, wie aus den erhobenen Händen des Bildes ein eisiger Strom in die seinen fuhr; der Griff, den er damals um steinerne Pulse geschlagen hatte, spannte seine Finger.
»Muß ich es ihr denn sagen?« dachte er entsetzt, »jetzt, sofort, und wenn sie es nun auch nicht weiß, wenn auch sie mir nicht helfen kann, was dann?«
Adas weiche Stimme fragte:
»Eine Landesgöttin, Gys, sagtest du nicht, daß sie das ist?« Er sah sie verwirrt an; sie wiederholte ihre Frage:
»Stellt sie das Land dar? verkörpert sie Indien?«
»Aber nein, wie kommst du darauf?«
»Ich glaubte, du hättest das soeben gesagt.«
»Ich – so? – das war nur so ein Gedanke, auf den du mich brachtest, durch diese Opfergabe. Nein – es ist eine Weisheitsgöttin oder so etwas, behauptet der Mann, der die Ausgrabungen leitet. – Übrigens ein klarer Beweis für den unausrottbaren Optimismus der Menschen, daß man sie so lächelnd dargestellt hat – als wüßte man mit absoluter Gewißheit, daß die letzte Antwort auf alle Fragen eine vollkommen befriedigende sein müsse!«
Mit einem Lächeln, das sie für einen Augenblick wirklich der Göttin gleichen ließ, sah Ada auf das steinerne Antlitz.
»Ja,« sagte sie.
»Ja,« rief van Heemsbergen aus, »mit deiner Erlaubnis, solch ein herzhaftes »ja«, so ja und amen ist hier durchaus nicht angebracht. Vielleicht von dem Standpunkt des Mannes aus, der sie vor ein paar Jahrhunderten gemacht hat oder von dem eines Javaners. Wenn er genug Reis in der Scheune hat und ein paar Büffel im Kraal und so viel Geld im Vorrat, daß er hin und wieder ein Fest geben kann, und Kinder, die er zur rechten Zeit verheiratet, dann sind für ihn »die ewigen Fragen« beantwortet, wenn er sie jemals gestellt hat. Das Glücksideal eines Inländers ist nicht allzu erhaben, dafür läßt es sich auch leicht erreichen; das Glücksideal eines Abendländers aus dem zwanzigsten Jahrhundert – wenn er wenigstens ein einigermaßen hervorragendes Exemplar seiner Gattung darstellt – ist etwas sehr Erhabenes und Schönes: dafür ist es auch beinahe unerreichbar. Wenn ich »Glück« sage ...«
Er brach ab, schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit einer gewissen Bitterkeit fort:
»Das glauben sie natürlich nicht – daß es unerreichbar sei, obgleich sie es täglich vor Augen sehen. Sie meinen: wenn es auch dem Nachbarn mißlingt, der es ja auch gar nicht verdient, glücklich zu sein, so wird es doch ihnen selbst, die sie es wohl verdienen, sicherlich glücken, wenn nicht heute, so doch morgen. Ein jeder versucht es auf seine Art, ein jeder hat dieses oder jenes Hirngespinst, das er wenigstens zeitweise als sein leuchtendes Bergland des Glückes ansieht. Für den einen ist es Branntwein, für den andern sind es Verse, – warum auch nicht? oder Ruhm – was noch das schönste von allem ist – besonders bei uns in Holland – Zeitschriften-Ruhm und der Oranien-Nassau-Orden ... etwas so Lächerliches, daß man Mitleid damit haben muß. Meinetwegen – ich habe nichts übrig für »Ruhm«, ich bin nicht ehrgeizig, ein Mensch muß wohl sehr demütig sein vor sich selber, wenn er die hohe Meinung der andern zu seinem Glück so nötig braucht – aber, wenn man denn doch absolut einen Ehrgeiz haben muß, so sollte es doch wenigstens ein Pariser Ehrgeiz sein oder ein englischer oder ein russischer, jetzt, wo Rußland anfängt Mode zu werden – ein Ehrgeiz von etwa sechzig Millionen Menschen Kubikinhalt, dann hat die Quantität doch etwas zu bedeuten in Ermangelung der Qualität. Aber holländischer Ehrgeiz! nun, es gibt schließlich auch solche, die sich damit begnügen: was im letzten Grunde den Ausschlag gibt, das ist ja nicht, ob es groß oder klein, schön oder gering, sondern ob es uns selber adäquat ist, ob es uns glücklich macht eine Zeitlang. Wenn die Zeit dann nur lang genug ist, damit wir uns selber zum Narren halten können bis zu unserem Tode ..., die große Majorität tut das, in dem Punkt sind die meisten wie die Inländer! Nur wenige superiore Individuen wissen von Anfang an, daß es eine Täuschung ist ... »ein Stückchen Speck über einer Fledermaus, die sie an das Scheunentor genagelt haben« – der Vergleich ist nicht von mir, ich habe ihn einmal von einer europäischen Berühmtheit aussprechen hören, zu der irgend jemand äußerte: der Sozialismus erscheine ihm als das einzige, das heutzutage etwas Leben in die Menschen bringe. Eine Fledermaus, die Bauern an die Tür nageln, stirbt nämlich nach ein paar Stunden – aber, wenn sie ein Stückchen Speck über sie hängen, dauert die Folter mehrere Tage – weißt du ... nun, Stückchen Speck für uns alle! warum schüttelst du so verneinend den Kopf?«
»Ich kann so etwas nicht verstehen. ... Natürlich wird es uns nicht befriedigen, wenn wir »Branntwein oder Verse« als Ideal nehmen. Wie könnten wir überhaupt glücklich werden durch das, wovon nur wir allein etwas haben? wenn es aber etwas ist, womit wir andern Menschen helfen ...«
Er unterbrach sie heftig:
»Anderen Menschen helfen! Das ist nun wieder der echt weibliche Standpunkt. Glaubst du denn wirklich, daß ...?«
Er hatte den Namen ihres Vaters auf den Lippen, hielt ihn aber noch beizeiten zurück.
»... glaubst du, daß irgend ein Mann der Wissenschaft sich mit seiner Wissenschaft beschäftigt, ›um den Menschen zu helfen?‹ Ja, das glaubst du, aber dem ist nicht so – wahrhaftig nicht! Kollembrandt zum Beispiel, der würde sich nicht wenig wundern, wenn du ihn fragtest, ob er seine Bücher über das Inländische Recht geschrieben habe, um den Inländern zu helfen. Er schreibt, weil es ihm Freude macht zu schreiben – ebenso wie es jenem andern Freude macht, Branntwein zu trinken. Wären die Inländer eine prähistorische Affenrasse gewesen, von der nur noch fossile Überbleibsel zu finden wären – so etwa wie das Wesen, dessen Gebeine im Solo-Flußbett ausgegraben worden sind, und hätten sie ein prähistorisches Affenmenschenrecht gehabt, so würde er daran ebenso eifrig arbeiten wie jetzt an dem Adat. Merkwürdig! Du scheinst das doch nicht begreifen zu können, daß ein Mann arbeitet, nur weil er Vergnügen an der Arbeit findet – einzig und allein, weil er Vergnügen an ihr findet, und aus keinem anderen Grunde!«
Ada blickte auf, als wolle sie antworten, tat es aber nicht; in ihren Zügen lag der hilflose Ausdruck eines Menschen, dessen Empfinden von seinem Wissen im Stich gelassen wird. Sie wußte – und sie sah, daß auch van Heemsbergen es wußte –, daß es sich nun nicht mehr um Allgemeinheiten handelte oder um an und für sich gleichgültige Meinungen, um den Vorwand zu einer Spiegelfechterei mit Worten und Taktik und Bravour –, sondern um ihr Lebensglück und um das seine. Sie fühlte ihre Hände kalt werden wie Stein, während sie, nicht wissend, was sie sagen sollte, und doch mit dem zwingenden Empfinden, daß sie etwas sagen müsse, schweigend vor sich hinblickte.
In dem gereizten Ton, in den er leicht verfiel, wenn ihm nicht Widerspruch, sondern Widerempfinden begegnete, fuhr van Heemsbergen fort, indem er sich immer mehr erregte:
»Was wollen die Menschen doch eigentlich mit ihren Phrasen über Altruismus? Jedes Wesen trägt seinen Daseinszweck in sich selber. Ein Mensch besitzt sich selber, seinen Körper, seinen Willen, seine Intelligenz als sein allereigenstes Eigentum für sich selber, für nichts oder niemanden sonst in der Welt. Wer das nicht einsieht, ist der Sklave aller andern. Niemand kann mehr von mir verlangen als das, was ich ihm aus eigenem, freiem Willen gebe. Ich bin der menschlichen Gesellschaft nichts schuldig – sie hat kein Recht auf mich, nicht das allergeringste. Ich verrichte eine Arbeit, die im letzten Grunde ihr zugutekommt, das ist wahr. Aber das tue ich nicht, weil sie ihr zugutekommt –, das tue ich einzig und allein um meiner selbst willen, weil das Suchen nach Wissenschaft mir ein persönliches Bedürfnis, eine Neigung ist, die ich befriedigen muß, um als intellektuelles Wesen weiterleben zu können, so wie ich Hunger und Durst stille, um meine materielle Existenz zu erhalten. Vielleicht hat die menschliche Gesellschaft auch irgend welchen Vorteil von meinem Essen und Trinken. Meinetwegen! Aber auch, wenn sie diesen Vorteil nicht hätte, würde ich trotzdem essen und trinken. Bezüglich des Intellektuellen ist das genau dasselbe. Bezüglich des Moralischen auch. Wenn ich moralisch lebe – unter »Moralität« verstehe ich nicht etwas Negatives, wie so viele Menschen, die dieses Wort gebrauchen – nicht lügen, nicht stehlen, nicht – usw. – keines von jenen Dingen tue, die einen vor den Strafrichter führen könnten – oder von jenen andern noch viel schlimmeren, die in keinem Gesetzbuch vorgesehen sind; ich meine etwas Positives, etwas Wirkliches, so etwas wie jenes »Wahre, Gute und Schöne« der Alten, das Beste, was in einem ist, auf die beste Weise gebrauchen. Nun, und wenn ich so lebe, dann tue ich das – ebensowenig wie essen und trinken – nicht um der Gesellschaft, sondern um meiner selbst willen, weil ich mich glücklicher fühle, wenn ich nach meinem höchsten, anstatt nach meinem niedrigsten Können lebe. Das ist so einfach, daß es keiner Erklärung bedarf, scheint mir; die Altruismus-Hypothese ist total überflüssig.«
Er blickte Ada an und hoffte unbewußt auf ein Wort von ihr, das zu allen seinen Behauptungen in direktem Gegensatz stehen würde. Ihr aber ward immer ängstlicher zumute, und sie antwortete nicht. Und indem er die Worte nur zögernd aussprach, fragte er:
»Glaubst du, daß dein Vater sich jeden Morgen mit dem Gedanken – »à la Frau Meerhuys« – an den Schreibtisch gesetzt hat: jetzt will ich Sidin und Sarina mal zu helfen versuchen?«
Ada errötete so, daß ihr die Tränen in die Augen traten.
»Ja, das glaube ich, das weiß ich bestimmt! Nicht so natürlich – du machst mich ganz irre, wenn du es so aussprichst – aber daß er stets an die Eingeborenen gedacht hat, daß er glücklich war in dem Gedanken, seine Arbeit würde ihnen einst zugutekommen, das weiß ich, das weiß ich so sicher, als daß die Sonne scheint. Ach, wie oft hat er das gesagt, wie oft! Damals noch, jenes letzte Mal, als wir zu dritt zusammen waren ...;« sie stockte und kämpfte mit den Tränen, die sie kaum noch zurückzuhalten vermochte, »damals ..., damals sagte er es – ach, ich kann es ja niemals vergessen! Ich will versuchen, meinen Teil an der nationalen Schuld abzutragen, auf deren Tilgung Indien jetzt schon beinahe dreihundert Jahre wartet.«
Van Heemsbergen schwieg.
Auch er erinnerte sich dieser Worte. Aber ebenso gut wie dieses Ausspruches seines Lehrers erinnerte er sich auch der Antwort, die er hatte geben wollen und die er nicht gegeben hatte, um des strahlenden Blickes willen, den jenes blonde Mädchen am Fenster auf ihren Vater und dann auf ihn gerichtet hatte.
»Dein Vater war in jeder Beziehung ein außergewöhnlicher Mensch,« murmelte er endlich, »vielleicht hätte er ...«
Ada wischte sich die Tränen ab und rief:
»O, nicht er allein, so viele, so viele! wie könnte es auch anders sein? wir gehören ja alle zueinander, wie könnte denn einer glücklich sein wollen nur für sich selber und mit sich selber allein, ohne sich darum zu kümmern, ob alle die andern unglücklich sind? Das meinst du ja auch gar nicht, wenn du es auch noch so oft sagtest! es ist ja gerade, als wolltest du selbst glücklich sein, während deine Eltern oder deine Brüder und Schwestern im Unglück stecken.«
»Meine Eltern und meine Brüder und Schwestern,« rief van Heemsbergen aus, »also Brüder und Schwestern im christlichen Sinne, alle Krethi und Plethi, das ist so etwas, wie wir es vor fünfzehn Jahren im Religionsunterricht gehört haben. Nein, Ada, du mußt es mir nicht übelnehmen, daß ich an dieser Lehre der allgemeinen Liebe und Verbrüderung zweifle, solch einem Lieben ganz im allgemeinen, ins Blaue hinein; als Mittel, um glücklich zu werden, – wenn du nichts anderes weißt ...«
Sie sah ihn an, ihre Lippen zuckten.
»Ich glaube nicht, daß es auf der Welt etwas Besseres gibt als lieben.«
»Und das kannst du mich nicht lehren, nicht wahr? Natürlich nicht. Sage jetzt nur gleich, daß du mir nicht helfen kannst, weil ich selbst es dir unmöglich mache, das meinst du ja doch, wenn du es auch nicht aussprichst, übrigens, du hast es gesagt, damals ... oder ... nein, das ist ja wahr, du hast es nicht gesagt – gleichviel, es kommt nicht darauf an!« rief er plötzlich, »nun, wir doch einmal darüber sprechen, soll auch gleich alles gesagt werden, alles!«
Er atmete tief auf.
»Ich, ich ... nein, so geht's nicht, fang' du an.«
Ada war blaß geworden, sie sagte gedämpft:
»Ich dachte es mir schon, aber ich wußte nicht warum, damals, jetzt erst verstehe ich es.«
»Was verstehst du?«
»Warum du so ... so ... warum du während all der Zeit so gewesen bist. Du schriebst nichts darüber, und ich wußte es trotzdem. Ich wußte, daß das etwas viel Schlimmeres war als Krankheit oder Enttäuschung im Beruf oder sonst irgend etwas, was nur von außenher kam, ich erriet es an dem Schmerz in meinem eigenen Herzen, schon lange, – und dann ..., dann geschah das.«
Er sah sie an in einer Spannung, von der er nicht wußte, ob sie der Hoffnung oder der Furcht entsprang, während sie sich mühsam zum Sprechen zwang und langsam, Wort für Wort, sagte:
»Du ... du kamst herein in das Studierzimmer, während ich da saß und an dich schrieb, ich sah dich und plötzlich fielst du auf die Knie und klammertest dich an mich.« Mit der Bewegung eines Nachtwandlers hatte sie ihre Hände aneinander gedrückt, als hielte ein anderer sie so mit festem Griff umklammert. »Und du riefst: Ada, hilf mir, ich weiß nichts mehr, ich kann nicht weiter!«
Es war nicht mehr ihre eigene Stimme; der Ton, in dem sie diese Worte hinausschrie, mußte wohl unzählige Male in ihrer entsetzten Erinnerung erklungen sein.
Einen Augenblick lang stand er starr und schaute sie an mit einem fast entsetzten Blick: dann, plötzlich, ergriff er heftig ihre erhobenen Hände.
»Nein, ich kann nicht weiter, ich weiß nichts mehr, es nützt alles nichts, was ich auch tue, es nützt nichts, verstehst du mich?«
Ohne es zu wissen, umklammerte er die Pulse des Mädchens mit der ganzen Kraft seiner Finger. Sie schien es nicht zu fühlen.
»Ja, jetzt verstehe ich dich. Du bis t... du bist einsam geworden in deinem Herzen, und das kannst du nicht länger ertragen – niemand kann das ertragen – niemand, niemand!« wiederholte sie beinahe leidenschaftlich. »Ach, das ist ja alles nicht wahr!«
»Was ist nicht wahr?«
»Was du da soeben sagtest, von Nur-sich-selber-leben, von notwendigem Egoismus, das glaubst du ja selbst nicht. Es ist genau so, wie mit deiner Arbeit. Du meintest, daß du Karriere machen und reich werden wolltest, während du im Grunde doch nur den Wunsch hattest, zu arbeiten. Du bist viel besser, als du selber weißt!«
Er zog ihre Hände an seine Stirn.
»Ich bin ein erbärmlicher Egoist – nein, nein, einmal im Leben will ich mich bei meinem wahren Namen nennen – ein erbärmlicher Egoist, obgleich unbewußt, und ohne es zu wollen, glaube ich. O Gott! wenn jemals ein Mensch sich selber gehaßt, getreten und geschlagen hat, so bin ich es wohl! wie in jenem Traum, in dem ich mich selber sah mit dem Tierkopf, mit den Tierklauen und mir selber wie ein Wahnsinniger auf die Klauen schlug, die nach dir griffen. Der könnte als der Inbegriff meiner ganzen Seelengeschichte gelten. Später, später, wenn wir verheiratet sind, wenn nichts mehr geheim zu bleiben braucht, weil du ich geworden bist und ich du, möchte ich fast sagen, wenn so etwas überhaupt möglich wäre – dann werde ich dir alles sagen, auch das letzte, – alles! Wenn du dies nur weißt, ich brauche dich so nötig wie die Luft, die ich atme, nicht hin und wieder, wie ich dich jetzt habe, sondern in jedem Augenblick, immerfort, bei allem. Bei allem, was ich denke und was ich tue, bei allem, was ich will und was ich jemals wollen werde! – Ich weiß ja, daß ich deiner nicht wert ...«
Mit einer raschen Bewegung hatte sie ihm die Hände auf den Mund gelegt.
»Nicht sagen – nicht sagen – o, jetzt ist es gut! jetzt wissen wir alles, alles voneinander!«
Es war etwas in ihren Augen, was ihn noch mehr erraten ließ, als das, was sie gesprochen hatte.
»Ada,« rief er, »bist du darum gekommen? Stand das in jenem Brief, nach dem ich dich nicht fragen durfte?«
Sie nickte mehrmals, halb verlegen, halb freudig.
»Ich hatte Angst, daß du mich ..., daß du mich auslachen würdest – wegen jenes Traumes, meine ich, und daß ich deshalb depeschierte, aber ich würde doch gekommen sein, Gys, ich hatte solche Sehnsucht nach dir!«
Sie sagte es hastig mit einem Erröten, das, während sie sprach, immer tiefer ward auf ihren Wangen, auf ihrer Stirn, bis in den Nacken hinein. Van Heemsbergen begriff, warum sie errötete.
»Das sagst du, um mich zu schonen, ich kenne dich – o ich kenne dich! du würdest niemals so etwas getan haben, etwas, was deinem Charakter so völlig widerspricht, wenn es nicht um meinetwillen geschehen wäre. – Dich auslachen! – bin ich denn wahrhaftig so zu dir gewesen, daß du das zu fürchten brauchtest?«
»Nein, nein, niemals, wirklich nicht! aber das würden wohl auch noch andere Menschen lächerlich finden. Mama habe ich es auch nicht gesagt aus demselben Grunde,« gestand Ada, allmählich Mut fassend.
Ohne sie anzusehen, murmelte van Heemsbergen:
»Ich bin der letzte, der das Recht dazu hätte, es lächerlich zu finden – und wenn das nun kein Traum gewesen wäre? ich meine das, was du »sahst«, das war natürlich ein Traum, aber wenn die Wirklichkeit nun einmal –«
Sie sah, daß er mit einem allzu schweren Geständnis rang ...
»Sage nur nichts, du Lieber, jetzt nicht und »später« auch nicht, was tut das zur Sache? ich brauche nichts zu wissen, ich verstehe dich auch so.«
Sie sagte es mit solch einer stillen Innigkeit in der Stimme, mit solch einer tiefen Klarheit im Blick, daß es ihm, der sie noch unruhig anschaute, schien, als müsse sie wirklich alles verstehen, was in seinem Innern vorging, als schaue sie ihm in die Seele und bis in Tiefen, von denen er selber nichts ahnte.
»Sie weiß alles,« dachte er; unter »alles« verstand er die Zweifel, die Ungewißheit, die Furcht vor dem Leben, die ihn so lange bedrückt, und sein stets erneutes Mühen und Verlangen und den Weg, den er nicht hatte finden können. »Sie weiß alles. Was bedeutet im Vergleich damit eine alleinstehende Tatsache? Es tut nichts zur Sache – garnichts!«
»Ich danke dir mit meinem ganzen Herzen, mit meiner ganzen Seele danke ich dir,« sagte er und fand keine anderen Worte für das, was ihn bewegte.
Ada legte ihre Wangen auf seine Hand.
»Da ist nichts zu danken,« murmelte sie, »wir gehören zusammen.«
Mit stockender Stimme wiederholte er:
»Ich danke dir – ich danke dir dafür, daß du du bist und daß du mich verstehst und mich dennoch lieben willst, dafür danke ich dir. Denke nicht mehr an das, was ich gesagt habe – früher dachte ich wohl so, aber jetzt werde ich nicht mehr so denken.«
So verworren seine Worte auch klingen mochten, Ada verstand ihn und lächelte ihm durch aufquellende Tränen zu, gerührt und glücklich.
Ein eigentümliches Empfinden, das gleichzeitig eine wohltätige Abspannung war und eine Spannung bis aufs Äußerste, das Bewußtsein von etwas Entscheidendem, das sich ereignet hatte, das alles, was ihm voranging, eitel und nichtig machte und ein neues Beginnen neuer Dinge erheischte, mit gebieterischerer Notwendigkeit, als irgendwelche Veränderungen in seinen äußeren Lebensverhältnissen es hätten tun können, hielt van Heemsbergen gefangen, während er, in das Hotel zurückgekehrt, in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging, sich, außerstande zu arbeiten, mit einem Buch hinsetzte, wieder aufstand und sein rastloses Auf- und Abgehen von neuem begann. Es war eine seltsame Beweglichkeit in all seinen Gedanken, eine Verworrenheit, die indessen nichts Unangenehmes an sich hatte und der er weder ein Ende machen konnte noch wollte. Alles, was bis vor kurzem sein ganzes Denken ausgefüllt hatte, schrumpfte zusammen. Höhen reckten sich empor, Weiten taten sich auf, in den Glanz und die Kraft soeben erst geschehener Dinge traten Erinnerungen, etwas völlig Neues fügte das, was nichtig in unzähligen Eindrücken, Erfahrungen, Aussprüchen und Handlungen verstreut gelegen, zu einer hundertfältigen bedeutungsvollen Einheit zusammen, die das Bild seines Lebens mit einem Schlage veränderte. Er sah es vor seiner unparteiischen Betrachtung daliegen wie das eines andern, – eines andern, für den er keine besondere Sympathie empfand, eines rätselhaften Menschen, der sich mitten in der weiten Welt, die ihm noch zu klein war, in einer selbst gemauerten Zelle gefangen hielt. Er selber indessen, der »Er«, der er in diesem Augenblick war oder wurde, er stand in dem Offnen und Lichten, und in das immer heller Werdende drang immer mehr Herrlichkeit, die nicht begehrt und erzwungen, sondern nur empfangen werden konnte. Er dachte an Professor de Grave und jene Worte über Indien, die Ada erst vorhin im Walde wiederholt, an ihre Augen, an die Felder voll pflanzender Frauen, an Hendricks und das Dessahaupt, an seine eigene Arbeit: das alles stand miteinander in innerem Zusammenhang. Er dachte an eine Schwierigkeit, die ihn am vorigen Abend am Weitergehen gehindert hatte: die Lösung lag vor der Hand – er begriff nicht, daß er sie nicht sogleich gefunden hatte!
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an zu arbeiten.
Während er über individuellen Besitz und Genossenschaftseigentum dachte, spielten ihm die Gedanken an Ada durch den Kopf; das störte ihn nicht, es war wie ein leiser Gesang in der Ferne, den man hört und doch nicht hört. Dieser Traum, diese Vision, oder was es sonst war, wie wunderlich, vielleicht mehr als ein Zufall, warum nicht? Was wissen wir denn von dem geheimnisvollen Etwas, das wir »Seele« nennen und von ihren unsichtbaren Dingen? Sie müssen wohl seltsam und beinahe unmöglich erscheinen, wenn sie zwischen den Geschehnissen des täglichen Lebens und der Wirklichkeit auftauchen oder in alledem, was wir so zu nennen pflegen. Denn was ist sie denn eigentlich, diese »Wirklichkeit«, die für einen jeden Menschen eine andere ist und für jeden einzelnen heute eine andere, als sie gestern war, anders jetzt als vor einem Augenblick, da sie mit jedem sich wandelnden Gedanken, jeder sich wandelnden Stimmung, jedem sich wandelnden Willen sich wandelt? War das etwas »Wirkliches«, das über ihm gekommen, das weniger war als nichts und das trotzdem alles verändert hatte, so verändert, daß er, obwohl alle äußeren Verhältnisse dieselben geblieben, von diesem Augenblick an nicht mehr so würde leben können, wie er bisher gelebt hatte? Er würde in einigen Monaten wieder im Dienst sein – vielleicht als Landrats-Präsident; er würde verheiratet sein – Frau de Grave hatte endlich ihre Zustimmung gegeben, auf die Ada trotz allem hatte warten wollen – das alles hatte er auch gewußt an diesem nämlichen Morgen, da er mutlos aus seinem Zimmer geeilt, um sich selber zu entfliehen – (war das wirklich an diesem nämlichen Morgen gewesen, vor wenigen Stunden erst?) – aber es war ihm, als habe er es nicht gewußt, so ganz anders schien es ihm jetzt!
Er beendete den Satz, den er gerade schrieb, las ihn durch und stutzte: eine Veränderung, die er versuchte, war, wie sich herausstellte, keine Verbesserung. Er las auch das Vorhergehende noch einmal durch und sah, daß auch dort etwas nicht in Ordnung war. Nach drei oder vier mißglückten Versuchen, die ihn immer mehr aus der Stimmung brachten, sah er ein, daß er doch nicht weiter kommen würde, und gab für diesen Morgen die Arbeit auf.
Es war noch zu früh, um zu Ada zu gehen. Sie hatte ihm gesagt, daß sie bis um Mittag in der Dessa sein würde. Eine plötzlich hereinbrechende Gewitterdunkelheit hielt ihn davon zurück, gegen sein besseres Wissen zu versuchen, ob er sie dennoch zu Hause finden würde.
Er zündete sich eine Zigarre an und ließ sie nach ein paar Zügen wieder ausgehen, während er, unbequem auf der harten Bank sitzend, mit gerunzelter Stirn in die verstreuten Blätter seines Manuskriptes blickte. Aber an seine Arbeit dachte er nicht. Ein Gefühl, wie es bei einem beginnenden Alpdrücken den Träumer am Weitergehen hindert, indem es ihm die Füße in unsichtbare Fesseln klemmt, das undeutliche aber immer stärker werdende Bewußtsein eines Hindernisses, einer drückenden Schwere, eines nicht abzuschüttelnden Zwanges, lähmte sein vor wenigen Augenblicken noch so freudig starkes Denken. Die Erinnerung an Naila war zurückgekehrt.
Er hatte mit keinem Gedanken mehr an sie gedacht, schon seit langer Zeit nicht mehr. Mit dem Gelde, von dem sie mit ihrem Kinde während einiger Jahre leben konnte, meinte er sich von allem befreit zu haben, und er hatte geglaubt, das Geschehene durch Vergessen ungeschehen machen zu können.
Und jetzt konnte er es nicht fassen! Hatte er denn in einer Art moralischer Lethargie gelebt, daß er nicht ein einziges Mal, wenn Adas Augen den seinen begegneten, das Bewußtsein seines Verschuldens an ihr wie eine Qual empfunden?
Er dachte an jenes innige »jetzt ist es gut, jetzt wissen wir alles voneinander,« mit dem sie noch halbwegs um Verzeihung gebeten für ein Verschweigen der Wahrheit, das nur der Liebe und höchstem Edelmut entsprungen. Und sein Herz krampfte sich zusammen.
»Das ist nicht mehr gut zu machen – durch nichts, niemals, in aller Ewigkeit nicht,« dachte er verzweifelt, »dafür gibt es keine Verzeihung, es läßt sich nicht einmal verstehen. Sie kann nichts anderes denken, als daß es die elendeste Heuchelei ist – oder eine Gefühllosigkeit sondergleichen – und doch war es keines von beiden... was war es doch nur? ich weiß es selber nicht!«
Er begriff es nicht. Es war unglaublich, unmöglich, und doch war es so. Er hatte etwas getan, das ehrlos, verlogen und feige war, und trotzdem war er kein ehrloser Mensch, kein Lügner und kein Feigling.
»Es erschien mir damals anders,« dachte er endlich, als er sich von seinem Erstaunen erholt, »es erschien mir garnicht wie etwas Schlimmes, es kam von selbst, und als könnte es nicht anders sein. Aber wie würde ein anderer das wohl fühlen oder begreifen können?«
Er merkte, daß er es selber nicht mehr fühlte oder begriff, – daß er das Unwiderstehliche des Zwanges von damals nicht mehr empfand, nicht mehr das Überzeugende seiner Gedanken, womit er nach dem Geschehnis des zwingenden Augenblicks einen Monate währenden Zustand hatte rechtfertigen können.
Er dachte an Nailas Tränen, als er sie hatte wegschicken wollen an jenem ersten Morgen, an sein unbehagliches Junggesellenheim, an die Sitte des Landes, der die Besten folgten, an seine während all jener Zeit gehegte Überzeugung, daß seine Liebe zu Ada nicht verletzt, ja nicht einmal berührt werden könnte durch seinen halb verächtlichen Verkehr mit jener inländischen Frau, die seine Dienerin war. Aber es ging nicht. Er vermochte sich nicht mehr auf den Standpunkt von damals zu stellen. Seine eigenen Worte fielen ihm ein über das Unwürdige jener Verhältnisse, sogar für einen Mann, der nicht durch sein Wort und sein ehrliches Empfinden gebunden. Er erinnerte sich, wie er mit dem Brief seiner Braut das Haus verlassen hatte, in dem Naila schlief, und er mußte es sich selber eingestehen, daß er sogar damals das mißbilligt hatte, worauf er doch nicht hatte verzichten wollen.
»Ich habe sie wissentlich betrogen, ich habe mit einer Eingeborenen gelebt, während ich wußte, wie sie alles für mich opferte und Tag und Nacht nichts anderes sann, als wie sie mir helfen und mit ihrer treuen Liebe wohl tun könnte,« dachte er, während ihn ein Gefühl der Scham durchbohrte, das bis in den Lebensnerv schnitt.
Und in demselben Augenblick war es ihm auch schon klar geworden:
»Ich muß es ihr sagen.«
Sein Herz zuckte. In einer heftigen Reaktion rebellierte alles, was sich in ihm nach Glück sehnte, gegen diese unerträgliche Forderung seines Gewissens. Adas Glück und ihre Gemütsruhe hingen ab von ihrem Vertrauen zu ihm. Durch ein Geständnis konnte nicht das allergeringste gutgemacht werden. Wenn er dem Kinde eine ordentliche inländische Erziehung zuteilwerden ließ, so hatte er alles getan, was billigerweise von ihm verlangt werden konnte und was für das Kind selbst das beste war. Ihm kam der Gedanke an Adas Mutter und an ihren Vormund, und wie der triumphieren würde über die Rechtfertigung seiner unversöhnlichen Feindschaft. Es schien mehr als eine lächerliche Überspanntheit und ein Verkennen aller sittlichen Werte, es schien eine unmännliche Feigheit zu liegen in diesem Bedürfnis nach Gewissensruhe auf Kosten des Glückes einer Unschuldigen.
Er versuchte das zu glauben, und beinahe gelang es ihm. Aber obgleich er fortfuhr, gegen die Wahrheit zu kämpfen, nach jeder Niederlage von neuem beginnend, bis die Gedanken keine Gedanken mehr waren, sondern nur noch ein nagender Schmerz, wußte er es dennoch und wußte es so, daß weder Spitzfindigkeiten, noch weltmännische Klugheit, noch selbsttrügerische Erwägungen etwas dagegen vermochten: es war seine Pflicht, seine Pflicht als Ehrenmann, das Geständnis abzulegen. Er mußte den schönen Schein abwerfen, er mußte das verborgene Übel aufdecken, er mußte die Folgen seiner Tat auf sich nehmen.
»In Gottes Namen,« dachte er endlich, »und was auch daraus werden möge!«
Aber der Gedanke an das, was kommen würde und kommen mußte, und an Adas Augen, wenn sie ihn ansehen würde, schlug ihn mit Lahmheit, sodaß er regungslos dasaß. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende, als er schweren Schrittes den Weg zu Frau Meerhuys einschlug.
Sie war allein in der Vordergalerie. Er sah es mit einem Gefühl der Dankbarkeit wegen dieses Aufschubs von wenigen Augenblicken.
»Sie sind doch nicht krank?« fragte sie, indem sie von ihrer Näharbeit aufblickte. »Nicht? Sie sehen so blaß aus.«
Er murmelte etwas von frühem Aufstehen und einem Spaziergang über die Hügel.
»Ja, davon hat mir Ada erzählt, sie war entzückt von dem Morgen und von dem Walde und dem Reispflanzen und »all der Herrlichkeit,« wie sie sich ausdrückte,« sagte Frau Meerhuys lächelnd. »Halb und halb bereute ich es schon, daß ich nicht mitgegangen war, anstatt nach Soembertingih zu fahren.«
Soembertingih war ein Dorf jenseits des Tjeremai, wo van Heemsbergen noch niemals gewesen war.
»Ich habe dort von jemandem sprechen hören, dessen Sie sich vielleicht aus Ihrer allerersten Zeit in Soemberbaroe erinnern werden,« sagte sie, indem sie ihre Nadel wieder einsteckte, »von dem Inländer, Ada sagte, er hätte Pah-Tasmie geheißen – wissen Sie noch? Man hatte ihn zur Zwangsarbeit verurteilt in der ersten Landratssitzung, der Sie damals beiwohnten.«
»Ist er entflohen?« rief van Heemsbergen aus.
»Das war auch Adas erste Frage, sie hoffe es, sagte sie. Nein, so viel ich weiß, ist das nicht der Fall, ich sprach nur von ihm, um Ihrem Gedächtnis zu helfen. Ich habe nämlich von seiner Frau gehört, – die schöne Naila wurde sie seinerzeit in Soemberbaroe genannt, – Sie haben sie ja wohl damals bei der Sitzung gesehen, nicht wahr? Ich habe zu meinem Bedauern erfahren, daß sie ganz auf schlechte Wege geraten sei. Von einem Kinde aus anständiger Familie, so wie sie es war (ich habe sie noch als junges Mädchen gekannt), hört man das nicht oft. Sie soll bei einem »Wayang« gewesen sein und dann als Wirtschafterin bei dem Angestellten einer Zuckerfabrik, der sie fortgeschickt hat, als er merkte, daß ein Kind im Anzuge war. Wo sie sich bis zu ihrer Entbindung aufgehalten hat, wußte mein Gewährsmann nicht, aber das Geld, das sie bei sich hatte, scheint man ihr entwendet zu haben. Augenblicklich ist sie bei einem Forstbeamten oberhalb Soembertingih; wie ich höre, will er das Kind nicht im Hause haben. Was soll nun wohl aus solch einem armen kleinen Wesen werden, noch dazu einem Mädchen? Natürlich nichts Gutes.«
Adas leichter Schritt wurde hörbar.
Van Heemsbergen fühlte, wie sich seine Stirn mit kaltem Schweiß bedeckte.
»Wenigstens doch warten, bis es dunkel ist,« dachte er ratlos.
Ada trat ein.
»Weißt du es schon, Gys? Damit kann man doch wirklich nur Mitleid haben. Es wäre sicher niemals so weit mit ihr gekommen, wenn man ihr nicht damals durch das harte Urteil ihren Mann genommen hätte – so konnte jeder, dem es einfiel, schlecht zu ihr sein.«
»Ich – ich wußte in der letzten Zeit nicht, wo sie geblieben war,« stotterte van Heemsbergen. »Für das Kind werde ich sorgen, natürlich.«
Ada errötete vor Freude.
»O Gys! und ich hatte nicht den Mut, dich darum zu bitten! wir zusammen, nicht wahr, wir wollen das kleine Geschöpfchen zu uns nehmen, um das sich nicht einmal der eigene Vater kümmert. O, ich habe es mir schon gedacht heute morgen, daß wir jetzt ganz, ganz glücklich sein werden!«
Sie ergriff seine Hand und küßte sie.
Van Heemsbergen sprang auf und riß seine Hand los. »Ich kann es nicht länger ertragen, – es ist mein Kind!«
Mit einem Schrei hatte er es ausgestoßen. Ada blickte ihn an, so entsetzt über sein weißes, zuckendes Gesicht und seine Augen, daß sie die Worte, die er ihr entgegenschleuderte, nicht einmal verstand.
Er sah es. Die Hände zusammenpressend, wiederholte er verzweifelt und mit einem Gefühl, als spränge er in einen Abgrund:
»Es ist mein Kind, ich habe Naila ein halbes Jahr bei mir gehabt.«
Ada wich zurück. Ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt waren wie erstarrt ... ihre Augen weit geöffnet.
Er streckte die Hände nach ihr aus. Jemand stieß ihn so heftig zur Seite, daß er wankte. Ohne aufzublicken, ging er zum Hause hinaus.
Als er wieder imstande war, sich Rechenschaft abzulegen über sich selbst und die Dinge um ihn her, stand er in der dunklen Nacht auf der Landstraße und starrte nach dem Lichtchen auf dem Hügel. Wo er während all der Zeit gewesen war, wußte er nicht; er hatte nur eine todesmatte Erinnerung an steile Höhen, auf denen er bei jedem Schritt bis an die Knöchel in den Schlamm gesunken war, an eine – wie es ihm schien – stundenlange Dunkelheit zwischen den Bäumen und an sein Zimmer, wo die Lampe ausgegangen war und der am Boden schlafende Boy sich halb aufgerichtet hatte bei seinem Eintreten, etwas murmelnd von Frau Meerhuys – und »schon dreimal fragen lassen.« Er faßte endlich einen Entschluß, ging den Hügelpfad hinauf und blieb noch einen Augenblick zögernd stehen; dann ermannte er sich und betrat die Galerie.
Frau Meerhuys, die am Tisch saß im Schein der Lampe, stand hastig auf und ging, ohne ein Wort zu sprechen, an ihm vorüber und ins Haus hinein. Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück und sagte in ihrem gewöhnlichen Ton, doch indem sie es vermied, ihn anzusehen:
»Sie beunruhigte sich über Sie.«
Van Heemsbergen versuchte zu sprechen, aber seine Stimme brach. Er verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte krampfhaft.
Noch vor einem Augenblick hatte sich Frau Meerhuys, während sie Adas bleiches Gesicht vor Augen hatte, geschworen, daß sie van Heemsbergen in ihrem ganzen Leben nicht verzeihen könne, noch verzeihen wolle. Aber ihre zornige Entrüstung schwand, während sie ihn anblickte, wie er dasaß, zusammengesunken, schluchzend, und sie begriff, wie entsetzlich er gelitten haben mußte. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte beinahe weich:
»Gys, Gys – still jetzt.«
Ohne aufzublicken, murmelte er:
»Wie geht es ihr? Sie ist doch nicht ... sie wird doch nicht krank werden?«
»Nein, das fürchte ich jetzt nicht mehr.«
»Sie haben es also doch befürchtet?«
»Ja, anfangs wohl, weil sie so unnatürlich still war. Sie saß unbeweglich da, mit solchen starren, trüben Augen, es war, als ob sie mich nicht hörte, wenn ich zu ihr sprach. Aber endlich kamen die Tränen doch.«
»Was ... was sagte sie?« stieß er mühsam hervor.
»Ach, was tut denn das zur Sache – sie war nicht bitter und nicht heftig.«
»Sie wollen mich schonen – sagen Sie es mir.«
Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam.
»Nichts weiter als: Ich fürchte mich.«
»Ich wollte, ich hätte mir an jenem Abend eine Kugel durch den Kopf gejagt! ich war – aber es nützt ja nichts, was ich auch sage, es ist nicht zu entschuldigen, nicht zu erklären, durch nichts – Ich kann es selbst nicht mehr begreifen, wie ich dazu gekommen bin.«
Frau Meerhuys sah ihn während einiger Augenblicke schweigend an; dann:
»Sie müssen wohl verstehen, daß ich keine Beichte von Ihnen verlange, Gys, aber ich glaube doch, daß es besser ist, wenn Sie darüber sprechen, es wird Ihnen gut tun.«
Er fühlte, daß sie recht hatte.
Er wurde plötzlich von einem Druck befreit, den er nicht länger mehr hätte ertragen können, während er, allen falschen Stolz und alle falsche Scham überwindend, das aussprach, was er so lange auch vor sich selber verschwiegen.
Als er geendet hatte, blieb es eine Weile still.
Endlich sagte Frau Meerhuys, aber vielmehr, als spräche sie zu sich selber als zu ihm:
»Ja – wenn man einmal vom rechten Wege abgekommen ist ...«
»Glauben Sie, ... daß sie ... daß sie mir ...«
Er konnte das Wort »verzeihen« doch nicht herausbringen. Frau Meerhuys erriet es:
»Ja, ich glaube es wohl. Sie liebt Sie zu sehr, um es nicht zu tun.«
Er neigte den Kopf.
»Soll ich ihr sagen, was Sie mir gesagt haben? Alles?«
Sie war aufgestanden; in seinem Blick die Antwort erratend, die er nicht aussprach, ging sie.
An jedem Nerv zitternd, wartete er, die Augen auf die dunkle Öffnung gerichtet, in der sie verschwunden war.
»Spricht sie jetzt mit ihr? Wenn ich ihre Stimme nur hören könnte – nur den Klang! – O, diese Stille ist unerträglich!«
Er schrak empor – Frau Meerhuys stand vor der Tür.
»Kommen Sie,« sagte sie.
Er erhob sich, als geschehe diese Bewegung ohne seinen Willen. Sie erriet die Frage in diesen Augen, die sich so starr in die ihren bohrten.
»Nein, ich habe ihr nichts gesagt, es war nicht nötig – kommen Sie nur!« Sie öffnete die Tür zu einem hell erleuchteten Zimmer. Ada war da, er sah nur ihre Augen. Vor ihr niederkniend, barg er sein Gesicht in ihrem Schoß. Er fühlte die kühlen weichen Hände um seinen Kopf.
Endlich versuchte er zu sagen:
»Kannst du mir verzeihen?«
Allein er begriff, daß sie ihn nicht verstanden haben konnte.
»O,« sagte Ada tief aufschluchzend, »o, wie unglücklich bist du gewesen!«
Ihm war, als zerbräche alles in ihm.
»Bedauerst du mich auch noch,« schrie er, »großer Gott, bedauerst du mich auch noch?«
Sie neigte sich über ihn und schmiegte ihr bleiches tränenüberströmtes Gesicht, das in diesen wenigen Stunden schmal geworden zu sein schien, an das seine.
Er stammelte:
»Willst du mich ... willst du mich ... die Liebe lehren, Ada?«
ENDE.