Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Soemberbaroe ist ein kleiner Ort in dem Cheribonschen Binnenland, weit ab vom großen Wege gelegen, auf der hügeligen Grenze der Berge, die hier, Gipfel über Gipfel, zu den Höhen des Preanger emporsteigen, und dem flachen Lande, das sich weit und breit nach dem Meere zu ausdehnt.
Unermeßlich liegt die Ebene da, blaugrün bis zum Horizont, in der Regenzeit von dem Quecksilberglanz stehenden und fließenden Wassers, in den heißen Monaten von dem Golde reifen Reises durchglüht. An Nordost-Monsun-Tagen, wenn die Sonne in ihrem Zenit der weißglühenden Zunge einer rings umher emporschlagenden azurfarbenen Himmelsflamme gleicht, erscheint die Ebene selbst dem Auge wie ein Meer. Wie Wasser unter Wind vibriert der Boden in der vor Hitze zitternden Atmosphäre. Das Pflanzengrün, halb durchsichtig geschmolzen, liegt funkelnd und blitzend da, schwankend zwischen Blau und Gold. In dem Schatten vorübertreibender Wolken kommen kühlere Farben durch den Glanz zum Vorschein, das matte Graugrün von Bambusbüschen, das Braun von umgepflügter Erde, das Dächergrau eines kleinen Dorfes. Hier und dort leuchten grellweiße Blocks, über denen ein durchsichtiges Blau hängt: es sind Zuckerfabriken unter den Rauchwolken ihrer hohen Schornsteine. Eine Anzahl liegt da in der fruchtbaren Ebene, die entferntesten nur noch als unsichere Pünktchen erkennbar, die nähergelegenen deutlich und plastisch in ihrer steinernen Festigkeit. Von ihren Feldern aus sehen die Leute von Soemberbaroe sie wie harte Knoten in einem gelblichen Wegenetz. Durch die Maschen winden sich, schnaubend, kleine schwärzliche Dampfbahnen hin und her, und während der Erntezeit des Zuckerrohres kommen, gleich als wären es ganze Scharen von hellbraunen Raupen, die binnen weniger Stunden einen Baum kahlfressen, nicht enden wollende Reihen hochbeladener Karren auf jene viereckigen weißen Flecken zugekrochen und lassen den Boden nackt und braun zurück, dort wo sie darüber gegangen. Nach kurzer Zeit liegt dann die weite Ebene kahl und verarmt am Fuß der ewigen Berge.
In einem breit geschwungenen Halbkreis, dessen äußerste Enden zwischen dem Hellblau des Himmels und der Rundung von Wolken verschwinden, stehen sie hier majestätisch gegen den südlichen Himmel geschart, Gipfel neben leuchtendem Gipfel. Hinter der nördlichen Reihe, die, vom Fuß bis zum Gipfel, von der Ebene aus deutlich sichtbar ist, ragen in der Ferne höhere und dahinter wieder höhere und nochmals steilere Spitzen über jene Höhen hinaus, wie klare fein geschliffene Edelsteine in der Sonne leuchtend. Rings um den Tjeremai, dessen dreieckige Kuppe die Landschaft beherrscht, drängt sich eine Schar von Hügeln, breitrückig, mit glatten runden Köpfen und plumpen Flanken, die anschwellen und einsinken unter der grünen Last des Reises. Zahllos, Gruppe auf Gruppe, kommen sie aus der Ferne daher, eine gewaltige Herde von Riesentieren, aus der sich allmählich abrundenden Tiefe hinter dem Horizont emporgestiegen, wie aus einer Weltstromlawine, mit ihrem dunklen Grün, das schwärzlich ist von wolkenbildendem Naß. Und ihr himmelhoher Hirte, der Tjeremai, steht leuchtend.
Auf einem herabgleitenden Vorsprung der letzten Abhänge zwischen den Hügelhöhen und der weiten Ebene liegt Soemberbaroe. Das grün-goldene Lichtgefunkel der Rohrfelder und das Flimmern der heißen Luft spielt an den geflochtenen Schilfwänden der kleinen Hütten entlang, über die Dächer legt sich die feuchtriechende Kühle des Bergwaldes, und der Bach, der, weiß schäumend, aus der steilen Höhe herniederschießt, erhält das Gewächs auf den Feldern üppig. Aus der Ferne gesehen, erscheint der kleine Ort wie ein bröckliger graubrauner Kern in einer unregelmäßigen Masse von Grün.
Wer über den Hügelpfad näherkommt, sieht zwischen dem Baum hier und dort etwas Weißes leuchten – die von Pfeilern gestützten Giebel einiger holländischer Häuser, die da weiß, hoch, breit und in geringer Anzahl zwischen den braunen Hütten stehen, wie die Fremdlinge selbst zwischen den dunklen Kindern des Landes in einer starken Minderheit.
Es wohnen in Soemberbaroe ungefähr fünfzig Holländer – Europäer, wie sie sich in Indien zu nennen pflegen – gleich als wollten sie alle geringfügigeren Nationalitätsunterschiede in jenen allgemeinen Namen zusammenfassen, um sich in um so breiterer Menge von dem Asiaten zu scheiden, um die weiße Rasse in einen um so schärferen Kontrast zu der braunen zu stellen.
Nur in den kühlen Stunden, kurz nach Aufgang, kurz nach Untergang der Sonne sind sie auf den Landwegen zu sehen, wie sie sich langsam fortbewegen in dem schräg gestreckten Schatten der Njamplungbäume, die von beiden Seiten ihre Zweige einander entgegenbreiten. Die Männer von den Schuhen bis zum Hut in Weiß, die Frauen meist in dem bunten Sarong, der weißen Kabaja, und den kleinen Schuhen an den nackten Füßen – der nur wenig veränderten Tracht der Eingeborenen.
Eine langsame aber niemals aufhörende Verschiebung – das Kommen und Gehen der Beamten, die durch den Regierungsdienst hierhergeführt und nach ein paar Jahren wieder versetzt werden, verändert immer wieder die besonderen Züge jener Gruppe, deren allgemeiner Eindruck stets der gleiche bleibt. Es ist schon sehr viel, wenn dieselben Gesichter während vier oder fünf Jahren in dem Schatten dieser Njamplungs zu sehen sind. Ein denkendes, aber von der Welt da draußen nichts ahnendes Wesen würde sie für einen Stamm von Menschen halten, die in Gruppen von Greisen, Jünglingen, Erwachsenen und Kindern geboren werden, die vier oder fünf Jahre leben, um dann wieder in Gruppen zu sterben, plötzlich erstanden, spurlos vergangen, sich immerfort erneuernd inmitten eines anders gearteten, anders gebauten, anders gefärbten, anders lebenden und anders sterbenden Volkes, das, seltsam! mit seinen vielen Hunderten jenen wenigen unterworfen war.
Das aus der Ferne erkannte Braun der inländischen Strohdächer verschwindet vor den Augen dessen, der das Dorf betritt.
Vom Wege aus unsichtbar, hinter einer mannshohen glattgeschorenen Hecke aus dunkelblättrigem Gewächs, das an der Spitze in flammend rote Blumen ausbricht, liegen ihre braunen Häuschen wie Vogelnester, zierlich aus Blättern, Fasern und Rohr geflochten, und wie Vogelnester wohl versteckt in der Dichtheit der Blüten und der Frucht tragenden Baumgruppen. Die Bewohner sind vom Beginn der ersten Morgendämmerung bis zum Aufblitzen der Sterne im Freien und suchen nur während der Mittagshitze Zuflucht in ihrer Behausung. Die Dorfstraße aber liegt auch in jener heißesten Stunde nicht ganz verlassen. Zu jeder Tageszeit sind dort halbnackte, braune, sich leicht bewegende Gestalten zu sehen. Niedliche Kinder trippeln hin und her, von dem einen Hause zum andern, durch die Öffnungen der hohen Blumenhecken. Eine Schar von Frauen, die eine hinter der andern, schreiten vorüber auf dem Wege nach einem Passar Passar = Markt. in der Nähe; eine, schlank und hoch aufgerichtet unter der Last, trägt in einer flachen Reiswanne einen vielfarbigen Stapel von Früchten auf dem Kopf. Ihre Augen leuchten in dem Schlagschatten, der nach dem Rhythmus ihres wiegenden Ganges hin und her schwankt. Ein Knabe von etwa zehn Jahren treibt ein paar mächtig gehörnte Büffel vor sich her und schwippt einen langen wie einen Grashalm gebogenen Bambuszweig durch die Luft. Mit würdevoller Langsamkeit stapfen die beiden Tiere einher; sie kauen während des Gehens und stoßen den Atem in kleinen Wolken durch die weiten Nüstern aus. Unter dem Blätterdach einer kleinen Scheune steht eine Frau und stampft Reis, ihr Kind in dem schräg umgeschlagenen Slendang Slendang = eine lange Schärpe. auf dem Rücken tragend. Ein Mann kommt zurück von dem Ufer des Flusses, wo er Gras geschnitten hat. Das frische Grün hat er aufgehäuft in einer Art hohem und schmalem Käfig aus gerade aufsteigenden Bambusstäben. Zu beiden Seiten seines Schulterjochs hängt einer, übervoll. Der Träger sieht aus wie ein schwankender Grashügel, auf dem ein eigenartiger, pilzförmiger Hut liegt. Ein Landmann, vom Felde heimkehrend, geht neben seinem Büffelgespann, das, das dreieckige Joch auf dem Nacken, das Leitseil nach sich schleift. Er trägt seinen leichten hölzernen Pflug auf der Schulter.
Wenn es schon dunkel ist, erklingen noch immer singende Stimmen. Rings um das Feuer des Wächters, der jeden Vorübergehenden anruft, um die ewig gleiche Antwort »Prin« zu hören, hockt ein Kreis von Nachbarn. Ein Verkäufer von Früchten, Kuchen und süßen Getränken sitzt unweit davon mit einem Lichtchen, das seine leckere Ware bescheint, und Männer und Frauen kommen, dadurch angelockt, herbei. Irgendwo in der Dunkelheit sitzt ein Flötenspieler, seine Weise erklingt immer fort und fort, klagend und verliebt, und ein Mädchen schleicht klopfenden Herzens und mit angehaltenem Atem an der schilfgeflochtenen Wand des Hauses entlang, hinter der ihre Mutter noch nicht in Schlaf gefallen ist.
Wie alle Javaner, so leben auch die Leute in Soemberbaroe vom Landbau. Handwerk und Gewerbe kennen sie nicht, wenigstens nicht als Broterwerb; sie leben von, auf und mit ihrem Acker. Wer das Dasein und die Gewohnheiten der Gewächse kennt, kennt auch die ihrigen, und in dem Verhalten der Menschen sieht er, wie in einem Spiegel, den Stand des Feldes.
Ob der morastige Acker strichweise grüner wird von den sorgfältig gesetzten Reispflänzchen; ob das Unkraut, ausgejätet, verdorrend in den langen schmalen Furchen zwischen dem Zuchtgewächs liegt; ob der Ketella und die Katjangbohnen, kräftig wachsend, keiner Sorge mehr bedürfen; ob die Felder gelb sind vor Reife: das sieht er daran, daß die ganze Familie schon beim Morgengrauen das Haus verläßt und nur die allerkleinsten bei dem humpelnden Großmütterchen daheim bleiben; das sieht er an der nachlässigen Kleidung der Frauen, die müde und in gebückter Haltung den Weg entlang kommen, an der Ruhe, die die Männer, eine Zigarette rauchend, auf der Baleh vor dem Hause genießen, während sie das Heft eines Kris schnitzen, das sie mit der Handfläche polieren, oder allerhand Hausrat basteln, während die Frauen stundenlang vor dem Webstuhl oder dem Batikrahmen Batiken = Bemalen der Leinewand, aus der Kleidungsstücke angefertigt werden. gekauert sitzen; an der festlichen Kleidung aller Dorfbewohner, der Blume in dem Kopftuch der jungen Männer, dem Reismesser, das als Zierat in dem leicht geschlungenen Haarknoten der jungen Mädchen blitzt.
Wenn ein schlechtes Jahr nur wenige dünne Halme auf dem Felde hat emporschießen lassen oder wenn der Geldverleiher schon alle vollen weggeholt hat, verschwindet dieser oder jener eine Zeitlang aus dem Dorfe, und dann ist er im Tiefland zu finden, mit seiner Hacke über die klumpigen Zuckerrohrfelder gebückt, oder schwitzend zwischen den Kochpfannen der stinkenden Fabrik.
Wenn er aber, von der obersten Sprosse der Leiter herabschauend, den goldenen Haufen der Körner in der dunklen Reisscheune liegen sieht, dann gibt es Feste, dann ist viel Lärm vom Stampfen des Reises vernehmbar ringsum in den Häusern: in den rauchigen Küchen gehen die Feuer beinahe nie aus, die jungen Männer schleppen Holz und Wasser herbei, das sie in alten Petroleumkannen, an einem Joch schaukelnd, aus dem Fluß holen, und wer eine Flinte hat oder wer sich aus dem Stück einer Gasröhre und einem Holzklotz eine machen kann, der geht in die Berge und jagt Wild. Wenn er zurückkommt, ist er fröhlich und großsprecherisch. Er und seine Kameraden haben eine köstliche Last an dem sich biegenden Tragstock. Es wird gebraten und an Spießen aus grünem Holz geröstet, und Stücke blaßroten Hirsch- und bräunlichen Wildschweinfleisches, das die Frauen mit scharfen Kräutern eingerieben haben, liegen noch lange danach zum Trocknen auf den Dächern, in dem grellen Sonnenschein immer dunkler werdend.
Ein Ausflug in die Hügel ist für die Leute von Soemberbaroe wie der Gang zu einem Feste, das mindeste und allergeringste wird als eine Veranlassung, als Grund und als dringende Ursache genommen, sich dorthin aufzumachen. Wenn kein Wild verlangt wird zu einer Hochzeit, einem Beschneidungsfest oder einem »Slamettan«, Slamettan = halb-religiöses Fest, zur Weihe irgend einer Handlung oder Feier irgend eines Ereignisses. dann ist doch sicherlich Bambus aus dem Bergwald nötig, um vor Beginn der Regenzeit das Dach des Hauses mit den gespaltenen Latten zu belegen, die in versetzten Reihen wie Dachpfannen aneinander schließen, oder Rotang um die geflochtenen Wandfächer, die sich an den Nähten zu lösen beginnen, wieder aneinander zu flechten oder Wildholz für die Balken, in die der Holzwurm gekommen. Oft auch ist an dem Lauf des Wassers durch die Ackerkanäle zu bemerken, daß an der Leitung oben etwas nicht in Ordnung ist; wer weiß, ob die Leute von Langean in dem Hügelland nicht einen versteckten Graben ausgehoben haben, um das Wasser von Soemberbaroe für ihre eigenen Felder zu stehlen? es ist also sehr nötig, daß der Wasser-Aufseher, und wen das sonst angeht, sich das dort einmal ansieht!
In regelmäßigen Zwischenräumen kommt dann auch Langean mit dem Passar an die Reihe; und alle Frauen aus Soemberbaroe müssen dahin, um Aren-Zucker zu kaufen, der im Walde aus den saftigen Blütenstengeln der Palmen gewonnen wird, und frische zartfarbige Berggemüse, die sie vor den Häusern der Holländer feilbieten wollen, oder graue Tonkannen, Schüsseln und Näpfe, die die Hügelbewohner anfertigen. Und sie selber wollen dort Früchte verkaufen aus ihrem Garten und Fische aus dem Dorfteich und die Sarongs und Slendangs, die so lange schon vom Webstuhl und Batikrahmen genommen sind.
Und zu allen Zeiten geht in die Hügel, wer Gott um Glück bitten oder den Teufel überreden will, ihn mit Unglück zu verschonen, denn in dem Walde ist ein heiliges Grab, und die Gebete, dort unter dem Darbringen von Opfergaben ausgesprochen, werden sicherlich erhört, und die Träume dessen, der auf dem Grabe die Nacht zubringt, sind untrügliche Anzeichen.
Aus allen diesen und noch anderen Gründen gehen die Männer und Frauen aus Soemberbaroe in das Hügelland. So vielerlei Namen geben sie der unwiderstehlichen Kraft, die sie immer wieder nach den Höhen lockt. Sie ziehen in das Flachland um des Geldes: aber in die Berge um der Freude willen.
So liegt denn Soemberbaroe mit seinem einheimischen Volk und seinen fremden Beherrschern, mit seinen Feldern, seinen Schlagschatten, mit seinem Sonnenglanz, seinen wilden Bergströmen, mit seinen Wolken, seinem Winde, der vom Meer herüberweht und seinen strömenden Regengüssen weltentlegen da zwischen den schatzreichen Ebenen und den glücklichen Hügeln.
*
Als ihm der Gartenjunge des kleinen bescheidenen Hotels, das das einzige im Orte ist, van Heemsbergens Brief überbrachte, saß der Präsident des Landrats bequem da, in Schlafhose und Kabaja und las den »Java Bode«, während er schlürfend seine dritte Tasse Tee trank.
Er war ein Mann von reichlich fünfzig Jahren, schon grauhaarig, mit einem Bürgermeisterbauch, einem Doppelkinn und der gelblichen Farbe eines Leberleidenden, die sogar seine auffallend kleinen wohlgepflegten Hände zeigten. Die bräunlichen Schatten unter den leicht hervortretenden grauen Augen, die dünne krumme Nase, die platten Hängebacken gaben dem Gesicht eine gewisse Ähnlichkeit mit einem riesengroßen blassen Papageienkopf. Während des Lesens zog er, um seinen Kneifer im Gleichgewicht zu halten, die Nase ein wenig herunter, sodaß die vorstehende Oberlippe mit Schnurrbart dagegenstieß, mit genau derselben Bewegung, mit der der Vogel oft seine Backenfedern gegen den Schnabel aufsetzt. Das machte die Ähnlichkeit vollkommen.
Er erblickte den niederkauernden Inländer, legte seine Zeitung auf einen Stapel uneröffneter Dienstbriefe und Akten und nahm den Umschlag in Empfang, während er über seinen Kneifer hinweg die unbekannte Handschrift betrachtete.
»Das wird von ihm sein,« sagte er zu seiner Frau.
Die hagere Frau ihm gegenüber mit den allzugroßen Augen in dem eingefallenen, welken Gesicht richtete sich hastig in dem Stuhl auf, in dem sie sich ruhelos geschaukelt hatte.
»Jawohl, heute abend um sieben Uhr,« las der Richter vor.
Frau Oldenzeel stand hastig auf.
»Ich will mich rasch anziehen,« sagte sie, indem sie nach ihrem Schlüsselkorb griff.
Mit einem tiefen Seufzer trank Dr. Oldenzeel seinen Tee aus, kritzelte die Versicherung, daß Herrn van Heemsbergens Besuch ihm und seiner Frau außerordentlich angenehm sein würde, auf eine kleine Tafel, die der in kauernder Stellung Harrende mit einem Sembah Sembah, feierlicher Akt der Begrüßung, bei dem der Inländer niederkauert und die zusammengelegten Hände an die Stirne führt. entgegennahm, und eilte in das Schlafzimmer, um Socken und Lackschuhe anzuziehen und einen Rock und Stehkragen, bei deren bloßem Anblick ihm schon der Schweiß ausbrach.
Als er schwerfälligen Schrittes die Vordergalerie betrat, waren die Lampen bereits angezündet.
Frau Oldenzeel stand über die Balustrade geneigt und starrte hinaus, gleich als könne sie den schwarzen Wall der Dunkelheit mit ihren Augen durchdringen.
»Da ist er,« sagte sie plötzlich.
Einige Augenblicke vergingen, dann ertönte ein Schritt auf dem Kiespfad, und van Heemsbergen erschien.
Sie machte eine Bewegung zu ihm hin und versuchte vergeblich, etwas zu sagen, während er sich verneigte. Erst nachdem er ihr, mit ihrem Manne sprechend, eine Weile gegenübergesessen hatte, sah sie seine Züge deutlich.
Oldenzeel begann die Reihe von Fragen nach der Überfahrt, den ersten Eindrücken von Batavia und seinen Ansichten über das Klima, die van Heemsbergen schon so oft in genau derselben Reihenfolge und mit genau denselben Worten gehört hatte, daß er sie schon auswendig wußte wie das Einmaleins und sich hüten mußte, nicht schon die dritte Frage zu beantworten, wenn erst die zweite an ihn gerichtet war. Indessen trat diesmal eine neue hinzu: Wie ihm Soemberbaroe gefalle? und er sagte lachend, daß er von dem »Ort« noch nichts anderes kenne als die kaffeebraune dicke Wirtin eines primitiven Hotels und eine unsichtbare Landstraße. »Aber der Fernblick von den Hügeln aus ist prachtvoll.«
»So, finden Sie?« Der Richter sah ihn an, verwundert wie über etwas noch nie Gehörtes.
»Während des Südwest-Monsuns, wenn das Wetter klarer ist, sieht man noch mehr davon,« fügte er hinzu, nachdem er einen Augenblick nachgedacht, »man kann sieben Fabriken in der Ebene liegen sehen, – lauter Zucker.«
Frau Oldenzeel blickte auf, als wollte sie etwas sagen, schwieg aber mit einem Blick auf ihren Mann und ballte das Taschentuch zwischen ihren dünnen unruhigen Fingern.
Der Richter hüstelte leicht; und sagte dann in einem Ton, als beginne er erst jetzt das eigentliche Gespräch:
»Und was meint man in Batavia zu dem Gorontalo? Speziell zu den Chancen im Hinblick auf die Arbeiterfrage, meine ich.«
Van Heemsbergen sah ihn an, ohne ihn zu verstehen.
»Das ist eine neue Gesellschaft zur Ausbeutung von Goldminen auf Celebes,« sagte Frau Oldenzeel schüchtern, als sie merkte, daß der Angekommene nicht wußte, was Gorontalo bedeutete.
»Ah so, ich habe nichts davon gehört.«
»Nichts davon gehört?«
Dr. Oldenzeel rückte seinen Kneifer näher an die vor Verwunderung rund gewordenen Augen.
»Wie ist das möglich?« fragte er. »Wie ist das möglich?«
»Herr van Heemsbergen hat gewiß nicht viel in kaufmännischen Kreisen verkehrt,« warf die Frau des Hauses wieder schüchtern ein.
»Ja so – dann allerdings. – Es ist sehr schade, daß die Beamten sich hier in Indien so scharf von den Kaufleuten trennen – sehr schade – sie würden sonst sehr viel nützliche Geschäfts-Informationen erlangen können.«
Der Präsident des Landrats sah seinen neuen Aktuar an, als müsse er ihn persönlich mit verantwortlich machen für diesen bedauernswerten Zustand und dessen Folgen. Dann ließ er den Kneifer wieder fallen.
»Aber in dem Klub doch sicher wohl ...? Dort auch nicht? Ach, was Sie nicht sagen! Hm, ich werde Ihnen auseinandersetzen, warum ich danach frage,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, nicht imstande, diesen einmal angeregten Gedanken zum Stillstand zu bringen, bloß weil ein solcher Neuling nicht über indische Zustände orientiert war. »Der Kurs steht nämlich nicht gut heute abend.«
Er griff zwischen die Papiere, die van Heemsbergen für offizielle Akten gehalten hatte und die er jetzt als Prospekte und Berichte von allerlei Gesellschaften erkannte, und sagte, während er, die Brauen hochziehend, seinen Besucher scharf ansah:
»Um ganze elf Prozent gesunken, seit gestern. Und das kommt nur durch die Kulis – dadurch, daß sie nicht genug haben, wissen Sie. Das Erz ist wundervoll, einfach wundervoll. Man hat es zur Untersuchung nach Europa geschickt, und es hat einen höheren Gehalt als das Erz der sämtlichen südafrikanischen Gesellschaften, durch das die Engländer reich geworden sind. Es stecken dort Millionen im Boden, – Millionen, sage ich Ihnen! Die Frage ist nur, wie man sie herausholt. Wir haben die besten Ingenieure, die zu haben sind, und einen Sachverständigen, der bei »de Beers« gewesen ist, und die neuesten Maschinen, – aber mit den Kulis, sehen Sie, da hapert's. Die Kerls reißen aus. Und die Regierung ...«
Nachdem er sein Steckenpferd einmal bei der Mähne gepackt, setzte sich Dr. Oldenzeel vierschrötig darauf und trabte davon, daß die Funken sprühten. »Gesetzesbestimmungen« wechselten ab mit »Kontraktsicherheit«, »Einwanderung«, »Bemühungen der Regierung«, »den wohlerwogenen Interessen des Inländers«.
»Wo will der Mann nur hin?« dachte van Heemsbergen.
Der Reiter brachte sein durchgegangenes Tier zum Stehen und kam in langsamem Trab zurück.
– »Ja, so steht die Sache jetzt – ganze Vermögen auf der Straße, aber keine Hände, um sie aufzulesen. Es ist, wie es ist, aber es ist nicht so, wie es sein sollte,« schloß er seufzend, »traurig, traurig.«
Er nahm sein Glas Whisky-Soda vom Tisch und trank, während er zerstreut auf die kleinen Blasen sah, die aus der mattfarbigen Flüssigkeit emporstiegen.
Van Heemsbergen, der nicht wußte, was er sagen sollte, schwieg.
Es entstand wiederum eine Pause.
Frau Oldenzeel raffte all ihren Mut zusammen.
»Sie haben in Leyden gewiß unseren Sohn gekannt, nicht wahr, Herr van Heemsbergen?«
Sie sah ihren Besucher mit flehendem Blick an, während ihre welken Wangen sich leicht röteten.
Van Heemsbergen, welcher den jungen Oldenzeel, der zu denen gehörte, von denen man selten etwas sieht und niemals etwas hört, nur von Ansehen kannte, hatte ihn zufällig kurz vor seiner Abreise im Hause eines Professors getroffen. Er erzählte das.
»Ach, bei Professor Geerlings?« Frau Oldenzeel lächelte strahlend. »Er verkehrt gewiß viel bei Professoren, nicht wahr? Er fühlt sich immer so glücklich in einem Familienkreis, der gute Junge.«
Sie wischte sich die Augen.
»Gibt es viel angenehmen Familienverkehr in Leyden, Herr van Heemsbergen, und nette junge Mädchen? Es wird gewiß viel ausgegangen, nicht wahr? Ich frage wohl ein bißchen viel auf einmal, aber Sie müssen bedenken, so in der Ferne und aus Briefen kann man eigentlich so wenig ... wenn dann ein guter Freund kommt, der etwas von seinem Tun und Treiben weiß ...« Sie lächelte »Hermanns Freund« durch von neuem aufquellende Tränen zu.
»Wie verbringt er seinen Tag so etwa? Ich versuche mir immer ein wenig vorzustellen, was er in jedem Augenblick treibt ... dann sehe ich auf die Uhr ... man muß dabei natürlich an den Zeitunterschied denken! –«
Ein wenig aus der Fassung gebracht durch diese erwartungsvoll freudigen Augen, murmelte van Heemsbergen etwas wie »nicht gerade allzu intim« und »in einem anderen Klub«.
»Ja, ja, das verstehe ich – Sie gehörten natürlich einem älteren Semester an.«
Der alte Herr wurde sichtlich ungeduldig.
»Das heißt, Hermann ist jetzt auch schon in seinem zwölften,« sagte er schroff.
Das Rot brannte heißer auf den Wangen von Hermanns Mutter.
In einem Ton, der beinahe scharf klang, erwiderte sie:
»Es ist eben heutzutage nicht mehr so leicht, das Examen wird immer schwerer, nicht wahr, Herr van Heemsbergen? ...«
Und nachdem sie aus seiner ausweichenden Antwort geschlossen, daß er selbst sieben Jahre studiert habe, warf sie ihrem Manne einen triumphierenden Blick zu.
Van Heemsbergen fing ihn auf. Ein wenig hastig erklärte er, daß er, nachdem er seine Studien schon beinahe beendet, eine andere Richtung eingeschlagen habe.
»Ich hatte Staatswissenschaft studiert, aber da erschien Professor de Graves Buch über die Rechtszustände in Indien, und ich lernte ihn auch persönlich kennen,« sagte er in dem Ton, in dem man über etwas spricht, das seine Erklärung in sich trägt.
Dr. Oldenzeel fragte langsam, ob Professor de Grave nicht »augenblicklich« in Leyden das indische Recht doziere? Er müsse den Namen schon irgendwo gelesen haben, meinte er.
Van Heemsbergen sah ihn an.
»Das ist schon möglich,« antwortete er ironisch.
»Ja, ja, ich habe etwas über ihn gelesen, aber wo?«
Der Doktor der Rechte und indische Beamte suchte in seinem Gedächtnis, die Stelle zwischen den Augenbrauen mit dem Finger reibend, als müsse es da sitzen, als könne er dort die Antwort finden.
»Es ist mir augenblicklich entfallen, aber ich weiß, daß ich etwas über ihn gelesen habe,« schloß er.
»In der Zeitschrift vielleicht, Mann?«
»Das ist schon möglich, ja natürlich, da muß es gewesen sein. Wissen Sie, Herr van Heemsbergen, ich bekomme regelmäßig die »Mitteilungen von dem Verbande indischer Juristen«, und in dem Lesezirkel bekommen wir auch hie und da etwas ... nur schade, daß man nicht alles verfolgen kann ... man muß doch auch den Staatsanzeiger lesen, wegen der Ernennungen, und die Tageszeitungen, wenn auch nur wegen der finanziellen Berichte, und in dem bißchen freier Zeit ... wir sind auf dem Büro mit Arbeit überhäuft. Sie werden es bald genug merken. Man muß schon dankbar sein, wenn man nicht allzu sehr im Rückstand ist.''
»Das kann gut werden,'' dachte van Heemsbergen, indem er seinen Chef während dieser langen Tirade verwundert ansah, »er hat mal etwas gelesen über »de Grave« und den »Lesezirkel« und die »finanziellen Berichte in der Tageszeitung!«
»Um wieviel Uhr soll ich morgen auf der Kanzlei sein?« fragte er.
»Das Büro ist hier im Nebenhause,« antwortete der Präsident des Landrats gemütlich, »aber morgen haben wir gerade Sitzung, die findet in der Wohnung des Regenten statt, so gegen elf. Sie brauchen aber nicht dabei zu sein, wenn Sie etwa noch mit Ihrem Gepäck zu tun haben oder dergleichen, der Monat hat schon angefangen.«
»Wir haben morgen den Ersten,« antwortete van Heemsbergen erstaunt.
»Jawohl, jawohl, aber wenn man nicht eine Woche vorher auf dem Büro tätig gewesen ist, dann gilt dieser erste Monat nicht für das Gehalt, verstehen Sie? Aber wenn Sie trotzdem morgen gleich kommen wollen.«
Er sah seinen Hilfsaktuar mit runden zweifelnden Augen an.
Sich das Lachen verbeißend, antwortete van Heemsbergen, indem er gewollt feierlich die offizielle Formel wiederholte: »daß er gerne sofort mit den Aktuarsarbeiten belastet werden wolle.«
»Ah ... hm, so so ... hm ... das ist natürlich sehr schätzenswert ... Arbeitseifer bei den jungen Leuten ... die holländische Energie ...,« murmelte Dr. Oldenzeel, bezüglich der Bedeutung des Gesagten etwas irre geworden durch van Heemsbergens Gesichtsausdruck.
»Ich werde Sie also vor der Sitzung abholen, morgen um zehn ein halb Uhr.«
Van Heemsbergen stand auf.
»Ich werde Hermann noch heute abend schreiben, daß Sie hier gewesen sind, ich hoffe, daß wir Sie oft bei uns sehen werden,« sagte Frau Oldenzeel, während sie ihm beide Hände entgegenstreckte.
»Ich werde sehr gerne ... gnädige Frau ...«
Van Heemsbergen verneigte sich und wandte sich dann an den Hausherrn.
»Könnte ich vielleicht die Akten zur Durchsicht mitbekommen?«
»Die Akten? Ach, für die morgige Sitzung, meinen Sie? O, das ist nicht nötig, durchaus nicht nötig, Herr van Heemsbergen, ein einfacher Fall, so wie er hier alle Tage vorkommt. Und das Büro ist jetzt auch geschlossen. Floris – mein bisheriger Aktuar, ein Sinjo Sinjo = Halb-Blut. (Mischling). .... der weiß, wo alles liegt, aber ich, und noch dazu im Dunklen ... Also auf morgen, Herr van Heemsbergen ...«
Nachdem er den elastischen Schritt hatte verklingen hören, sagte Dr. Oldenzeel kopfschüttelnd:
»Wenn das nur gut geht mit dem jungen Menschen! Soviel Gelehrtheit ...«
Mechanisch strich er mit dem Finger über den Prospekt zur »Exploitierung der Gorontalo Goldminen«. Er dachte an den Sinjo, der die Arbeit aus dem ff verstand, der schrieb, als wäre es gemalt, und der nicht wußte, was das Wort »Rechtswissenschaft« bedeutete.
Frau Oldenzeel kam auf ihn zu, legte ihren Arm um seinen Nacken und küßte ihn auf die runzlige Stirn.
»Siehst du's nun wohl, Alterchen?«
Er verstand, was in den paar Worten und in dem Blick lag – die Hunderte von Trostreden, Versicherungen, Entschuldigungen und Versprechungen, die er schon so oft vernommen hatte, wenn Hermanns Name zwischen ihnen genannt wurde. Und er hatte nicht den Mut, ihr mit der Frage zu antworten, was sie denn eigentlich in van Heemsbergens wenigen Worten über ihn so besonders beruhigend gefunden habe.
Er stand auf und drehte mit seiner zur mechanischen Gewohnheit gewordenen Sparsamkeit die Lampe aus.
Sie nahm seinen Arm, ihren Schritt nach dem seinen regelnd, während sie nach der Hintergalerie gingen, wo der Boy den Tisch deckte.
»Eine gute Flasche heut abend, Alter?« fragte sie und blickte beinahe schalkhaft zu ihm auf.
Er legte seine Hand auf die dünnen Finger, die er durch das Tuch hindurch auf seinem Arm brennen fühlte.
»Ja, ja, Mutterchen,« antwortete er mit einem Seufzer.
*