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In der Himmelpfortgasse hoch in Weiß und Gold stand der Dom des Markus Kobler. »Paradies« stand in goldenen Lettern über dem Portal.
Jede Nacht stand Albert, der Nachtportier, in weißgoldner Uniform am Portal.
Punkt halb zwei kam jeden Morgen, schwitzend, geldgeil, geil nach Weibern, der Hausherr Kobler zum Portal.
Überirdisch und unterirdisch tobte grelle Musik. 182
Am zweiten Portal stand der Neger Portier.
Koblers Erscheinen am Hauptportal bedeutete: Torschluß.
Der jüdische Portier schloß das Tor, trat seinen Inspektionsgang an.
Im Souterrain quiekte Zigeunermusik. Im Erdgeschoß war ein großer Ballsaal. Im ersten Stock war ein großer Spielsaal. Im zweiten Stock waren viele kleine blaue Zimmer, viele blaue Himmelbetten. Im dritten Stock paukte ein gellender Marsch. Männer saßen in den Logen, ohne Ende zog vorbei der Marsch der nackten Damen.
Durch alle Säle tappte der Nachtportier, der täppische Kantor, singend unhörbaren Gesang Gottes. Wie ein geblendeter Soldat in mörderischer Schlacht tastete er sich hin.
»Feuer!«, kommandierte ein betrunkener Kavalier, die Zigarre im bewußtlosen Maul; mit der Kerze beugte der Nachtportier sich nieder, gab Feuer dem betrunkenen Kavalier.
Wie ein geblendeter Soldat tastete sich der Nachtportier ins dritte Stockwerk. Ein Weinglas flog 183 ihm ins Gesicht, er las die Scherben auf, kehrte zum Portal zurück.
Der Neger-Portier übergab ihm die Schlüssel, verschwand.
Der jüdische Nachtportier hielt Wache. Er blickte auf seine Hände nieder. In seinen Händen hielt er umfangen, gewölbt zum Kelch, die Wölbung der Brüste, die zarten Orangen, die herben Zitronen, die unreifen Birnen. Alle kannte er schon, die Mädchen der Mutter Pally, die Mädchen der Mutter Clairon, die zwanzig spanischen Mädchen, die sieben Holländerinnen; in seinen Händen hielt er alle umfangen. Dann blickte er in den Spiegel und sah seine Augen an. Im kalten Spiegel sah er die Augen aller Männer, trunkene, flackernde, kalte, alle kannte er schon. Alle Musiken kannte er schon: das Gequiek der Zigeunermusik im Souterrain, das silberne Menuett im Erdgeschoß, den Tanz der Millionen im ersten Stock, das Ächzen der Betten im zweiten Stock. In seinen Ohren waren alle Musiken. In seinen Augen waren alle Leidenschaften. In seinen Händen waren alle Lockungen. 184
Die ersten Gäste gingen, spuckten ihn an, steckten ihm Geld in den Mund. Er tappte ans Tor, öffnete täppisch, sang unhörbaren Gesang Gottes. Unhörbar sang der täppische Kantor:
Wir Armen . . .
Wir Armen . . .
Über die Treppe schwankten die Menschentiere. Der jüdische Nachtportier öffnete täppisch. Unhörbar sang der täppische Kantor:
Wir Armen . . .
Wir Armen . . .
Der große Lasterdom schwieg.
Zuletzt kam der Hausherr Kobler, er murmelte: »Siebenmalhundertsiebzigtausend Saldo.« Täppisch öffnete der Nachtportier, unhörbar sang der täppische Kantor:
Wir Armen . . .
Wir Armen . . .
»Was nützt das alles . . . Alles zu wenig . . .« murmelte der Hausherr Kobler, murmelnd bog er um die Ecke.
Der Nachtportier löschte die Lichter, öffnete die 185 Fenster, ließ die Morgensonne ein, ungeheuer schwieg der Dom.
Langsam stieg der Nachtportier die Treppe hinab. Plötzlich lauschte er.
Lauschend stand er, lauschend ging er einer Stimme nach, an einer Tür im zweiten Stock horchte er, eine Stimme stöhnte hinter der Tür. Er klopfte an, er trat ein. Stöhnend lag ein Mädchen im blauen Himmelbett, auf der blauen Seidendecke glänzte Blut.
»Nach Hause . . .« flüsterte die Kranke. Er kleidete sie an, trug sie vors Haus, pfiff einem Wagen, setzte sich neben sie. In seinen Armen schlief sie ein, unhörbar sang der täppische Kantor:
Wir Armen . . .
Wir Armen . . .
Der Wagen hielt.
In einer finsteren Kellerwohnung empfing sie ein wütendes altes Weib: »Das ganze Kleid blutig . . . Hab' ich's nicht gewußt? Leg' dich und krepier.«
Dunkel schwieg die Kellerwohnung. 186
»Gehn Sie nur, wir brauchen nichts«, sagte die Alte mit einem Blick auf die weißgoldne Livree.
Hastig zog der Nachtportier Geld aus allen Taschen, sie nahm es und lächelte süß: »Wird schon gesund werden . . . ist ein braves Mädel . . . und ein hübsches Mädel.«
Über das Krankenbett geneigt, saß er den ganzen Tag. Die Kranke erwachte, sah den Fremden an, die weißgoldne Livree, sie erkannte den Nachtportier. »Wie spät«, fragte sie, in ihrem Mund war Blut, sie warf es aus, es warf sie zurück. »Du mußt gehn, sonst verlierst du deinen Posten«, sagte sie. »Hier ist mein Posten«, sagte er.
Der Arzt kam und ging gleich: »Bis morgen«, sagte er vor der Tür. Die Kranke zerrte an ihrem Hemd, es triefte von Schweiß. Albert nahm es ihr ab, er hielt den nackten Leib in den Armen, er hielt sein ganzes Leben in den Armen. Er nahm ein Hemd aus dem Schrank und bekleidete die Sterbende mit dem Sterbehemd.
»Sag' etwas«, bat sie. Er beugte sich nieder und sagte: »Du wirst leben, schöneres Leben wird sein, 187 in Reinheit wirst du leben.« Eine Stunde später war sie tot.
Der Nachtportier wankte in seine Wohnung. Die weißgoldne Livree zog er aus, den schwarzen Gehrock zog er an, den gespenstischen Gehrock, gehaßt von Etelka, gebürstet von Malvine. Wie einen Leichnam trug er die Livree auf beiden Händen zu Kobler, der brüllte: »Hinaus!« Einen Tritt gab Kobler dem gespenstischen Gehrock. Der Getretene verließ das Haus der bestandenen Prüfung und trat auf die Straße.
Deutlich hörte er die Musiken herüberklingen, das Gequiek der Zigeunermusik, das silberne Menuett, den gellenden Marsch, deutlich hörte er das Ächzen der Betten, lauschend entfernte er sich, lauschend trat er in ein Kaffeehaus.
Rauchwolkenriesen beugten sich über ihn, sie schreckten ihn nicht mehr, er war so groß wie sie, er wuchs über sie hinaus, er sprengte die Decke, er sah die Menschen der Erde verstrickt in bösem Wachen, verstrickt in bösem Traum. Keiner war da, den er nicht kannte, keiner, dessen Geheimnis er nicht wußte. 188 Liebreich beugte er sich nieder, endlich ganz gebeugt. »Lassen Sie sich wahrsagen, es kostet nichts«, sagte er zu einem feisten Ehepaar. Ein dicker roter Mann saß verdrießlich neben einem dicken roten Weib, die kleinen lüsternen Augen waren nach links, nach rechts gedreht. »Lassen Sie sich wahrsagen!« Der gespenstische Gehrock beugte sich über den dicken roten Mann: »Sie werden Glück haben, Sie werden gesegnet sein,« – das dicke rote Gesicht verklärte sich – »aber in Reinheit müssen Sie leben, in Reinheit leben!« Der dicke Mann ballte die Faust, die Frau steckte eine Krone in den gespenstischen Gehrock. »Gehn Sie!« schrie der Mann. Der Gehrock flatterte zum nächsten Tisch, dort saß ein Mädchen zwischen zwei Männern. Der Gehrock beugte sich über den Tisch: »Lassen Sie sich wahrsagen, es kostet nichts! Sie werden Glück haben, Sie werden gesegnet sein, aber in Reinheit müssen Sie leben, in Reinheit leben!« Das Mädchen kreischte vergnügt, die beiden Männer wälzten sich vor Lachen, der eine schrie: »Hausierer mit Reinheit!« Die andern Tische wurden aufmerksam. »Hausierer mit 189 Reinheit!«, brüllte der ganze Saal, der Gehrock flatterte auf die Straße, »Hausierer mit Reinheit!«, brüllte man ihm nach, er ging, das Echo blieb. »Hausierer mit Reinheit« ward er benannt in allen Straßen, durch die er ging, in allen Städten, durch die er wanderte, er aber liebte die Menschen, weil er ihr Geheimnis wußte und das Geheimnis Gottes.