Ludwig Winder
Die jüdische Orgel
Ludwig Winder

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Zweites Kapitel

Das Glück, dem Vater entrückt zu sein, war beträchtlicher als das Heimweh in Prerau; auch ohne Zwang zu nächtlichem Talmudstudium war das letzte Jahr unter des Vaters Blick qualvoll gewesen. Daß die Stadt häßlich auf dem stoppelgelben Brett Hannaebene lag, daß ein grauer Herbsthimmel und ein graues Gymnasium alles war, was Albert zu sehen bekam, störte ihn nicht, auch das Häßliche war neu, war anders häßlich als die Welt des Vaters, die Welt der Donnerworte, des feurigen Dornbusches, der in Träumen noch immer den Knaben schreckte.

Im Hause regierte der Oberkantor Samuel Gehorsam, ein Mann, der sang und schrie. Am Morgen schrie er, puffte üble Laune aus; seine 27 eingeschüchterte Frau, üppig geformt, lief ihm in einer unförmigen Nachtjacke durch alle Zimmer nach, Wünsche erratend, nach Befehlen fragend, nichts war ihm recht. Im Speisezimmer stand ein Klavier, nach dem Mittagessen sang und spielte der Oberkantor; Albert saß in seinem engen Kabinett und hörte zu, trank Wohllaut, Ahnung einer schöneren Welt. Schrie Samuel am Morgen, dachte Albert: Du kannst singen und Musik machen, dein Schreien und Wüten ist nur ein kleines Stück von dir, ich höre es gar nicht.

Am Abend war das Haus sehr still, spät kam der Oberkantor heim, oft nach Mitternacht, gewöhnlich verschlief Albert das Laute, Lärmende. Im Nebenzimmer schlief die Frau, ein Bett krachte, da fiel ein schwerer müder Körper hin, dann war nur Uhrticken, Summen der Stille. Kam der Mann, klatschte es, dann brüllte, sang der Oberkantor, Stiefel flogen an die Tür, die Frau sagte: »Ich bitt' dich, Sami, weck' nicht den Buben auf.« Dann klatschte es noch einmal, des Oberkantors Hand klatschte nieder auf den Nacken, das Gesäß, den 28 dicken Arm der Frau, der Oberkantor sang: »Ich hab' gewonnen im Tarock.« Gleich darauf schwieg das ganze Haus, mitten im Schreien schlief der Oberkantor ein.

Einmal erwachte Albert, im Nebenzimmer atmete es heiß, ein Bett knarrte, er verstand nicht, zündete eine Kerze an, nie hatte er in der Nacht Licht gemacht. Da war ein schwarzes Gewimmel auf und unter dem Teppich, an den Wänden kroch es auf und nieder, kleine und große Russen krochen auf das Bett zu, wanderten vom Bett zur Tür, von der Tür zum Bett. Albert fürchtete sich, Ekel schüttelte ihn, aber im Nebenzimmer knarrte ein Bett, atmete es heiß, unwiderstehlich trieb es ihn, aufzustehen, durch das schwarze Gewimmel zu schreiten, durchs Schlüsselloch zu gucken. Ein Blick, dann sprang er mit einem Satz ins Bett, löschte die Kerze aus, schweißgebadet lag er im Bett, die Zähne zerschnitten die Decke, einen Polster stopfte er in den Mund, Grauen war da, marternder als alles Grauen im Vaterhaus.

In dieser Nacht schlief er nicht. 29

Am Morgen stand er vor den andern auf, alles schlief noch. Mit geschlossenen Augen flog er durchs Schlafzimmer, ein wichtiges Schulbuch entfiel seiner tastenden Hand, er ließ es liegen, rannte hinaus, durchraste Nebelstraßen; im Stadtpark sank er auf eine Bank. In weißem Nebel saß er zwei Stunden, Gliedmaßen hingen in gräßlicher Verschlingung in der Luft, senkten sich wie riesige Rüssel, brachen seinen Mund auf, er erbrach sich. Im Nebel ging er zur Schule, der Professor hatte einen kurzgehaltenen Vollbart wie der Oberkantor, Albert starrte ihn an, wurde gestraft, hämische Blicke freuten sich über den gestraften stillen Musterschüler, beschämt ging er nach Hause, der Nebel war verschwunden. Vor dem Hause fing sein Herz rasend zu schlagen an, auf den Stiegen klopfte es in allen Adern, der Hals klopfte wie ein schwerer Eisenhammer. Am gedeckten Tisch saß das Ehepaar; Albert sah zum erstenmal eine Frau, zum erstenmal den großen roten Frauenmund, schwer lagen die ungeheuren Frauenbrüste über dem Tischtuch, unter den Tisch mußte er blicken, das weiße Tuch verdeckte 30 alles, er dachte: dort sind die auseinandergespreizten Schenkel, ich kann sie nicht sehen, aber ich sehe sie. Solange ich lebe, werde ich nichts anderes sehen.

Nach dem Nachmittagsunterricht ging er wieder in den Park, statt wie sonst die Bücher nach Hause zu tragen. Von zwei bis drei hatte die Sonne geschienen, nun fiel der erste Winterschnee, dunkel standen Bäume, immer weißer fiel der Schnee, bald war die Bank eingeschneit, Albert blickte nieder auf weiße Gebilde. Die Schneedecke auf der Bank kühlte und tat wohl. Aber ringsum wellte es sich, Berge und Täler entstanden, immer wieder ein weißer Berg und ein weißes Tal, weiße Brüste wuchsen überall, große atmende Brüste. Am Ende der Allee wuchsen zwei zusammengewachsene Tannen von Minute zu Minute, kamen näher, riesige behaarte Männerbeine wuchteten nieder, über Brüste gebeugt. Albert schloß die Augen, ein Parkwächter rüttelte ihn, kaum fünf Minuten hatte er geträumt, nun lief er nach Hause, ein verfolgter Verbrecher.

Die Frau saß beim Ofen und strickte. Albert blickte scheu die derben zerstochenen Hände an, die 31 ernüchternde formlose Gestalt im grauen Rock; durchs Schlüsselloch sah er ihr stumpfes Glotzen, erschöpft sank er nieder.

In der Nacht wartete er. Einschlafenwollen war sinnlos, im Bett aufgerichtet saß er und wartete. Kurz nach ihm ging die Frau schlafen, ein Bett krachte, da fiel ein schwerer müder Körper hin, Albert sah mit zugepreßten Augen das Strickzeug, die formlose Gestalt im grauen Rock, ihr stumpfes Glotzen: das war eine Rettung. Aber als das Uhrenticken immer lauter wurde, fiel der graue Rock ab, es blitzte weiß, immer wacher sah er weißes Blitzen, so vergingen Stunden. Nach Mitternacht kam der Oberkantor nach Hause, Stiefel flogen an die Tür. »Hast du gewonnen?« fragte die Frau; der Mann antwortete nicht, brummte nur, gleich darauf schlief alles. Albert sank zurück, atmete auf, horchte noch ein Weilchen, dann schlief er ein.

Um halb acht erwacht, sprang er auf, der Schulweg war weit, das Zuspätkommen unvermeidlich. Der bärtige Professor musterte höhnisch den Langschläfer, 32 nahm das Klassenbuch, diktierte sich selbst laut: »Wolf zehn Minuten zu spät gekommen.« Dann rief er: »Wolf, das Pensum!« Albert starrte den Vollbart an, da soufflierte eine Stimme, Albert sprach einen Satz nach, es ging schlecht und recht. »Setzen«, sagte der Professor. Albert gehorchte, drehte sich um, Berthold Alter hatte souffliert. Noch nie hat Berthold Alter mit mir gesprochen, warum hilft gerade er mir? dachte Albert.

In der Pause sprach Berthold Alter ihn an: »Komm nachmittag mit mir, Wolf.«

In der Palackystraße herrlich wohnte Alter; schweigend traten sie ein, niemand war da, die Eltern verreist, die Dienstmädchen beurlaubt. Alter schwieg noch immer, Albert, eingeschüchtert, wollte das Schweigen nicht brechen, auch gab es viel zu sehen, ein Klavier, ganz schwarz und glänzend, wunderbare Bilder, ungeahnte Pracht. »Tee«, sagte Alter, stellte einen silbernen Samovar auf die rotsamtne Tischdecke, Wasser sang beruhigend.

Berthold fragte leichthin, geschäftig über den Samovar gebeugt: »Wie alt?« »Elf«, flüsterte Albert. 33 Der andre nickte wohlgefällig: »Junger Hund. Ich beinah' dreizehn, einmal durchgefallen.«

Sie tranken aus dünnen blauen Schalen Tee. Plötzlich warf Berthold hin: »Ja, Ränder unter den Augen, untrügliches Zeichen.« Heftig stellte Albert die Schale hin, was wußte der, wie war das möglich. Endlich war kein Tropfen Tee mehr da, Berthold führte den Schüchternen zur Ottomane, streckte sich bequem aus, fragte sachlich: »Wie lange treibst du's schon?« Nach einer Pause: »Zu zweit ist's hübscher, wir wollen Freunde werden.«

Da Albert verständnislos dastand, packte ihn Alter mit hartem Griff, wollte ihn niederziehen, Albert sah die Augen des Fremden erglühen, ein Ruck ging durch Alters Körper, in Ekstase vergaß er den andern. Albert stand versteinert; kaum eine Minute währte die Erstarrung, dann lief er zur Tür, lief auf die Straße, zitternd blieb er vor dem Hause stehen. Zu viel, zu viel, ich muß sterben! dachte er. Verzweifelt blickte er auf die Hand nieder, die der andere krampfhaft gehalten hatte, die Hand war plötzlich ein widerwärtiges großes Tier, ekelhaft wie 34 eine Ratte. Gewiß ist auch mein Gesicht verzaubert, alle Menschen blicken mich an, dachte er, mein Gesicht ist ein ekelhaftes Tier, ich muß den Mut haben, es anzublicken. Er stand vor einem Herrenmodegeschäft, eine große Scheibe glänzte in elektrischem Licht, er blickte hinein; es war sein Gesicht, ein wenig gerötet, aber keine Verwandlung war zu sehen, die Form war unverändert. Auf die Glasscheibe legte er die Hand, Kühle drang ein, segensreich ein, die Hand war wieder Hand. Ich habe geträumt, dachte er erleichtert, im Tee war Rum, ich war betrunken. »Geh weiter«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm; ein Verkäufer aus dem Herrenmodegeschäft, nicht viel älter als Berthold Alter, öffnete schwungvoll die Auslage, nahm eine Krawatte aus dem Fenster, schloß die Auslage und verschwand im Laden. Dieser ist rein, dachte Albert, alle sind rein, man darf nur keine unreinen Gedanken aufkommen lassen, man darf keine Zeit zu unreinen Gedanken haben. Mutig betrat er wieder Alters Haus, um die vergessenen Schulbücher zu holen, gleich im ersten Zimmer lagen sie auf dem 35 Tisch, unbemerkt wollte er die Tür schließen, aber Berthold hatte ihn gehört, lachte »Schaf!« Albert stürzte hinaus.

In seinem Kabinett studierte er eineinhalb Stunden. Alle Aufgaben waren geschrieben, das Pensum auswendig gelernt, noch lag endlos der Abend vor ihm. Albert nahm hebräische Bücher, Talmudaufgaben hatte der Vater gestellt, Weihnachten sollte Prüfung sein, noch war nichts getan. Von deinem Geist laß mich erfüllt sein, mein Gott, sagte Albert laut; da wurde lebendig das tote Wort, der Talmud ein großer Saal der Weisheit, sternenüberdeckt, besessen arbeitete Albert mit Haupt, Händen, Füßen, Gemurmel wechselte mit lautem Geschrei ab, der Körper flog nach vorn und rückwärts, nach links und rechts, die Zeit reichte nicht aus, ein Rätsel der heiligen Bücher war gelöst, zehn neue stellten sich auf, standen da, drohend, unentrinnbar. Auf dem Tisch stand das Abendessen, Albert rührte es nicht an, zu Tode ermüdet schlief er ein.

Weihnachten im Vaterhause sperrte der Vater mit 36 dem Sohn sich ein, zehn Tage Ferien wurden zehn Tage Marterung. Vergessen hatte der Vater die Warnung, entschieden stellte er seine Forderung. sie mußte erfüllt werden, alles andre war Lästerung. Daß der Sohn in Prerau studierte, war eine Konzession, die Gemeinde zahlte alles, Widerspruch war nicht zu motivieren. »Geh in Prerau nicht in den Tempel, geh ins Bethamidrasch,« sagte der Vater, »der Oberkantor ist kein frommer Mann, sprich nicht mit ihm, sprich mit keinem, sprich mit dem Talmud, das genügt für ein ganzes Leben.«

In diesen Tagen trennte Albert sich endgültig von Vater und Mutter, sie lebten abgeschieden, sie konnten ihm nicht helfen, es war eine andere Welt, eine Welt für alte Leute. »Wie alt bist du, Mutter?« fragte er, als sie ihm das Geleite zum Bahnhof gab. »Vierzig«, sagte sie. Das ist nicht wahr, dachte er, hundert Jahre ist sie alt, tausend Jahre ist sie alt, tausend Jahre liegen zwischen mir und ihr. »Hast du nicht zu klagen, mein Kind«, fragte sie ihn, als sie ihn zum Abschied küßte, da sagte er nein, denn er wußte: zu helfen war ihm 37 nicht. Aber als er schon im Zug saß und vom Coupéfenster zur Mutter sich niederbeugte, sagte er, was er zehn Tage lang aus Scham nicht gesagt hatte: »Mutter, ich möchte gern übersiedeln, nicht mehr beim Oberkantor wohnen.« »Warum, mein Kind, das geht doch nicht«. sagte die Mutter. »Natürlich geht es nicht«, sagte er und trat zurück, der Zug setzte sich in Bewegung.

Wieder in Prerau, fühlte er hinschwinden die von Gott durch aufreibendes Talmudstudium schwer erkaufte Sicherheit; Gott überlegte, ob er den Kaufpreis täglich zahlen solle. Müde schlief Albert um neun Uhr abends ein, um zwölf erwachte er, unnatürlich scharf war sein Gehör. Selbst wenn es nichts zu hören gab, knarrte ein Bett, atmete es heiß. In der Schule sogar, mitten im Unterricht, in der Turnstunde, auf dem Heimweg, überall war der Dämon, überall kitzelte, stach, brannte er den Gepeinigten, endlich unterlag Albert.

Am Abend und am Morgen lag er fiebernd im Bett, der Dämon führte ihm die Hand; in letztes Dunkel zurückgesunken, durchfuhr ihn unendlicher 38 Gewalten Rotglühen und Erkalten, der Dämon führte ihm die Hand. Keinem Menschen konnte er mehr ins Gesicht sehen, jeder wußte die Schande, jeder wich ihm aus. Ihr kennt mich gut, gerechte Richter! dachte er, Unrat bin ich, ins Dunkel gehöre ich hin, ihr aber lebt hoch im Licht, mit reinen Händen umschließt ihr eine reine Welt. Alle Menschen waren hohe Richter, die das Verdammungsurteil sprachen und mit Abscheu von dem Unrat sich abwendeten.

In den Sommerferien war nicht mehr der Vater der gefürchtete zerschmetternde Richter: die Mutter war es. Nun hatte sie den großen zerschmetternden Blick. Einmal wird sie sprechen, fürchtete er, ihre sanfte Stimme wird ein Wort sprechen, das wird mich töten. Sprich es endlich, bat er jeden Morgen vor dem Aufstehen, warum zögerst du, warum verschiebst du die Hinrichtung, warum quälst du mich so furchtbar. Dem Vater drängte er sich auf, der Vater war unverändert, nichts sah er als die heiligen Bücher, nichts wollte er als die gute Unterwerfung, die bedingungslose Unterwerfung; 39 manchmal nickte er sogar beifällig. Wenn der Sohn sich endlos martern wollte, nickte der Vater beifällig, dankte Gott: Mein Sohn ist Geist von meinem Geist.

Nach den Ferien, noch tiefer sich zu erniedrigen, noch gräßlicher sich zu beschmutzen, sprach Albert den Verführer Berthold Alter an. Seit Monaten war einer dem andern ausgewichen. Nun ging Albert ihm nach, vor dem prächtigen Haus in der Palackystraße gestand er alles dem Fremden, unheilvoll verstrickt, verdreckt, besudelt wie er. Berthold aber nahm nicht die dargereichte Hand, hochmütig wuchs er ins Riesengroße, indem er sagte: »Überwundene Kinderkrankheit, ich bin längst darüber hinaus.« In das vornehme Studierzimmer nahm er den Beschämten mit, er blätterte ein Buch auf, sein Zeigefinger wies auf eine rot angestrichene Stelle, Albert las, was ihm bevorstand: Rückenmarkleiden, vollständige Verblödung, langsames Absterben des Körpers, zuletzt qualvoller Tod. Schadenfroh blähte sich der Ältere. »Gibt es keine Rettung?« hauchte Albert. Berthold drückte einen Knopf, ein 40 Stubenmädchen erschien, der Sohn des Hauses umarmte es, blickte triumphierend den Zerschmetterten an. Hinausstürzte Albert in den gelben Oktoberabend.

Rückenmarkleiden, vollständige Verblödung, langsames Absterben des Körpers, zuletzt qualvoller Tod, alles zu wenig; verachtet, ausgestoßen leben, alles zu wenig; von der ganzen Klasse im Traum ertappt werden, der Jugend der ganzen Stadt als abschreckendes Beispiel gezeigt, alles zu wenig; noch mehr Schrecken muß es geben, noch mehr Verdammnis, noch mehr Erniedrigung. Alles, alles wird über mich kommen, in Trauerkleidern auf dem Fußboden »Schiwwe sitzen« wird mein Vater, anspeien wird mich meine Mutter, das alles wird über mich kommen. Frech ins Gesicht lachte er den Menschen: wie tugendhaft gehn sie ihres Weges, wie mitleidig glänzt ihr Gesicht, wenn sie einem Bettler einen Heller schenken; und niemand hilft, wenn ein Mensch im eigenen Schmutz erstickt. Auch Gott hilft nicht. Gras und Kräuter ließ er aufgehen, auch Bäume, die Frucht tragen, Lichter an des Himmels Wölbung, die großen Seeungeheuer schuf er, 41 unreines Vieh rettete er in der Arche Noä, um den Tisch und den Rauchaltar und die Geräte und den reinen Leuchter und den Brandopferaltar seines Tempels kümmerte er sich, um die Amtskleider für die Priester und das Salböl und das wohlriechende Räucherwerk für sein Heiligtum kümmerte er sich, aber um die Pest, mit der er mich geschlagen hat, kümmert er sich nicht, um den Gestank, in den er mich verwandelt hat, kümmert er sich nicht!

Eine Tröstung kam: Albert sah, daß er Leidensgenossen hatte. Sie bildeten eine Gruppe in der Klasse, verlacht und verhöhnt von der andern Gruppe, deren Führer Berthold Alter war. Zwischen beiden Gruppen stand Albert. Er wußte, welcher er angehörte; zur andern hinüberzuschwenken war sein fernes, unerreichbares Ziel.

Sechzehn Jahre alt, wagte er den ersten Annäherungsversuch. Er stieß auf Widerstand. Gespräche hörte er, die widerlich rochen, Bilder und Photographien zeigte man ihm, so ekelhaft, daß er ausspuckte. Aber er stahl und kaufte sie, denn er sagte sich: das ist die Rettung. In die Bordellgasse ging 42 er mit, ihm schwindelte vor den Brüsten, die in Fenstern sich enthüllten. Qualvoll war es, immer hinter den andern als Feigling zu schleichen; seine Augen sahen nichts als Flammen hinter Fenstern, Häuser in Flammen, die Gasse in Flammen, aber er ließ sich gern von den andern verhöhnen, er dachte immer nur eins: das ist die Rettung.

Einmal endlich schlich er ganz allein die wohlbekannte Hurengasse ab. Es pochte an Fensterscheiben, es lohte weiß und rot in allen Fenstern, weiße und rote Feuerwolken stürzten sich aus allen Fenstern über ihn, in großem Gewitter stand er. Aufstieß er mit schlotternden Knien eine Tür, ein kleines blondes Mädchen kam ihm entgegen, weißes Hemd und blaues Band, es warf sich hin, es streckte den Arm aus. Er stand hilflos mit schlotternden Knien und sah und hörte nichts, ohnmächtig fiel er hin. Erwacht, sah er sich liegen neben der Liegenden, sie aß eine Orange. Das Mädchen sprang auf: »Ich kann nicht meine Zeit vertrödeln, gib das Geld und komm wieder, vielleicht geht's nächstens.«

Albert ging zur Betschwa, grau und trüb floß das 43 Wasser abendwärts. Hinter dem Fluß klebte die Stadt auf dem frühlingsgrün angestrichenen Brett Hannaebene. Das Ufer begann zu duften. Albert warf sich hin, in Lehm kniete er, kaum war noch Leben in ihm. Noch einen Schritt, dachte er, noch einen einzigen Schritt, dann Ruhe und ewiger Schlaf. Alles ertrinkt mit mir, das heiße Atmen, das knarrende Bett, das Mädchen, Mädchen, Mädchen – da sprang er auf. Plötzlich rauschte der Fluß, rauschte der Abend. Albert lief in die Stadt, raste durch die Palackystraße, Berthold Alter warf er sich an die Brust, dem Gehaßten: »Ich bin verloren.« Ins Ohr des Gehaßten ergoß sich ein Wasserfall schäumender Worte, endlich verstand er alles. Er zwang den Jüngeren in einen Sessel, setzte sich ernst zu ihm, sprach ein Freundeswort, der Hochmut war verschwunden:

»Nichts ist verloren. Das erste Mißglücken beweist gar nichts.«

»Wirklich?« Albert sprang auf. »Du selbst vielleicht?«

»Ich selbst.« 44

»Wahrheit?«

»Ehrenwort.«

Leicht war der Heimweg. Morgen, morgen, morgen . . . der Chor des Wortes sang den Getrösteten in Schlaf. Endlich war Tag. Endlich war Mittag. Da ging er wie ein entschlossener Mörder in die verrufene Gasse. Keine Scham hinderte ihn. Vor allen Leuten bog er unerschütterlich in die verrufene Gasse ein. Gleich ins erste Haus trat er ein. Die Tür stand offen, im Vorhaus kniete im Hemd ein massiges Weib, über den Fußboden sauste eine Bürste, ein Kübel Wasser stand neben dem Weib. Alles sah Albert überdeutlich, den großen Schwung der roten Arme, die wuchtigen Beine, den breiten gelben Nacken. Über die Schwelle wälzte sich das ungeheure Tier, endlich stand es auf.

»Erst Geld«, orgelte eine dunkle rauhe Stimme. Er gab der Gefürchteten das vorbereitete Geld, sie stand ihm nun gegenüber, Moschusgeruch wollte ihn trunken machen. Wie einen Säugling legte sie ihn nieder. Diesmal entgehst du mir nicht, klapperten seine Zähne, diesmal entgehst du mir nicht – oder 45 ich töte dich und mich, diesmal entgehst du mir nicht.

»Steh auf,« donnerte es, »du bist ja betrunken.«

Zerkrampfte Finger suchten: wo ist ein Messer, ich will sie ermorden. Hinsank er vor den Scharfrichter, stammelnd: »Ich bin nicht betrunken, ich bin nicht betrunken, ich schenk' dir alles, was ich hab', wenn du mir glaubst.«

Hinwarf er sein ganzes seit Monaten zusammengespartes Geld.

»Also gut«, in die Ecke flog ihr Hemd, sein Mund stöhnte, ein wildes Tier stöhnte auf, ein begnadigter, geretteter Mensch.

Welt war unendlich aufgetan.

Statt zur Schule ging er ins Stadtbad, im Wasser empfand er ungeheuer das Glück der Entzauberung und Befreiung. Unendlich häutete er sich, eine Haut nach der andern fiel ab, wunde Haut, wundgerieben an schmutzigen Träumen. Ein Spiegel zeigte ihm das Gesicht eines zufriedenen jungen Mannes, die Karikatur eines Brustkorbs hob und senkte sich wohlgefällig, der magere Hals drehte sich sehnsüchtig dem Fenster zu, draußen blühte ein weißer 46 Frühlingsbaum, zartes Grün sonnte sich über der hohen Milchscheibe. Nie hab' ich das gesehn, dachte er, das Stadtbad war sonst immer die Hölle, das Plätschern der Nachbarkabinen regte mich immer auf, immer mußte ich an nackte Weiber denken, heute zum erstenmal sehe ich mich.

Der Oberkantor war im Kaffeehaus, Albert setzte sich zum erstenmal ans Klavier, plötzlich begann er zu singen. Erstaunt kam die Frau. »Bist du meschugge,« lachte sie, er nickte glücklich, sie störte ihn nicht, er sah sie gar nicht, dachte: Gute alte Frau. Die hebräischen Bücher begrub er im Koffer, sie waren böse Stücke Vergangenheit. Er saß auf dem Koffer: Jetzt beginne ich zu wachsen, dachte er. Das Zimmerchen drehte sich, er saß im Mittelpunkt vieler Rotationen. Noch am Abend saß er und dachte nach, Vergangenes rotierte unaufhörlich, er saß im Mittelpunkt der Welt, jetzt wurde die Welt neu geschaffen. Immer wieder sang er, nie hatte er gesungen. Der Oberkantor riß die Tür auf, murmelte erstaunt: »Bist du meschugge?« Albert lachte. »Seit wann kannst du singen?«, fragte der Oberkantor. 47 »Seit heute.« In den Augen des Knaben sah der Oberkantor die rotierende Welt.

Alle Ventile waren geöffnet, alle Poren tranken sich satt, nach dem ersten Rausch war das Genießen noch beglückender. Alles war nun da, Natur und Menschen, alles gab alles her, seine Hand streckte verlangend sich aus, nahm und gab. Zwei Jahre vergingen wie eine Sommernacht, das Studium war nicht mehr schwer, Albert genoß, was sich bot, ein Ladenmädchen schenkte ihm die Innigkeit erster Liebe, er wurde anspruchsvoller, erkannte Unterschiede, ließ ohne Bedenken kleines Glück fahren, um größerem nachzujagen. Nur selten bewegte sich noch Niedergeducktes aus vergangenen Zeiten in der Tiefe der ganz geöffneten Seele, verleugnet, gefürchtet, gehaßt. Regte sich das Feindliche, bewarf er Vater, Großvater, Urahn mit Haß ohnegleichen. Nach der Matura, vom Vater nach Budapest ins Rabbinerseminar gesandt, legte er in einen erzwungenen Abschiedskuß das stumme Gelöbnis: nie kehre ich zurück. Der Mutter schenkte er ein Lächeln des Dankes und der Abfertigung. In der ersten 48 Schnellzugsstunde warf er alle Empfehlungsbriefe an Talmudgrößen, Erinnerungen an Gebundenheiten, aus dem Fenster.

*


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