Ludwig Winder
Die jüdische Orgel
Ludwig Winder

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Erstes Kapitel

Wolf Wolf, ein Diener Gottes, erfuhr erst im siebenten Monat die Schwangerschaft seiner Frau. Nie fiel ihm ein, sie zu betrachten. Der Talmud hinderte den Talmudlehrer, Urenkel, Enkel, Sohn berühmter mährischer Talmudisten, des Anblicks des Weibes Charlotte sich zu erfreuen, die Ölfarbe des schönen Antlitzes einzusaugen, die festen prangenden Brüste in die Hände zu nehmen, das Schreiten der hohen schlanken Beine zu bewundern.

Die Frau empfand keine Zurücksetzung. Einmal – im ersten Ehejahr – hatte sie sich von Freundinnen verleiten lassen, zum Photographen zu gehen, in einen großen berauschenden Spiegel zu blicken. Die Perücke, die sie als fromme Jüdin tragen mußte, flog zu Boden, Haar umfloß die erglühten Wangen, 8 der Mund begann kokett zu lächeln. Nach zwei Tagen brachte der Photograph die Bilder ins Haus. Wolf Wolf stampfte auf, schrie gewaltig, zerriß die Bilder. Eins wurde von Lotte gerettet, verwahrt. Seit damals war nichts als Frömmigkeit. Wolf, Religionslehrer, Rabbiner, Matrikenführer, Kantor, Schächter, unterrichtete schon um sechs Uhr morgens, in den zerfallenden Räumen der alten Schule zitterte geprügelte Jugend; Talmud, Midrasch wurde erklärt und verklärt. Täglich um acht Uhr morgens stand Wolf im Schlachthof, ein scharfes Messer in den Händen, rituell-gefühllos schnitt er Gänsen, Hennen, Tauben den schreienden Hals durch, er warf die toten Tiere im Bogen an die Mauer, wischte das Blut am Ärmel ab. Dann setzte er das Talmudstudium fort und erschrak, wenn es ihn vergnügte, denn mit Frömmigkeit, die zur Freude wurde, glaubte er schlecht seinem Gott zu dienen. An jedem Sabbath versammelten sich die Männer der Gemeinde um eine Talmudstelle zu aufreibenden Kämpfen; nach Rasereien des Verstandes erhob Wolf die Stimme, gab seine 9 Erklärung, gewann Anerkennung, fürchtete sich vor ihr. Sei demütig, du Geringster der Geringen, rauschte sein Herz.

Aber es zitterte vor ihm das Weib und es zitterten vor ihm die Kinder. Furchtbar war sein Blick. In seinem Auge las man: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Pitzkepures sollste werden, von der Erde verschlungen sollst du werden, fluchte er, wenn ein Schüler verworrene Antwort gab. Das war für die Achtjährigen, Zehnjährigen, Zwölfjährigen ein erbarmungsloses Henkerwort bis in den Traum hinein.

Der Kultusvorstand Josef Blum, ein reicher Müßiggänger, hielt den Talmudisten eines Tages an zwei Knöpfen fest, fragte wohlwollend, wann das freudige Ereignis zu erwarten sei. Das Blau des Himmels sank auf Wolf nieder, die riesige Kuppel ward kleiner und kleiner, bildete eine gellende Glocke um den Mann, in beiden Ohren läutete es ungeheuer. Er eilte zu Lotte, prüfte mit einem großen Blick die Rundung des Körpers, drückte bewegt die Hand der Frau. Übermütig 10 strahlten ihre Augen, sie sagte: »In zwei Monaten, so Gott will.« Zweimal strich Wolf zärtlich über den hochgespannten Leib der Frau, dann wandte er errötend sich ab, berührte das Ereignis bis zur Entbindung mit keiner Silbe.

Aber in der Schule, bei den interessantesten Talmudstellen, mußte er oft innehalten und über das erwartete Kind nachdenken, tief erschüttert von der Güte des Herrn, der ihm das nicht mehr erwartete Glück nach acht kinderlosen Ehejahren bereiten wollte. Die Schüler blickten ihm mit frecher Vertraulichkeit in die Augen, verwirrt und böse hieb er den Zeigefinger auf die großen gelben Bücher. Aber nichts nützte, überall war das Kind. In der Studierstube, befreit von den Kindern, arbeitete er mit Haupt, Händen, Füßen, Gemurmel wechselte mit lautem Geschrei ab, der Körper flog nach vorn und rückwärts, nach links und rechts, die Mahlzeit wurde nicht eingehalten, die Zeit reichte nicht aus, ein Rätsel der heiligen Bücher war gelöst, zehn neue stellten sich auf, standen da, drohend, unentrinnbar, den ganzen Mann heischend wie Gott selbst. 11 Nie hatte es Rast gegeben, nun entstanden Pausen. Ein hebräischer Buchstabe erinnerte an eine Wiege, einer war breit und rund wie eine stillende Mutterbrust, das gedehnte A war plötzlich ein Laut zum Singen, ein Laut, den Kinder singen, die Vorfahren disputierten nicht mehr beim Studium mit, sinnlos raschelte Papier, auf einmal bestand die Welt aus Fleisch und Blut.

An einem Sabbath begannen die Wehen, Wolf holte die Hebamme, eilte zum Bethamidrasch, Versammlungsort der Talmudbeflissenen, sieben Häuser entfernt. Unaufhörlich glaubte er das Gekreisch der Gebärenden zu hören, die Gemeinde aber hörte ihn beten, wie er nie gebetet hatte: beten gegen das Kind, das ihm alles nehmen wollte, Weisheit, Besonnenheit, Scharfsinn, Autorität, Meisterschaft; beten für das Kind, das ihm alles geben sollte: irdisches Glück. Wohlgesinnte wollten die Stunden abkürzen, die Fortsetzung der Diskussion verschieben, er aber dachte zu Ende, was zu Ende gedacht werden mußte, trat den Widerstand der schwersten Stelle endlich nieder, verkündete klar und unwiderlegbar 12 des Kapitels Sinn und Beschaffenheit vom ersten bis zum letzten Buchstaben.

Dann ging er nach Hause, es war Abend geworden, da schrie ein Kind, lächelte eine Mutter, ein Knabe war geboren.

Ein blauer Sonntagsmorgen warf goldene Lichter auf die kleine Kinderwange, auf die große Mutterbrust, Wolf wandte sich ab, stürzte hinaus. Die Judengasse roch nach Leder, Schnaps, Fleisch, jeder Geruch umhüllte einen Mann, der vor seinem Laden stand, »Maseltow« rief. Wolf nickte jedem Gratulanten kühlen Dank zu, bei keinem blieb er stehen, staunend sah die Judengasse, daß Wolf durch das Tor der Christengemeinde schritt, breit, ungetüm; Christenkinder höhnten »Jüd, Jüd«. Auf dem Marktplatz war Weihrauch, Gedröhne von Glocken, eine Prozession mit weißgoldnen Priestern, roten Fahnen; Bäuerinnen in kurzen breiten Röcken, hohen Röhrenstiefeln umkreisten die Kirche. Wolf ging nicht mehr, er lief, er mißhandelte seinen widerspenstigen fetten Körper; endlich lag das Laute hinter ihm, Felder und Wiesen dehnten sich 13 beruhigend bis ans Ende der Welt. Zwischen zwei Feldern legte Wolf sich nieder. Am Horizont blitzte ein Punkt, das war Prerau. Wolf stand auf; er legte sich so, daß er den blitzenden Punkt nicht sehen konnte. Nichts wissen wollte er von der sündigen Stadt, wo eine Orgel im Tempel spielte. Von ihm hatte man verlangt, daß er Kantor in einem Tempel mit einer Orgel werde, die Prerauer Ketzer hatten das verlangt, doppelten Gehalt versprochen, in den Tempel hatten sie ihn gelockt, ahnungslos war er der Einladung gefolgt, plötzlich hatte die Orgel gedröhnt. Hinausgetaumelt war er, der Prerauer Kultusvorstand ihm nach, der Sünder, der zum Gottesdienst aufspielen ließ wie zum Tanz.

Nicht denken wollte Wolf daran, aber auf einmal war es da, unbegreiflich da, in den Ohren war es, von allen Wiesen und Feldern ergoß es sich in die Ohren, von den Ohren ins Herz, er hörte die Orgel dröhnen, die Orgel dröhnte: Sohn! Sohn! Sohn! Unbegreifliches zwang ihn mitzubrausen, mitzudröhnen, mitzusingen: Ich hab' einen Sohn! Ich 14 hab' einen Sohn! Er keuchte, hielt sich die Ohren zu, lief nach Hause, warf keinen Blick auf die Mutter, keinen Blick auf das Kind, in der Studierstube sperrte er sich ein.

Harte Zeit begann für Wolf. Das Kind war ihm fremd, das Weib, immer nah und immer da gewesen, ward fremder. Fremde Augen bekam die Frau, unverständlich war ihm ihr Leuchten; immer blickten sie nieder auf die strotzende Brust, auf die saugenden Lippen, nichts andres gab es mehr für sie. Blödes Weib! murrte Wolf im ersten Jahr. Blödes Weib und blödes Kind! murrte er im zweiten, im dritten Jahr. Langsam tastete er sich zu Talmud, zu Midrasch zurück, oft schlug er sich an die Brust: Chotosi! Ich habe gesündigt! Nichts für ihn war das Mutterlallen und Kinderlallen, nichts für ihn das erste Mammasagen, der erste Kinderschritt auf dem hallenden Steinboden, der menschliche Laut, der aufstieg aus dem werdenden Mund. Im Raum, wo das Kind bei der Mutter lag, ward der Mann trüb und ungeduldig, er haderte mit Gott. Verständig sollte sein Sohn 15 werden, klug und weise, ein Talmudist sollte er werden, warum dauerte alles so lange? Warum mußten fünfzehn Monate vergehen bis zum ersten nachgeplapperten Wort, zwanzig Monate bis zum ersten selbständigen Schritt, Jahre bis zum ersten vernünftigen Satz? Söhne blöder Väter saßen in der Schule und schöpften Weisheit, übersetzten das erste Buch Moses, fragten wißbegierig, der Sohn des Lederhändlers, der Sohn des Butterhändlers, der Sohn des Pferdehändlers; und Wolf Wolfs Sohn wuchs nicht, lallte nur.

Die Mutter aber quoll auf vor Glück, zuckte nicht mehr zusammen, wenn der Mann »Du!« donnerte; sie war sanft, wenn er tobte, geheimnisvolles Licht war um sie. Wenn das Kind schlief, wenn der Mann schlief, lag sie eine Stunde wach, las Gedichte von Heinrich Heine.

Fünf Jahre war Albert alt, da packte ihn Wolf mit gierigem Griff, stapfte mit ihm zur hebräischen Schule, kaum konnten die kleinen Füße folgen. Es war Sommer, aus gräflichen Gärten flutete der Duft bis in die Judengasse. »Albertl«, riefen 16 schüchtern Fünfjährige, Sechsjährige, die vor dem Tempel »Fangerl« spielten. Albert sah und hörte nichts, besinnungslos in des Vaters Faust. Eine zerbröckelte Stiege erklommen sie, Stille wuchs grauenhaft in dem einsamen Haus, des Vaters Tritte hallten dumpf. Eine schwarze Tafel stand drohend aufgerichtet, der Vater erhob den Arm, malte ein Zeichen auf die Tafel, schrie Olef, malte wieder ein Zeichen, schrie Bees, und wieder Olef, und wieder Bees, die Kreide in seiner Hand fuhr schrecklich durch die Luft, immer wilder wuchs die Stimme, wie Blitz und Donner war das. Albert begriff nichts, dachte immer nur »was wird geschehen, was wird geschehen«, er begann zu weinen. Der Vater beugte sich nieder, schlug mit den flachen Händen auf des Knaben Wangen ein, drehte sich um, ein Schlüssel knirschte, des Vaters Schritt dröhnte auf der Stiege, schwächer und schwächer. Albert war allein. Die Hände zur Tafel aufgereckt, stand er vor dem Geheimnis, mit Grauen wandte er sich ab, flog zum vergitterten Fenster; kein Sonnenstrahl, Mauern standen ernst und hoch. 17 Aber nun durfte er weinen, die Schultern durften zucken, endlich hörten die Tränen zu fließen auf, Beruhigung ward, Neugier erwachte: hoch oben kroch ganz langsam eine riesige Spinne.

Wolf lief nach Hause, schweißgebadet schrie er Lotte an: »Dein Sohn ist ein Idiot!« Lotte entriß ihm die Schlüssel, lief in die hebräische Schule, da saß ihr Sohn am Fenster, blickte die Spinne an. Mutter und Sohn schritten langsam hinein in den Sonnenschein, niemand spielte mehr Fangerl, hundertmal sagte die Mutter: »Ich bin bei dir.«

Dein Sohn ist ein Idiot! hörte Lotte jeden Tag. Mein Sohn ist ein Idiot! klagte Wolf seinen heiligen Büchern zu jeder Stunde, am Morgen, am Mittag, am Abend, er klagte, er fragte, er gab sich selbst Antwort: Nein, nein, nein. Groß wird mein Sohn, gelehrt wird mein Sohn, ein Talmudist wird mein Sohn. Nach einem Jahr konnte Albert das erste Buch Moses lesen und übersetzen, immer überzeugter sagte Wolf in der einsamen Studierstube zu seinen heiligen Büchern: Groß wird mein Sohn, gelehrt wird mein Sohn, ein Talmudist 18 wird mein Sohn. Aber ein Grauen wuchs in dem Knaben, er zitterte vor dem Vater, zitterte vor des Vaters Büchern, sie waren Ungeheuer mit Drachenzähnen, die Märchen der Mutter lebten in den Büchern des Vaters verwandelt auf, unheilvolle Verwandlung, böse Verzauberung schreckte. Das Lieblingsmärchen war Dornröschen, das beneidete: hundert Jahre Schlaf!

Ein Torkeln zwischen Licht und Dunkel war das Jahr; die Mutter war das Licht, der Vater war das Dunkel, in des Vaters Gegenwart erlosch das Licht. War der Vater gegangen, flammte es auf, in der Dämmerung, wenn der Vater beim Gottesdienst war, die Stube eine halbe Stunde vor ihm sicher, flammte es auf, gutes Licht war in der Stube, Licht der Mutteraugen, Licht der Mutterhände, auf dem Schoß der Mutter war gutes Sein mitten im Licht.

Wolf duldete nicht dieses Zusammensein. Jedes Trostwort war schlecht, jedes Mutterwort war schlecht, aber am schlechtesten war die Volksschule. Er schrieb Gesuche, ging zum Inspektor, bettelte 19 um Schulbefreiung, alles vergebens. Seinen einzigen Sohn mußte Wolf der Volksschule abtreten, wo ein Goj unterrichtete: Rechnen, Turnen, Gesang. Und nicht einmal das zweite Buch Moses war bewältigt, hundert Bücher waren zu bewältigen, weit war der Weg zu Talmud, zu Midrasch. Wolf stand vor dem weißen Schulhaus, die Kinder sangen »Alles neu macht der Mai«, er sah seinen Sohn im Turngarten auf einer Stange klettern – und das mußte man dulden! Aber nur die Tagesstunden waren verloren, die Nacht gehörte Wolf, Nachtstunden mußten das Versäumte gutmachen; von acht bis elf nachts, von halb fünf bis halb sechs morgens gehörte der Sohn dem Vater. Kein Widerstand erwachte in dem Knaben, er wuchs langsam und grau ohne Blut, wuchs hinein in die enge Bank der hebräischen Schule.

Der Starrkrampf des Geistes ging in Schlafbedürfnis über, »Schlofer« hieß Albert in der Judengasse, »Bitte um Schlaf« war sein einziges Gebet. Als er zehn Jahre alt war, wagte er es zum erstenmal, um halb fünf morgens erwacht, noch 20 einmal die Augen zu schließen, den Vater warten zu lassen. Wolf trat ein und sagte merkwürdig sanft: »Steh auf.« Am nächsten Morgen erwachte Albert nicht. Wolf stürzte aufs Bett, hieb besinnungslos auf den Knaben los. Albert stand auf, kein Laut kam über seine Lippen. Aber seine Augen flackerten böse, flackerten Fluch, Aufruhr, Empörung.

Am Vormittag ging Wolf zum Uhrmacher, kaufte einen Wecker und stellte ihn in der Nacht auf den Fußboden neben das Bett des schlafenden Knaben. Um halb fünf begann der Wecker zu läuten. Albert richtete im Bett sich auf, Geläute stürzte von allen Seiten über ihn, Millionen Glocken klangen, Feuerwehrsignale, Glocken des Entsetzens läuteten, Gespenster hingen an den Wänden, riesige Glocken um den Hals. Weit öffnete sich Alberts Mund, plötzlich schrie der Mund, schrie gellend, im ganzen Hause schrie die Stimme. Die Eltern liefen herbei, die Mutter warf sich hin, weinte: »Schrei nicht mehr, Albertl, schrei nicht mehr, schrei nicht mehr . . .« Der Knabe schrie, wußte, daß er schrie, 21 konnte nicht aufhören; erst Heiserkeit nach einer Stunde löste den Krampf.

Wolf ging in die Studierstube, hüllte sich in den Gebetmantel und betete. Lotte trat ein, riß ihm den Gebetmantel vom Leib. Kein Wort sprach sie, aber Wolf verstand, flüchtete in die Ecke, sagte wie vor einem unerbittlichen Tribunal: »Nicht ich! Nicht ich! . . .« »Wer denn?« sagte Lotte. Zusammenstürzte der Mann, auf den Knien lag er, seine Brust schlug er, da ging die Frau, still tat sie die Tür zu.

Wie ein Totenhaus schwieg das Haus Wolf Wolfs, dann schrie wieder die wahnsinnige Stimme, bis sie heiser war, dann schwieg sie wieder. Wie ein Totenhaus lag das Haus Wolf Wolfs im düsteren Abend; da kam der Arzt.

»Geh,« sagte er zu Albert, öffnete die Zimmertür, öffnete die Haustür, »geh, mein Kind.« Im erleuchteten Korridor stand Albert, von den Wänden rieselte es, von der Decke rieselte es, Gestalten rieselten nieder, an den Wänden schwangen Gestalten, schwangen Glocken. Ein langgezogener 22 Schrei heulte auf wie Hundegeheul. Keinen Schritt tat Albert, heulend stand er im erleuchteten Korridor. Der Arzt gab ihm die Hand, so gingen sie, Hand in Hand war gut wandeln, nur nicht allein! Die große Hand lenkte zurück, die Eltern standen und weinten.

»Platzfurcht«, sagte der Arzt. Er führte das Kind zum Bett, sofort schlief es ein.

Wolf stand vor einem strengen Richter; der war ohne Erbarmen. »Furchtbar zugerichtet ist das Kind, Sie haben sich versündigt an dem Kind, die Nerven sind zerrissen, Körper und Geist infolge Überanstrengung zusammengebrochen. Ruhe braucht das Kind, Verständnis, Wohlwollen. Das alles hat gefehlt.«

Zerschmettert standen die Eltern, ein Mutterblick flehte, da sagte der Arzt: »In zwei Monaten kann alles gut sein.«

Das Bett des Kranken war von Glocken umgellt. Nach einer Woche entschied sich Alberts Rettung. Das Bett wurde zum Fenster gerückt, heller war nun das Zimmer, die Welt erhellte sich. 23 Albert durfte Wünsche haben. Der erste Wunsch: den Vater nicht sehen müssen! Der zweite Wunsch: den Fenstervorhang verschwinden lassen! Blauer Himmel drang ein, lieblicher ward nun die düster gewohnte Wand. Der dritte Wunsch: die Bücher hinaus! Die Mutter kaufte einen Fußball, legte ihn auf die Bettdecke, die Weltkugel sprang hoch, das erste Spielzeug einer Kindheit. Ein Leben Hand in Hand begann, die Mutter führte ihr Kind, zum zweitenmal lernte Albert gehen, langsam schwand die Furcht, langsam begriff das Herz, es atmete ein, atmete aus den Rausch der Freiheit.

Nach zwei Monaten stand Wolf vor dem Arzt; ein Auge duckte sich, ein Auge forderte. Der Arzt sagte streng: »Ihr Sohn ist wieder gesund, die weitere Entwicklung hängt von Ihnen ab.«

Wolf schloß sich ein, er flehte Gott um Rat an, er befragte die heiligen Bücher und las: »Und Gott versuchte den Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er sprach: hier bin ich! Da sprach er: Nimm doch deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, den Isaak, und ziehe hin in das Land 24 Moria, und dort bringe ihn dar zum Opfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde.«

Diese Stelle bezog Wolf auf sich, er beugte sich in Demut. Der Arzt war nicht der Engel Gottes, der rief: »Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts!« Gottlos war der Arzt, mit der Zigarre ging er am heiligen Sabbath am Tempel vorbei.

Unschlüssig war Wolf, unrein war seine Demut. Was ist gut? Was ist schlecht? Bei Tag und bei Nacht fragte er. Gott schwieg.

Der Vater umkreiste den Sohn.

Wo die Kinder spielten, wo der Fußball sprang, widerwillig in köstlicher Luft, im Regen süßer Akazienblüten stand der Vater am Bretterzaun, umkreiste den Sohn, der Jauchzen lernte, nicht mehr Talmud, nicht mehr Midrasch lernte. Der Sohn sah nicht, hörte nicht den Vater, der fragte und haderte. O fremder, fremdgewordener Sohn, Kind der Erniedrigung und der Enttäuschung, bittere Gottesstrafe! Nicht aus dürren Lenden wardst du gezeugt, für dich aufgespart war meine Kraft, 25 fromm und gottgefällig war mein Erdenwandel. So du Fleisch von meinem Fleische bist, sei auch Geist von meinem Geist, oder Gott hat mich verflucht.

Immer enger umkreiste der Vater den Sohn. Endlich sperrte er den Fußball ein, Bücher lagen wieder umher, Wolf sprach einen Segenspruch, legte die Hände auf Alberts Haupt: »Gott hat dich gesunden lassen, Gott wird weiter helfen.«

Der Sohn schlug groß die Augen auf, das Metallene schwang wieder im Raum – da stand die Mutter in der Tür, wehrte ab, war keine geduckte Dienerin mehr, war eine hohe gebietende Frau.

Wolf erschrak, hörte die Stimme des Engels: »Lege deine Hand nicht an den Knaben und tue ihm nichts!« War das so gemeint? War so mild der zürnende, der eifersüchtige Gott? Vor die Frau trat der Zurechtgewiesene hin, niederhielt er, was in ihm brauste, er machte seine Stimme sanft: »Nicht quälen will ich ihn. Nur eine Stunde täglich soll er lernen das Gotteswort.«

Die Frau nickte, der Sohn nickte ihr zu, die Furcht 26 saß ihm nur noch lose in den Gliedern, nicht mehr tief im Herzen verankert: er hatte den Vater zittern gesehen.

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