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Wenn es schon eine in der Geschichte seltene Erscheinung ist, daß ein Mann von so ausgesprochener politisch-sozialer und religiöser Parteirichtung, wie es Platon sein Leben lang war, zugleich auf den reinen Höhen wissenschaftlicher Forschung und Lehre heimisch ist und eine schöpferische Energie in der abstrakten Arbeit der Begriffe entfaltet, so ist es um so bewunderungswürdiger, daß es demselben Manne gegeben war, diesen Inhalt seines Wollens und Denkens in künstlerisch vollendeter Form zu gestalten. Dies aber ist tatsächlich der intimste Sinn seiner Schriften. Sie sind Erzeugnisse der dichterischen Phantasie, in denen die politisch-religiösen Ideale und die wissenschaftlichen Gedanken zu lebendigen Gestalten geformt sind und uns in höherer, verklärter Wirklichkeit entgegentreten.
Darum zeigen Platons Werke, seiner wunderbaren Individualität entsprechend, eine in der Literaturgeschichte niemals wiederholte Vereinigung sonst einander ausschließender Merkmale. Sie sind – als Ganzes betrachtet – auf der einen Seite Tendenzschriften im höchsten Sinne des Worts, sie wollen für eine neue Lebensansicht und Lebensrichtung begeistern; sie sind auf der andern Seite wissenschaftliche Untersuchungen ersten Ranges, sie behandeln die tiefsten Probleme der Welterkenntnis in scharf geschliffenen Begriffsentwicklungen: und sie sind zugleich Kunstwerke von unvergleichlicher Schönheit, Dichtungen von bezauberndem Reiz der sprachlichen Form und der inneren Komposition. Platon hat hierin das Höchste erreicht: die praktische und die theoretische Seite seines Wesens vereinigen sich in ästhetischer Vollendung. Im Künstler versöhnen sich der Reformator und der Denker.
In diesem Sinne bilden seine Werke einen der höchsten Typen menschlicher Vernunftbetätigung. Bei der Mehrzahl der großen Philosophen bewundern wir, wie an Aristoteles, Spinoza, Hume, Kant, Hegel, in der Hauptsache den wissenschaftlichen Geist, – bei einigen, wie bei Fichte und Comte, verknüpft er sich mit dem Pathos des Prophetentums, – bei anderen, wie bei Descartes, Schelling und Schopenhauer, mit der künstlerischen Schönheit der Darstellung: die Vereinigung aller drei Momente ist das Einzigartige an Platon.
Die ideale Höhe dieser Selbstentfaltung erreicht Platon in seinen reifsten Werken, insbesondere der »Politeia«, in den übrigen überwiegt je nach ihrem Anlaß und ihrem Zweck das eine oder das andere jener Momente; aber die Gesamtheit seiner schriftstellerischen Leistung macht wieder den Eindruck ihrer vollkommenen Ausgleichung.
Das ist auch der Grund dafür gewesen, daß, als die historische Forschung den Werken Platons sich genauer zuwendete, zunächst die Ansicht entstand, die Gesamtheit seiner Schriften müsse als ein nach einheitlichem Plane entworfenes und ausgeführtes Ganzes betrachtet werden – sei es nun, daß man dessen systematischen Gesamtzweck in der didaktisch geordneten Entwicklung eines Systems der Philosophie suchte, dessen Grundzüge von Anfang an festgestanden haben sollten (wie es Schleiermacher auffaßte), oder daß man als den gemeinsamen Inhalt die allseitig sich abrundende Schilderung des Sokrates ansah (wie Munk u. A.).
Für solche einheitliche Auffassung scheint zunächst die gleichmäßige Form dieser Schriften zu sprechen. Sie sind, mit Ausnahme der »Apologie«, bei der es sich von selbst verbot, sämtlich Dialoge. Aber diese Darstellungsweise gehört durchaus nicht Platon allein; sie ist eine weit verbreitete Kunstform gewesen, und wir dürfen nicht einmal Platon als ihren Urheber betrachten. Insbesondere ist sie dem gesamten Umkreise der durch Sokrates bestimmten Literatur umsomehr eigen gewesen, als man sich dadurch unmittelbar an die dem attischen Weisen geschichtlich eigentümliche Art des Wirkens und Denkens anschloß.
Damit hängt es denn auch zusammen, daß in den platonischen Dialogen fast durchgängig Sokrates die Hauptfigur ist, der die Leitung des Gesprächs zufällt und die wesentlichen Ergebnisse in den Mund gelegt werden. Doch ist, wie die Bedeutung der dialogischen Form, so auch die Stellung des Sokrates keineswegs überall die gleiche. In dem letzten Werke Platons, den »Gesetzen«, fehlt Sokrates ganz; aber schon in den beiden vorhergehenden Schriften tritt er nur in der Einleitung auf, um die Vorträge von »Timaios« und »Kritias« zu veranlassen. Selbst unter den früheren Dialogen finden wir im »Protagoras« einen, worin Bedeutung, Licht und Schatten zwischen Sokrates und seinem Gegner ziemlich gleich verteilt sind. Auch wäre es immerhin sonderbar anzunehmen, daß, wenn das »literarische Porträt« des Sokrates der Hauptzweck von Platons Werken gewesen wäre, er jenem gerade dafür alle die Lehren untergeschoben hätte, von denen wir wissen und die Zeitgenossen noch viel sicherer wissen mußten, daß sie eben nicht sokratischen, sondern platonischen Ursprungs waren. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, daß Platon, wie es auch andere, z. B. Xenophon taten, durch die Stellung, welche er in seinen Dialogen dem großen Meister einräumte, in der Hauptsache nur zum Ausdruck bringen wollte, daß er sich für dessen wahren Schüler und seine Lehre für die rechte Ausführung von dessen Absichten hielt. Seine Behandlung des Sokrates ist im Ganzen, schriftstellerisch betrachtet, nicht Zweck, sondern Mittel. Gewiß ist im einzelnen das Motiv, die Persönlichkeit des verehrten Lehrers in ihrer reinen, edlen Hoheit zu schildern und von Entstellungen zu reinigen, für Platon maßgebend gewesen, und gerade darin zeigt sich die Treue des Jüngers, daß dies nicht bloß in den frühen apologetischen Schriften, sondern im vollsten Maße noch in den durch Jahrzehnte davon getrennten gewaltigsten Werken wie »Symposion« und »Phaidon« zutage tritt; aber selbst in diesen verknüpft sich die warme Darstellung der Persönlichkeit des Sokrates mit der Entwicklung von Lehren, in denen Platon weit über ihn hinausgeht. Das letzte Interesse ist auch hier nicht das persönliche, sondern das sachliche: die Meisterschaft des Schriftstellers besteht nur darin, die Person als die vollendete Verkörperung der Lehre erscheinen zu lassen.
Was nun diese sachliche Einheit der platonischen Schriften anlangt, so ist es freilich keine Frage, daß hier die »Ideenlehre« den Mittelpunkt bildet: auf sie leiten die einen Dialoge mit geringerer oder größerer Annäherung hin; sie wird in anderen dargestellt und begründet, in noch anderen ausgebreitet und angewendet. Dabei erscheinen an einigen Stellen Verheißungen, die später erfüllt, zum Teil freilich auch nicht erfüllt werden; und andrerseits Andeutungen, die nur als Rückweise auf frühere Darstellungen aufzufassen sind. Allein daraus zu schließen, daß alle diese Schriften von vornherein einheitlich geplant gewesen seien, würde zu sehr künstlichen und unwahrscheinlichen Annahmen nötigen. Platons literarische Tätigkeit hat, wenn nicht schon zu Sokrates' Lebzeiten, so jedenfalls sehr bald nach dessen Tode begonnen und bis an sein Ende gedauert, sich also über volle fünfzig Jahre erstreckt. Es ist ebenso schwer sich vorzustellen, daß der junge Philosoph schon vor dem dreißigsten Jahre, als er noch ganz unter dem Eindruck des Sokrates stand, mit den Grundgedanken seines eigenen Systems fertig gewesen wäre, wie daß er ein halbes Jahrhundert lang daran nichts Wesentliches geändert hätte. In der Tat aber zeigt sich bei eingehender Untersuchung, daß seine Schriften auch in den wichtigsten Punkten tiefgehende Differenzen der Auffassung enthalten, die keineswegs nur aus Unterschieden der Stimmung und der Darstellungsweise erklärt werden können.
Sehr viel natürlicher ist deshalb die seit K. F. Hermann und Grote zur Geltung gekommene Ansicht, daß die Schriften Platons die Dokumente seiner eigenen geistigen Entwicklung sind und ihr Zusammenhang nicht systematisch-didaktischer, sondern historischer Natur ist. Wenn danach jeder einzelne Dialog als für sich gedachtes Kunstwerk und als Ausdruck des bei seinem Entwurf erreichten Erkenntnisstandes des Philosophen selbst anzusehen ist, so schließt das nicht aus, daß in einzelnen Fällen mehrere zeitlich einander nahe liegende Schriften einen engeren Zusammenhang haben, und daß andrerseits jene Beziehungen des Vor- und Rückverweisens zwischen ihnen bestehen, die oben erwähnt wurden.
Nur diese historische Auffassung aber wird auch dem künstlerischen Charakter der Werke gerecht. Nicht in einem künstlichen Gesamtaufbau ist er zu suchen, sondern in der lebensfrischen Gestaltung des Einzelnen. Darin dürfen wir in der Tat Platon beim Wort nehmen: seine geschriebene Rede ist die ästhetische Nachbildung der wirklichen Rede. In seinen Dialogen haben wir die poetische Wiederholung wissenschaftlicher Erlebnisse zu sehen; es sind die gedanklichen Arbeiten der Akademie, seine Erfahrungen mit seinen Genossen und Schülern, deren bleibenden Gehalt er zu leuchtenden Gestalten hat kristallisieren lassen. Als echter Künstler hat er das, was ihn im Tiefsten bewegte, aus sich heraus zur festen Erscheinung gebracht und damit von sich abgelöst. So sind seine Werke seine Bekenntnisse geworden.
Wir verstehen sie am besten, wenn wir annehmen, daß der künstlerische Gestaltungstrieb zu seiner Entladung jedesmal durch einen besonderen Reiz entbunden wurde. Solche Anlässe mögen zum Teil in literarischen Erscheinungen, zum Teil in eindrucksvollen und tiefer gehenden Verhandlungen bestanden haben, die persönlich, mündlich in der Akademie geführt wurden. Manche der Dialoge sind offenbar, sei es im Ganzen, sei es in einzelnen Stücken, durch den Widerspruch gegen die Bücher von Gegnern, Zeitgenossen oder auch Vorfahren hervorgerufen: sie sind Bestandteile von »literarischen Fehden«, die in dieser ästhetisch abgeklärten Form ausgefochten wurden und doch hie und da den Erdgeruch wissenschaftlicher, religiöser und ethischer Streitigkeiten kräftig durchmerken lassen. Das trifft hauptsächlich für die Jugendschriften, gelegentlich auch wohl für die späteren zu. Bei den letzteren bemerken wir öfter eine andere Art von Anlässen: sie lassen den Prozeß der Assimilation erkennen, in welchem die Akademie den ursprünglichen Entwurf der Ideenlehre durch Aufnahme älterer metaphysischer Prinzipien oder neuerer Forschungen modifizierte: so wird zu den Lehrern des Anaxagoras und der Pythagoreer, so zu der gleichzeitigen Naturforschung, zu den Theorien der sog. jüngeren Physiologen und insbesondere zu dem großen Systeme Demokrits mit der Zeit Stellung genommen. So werden endlich die Schwierigkeiten erörtert, die sich in der eignen Lehre herausstellen und die Anhängerschaft nach getrennten Richtungen auseinander zu treiben drohen.
Dies alles aber geschieht bei Platon nicht in der Form nüchterner Untersuchung, tatsächlicher Bezeichnung und unumwundener Darstellung, wie wir sie seit Aristoteles als wissenschaftlich kennen und verlangen, sondern vielmehr in der künstlerischen Gestalt idealisierender Dichtung. Durch das einfachste Mittel wird hier der größte Erfolg erzielt. Platon verlegt, was er an geistiger Entwicklung erlebt, in die Zeit und in den Kreis des Sokrates zurück; der Kampf, den er selbst führt, die Arbeit, die er selbst mit den Seinen leistet, erscheinen in den Dialogen als Vorgänge zwischen Sokrates und dessen Genossen: sie streifen dadurch das Aktuelle ihrer empirischen Bestimmtheit ab und gewinnen allgemeine, typische Bedeutung.
Deshalb darf man die Berichte der platonischen Dialoge weder als Erzählungen wirklicher Begebenheiten noch als völlig freie Erfindungen ansehen. Sie sind ein charakteristisches Beispiel jener Mischung von Wirklichkeit und Phantasie, von Erlebnis und Mythos, welche allem griechischen Fabulieren anhaftet. Das betrifft vor allem die Szenen, die den einzelnen Dialogen zugrunde liegen. Sie sind historisch möglich, aber wir haben keinen Grund, sie für historisch wirklich zu halten. Wenn z. B. eine Begegnung zwischen dem greisen Parmenides und dem noch ganz jungen Sokrates konstruiert wird, so widerspricht das nicht den sonst bekannten chronologischen Daten, aber es ist ebensowenig als historische Tatsache irgendwie sonst bekannt. Gelegentlich scheint sogar Platon auch vor Anachronismen nicht zurückgeschreckt zu sein; offenbar galt ihm die Korrektheit der historischen Verhältnisse geringer als die Wahrheit der gedanklichen Beziehungen. Daher muß man mit der empirischen Deutung seiner Angaben äußerst vorsichtig sein. Wenn er – um an ein bekanntes Beispiel zu erinnern – im »Phaidon« den Sokrates erzählen läßt, wie er das Werk des Anaxagoras kennen gelernt, zum Teil gebilligt und zum Teil für unzulänglich befunden habe, so ist das weder ein Bericht über die Entwicklung des Sokrates noch Platons selbst, noch etwa der griechischen Philosophie überhaupt, sondern eine Darstellung der Motive, aus denen das teleologische Prinzip des Anaxagoras der Ideenlehre eingefügt werden sollte.
Der szenische Hintergrund der Dialoge ist von sehr verschiedener Anschaulichkeit. Im »Protagoras«, im »Symposion«, im »Phaidon« erreicht er den höchsten Grad plastischer Lebendigkeit: eine bewegte, dramatisch zugespitzte Handlung spielt sich zwischen fein und scharf charakterisierten Persönlichkeiten ab. In anderen Werken ist der Dialog, wie im »Theaetet« und »Philebos«, zu schematischer Einförmigkeit herabgedrückt: und zwischen diesen Gegensätzen breiten sich mannigfache Abstufungen aus. Sie hängen offenbar mehr von dem Inhalt und Zweck der einzelnen Schriften, als von der Abfassungszeit ab. »Protagoras« und »Phaidon« sind durch Jahrzehnte getrennt, und während einige der frühesten Dialoge nur einen dünnen szenischen Rahmen haben, wie etwa der »Euthyphron«, fehlt es selbst dem Werk des Alters, den »Gesetzen«, nicht an einer gewissen Anmut der äußeren Einkleidung.
Ein besonderer Kunstgriff Platons besteht darin, daß er häufig den eigentlichen Dialog, worin sich der Gedanke entwickelt, in einen anderen Dialog einschachtelt oder einem der Redenden den Bericht über eine andere Unterredung in den Mund legt: so hat er mit dem Ineinandergreifen der Dialoge im »Phaidon«, mit der Erzählung des Sokrates von dem Gespräch mit Diotima im »Symposion« die feinsten Erfolge erzielt.
Das Hauptmittel aber für die Charakteristik der Menschen, der Verhältnisse und der Gedanken ist bei Platon seine unvergleichliche Herrschaft über die Sprache. Er gebietet mit freier Gewalt über alle Register des Ausdrucks: von der sublimsten Feinheit des abstrakten Gedankens bis zu der robusten Derbheit der sinnlichen Leidenschaft, von dem hochfliegenden Ethos und Pathos begeisterter Hingebung und rücksichtsloser Beurteilung bis zur spottenden Ironie und zur geißelnden Satire, von der idealen Höhe bis in die Tiefen alltäglicher Bedürfnisse weiß er jeder Regung der Menschenseele den bezeichnenden Ausdruck zu geben. Am liebsten charakterisiert er die Figuren seiner Dialoge durch die bald typische, bald individuelle Art wie sie sprechen, und im »Symposion« hat er diese Kunst auf das Höchste gesteigert. Freilich müssen wir sie in dieser Hinsicht oft mehr ahnen und fühlen, als wir sie verstehen. Denn offenbar ist seine Darstellung mit zahlreichen Anspielungen entweder auf die seinen Zeitgenossen noch bekannten Personen und Verhältnisse in der Szenerie der Dialoge, oder auf die Menschen und Beziehungen seiner Umgebung durchsetzt, die er unter der Hülle jener Darstellung brachte. Darin bestand für seine Leser eine Würze seiner Schriften, die uns zum großen Teil verloren gegangen ist.
Um alle diese Charakteristik des Einzelnen aber schlingt sich der Zauber feinster geistiger Geselligkeit: den Grundton der Gespräche bildet eine ideale Urbanität, welche auch die schärfsten Gegensätze zu gefälliger Liebenswürdigkeit mildert. Mit wunderbarer Idealisierung der wirklichen Unterhaltungsform fließen Rede und Gegenrede dahin; freie und kühne sprachliche Wendungen, lose Anknüpfungen und überraschende Übergänge werden nicht vermieden; sorglos wird der begonnene Satzbau durch die Lebhaftigkeit des neuen Einfalls unterbrochen. Und dann wieder erhebt sich die Darstellung zur geschlossensten Einheit: in schönem Ebenmaß formt sich der fest gestaltete Gedanke, und mit wuchtiger Gewalt rauscht der Ausdruck weihevoller Überzeugung dahin; alles Widerstrebende reißt er nieder, um schließlich den Sturm der Gedanken zur heiteren Ruhe der Anschauung zu verklären.
Dieser Zauber von Platons Sprache ist nicht zu beschreiben: er muß genossen werden. Er ist die kristallene Form für den höchsten Inhalt, – »der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit«.
Die historische Auffassung der Schriften Platons würde sich von selbst verstehen, wenn wir über die Abfassungszeit der einzelnen und damit über ihre chronologische Reihenfolge eine auch nur annähernd sichre, quellenmäßige Kenntnis besäßen. Das ist jedoch ebensowenig der Fall, wie wir über die Echtheit der unter seinem Namen überlieferten Werke zu zweifelloser Sicherheit gelangen können. In beiden Richtungen bleiben wir trotz aller Mühe der darauf seit langem gerichteten Untersuchung voraussichtlich für immer auf Vermutungen angewiesen, zwischen denen nur ein verhältnismäßig nicht großer Umfang gesicherter Einsicht feststeht. Der Leichtgläubigkeit, mit der man früher der Tradition vertraute, ist in neuerer Zeit mit der gerechten Vorsicht auch übertriebener Zweifel gefolgt, und erst allmählich findet die Forschung zwischen beiden Extremen den rechten Weg.
Wir haben keinen Anlaß anzunehmen, daß uns etwas Erhebliches aus Platons literarischer Tätigkeit verloren gegangen sei, wie das in so beklagenswertem Umfange bei Demokrit und auch bei Aristoteles der Fall ist: aber es liegt auch ebenso auf der Hand, daß in die von antiken Herausgebern sehr oberflächlich angeordnete Sammlung der platonischen Schriften vieles offenbar Unechte, darunter unbedeutende Schülerarbeiten und sogar gegnerische Versuche sich eingeschlichen haben. Die antike Überlieferung hatte eben kein kritisches Gewissen. Dagegen besitzen wir zunächst in den Zitaten des Aristoteles einen Kanon für die Feststellung einer Anzahl von Dialogen, die entweder völlig sicher oder mit höchster Wahrscheinlichkeit als echt platonisch angesehen werden dürfen, und von diesem Grundstock aus muß dann wesentlich aus sachlichen Argumenten über die Ansprüche der anderen entschieden werden.
Noch bedenklicher ist die Frage nach der Reihenfolge und Entstehungszeit der einzelnen Dialoge. Die äußeren Anzeichen, d. h. die in ihnen vorkommenden Erwähnungen historischer Ereignisse oder Zustände, deren Zeit sonst feststeht, erlauben in keinem Falle eine eindeutige Datierung, und wenn sie wenigstens in vielen Fällen den Zeitpunkt festzulegen scheinen, vor dem die sie erwähnende Schrift nicht entstanden sein kann, so wird auch dies Kriterium dadurch schwankend, daß Anzeichen vorliegen, wonach in der Weise, wie es bei der »Politeia« sicher angenommen werden muß, vielleicht auch andere Dialoge erst durch eine Überarbeitung (wir würden jetzt sagen, eine zweite Auflage) die Gestalt erhalten haben, in der sie uns vorliegen. Bei dieser Unzuverlässigkeit der äußeren Kriterien befinden wir uns in der schwierigen Lage, daß wir in der Feststellung der Reihenfolge der Schriften wesentlich auf die innere Entwicklung des Philosophen und auf den Zusammenhang seiner Lehre angewiesen sind, und daß wir andrerseits diese Entwicklung des Philosophen und seiner Lehre nur aus eben diesen Schriften kennen. Es kommt deshalb darauf an, von den bekannten Voraussetzungen des platonischen Philosophierens her, im Hinblick auf seine historischen Ergebnisse den Entwicklungsgang des Philosophen und damit die Reihenfolge der Schriften, worin dieser niedergelegt ist, aus inneren Gründen zu rekonstruieren. Wir bleiben damit auf den hypothetischen Versuch beschränkt, diesen Prozeß mit Hilfe der Quellen nachzuerleben.
Wenig Förderung scheint dabei bisher noch immer von dem neuesten Auswege zu erwarten, den die gelehrte Behandlung der Frage eingeschlagen hat. Es wird versucht, durch genaue Beobachtung und statistische Zusammenstellung gewisser sprachlicher Eigentümlichkeiten Kriterien für die frühere oder spätere Abfassung der einzelnen Schriften, bezw. ihrer Teile, wie bei der »Politeia«, zu gewinnen. Die Anwendung einzelner Partikeln, die Formeln der Antwort, die Art des Zustimmens im Bejahen und Verneinen wurden zunächst ins Auge gefaßt. Aber auch hierbei zeigt sich, daß die sprachliche Äußerlichkeit niemals für sich allein, sondern immer nur im Zusammenhange mit dem gedanklichen Inhalt der Dialoge und besonders mit der Eigenart der durch den Ausdruck selbst vom Verfasser charakterisierten Figuren in Betracht zu ziehen ist. Am sichersten und weitesten führen vielleicht die Beobachtungen über Anwendung oder Vermeidung des Hiatus, weil sie auf eine Beziehung zu der allgemeinen Entwicklung des attischen Stils hinauslaufen. Allein als Ertrag aller dieser weitschichtigen Untersuchungen ist bisher höchstens die Bestätigung für einige chronologische Verhältnisse der spätesten Werke anzusehen, über die man schon vorher aus sachlichen Gründen nicht im Zweifel war.
Nach dem bisherigen Stande der Forschung ordnen sich die Werke, mit Ausschluß des sicher Unechten, am wahrscheinlichsten etwa in folgenden Gruppen an:
Man hat sie auch wohl als sokratisch bezeichnet, weil ihr Inhalt, soviel wir beurteilen können, der Auffassung des Sokrates durchaus entspricht und sie nicht in merklicher Weise überschreitet. Es sind Untersuchungen über verschiedene Tugendbegriffe, die alle darauf hinauslaufen, daß jede Tugend schließlich im Wissen liegt. So handelt » Laches« von der Tapferkeit, » Charmides« von der Besonnenheit, » Euthyphron« von der Frömmigkeit; so wird im » Hippias minor« das Problem vom Wertunterschiede zwischen wissentlichem und unwissentlichem Recht- oder Unrechttun erörtert, das im »Protagoras« unter höheren Gesichtspunkten wieder aufgenommen wird; so vertieft der reizvollste dieser früheren Dialoge, der mit anziehender Szenerie und vielen feinen Zügen ausgestattete » Lysis« die Verhältnisse der Liebe und Freundschaft zu geistig-sittlicher Lebensgemeinschaft. Zweifelhaft ist darunter die Echtheit des »Hippias«, unwahrscheinlich die des »Alkibiades I.«. Charakteristisch aber ist es, daß alle diese »kleinen« Dialoge mit ungelösten Fragen endigen und so die Unzulänglichkeit des sokratischen Standpunktes – vielleicht ungewollt – zutage treten lassen.
Ob einzelne dieser Dialoge, wie die antike Tradition will, schon zu Sokrates' Lebzeiten geschrieben sind, mag dahingestellt bleiben; es ist nicht unmöglich, aber vielleicht eher zu bezweifeln als zu glauben. Der Annahme, daß der Aufenthalt in Megara diese Erstlingsfrüchte gezeitigt habe, steht prinzipiell nichts im Wege; viel später wird man diese Arbeiten jedenfalls nicht setzen dürfen.
Zu ihnen sind endlich auch die » Apologie des Sokrates« und der » Kriton« zu rechnen; sei es nun, daß sie gleich nach dem Tode des Weisen oder später, vielleicht sogar erst bei der Rückkehr Platons nach Athen, geschrieben sind, wo der literarische Streit um Sokrates und seine Verurteilung hohe Wellen schlug. Jedenfalls sind sie rein sokratischen Geistes, wenn man auch weder für die beiden Reden, die Sokrates im Prozeß gehalten haben soll, noch für die Verhandlungen mit Kriton im Gefängnis wörtliche Wahrheit in Anspruch nehmen wird. In der »Apologie« erscheint Sokrates mit dem unerschrockenen Bewußtsein der Unschuld und dem guten Gewissen eines dem wahren Wohl der Mitbürger gewidmeten Lebens, aber auch nicht ohne Anflug doktrinären Tugendstolzes: im »Kriton« weist er mit unerschütterlicher Gesetzestreue und überzeugender Hoheit den Fluchtversuch ab, zu welchem Freunde ihm die Hand bieten. Vielleicht gehört in diesen apologetischen Zusammenhang auch der erwähnte »Euthyphron«, der den wegen Asebie Verurteilten mit dem Problem der wahren Frömmigkeit ringend darstellt.
Diese sind vermutlich während des athenischen Aufenthalts des Philosophen vor der ersten sizilianischen Reise entstanden: sie enthalten seine Auseinandersetzung mit den sophistischen Lehren und lassen bei ihrem wesentlich polemischen Charakter die positiven Elemente seines eigenen Denkens erst in unbestimmten Ansätzen und Andeutungen mehr ahnen als erkennen. Meisterstücke der Polemik, zeigen sie alle Stufen der Stimmung von dem wuchtigen Pathos und dem strengen Ernst bis zur übermütigen Satire und zum Hohn der Persiflage.
In heiterer Mitte zwischen diesen Gegensätzen bewegt sich der ästhetisch gelungenste dieser Dialoge, der » Protagoras«. Im Hause eines reichen Atheners treffen die berühmten Wanderlehrer zusammen und entfalten vor ihren hingerissenen Verehrern ihre Vorzüge und ihre Schwächen: auf diesem geistvoll bis ins Kleinste belebten Hintergrunde spielt sich ein Rededuell zwischen Sokrates und Protagoras über die Lehrbarkeit der Tugend oder der Tüchtigkeit ab. Mit feiner Dialektik wird dabei die Stellung beider Größen allmählich vertauscht; wir schauen dem Kampf zweier Heroen zu, und keineswegs ist Sokrates immer der Sieger. Wir verlassen den Schauplatz mit der Überzeugung, daß, der dies schrieb, über beide hinauszuwachsen berufen ist.
Im » Gorgias« fließt sehr viel schwereres Blut. Gegen diesen Virtuosen der blumigen Rede, der mit nihilistischer Gleichgültigkeit aller Wissenschaftlichkeit fremd und abhold war, richtet Platon mit voller Leidenschaft und heiligem Ernst einen gepanzerten Angriff, der alle seine Waffen ins Feld führt. Mit kaum verhaltener Glut entfaltet sich Wunsch und Hoffnung, durch Erkenntnis die Welt zu bessern und zu bekehren, die Wissenschaft zur Staatskunst zu entwickeln: und schon lüftet sich der Schleier über dem religiösen Hintergrunde solcher Überzeugungen. Der Lehre von der irdischen Lust tritt der Mahnruf an die höhere Bestimmung des Menschen und sein wahres Heil entgegen. In dem Sophistenschüler Kallikles wird der frivole Übermensch, der kein Gesetz über seinem Naturtriebe kennt, mit großen, sicheren Zügen gezeichnet und ihm der jugendliche Idealismus einer sittlich-religiösen Reform des Staatslebens auf wissenschaftlicher Grundlage entgegengehalten.
An den »Gorgias« schließt sich am besten der » Menon«. Durch ihn nimmt Platon in weniger erregter Weise das Problem von der Lernbarkeit der Tugend aus dem »Protagoras« wieder auf und läßt, indem er es auf das theoretische Gebiet spielt, an der Hand mathematischer Untersuchungen seine mythisch gefärbten Ansichten über das Wesen der Erkenntnis durchblicken. Erinnert er damit einerseits an die phantasievollen Darstellungen des »Gorgias«, so leitet er andrerseits zu den kritischen Untersuchungen des »Theaetet« über.
In lustigere Gefilde führen » Euthydemos« und » Kratylos«. Der erstere Dialog gießt die Schale reichlichen Spottes über die eristische Kunst der Sophisten aus, mit der sie durch witzige Wendungen des noch ungelenken sprachlichen Ausdrucks den naiven Griechen zu verblüffen und zu verwirren wußten; der zweite behandelt mit ähnlichem Humor die sprachphilosophischen Theorien, in denen darüber gestritten wurde, ob die Wörter ihren Zusammenhang mit ihren Bedeutungen einer natürlichen Verwandtschaft oder einer konventionellen Willkür verdanken. In beiden Fällen steigt der formell siegreiche Sokrates-Platon in seinen Argumentationen so weit zu den wunderlichen Methoden seiner Gegner herab, daß man nicht weiß, wo in diesem tollen Treiben der Scherz aufhört und der Ernst beginnt: das gilt von den Trugschlüssen im »Euthydem« ebenso wie von den Etymologien im »Kratylos«. Dabei sind beide Dialoge schon gelegentlich mit Andeutungen durchsetzt, welche bei ihren Lesern eine gewisse Bekanntschaft mit den Anfängen von Platons Ideenlehre voraussetzen, – eine Bekanntschaft jedoch, welche sich sehr wohl auf seine mündlichen Mitteilungen in dem damals noch nicht schulmäßig geschlossenen Freundeskreise beschränken mochte.
Wesentlich polemisch ist endlich auch der » Theaitetos«, der wissenschaftlich bedeutendste unter diesen Dialogen, dessen Abfassung, wenn auch vielleicht noch in Athen begonnen, in die Zeit der sizilischen Reise hinabzureichen scheint. Er enthält bei einer bewußten Änderung der Form, welche die ästhetische Einkleidung zu Gunsten der szientifischen Untersuchung zurückdrängen will, eine systematische Kritik der erkenntnistheoretischen Ansichten, welche Platon vorfand. Protagoras und Antisthenes werden hauptsächlich vorgenommen. Dabei zeigt sich die Wendung des Verfassers zu einer rein wissenschaftlichen Wirksamkeit in dem grollenden Verzicht auf politische Tätigkeit, dessen Begründung sich in einer bitteren Schilderung des Tyrannen und seiner Schmeichler ausspricht. Im Zusammenhange mit den äußeren Daten wird es deshalb wahrscheinlich, daß der »Theaetet« den geistigen Zustand zum Ausdruck bringt, in welchem Platon nach dem Mißerfolge von Syrakus sich auf die wissenschaftliche Lehre in seiner Heimat zurückzog.
Unter den Schriften, deren platonische Autorschaft zweifelhaft ist, gehört in diese Gruppe der »Hippias maior«: er zeigt, wie unfähig die an der Auffassung des Einzelnen und Relativen haftenden Sophisten zur Bildung fester Begriffe sind, an dem Problem der Schönheit, und er könnte als negative Vorbereitung zum »Symposion« gelten, wenn er nicht in seiner Darstellung einen gar zu schülerhaften Eindruck machte.
An erster Stelle steht hier der » Phaidros«, worin der schon im »Theaetet« scharf betonte Gegensatz zwischen dem »Chor der Philosophen« und den Rednerschulen ausgeführt wird. Im Schatten der Platane wird eine erotische Rede des Lysias vorgelesen, und ihr stellt Sokrates die seinige entgegen, um sich dann im eigensten Sinne Platons zum begeisterten Preise des ἔρως als des philosophischen Triebes zu erheben. Aus religiöser Anschauung schildert er Wesen und Geschick der Menschenseele, wie sie zwischen der himmlischen Wohnstätte des Ewigen und der körperlichen Erdenwelt schwebt und schwankt: ihr Auftrieb zu dem Unsichtbaren ist die wahre »Liebe«, ist das innerste Wesen der Philosophie, deren echte Arbeit deshalb der mündliche Verkehr ist. – Man darf kaum zweifeln, daß wir es in diesem Dialoge mit der literarischen Einführung der neu gegründeten Akademie zu tun haben: die politischen Ideale treten hier in den Hintergrund; gerade den politisch gefärbten Rednerschulen gegenüber stellt sich Platons Schöpfung als eine auf das höhere Leben der Wissenschaft gerichtete Gemeinschaft dar und nimmt dafür die Weihe religiöser Überzeugungen in Anspruch.
Die ideale Fortsetzung des »Phaidros« ist das » Symposion«: es ist der Kulminationspunkt in der ästhetischen Entfaltung von Platons Persönlichkeit, das größte seiner Kunstwerke, eine unvergleichliche Schilderung der edelsten Geselligkeit. Bei einem Festmahl kommt Sokrates mit einer Anzahl geistiger Größen Athens zusammen; in fröhlichem Zechen und neckischem Gespräch wird beschlossen, daß jeder der Reihe nach eine Rede auf den Eros halten soll, und nun versuchen sich daran der Sophist, der Arzt, der Komiker (Aristophanes) und der Tragiker (Agathon), jeder in Auffassung, Sprache und Darstellung mit köstlichem Humor gezeichnet: endlich kommt Sokrates zum Wort, und er legt die intimsten Motive der platonischen Philosophie der Priesterin Diotima in den Mund. Der Eros erscheint als der Lebenstrieb des Universums – als der allgewaltige Dämon, durch den alles Sterbliche und Vergängliche nach dem Ewigen und Wandellosen trachtet, als der Trieb des Philosophen, der zur reinen Welt der Ideen aufstrebt. Kaum hat Sokrates geendet, so dringt, halb trunken, Alkibiades in die Gesellschaft ein; aus mutwilligen Scherzen entwickelt sich – ein Meisterstück ersten Ranges – seine Rede auf Sokrates, worin er selbst sich nüchtern redet und der Weise als die Verkörperung eben der höchsten Liebeskunst erscheint, die er vorher als die Offenbarung Diotimas vorgetragen hat – das Götterbild in der Silenenhülle.
In den Gedankenkreis des »Phaidros« und des »Symposion« gehören von den kleineren, nicht ganz gesicherten Dialogen »Menexenos« und »Jon«, der letztere namentlich durch die Ausführung der Verwandtschaft und des Unterschiedes von Wissenschaft und Dichtung interessant.
Die Vorsicht jedoch, womit das Schulhaupt der Akademie sich zunächst literarisch auf die poetisch verklärte Darstellung wissenschaftlicher und religiöser Lehren beschränkte, stand dem Ausbau der sozial-politischen Theorie nicht im Wege. Wir müssen vielmehr annehmen, daß um dieselbe Zeit, vielleicht zuerst nur im Kreise der Schule, der Entwurf des Idealstaates ausgeführt wurde, welcher den Grundstock von Platons großem Lebenswerke, der » Politeia« (»Republik«) bildet.
Freilich ist diese umfassendste unter seinen fertigen Schriften auch das schwierigste Problem. Für eine unbefangene Betrachtung ist es keine Frage, daß von einer ursprünglichen einheitlichen Komposition des Ganzen keine Rede sein kann; vielmehr sind offenbar die einzelnen Teile zu sehr verschiedenen Zeiten entstanden und tragen die Züge verschiedener Entwicklungsstufen ihres Verfassers deutlich an sich; insbesondere sind an späteren Stellen Stücke eingeschoben, die sich ausdrücklich als Entgegnungen von Einwürfen einführen, auf welche die frühere Darstellung gestoßen ist. Mit großem Geschick sind dann schließlich alle diese Bestandteile in eine formelle Einheit zusammengearbeitet, die der Forschung viel Kopfzerbrechen macht. Am einfachsten gestaltet sich die Annahme folgender drei Hauptschichten:
a) Die »Politeia« beginnt im ersten Buch mit einer reichen, phantasievollen Szenerie und bietet einen Dialog über die Gerechtigkeit, der, wie andre der sokratischen Tugenddialoge, sachlich ergebnislos, aber mit einem effektvollen Schlusse verläuft; daran schließt sich in der ersten Hälfte des zweiten Buches unter Wechsel der Mitunterredner des Sokrates als Übergang eine Art von Sophistenrede zum Lobe der Ungerechtigkeit. Zahlreiche Anklänge im einzelnen und der ganze Ton der Darstellung rücken diesen ersten Teil zeitlich in die Nähe des »Protagoras« und des »Gorgias«.
b) In der Mitte des zweiten Buches beginnt Sokrates mit den neuen Personen einen Dialog, dessen Inhalt die Verfassung des Idealstaates ist. Dessen Darlegung reicht bis ans Ende des vierten Buches. Ihren philosophischen Hintergrund bilden die Lehren über die Stellung der Seele zwischen den beiden Welten der Idee und der Erscheinung, wie sie uns aus dem »Phaidros« und dem »Symposion« bekannt sind. An diese Dialoge ist also der Entwurf des Idealstaates auch zeitlich zu rücken, und dasselbe gilt von den drei letzten Büchern der »Politeia« (8-10), die im wesentlichen auf demselben Standpunkte stehen. Sie enthalten zunächst die glänzende Entwicklung der vier falschen Verfassungsformen und der ihnen entsprechenden individuellen Charaktertypen, und sodann den Schluß des Werks, der vom Werte der »Gerechtigkeit« in diesem und in jenem Leben handelt. Gehören so die letzten Bücher im ganzen zu der Mittelschicht, so enthalten sie doch nicht nur ein später eingeschobenes, größeres Stück, worin (erste Hälfte des 10. Buchs) die abweisende Behandlung der Dichtkunst neu gerechtfertigt werden soll, sondern auch im einzelnen mehrfache Argumente und Anspielungen, welche auf spätere, mit der dritten Schicht der Republik verwandte Werke Platons wie »Phaidon« und »Philebos« hinweisen. Wir müssen annehmen, daß an solchen Stellen bei der Schlußredaktion die umarbeitende Hand des Philosophen tätig gewesen ist.
c) Der späteste Teil der »Politeia« umfaßt das fünfte bis siebente Buch. Er beginnt als deutlich erkennbarer Nachtrag mit der Rechtfertigung und näheren Ausführung einzelner Momente der Idealverfassung, insbesondere zunächst der Weibergemeinschaft: und wenn diese Darstellung des fünften Buches von dem allgemeinen Standpunkte der mittleren Schicht noch nicht ausgesprochen abweicht, so ist dagegen diese Abweichung um so größer bei dem ausführlichen Entwurf der wissenschaftlichen Erziehung, welchen das sechste und siebente Buch bringen. Hier befinden wir uns ganz in der metaphysischen Atmosphäre, die durch »Philebos« und »Timaios« bezeichnet wird.
So haben wir anzunehmen, daß die Abfassung der »Politeia« sich durch Jahrzehnte erstreckt und die tiefgreifenden Umwälzungen mitgemacht hat, welche das metaphysische Denken des Philosophen während dieser Zeit erfuhr.
Auf dem Wege von der zweiten zur dritten Schicht der Republik oder vom »Symposion« zum »Phaidon« begegnen uns drei große, gedankenschwere Dialoge, die ein andersartiges, aber gleichfalls erhebliches Problem bilden wie die »Politeia«. Sie sind die weitaus wichtigsten unter denjenigen, bei welchen die Ansichten über die Echtheit auseinander gehen. Es sind » Sophistes«, » Politikos«, » Parmenides«. Eine engere Zusammengehörigkeit dieser drei Schriften innerhalb der Entwicklung der platonischen Philosophie ist unverkennbar; sie stellen schon in der äußeren Komposition, indem der Träger des Dialogs nicht Sokrates, sondern in dem einen Falle der große Eleat Parmenides, in den beiden andern ein »Gastfreund aus Elea« ist, eine nahe Beziehung zu der eleatischen Dialektik und Metaphysik her. Sie behandeln die schwierigsten und zum Teil die abstraktesten Fragen. Der »Sophist« knüpft mit dem »Politikos« zusammen äußerlich mit ähnlich blasser Andeutung des szenischen Rahmens an Platons »Theaetet« an; die Aufgabe ist, die Begriffe des Sophisten, des Staatsmanns und des Philosophen zu bestimmen. Davon sind nur die beiden ersten Teile gelöst; denn der »Parmenides« kann in diesem Sinne nicht den fehlenden dritten Dialog »Philosophos« ersetzen. Von den in sehr wunderlicher Methode ausgeführten Definitionen geht der »Sophist« zu einer Kritik der metaphysischen Systeme über, wobei die platonische Ideenlehre dem sensualistischen Materialismus (der Kyniker oder der jüngeren Naturphilosophen) gegenübergestellt wird, und schreitet dann zu Untersuchungen über die Frage fort, wie das metaphysische Prinzip des Seienden gedacht werden muß, um das Geschehen zu erklären: der »Staatsmann« dagegen entwickelt aus mythischen Hüllen die königliche Kunst der Staatenlenkung und eine Lehre von den verschiedenen Staatsverfassungen, worin zwar eine gewisse Verwandtschaft mit der Gesinnung der platonischen »Politeia«, aber nicht die geringste Beziehung zu ihren begrifflichen Grundlagen und ihren besonderen Formen und Forderungen zu erkennen ist. Im »Parmenides« endlich erweitert sich die Untersuchung der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Schwierigkeiten der platonischen Ideenlehre zu einer scharfsinnigen, aber sterilen Dialektik über die eleatischen Probleme von Einheit und Vielheit, Sein und Nichtsein.
Dabei ist in allen drei Dialogen der Glanz der Sprache, der Ernst der Gesinnung, die Tiefe der Gedanken und zum Teil auch die Kunst der Darstellung so durch und durch platonisch, daß es außerordentlich schwer wird, einen Andern, Unbekannten für den Urheber zu halten. Und doch erheben sich gewichtige Bedenken gegen Platons Autorschaft. Wir müssen ihm sehr viel Humor zutrauen, wenn wir die scharfe Kritik, die seine Ideenlehre – denn um keine andere kann es sich handeln – im »Sophist« und im »Parmenides«, im letzteren sogar mit abschätzigem Spott erfährt, für eine Selbstkritik halten sollen. Ebenso ist es sehr schwer vorzustellen, zu welcher Zeit der Verfasser der »Politeia« und der »Gesetze« noch ein drittes staatsphilosophisches Werk geschrieben haben sollte, das von den eigenartigen Lehren jener beiden andern Dialoge auch nicht die geringste Notiz nimmt und ganz andre Bahnen der politischen Theorie einschlägt. Endlich enthalten alle drei Dialoge einen zum Teil pedantisch, schulmeisterlich und gar schülerhaft gehandhabten logischen Schematismus, der sich sonst nirgends auch nur ähnlich bei Platon findet, wohl aber als das charakteristische Merkmal der eleatischen Literatur bekannt ist. Eine platonische Autorschaft dieser drei Dialoge ist nur unter der Voraussetzung anzunehmen, daß man dem Künstler zumutet, er habe mit einer Art von ironischer Überlegenheit selber die Einwürfe diskutiert, auf die seine Lehre stieß und stoßen mußte, und er habe dabei mit durchaus objektiver Abwägung der Motive das Berechtigte an ihnen, hie und da vielleicht mit einer persiflierenden Stimmung oder Wendung, zum Ausdruck gebracht. So wäre namentlich der »Staatsmann« als eine Stellungnahme zu den Vorzügen der monarchischen Staatsverfassung zu deuten, und die beiden andern Dialoge bekämen nach der Seite des metaphysischen Interesses den Charakter hypothetischer Begriffserörterungen, in denen solche Wege der dialektischen Betrachtung geprüft werden, welche Platon schließlich selber nicht gangbar gefunden hat. Das eigenartige künstlerische Wesen des Schriftstellers läßt hier Möglichkeiten offen, über welche mit der sonst für die Kritik ausreichenden Feststellung von Übereinstimmungen oder Unstimmigkeiten nicht so einfach zu entscheiden ist.
Immerhin müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß trotz allem diese drei Dialoge nicht von Platon selbst, sondern aus Kreisen stammen, welche eleatisch geschult waren. Ebenso sicher aber ist es, daß der oder die beiden Verfasser (denn »Sophist« und »Staatsmann« stammen sicher aus derselben Feder) auch der Akademie angehört haben. Sie sind in der platonischen Gedankenwelt durchaus heimisch und vollkommen mit ihrer Sprache und Darstellung vertraut.
Selbst wenn deshalb Platon nicht ihr Verfasser sein sollte, so gehören doch alle drei Dialoge notwendig zu der Sammlung seiner Schriften. Einerseits erfahren wir gerade durch ihre Polemik Wichtiges über die Ideenlehre, was in den sicher platonischen Schriften nicht ausdrücklich enthalten und von dem Philosophen vielleicht nur mündlich erörtert worden ist; andrerseits gehören diese Dialoge zu Platons Entwicklung insofern, als die Kritik, welche sie an seiner Ideenlehre üben, den Fortschritt seiner Metaphysik in der Tat bestimmt hat. Allerdings geschah dieser Fortschritt nicht in der Richtung, welche namentlich der »Sophist« vorschlug; diese Richtung weist vielmehr auf die aristotelische Lösung des Problems, und ähnliches gilt auch vom »Staatsmann«: aber jedenfalls sind die lebhaften Verhandlungen in der Akademie, deren Niederschlag jene drei Dialoge enthalten, für Platon die Anlässe geworden, die ihn auf die Höhe seines metaphysischen Denkens führten.
Diese beginnen mit dem » Phaidon«. Künstlerisch ist er das fast ebenbürtige Seitenstück zum »Symposion«. Der lebensfrohe – und der todesfrohe Weise! Dort der siegreiche Zecher, der, als alle andern in Schlaf gesunken sind, frischen Muts im grauen Morgen dahingeht, um den neuen Tag wie sonst zu beginnen – hier der ungebrochene Greis, der, nachdem er mit den Freunden ein letztes Gespräch über alle Höhen und Tiefen menschlicher Erkenntnis geführt, wie in festlicher Heiterkeit den Schierlingsbecher trinkt. Mit stimmungsvollster Kunst ist auch hier die Szenerie behandelt: wie die Freunde am frühen Morgen ins Gefängnis kommen, wie der schlummernde Lehrer geweckt und aus den Fesseln erlöst wird, wie das Gespräch sich anspinnt und fortspinnt, wie die Scheidestunde naht, wie er ordnet und tröstet, wie er in Ruhe und Hoffnung zu den Gefilden der Seligen hinübergeht …
Wunderbar und nur durch den Zeitabstand von Jahrzehnten erklärlich ist es, daß in diese Darstellung des Märtyrertodes auch kein einziger Zug von Bitternis gegen Athen und sein Gericht eingeflossen ist. Nur die weihevolle Erinnerung an das erhabene Ende des geliebten Meisters ist übrig geblieben.
Den Inhalt des Gesprächs bilden bekanntlich die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele: in ihren Aufbau aber flicht Platon am entscheidenden Punkte die Darstellung des neuen Prinzips, wonach die Ideen als Zweckursachen aller Wirklichkeit, ihr bleibendes Sein als Urgrund alles Geschehens begriffen werden sollen, und völlig entspricht es der Todesstimmung des Ganzen, daß diese Gedanken in religiöse Lehren auslaufen.
Die so gestellte metaphysische Aufgabe löst der » Philebos«, der Form nach neben dem »Theaetet« die am meisten szientifische, des äußeren künstlerischen Schmucks fast bare Schrift des Philosophen. Ihr Gegenstand ist die alle griechische Ethik bewegende Frage, ob das »höchste Gut« des Menschen in der Lust oder im Wissen zu suchen sei. Die Antwort aber darauf wird von den äußersten Höhen der Metaphysik geholt. Aus der Einsicht in die zweckvollen Zusammenhänge des Universums ergibt sich eine Lebensauffassung, welche die des »Symposion« wissenschaftlich vertieft und die leidenschaftlichen Gegensätze von Platons Jugend überschauend ausgleicht.
Mit dieser Welt- und Lebensanschauung des »Philebos« stimmt in farbigerer Darstellung jener späteste Teil der » Politeia« überein, welchen wir in deren sechstem und siebentem Buche erkannt haben. Auch er betrachtet die »Idee des Guten« als die göttliche Sonne, die aller Wirklichkeit Leben und Bewegung gibt.
Darum durfte Platon an die abgeschlossene »Republik« endlich auch dem äußeren Rahmen nach die beiden Werke knüpfen, in denen er die Herrschaft des göttlichen Lebenszwecks in Natur und Geschichte darstellen wollte, den » Timaios« und den » Kritias«. Von diesen ist der letztere nur ein eben begonnenes Bruchstück geblieben: der mythisch-phantastische Plan scheint auf eine Geschichtsphilosophie gerichtet gewesen zu sein, welche die Übermacht eines von sittlich-religiösem Geiste erfüllten, wenn auch noch so kleinen Gemeinwesens über die rohe Gewalt der natürlichen Staatsgebilde erweisen sollte.
Dagegen gehört der »Timaios« zu den formvollendetsten und geschichtlich wirksamsten Werken Platons. Er enthält seine Naturphilosophie und liefert den Beweis dafür, daß der Philosoph in seiner späteren Lehrzeit, offenbar mit Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen seiner Schüler, sich auf das Eingehendste mit der Naturforschung seiner Zeit beschäftigt hat, die ihm bis dahin, soweit es seine Schriften erkennen lassen, ferner gelegen hatte. Hier sind die Lehren der jüngeren Physiologen, besonders aber auch diejenigen Demokrits sehr sorgfältig benutzt. Aber dies ganze reiche Material, das sich am Ende auch auf die Medizin erstreckt, schmilzt nun bei Platon in einen teleologischen Zusammenhang ein, der nicht nur in den metaphysischen Lehren des »Philebos« und der »Politeia« begründet ist, sondern von diesen aus ein durchweg religiöses Gepräge angenommen hat. Der »Timaios« gibt eine theologische Lehre von der Weltschöpfung und Weltregierung, und darauf hat seine historische Wirkung beruht.
Diese bilden das umfangreichste und sicher späteste Werk Platons. Es ist ein Torso von solcher Unfertigkeit, daß man lange an seiner Echtheit irre gewesen ist. Einen einheitlichen Zusammenhang sucht man in den zwölf überlieferten Büchern vergebens; an vielen Stellen bricht die Erörterung einfach ab, und es beginnt eine völlig neue Auseinandersetzung; eine planvolle Ordnung der Bücher ist nicht zu finden. Allmählich beginnt sich das Verständnis des Sachverhalts zu klären. Wir haben es mit einer Menge von Entwürfen zu tun, die sich in den hinterlassenen Papieren des Philosophen vorgefunden haben und von einem Schüler – das Altertum nennt Philippos von Opus – mit wenig Geschick aneinander gefügt worden sind. Diese zum großen Teile unausgeführten Entwürfe aber gehören, wie es scheint, nicht einmal einem einheitlichen Gesamtplan an; sondern es sind Bruchstücke zweier Bearbeitungen desselben Gegenstandes durcheinander gewürfelt. Es handelt sich um verschiedene Versuche, den sozialpolitischen Idealen der »Politeia« eine praktische Umgestaltung zu geben, vermöge deren sie in den tatsächlichen Verhältnissen des griechischen Lebens realisierbar erscheinen können. Dies Eingehen auf die historische Wirklichkeit gibt den »Gesetzen« eine große antiquarische Bedeutung, und die Art, in der Platon dazu Stellung nimmt, bietet uns wesentliche Ergänzungen für die Auffassung seiner Tendenzen, während der Ertrag der »Gesetze« hinsichtlich seiner theoretischen Lehre im ganzen nur gering ist. Eine Ausnahme macht in diesem Betracht nur das zehnte Buch, das eine in sich geschlossene, ungewöhnlich klar disponierte und scharf durchgeführte theologische Abhandlung polemischen Charakters darstellt und in seiner temperamentvollen Energie ein wertvolles Zeugnis für die geistige Rüstigkeit des greisen Denkers ist.