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Einleitung.

Wer von der Gewohnheit heutiger Kulturzustände herkommt und den Wert kennt, welcher in allen Verhältnissen dem Wissen und dem darauf gegründeten Können zugeschrieben wird, der wird sich vielleicht nur schwer eine Vorstellung davon machen, wie diese Stellung der Wissenschaft im Leben erst hat erworben und erkämpft werden müssen. Und doch versteht sich dies Schwergewicht der Erkenntnis im sozialen Gefüge durchaus nicht von selbst. Es findet sich nicht in den einfachen und ursprünglichen Formen des menschlichen Zusammenlebens, in denen vielmehr leibliche Kraft und Vorzüge des Willens den Ausschlag geben; und wenn es in der geschichtlichen Entwicklung mit unwiderstehlicher Wucht zur Geltung gekommen ist, so entfaltet es diese in den einzelnen Völkern und Zeitaltern mit sehr verschiedener Energie. Niemals aber herrscht es so allein, daß es nicht seine Ansprüche von anderen Mächten mit größerem oder geringerem Erfolge angefochten sähe.

Unsere Gegenwart zeigt in dieser Hinsicht ein eigenartig zwiespältiges Gepräge. Staunend erleben wir einen Siegeszug der Wissenschaft, der die Außenwelt in rapidem Fortschritt bemeistert, die Widerstände von Raum und Zeit spielend überwindet und das ganze Menschendasein bis in seine kleinen Sonderinteressen derart durchdringt, daß die Abhängigkeit des Lebens von der Wissenschaft auf Schritt und Tritt unmittelbar sich dem Gefühle aufdrängt; daneben aber stehen wir – und nicht zum wenigsten in Deutschland – unter dem Druck heftiger Tagesströmungen, die den Wert der wissenschaftlichen Bildung herabzusetzen geschäftig sind, sei es weil deren sachlicher Ernst die persönlichen Erfolge praktischer Klugheit zu gefährden droht, sei es weil von der Ruhe und Klarheit des Wissens eine Abkühlung der Leidenschaften befürchtet wird, auf deren elementare Gewalt die Rechnung der Parteien gestellt ist. Höher und höher schwillt diese trübe Flut, und zu den großen und schweren Problemen, mit denen wir in das neue Jahrhundert getreten sind, gehört nicht zum wenigsten die Frage, welcher Wert im Zusammenhange des menschlichen Lebens der Wissenschaft gewahrt bleiben soll. Ungelöst lastet diese Frage auf unserer Generation: der unglückliche Denker, in dem sich alle Motive des modernen Bewußtseins mit heißem Ringen drängten, ohne den Halt einer starken Persönlichkeit finden zu können, Nietzsche – wie ist er in dem Auf- und Abwogen seiner Gedanken zwischen der Vergötterung der Wissenschaft und ihrer Verachtung hin und her geschleudert worden!

In solcher Lage richtet sich der Blick von selbst in die Vergangenheit, um die Motive und Gedanken zu verstehen und zu würdigen, aus denen die soziale Stellung der Wissenschaft in der Geschichte verlangt und begründet worden ist. Kein Stück aber aus dieser geschichtlichen Entwicklung ist so bedeutsam, so eindrucksvoll, so lehrreich, wie dasjenige, welches sich an den Namen Platons knüpft. In ihm ist das Kulturideal der Menschheit, ihr Leben durch ihre Wissenschaft zu gestalten, vorbildlich für alle Zeiten verkörpert. Hierin besteht der letzte Kern seiner Persönlichkeit und der beste Inhalt seines Lebens und Wirkens, hierin der tiefste Sinn seiner Lehre, die Kraft seines geschichtlichen Einflusses und seine dauernde Bedeutung auch für unsere Tage.

Diese historische Stellung Platons ist darin begründet, daß er die sein Leben und seine Lehre erfüllende Überzeugung vom Wesen, Wert und Ziel der Wissenschaft aus den Bedürfnissen und Bedrängnissen der Griechenwelt heraus entfaltet und gestaltet hat. Wie in ihr alle großen Probleme des menschlichen Geistes mit typischer Einfachheit und großartiger Einseitigkeit zum scharfgeschliffenen Ausdruck gelangt sind, so hat auch Platon auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeit seines Volkes deren letzte Aufgabe mit weit vorschauendem Blicke erfaßt, sie zum eigensten Gegenstand seines persönlichen Wesens und Strebens gemacht und ihr durch sein Werk in Lehre und Schrift die vollendete Darstellung gegeben.

Die Voraussetzungen dafür lagen in der Art, wie bei den Griechen vor ihm sich die Wissenschaft zu einer eignen, in sich bestimmten und gegen die übrigen abgegrenzten Tätigkeit entwickelt hatte, und in den Beziehungen, welche sie von dieser Selbständigkeit her zu allen sonstigen Lebensformen des Volkes gewonnen hatte. Ein Blick auf diese Verhältnisse ist für das Verständnis von Platons Aufgabe unerläßlich. Vgl. des Verfassers »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie« (10. Aufl. Tübingen 1921) p. 20 ff. und »Geschichte der alten Philosophie« (3. Aufl. München 1912) p. 13 ff.

Die Gunst der wirtschaftlichen Lage, welche in gewissem Grade eine Vorbedingung auch für die geistige Kultur ist, war im Umkreise des griechischen Lebens zuerst den Handelsstädten in seiner Peripherie, den sog. Kolonien in Jonien, in Sizilien und Unteritalien, in Thrakien zuteil geworden. In ihnen erwuchs auch die Wissenschaft der Griechen, welche von den Kenntnissen praktischer Erfahrung und den Phantasien mythologischer Anschauung zur Erforschung der Natur überging; ihre ersten Gegenstände waren die allgemeinen Verhältnisse der körperlichen Außenwelt, ihre Interessen astronomische, physikalische und meteorologische Fragen. Allmählich schritt sie von da zu begrifflichen Untersuchungen fort, in denen sich die Grundformen wissenschaftlicher Weltansicht vorbereiteten. Aber diese Bestrebungen, obgleich in lebhaftem literarischen Austausch begriffen, zeigen doch zunächst eine eigentümliche Abgeschlossenheit: ihre Träger sind einzelne Männer oder enge, wie wir annehmen dürfen, genossenschaftlich in sich abgeschlossene Schulverbände. Gerade darin zeigt es sich, daß hier die Wissenschaft, die auf sich allein gestellte und nur um ihrer selbst willen gesuchte Erkenntnis, als ein von allen andern gesondertes Organ des Kulturgeistes geboren worden ist. Diese »Philosophie« führt mitten in der reich bewegten Öffentlichkeit ein stilles, in sich beschlossenes Sonderdasein. Nur durch ihre unausbleibliche Wirkung auf das religiöse Vorstellungsleben tritt sie in zunächst feindliche Berührung mit dem Volksgeiste, und in dem pythagoreischen Bunde macht sie die ersten Versuche, um bildend und erziehend auf ihn einzuwirken.

Die gewaltige Erregung des Nationalbewußtseins, welche die Perserkriege mit sich brachten, führte auch hierin eine entscheidende Änderung herbei: in den großen Umschwung aller Tätigkeiten wurde auch die Wissenschaft hineingezogen. Auch diese in sich erstarkte Kraft sollte nun in den Dienst des öffentlichen Lebens gestellt werden. Längst war damals für das Griechenvolk die Zeit ruhiger, von Generation zu Generation sich stetig fortspinnender Gewohnheiten des Glaubens und Lebens vorüber: der heiße Kampf, den die Städte untereinander, den in den Städten die Geschlechter und die Individuen führten, hatte alle Kraft ausgelöst und die Geltung alles Bestehenden an Recht, Ordnung und Sitte in Frage gestellt. Mächtig war in diesen Zuständen der Wert der Persönlichkeit gestiegen, klarer die Bedeutung eigener Erfahrung und selbständiger Überlegung erkannt. Wer blind und gedankenlos am Althergebrachten hielt, der ward in dem großen Gedränge zertreten oder in die Ecke geschoben: der Siegespreis im Kampfe ums Dasein fiel dem sachkundigen Urteil zu.

So brach sich bei den Griechen die Einsicht Bahn, daß alle Tüchtigkeit gelernt sein will, die politische nicht minder als die des gewerblichen Lebens: darin lag ein Gegengewicht gegen den immer stärker werdenden Zug der demokratischen Staatseinrichtungen mit ihrer Aufhebung aller Standesunterschiede und ihrer Herrschaft der Masse und des Loses. Zugleich aber erwuchs daraus ein bis dahin unbekannter Ehrgeiz nach Bildung und das Bedürfnis nach einer Lehre der politischen Kunst. Eine solche Kunst aber konnte unter den gegebenen Verhältnissen nur diejenige der Rede sein. Nur die Kraft der Überredung vermochte, wie es das glänzende Beispiel des Perikles lehrte, in dem demokratischen Staate die Herrschaft über die Gemüter zu gewinnen.

Deshalb rief man begierig und neugierig jene »Weisheit« herbei, die bisher ihre eigenen Wege gegangen war. Von ihr, die ein Werk edler Muße und absichtsloser Geschäftigkeit gewesen war, erwartete und verlangte man jetzt die Leistung, den Bürger zum tüchtigen Staatsmann zu erziehen. Und es kamen die Männer, die sich anheischig machten, mit ihrem Wissen dies zu tun: man nannte sie die Männer der Weisheit, die Sophisten. So ward die Wissenschaft zur Lehre, so verwandelten sich die stillen Forscher in öffentliche Lehrer. Das Wissen und Lehren wurde ein Beruf – eine Kunst, die, wie andere, bald nach Brot ging. In dem sozialen Prozeß der Differenzierung war ein neues Organ zu selbständiger Entfaltung gelangt: die Arbeit der Wissenschaft sollte beginnen, mit den übrigen Tätigkeitsformen der Gesellschaft in fruchtbare Wechselwirkung zu treten.

Aber sie sollte erst beginnen! Denn was brachten nun diese Sophisten für ihren Beruf mit? Wenn sie zunächst die fremde Weisheit aus den Büchern des letzten Jahrhunderts auskramten, so waren da viele naturwissenschaftliche Kenntnisse, aus allerlei ausländischen und eignen griechischen Quellen zusammengesucht, und dazu eine Fülle erklärender Theorien physikalischer und metaphysischer Art, nüchtern und vorsichtig die einen, kühn und phantasievoll die andern, hier anschaulich ansprechend, dort abstrakt verblüffend – und alle diese im Widerstreit miteinander und keine in sich gefestigter als die andere. Mit solchem Wissen ließ sich vor den erstaunten Zuhörern prunken; aus solcher Nahrung ließen sich Brocken aufschnappen, mit denen man in der Rede und in der täglichen Unterhaltung groß tun konnte: aber bürgerliche und politische Tüchtigkeit ließ sich damit nicht lehren und daraus nicht lernen. Deshalb verschmähten die Sophisten zwar diese Lockmittel nicht, aber den Hauptwert legten sie doch in die Kunst der Beredsamkeit. Die minderen unter ihnen begnügten sich wohl mit dem Unterricht über das äußere Beiwerk des Vortrages, über Satzbildung, Aussprache und Deklamation, oder mit den Kunstgriffen des Beweisens und Widerlegens in juridischer und politischer Rede, und sie haben es in der Technik advokatischer Kniffe offenbar schon recht weit gebracht: die besseren, Protagoras an der Spitze, vertieften dies praktische Regelwerk durch eingehende Untersuchungen darüber, wie menschliche Meinungen und Wertentscheidungen zustande kommen und einleuchtend gemacht werden können. Psychologische Theorien und Ansätze zu logischen und ethischen Normbestimmungen haben sich daraus entwickelt: aber da die Untersuchung nur darauf ging, wie Ansichten und Absichten des Menschen entstehen und wie man darauf Einfluß gewinnen kann, so war das letzte Ergebnis immer nur dies, daß sich schließlich alles behaupten und alles widerlegen lasse, daß jede Meinung und Wertung nur für das meinende und wertende Individuum und nicht darüber hinaus gelte. Mit diesem Verzicht auf eine übergreifende Wahrheit erwies sich die Weisheit der Sophisten unfähig, ihre nationale und soziale Aufgabe zu lösen: sie konnte nur die Verwirrung mehren, aus der sie den Ausweg hatte finden und weisen sollen. Als Athen im fünften Jahrhundert die wirtschaftliche, für eine kurze Zeit auch die politische und für immer die geistige Hauptstadt Griechenlands geworden war, da drängte sich hier die sophistische Bewegung in glänzendem Aufschwung zusammen: aber gerade hier hat sie das verderblichste Ferment in der hereinbrechenden Zersetzung des öffentlichen Lebens gebildet.

Diese Gefahr durchschaute der einfache und gesunde Bürgersinn von Sokrates. Er war, als der geniale Vertreter der griechischen Aufklärung, mit seinen sophistischen Gegnern völlig darin einverstanden und hat es auf den glücklichsten Ausdruck gebracht, daß alle Tüchtigkeit im Wissen wurzle und daß nur die Erkenntnis den Menschen tüchtig und glücklich machen könne: aber er verstand auch, daß die Kunst der Sophisten immer nur auf die Wahrung der individuellen Interessen und auf deren erfolgreiche Vertretung ausging; in diesen Dienst sollten alle Kenntnisse und alle Fertigkeiten eingestellt werden. Der praktische Wert des Wissens, den die Zeit forderte, bestand nach der sophistischen Theorie und Praxis nur in der Steigerung der Kraft für die nach Macht und Herrschaft strebenden Individuen. Dagegen empörte sich der patriotische Edelsinn in dem größten Bürger Athens. Er sah in dem »tüchtigen« Bürger nicht den, der für sich, sondern den, der für das Ganze zu sorgen weiß; er fand die »Tüchtigkeit« des Staatsmannes nicht in der Fähigkeit, seine Meinungen und Interessen oder die seiner Partei zur Geltung zu bringen, sondern in der Einsicht, die für das Wohl des Ganzen zu wirken versteht; er verlangte von der Wissenschaft, daß sie den Bürger nicht tüchtig mache zur Vertretung seiner persönlichen Absichten, sondern fähig und gesonnen, dem Vaterlande zu dienen. Die Kunst, welche die Wissenschaft den Bürger lehren soll, ist die, im sittlichen Sinne tüchtig, d. h. tugendhaft zu sein. Tüchtigkeit und Tugend – das ist der Unterschied zwischen den Sophisten und Sokrates. Persönliche Fähigkeit des Wirkens bei den einen und sittliche Charakterbildung bei dem andern: und weil beides in der griechischen Sprache durch dasselbe Wort (ἀρετή – wie später im Lateinischen »virtus«) ausgedrückt wird, so hat sich daraus eine historische Dialektik entwickelt, die, schon bei Platon hervortretend, sich durch die ganze ethisch-politische Literatur der folgenden Jahrhunderte hindurchgezogen hat, ein stetiger Grund von Mißverständnissen und Zweideutigkeiten.

Von einem Selbstzweck und einer Selbstgenügsamkeit des Wissens ist also bei Sokrates so wenig die Rede wie bei den Sophisten, mag er auch gelegentlich an der Unterredung selbst, an dem Wechselspiel der Behauptungen und Widerlegungen die ästhetische Freude des phantasievollen Griechen erkennen lassen. Im allgemeinen überwiegt der Ernst der Aufgabe, welche die Erkenntnis erfüllen soll: den Menschen sittlich zu bessern und zum guten Bürger zu erziehen. Je energischer aber dieser Zweck ins Auge gefaßt ward, um so deutlicher wurde es, daß dafür die Mittel der bisherigen Wissenschaft nicht im entferntesten ausreichten. Gerade das, was an ihr das Bedeutsamste war, versperrte die Möglichkeit ihrer praktischen Verwertung. Von der Auffassung der Natur hatte sie den vermenschlichenden Mythos mehr und mehr abgestreift und war zu kühnen Begriffsbildungen fortgeschritten, in denen sich allgemeine theoretische Ansichten von dem Sein und Werden aller Dinge, von den Trägern und den Formen des natürlichen Geschehens entwickelten: aber von diesen metaphysischen Vorstellungen über den mechanischen Zusammenhang der Außenwelt war eine Beziehung zu den Wertinhalten des Menschenlebens höchstens durch geistreiche Analogien und niemals mit gedanklicher Strenge zu gewinnen. Dasselbe galt von der großen Masse der einzelnen Kenntnisse, die durch jene Begriffe verarbeitet werden sollten. Am meisten brauchbar konnten noch die physiologischen und psychologischen Einsichten und Ansichten erscheinen, deren Umfang im fünften Jahrhundert erstaunlich gewachsen war. Allein gerade ihre Ausbeutung durch die Sophisten zeigte, daß man auf diesem Wege nur bis zum Verständnis der psychogenetischen Notwendigkeit aller menschlichen Meinungen und Willensrichtungen gelangen konnte.

Auf alle diese Gelehrsamkeit glaubte Sokrates, der darin vielleicht nicht so ganz Laie war, wie manchmal angenommen wird, für seinen Zweck verzichten zu dürfen und zu sollen. Das Wissen, worin er Tugend und Glück des Einzelnen, Heil und Rettung des Staates suchte, hatte seinen Gegenstand nur an den sittlichen Werten und Normen. Auf diesem Gebiete hoffte Sokrates gegenüber der Verflüssigung und Verflüchtigung aller Überzeugungen, worauf seine Zeit mit ihrer Sophistik zutrieb, zu festen und allgemein gültigen Ergebnissen gelangen zu können. Die Voraussetzung dafür fand er in dem unmittelbaren Volksbewußtsein selbst, in der zwingenden Macht, welche die gemeinsame vernünftige Überlegung über die Widersprüche und Irrungen des individuellen Meinens und Wollens auszuüben geeignet ist. Durch gemeinsames ernstes Nachdenken müssen, von jedem beliebigen Ausgangspunkte her, die allgemeinen Prinzipien aufgefunden werden, nach denen der Mensch im eignen wie im öffentlichen Leben Werte und Zwecke bestimmen und demgemäß handeln soll.

So hoch deshalb gerade Sokrates den ethischen, politischen und sozialen Wert des »Wissens« anschlug, so lebhaft bekämpfte er andrerseits die zünftige »Wissenschaft« in ihrer sophistischen Gestalt. Der eigentliche Träger des sittlichen Wissens ist für ihn das Volk, und seine eigne Aufgabe sieht er nur darin, das keimende Bewußtsein zu »entbinden«, aus den dunklen Gefühlen klare Grundsätze zu entwickeln und das nur halb bewußte, seiner selbst nicht gewisse Wollen und Werten in deutliche Begriffe überzuführen. In dieser Auffassung erscheint das Wissen als sittliche und politische Pflicht eines jeden Bürgers, es zu erwecken als Aufgabe jedes reifen Mannes, sein zünftiger Betrieb dagegen, zumal wo er zum berufsmäßigen Erwerb werden soll, als Verirrung und Herabsetzung.

Allein so edel die Gesinnung war, die Sokrates durch solche Bestrebungen betätigte, und so berechtigt das Bedürfnis war, dem sie entsprangen, so wenig vermochten sie doch ihr Ziel zu erreichen, und nur der genialen Persönlichkeit des Mannes selbst war es zu danken, daß er auf einen immerhin beschränkten Kreis sehr verschiedenartiger Männer die mächtige Wirkung ausübte, die seinen Namen berühmt gemacht hat. Der Zauber der Individualität war wirksamer als das philosophische Prinzip. Wenn wir das Bild seiner Persönlichkeit in allen, noch so weit auseinandergehenden Richtungen der alten Philosophie mit sehr verschiedener Beleuchtung gespiegelt finden, wenn jede davon ihn als ihren Heros in Anspruch zu nehmen bemüht ist, so bleibt das Gemeinsame darin nicht eine philosophische Lehre, sondern eben jene Wucht des Persönlichen. Ohne dieses Moment würde diese Wirksamkeit des Mannes auf die Dauer sich in ein moralisierendes Räsonnement verzettelt haben. Wenn er für diese Überlegungen ein »begriffliches« Wissen verlangte und damit einen weittragenden Grundsatz aussprach, so war das bei ihm selbst doch nur ein Keim, der noch dazu nicht in den günstigsten Boden gesetzt war. Der Fortgang der Wissenschaften bis auf den heutigen Tag hat gelehrt, daß auf dem Gebiete der Werte die Bildung fester allgemeiner Begriffe vielleicht schwieriger ist als auf irgend einem andern; und wenn wir nach dem Ertrag forschen, den Sokrates selbst darauf geerntet hat, so fällt er sehr gering aus. Erst als Platon und Aristoteles das Prinzip des begrifflichen Denkens in die Metaphysik und die Naturwissenschaft verpflanzten, erst da erstarkte das sokratische Reis zu dem mächtigen Baume, der dann auch Früchte für die Ethik trug.

Wäre es daher bei der sokratischen Beschränkung des Wissens auf das für das Handeln Notwendige geblieben, so wären zwischen diesem an sich trockenen Rationalismus und dem technischen Utilismus der sophistischen Redekünstler sehr bald alle die großen Ergebnisse, welche die Denkarbeit der früheren Naturphilosophie gezeitigt hatte, rettungslos in Vergessenheit geraten; damit aber wäre auch der Wert der Wissenschaft wieder verloren gewesen, und es wäre der Anfangszustand zurückgekehrt, worin neben mythischen Vorstellungen nichts weiter als einerseits praktische Kenntnisse und Fertigkeiten, andrerseits moralisierende Reflexionen die Bestandteile des intellektuellen Lebens gebildet hatten.

Von hier aus verstehen wir die Bedeutung Platons, der es in diesem verworrenen und zugleich leidenschaftlich bewegten Zustande unternahm, die Wissenschaft von Grund aus neu zu schaffen und für sie die Herrschaft in der ganzen Ausdehnung des menschlichen Lebens zu beanspruchen. Er schöpfte den Mut und die Kraft dazu aus der Begeisterung für das sokratische Lebensideal und aus der politischen Leidenschaft, mit der es sich in ihm verband. Er war niemals ein interesseloser Denker und Forscher: das heiße Blut des moralisch-politischen Reformators pulsiert in allen seinen Schriften wie in seinem Leben.

Aber diese Tendenz adelt sich bei ihm durch die überlegene Gewalt des philosophischen Gedankens. Das Entscheidende in seiner Entwicklung ist das Verständnis dafür, daß die Wissenschaft, welche dem menschlichen Leben Gesetz und Richtung geben will, nicht bei politischen und moralischen Reflexionen stehen bleiben darf, sondern die Zwecke des Menschentums aus dem Zusammenhange einer Welterkenntnis begreifen und feststellen muß.

Wenn jedoch Platon unter diesem Gesichtspunkte die Gedanken der älteren Metaphysik wieder aufzunehmen lernte, wenn er auf solche Weise die getrennten Fäden der bisherigen Entwicklung in sich vereinte, so ergab diese Durchdringung der kosmologischen und anthropologischen Prinzipien notwendig eine teleologische Weltanschauung. Wenn die Ziele des Menschenlebens aus der Erkenntnis des Zusammenhanges aller Dinge bestimmt werden sollen, so muß dieser selbst als ein zweckvoller verstanden werden.

Eine teleologische Weltansicht ist aber von selbst religiösen Charakters. Während deshalb die erste Wissenschaft der Griechen sich der mythischen Vorstellungsweise entfremdet und die Aufklärung in Sokrates wie in den Sophisten sich dazu verhältnismäßig gleichgültig gestellt hatte, gewann Platon wieder lebendige Fühlung mit dem religiösen Bewußtsein. Ja, er ist auch in dieser Hinsicht Parteimann und vertritt eine bestimmte Richtung. Das wissenschaftliche Interesse verknüpft sich mit dem religiösen bei ihm so eng, daß er, ganz entgegen dem sonstigen Griechentum, bestimmte religiöse Lehren dogmatisch begründet und verteidigt und sie als integrierende Bestandteile seinem metaphysischen System einfügt. So wird er der erste Theologe und hat als solcher gewirkt und immer gegolten.

In diesem Zusammenhange erst gewinnt seine Absicht, die Wissenschaft zur Führerin des Lebens zu machen, ihre spezifische Färbung; und in dieser Tendenz, eine Lehre zum beherrschenden Prinzip der Menschenwelt zu machen, besteht die seiner eigenen Zeit ahnungsvoll weit vorgreifende Bedeutung seiner Wirksamkeit.

Nehmen wir endlich hinzu, daß dieser gewaltige Lebensinhalt nicht nur in rastloser Lehre und bis zum Greisenalter jugendstarker Betätigung sich entfaltet hat, sondern auch in der künstlerisch abgeklärtesten Form vorliegt, daß dieser Denker und Politiker, dieser Theologe und Prophet einer der größten Schriftsteller aller Völker und Zeiten gewesen ist, so schließt sich das Bild einer jener seltenen Persönlichkeiten zusammen, in denen das Leben unseres Geschlechts sich zur höchsten Vereinigung aller seiner Werte steigert und die Grenze des Menschlichen zu erreichen scheint.


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