Johann Joachim Winckelmann
Geschichte der Kunst des Altertums
Johann Joachim Winckelmann

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Das vierte Kapitel

Von der Kunst unter den Griechen

 

Erstes Stück

Von den Gründen und Ursachen des Aufnehmens und des Vorzugs der griechischen Kunst vor andern Völkern

Die Kunst der Griechen ist die vornehmste Absicht dieser Geschichte, und es erfordert dieselbe, als der würdigste Vorwurf zur Betrachtung und Nachahmung, da sie sich in unzählig schönen Denkmalen erhalten hat, eine umständliche Untersuchung, die nicht in Anzeigen unvollkommener Eigenschaften und in Erklärungen des Eingebildeten, sondern im Unterricht des Wesentlichen bestände, und in welcher nicht bloß Kenntnisse zum Wissen, sondern auch Lehren zum Ausüben vorgetragen würden. Die Abhandlung von der Kunst der Ägypter, der Etrurier und anderer Völker kann unsere Begriffe erweitern und zur Richtigkeit im Urteil führen; die von den Griechen aber soll suchen, dieselben auf eins und auf das Wahre zu bestimmen, zur Regel im Urteilen und im Wirken.

Diese Abhandlung über die Kunst der Griechen besteht aus vier Stücken: Das erste und vorläufige handelt von den Gründen und Ursachen des Aufnehmens und des Vorzugs der griechischen Kunst vor andern Völkern; das zweite von dem Wesentlichen der Kunst; das dritte von dem Wachstume und von dem Falle derselben; und das vierte von dem mechanischen Teile der Kunst. Den Beschluß dieses Kapitels macht eine Betrachtung über die Malereien aus dem Altertume.

Die Ursache und der Grund von dem Vorzuge, welchen die Kunst unter den Griechen erlangt hat, ist teils dem Einflusse des Himmels, teils der 115 Verfassung und Regierung und der dadurch gebildeten Denkungsart, wie nicht weniger der Achtung der Künstler und dem Gebrauche und der Anwendung der Kunst unter den Griechen zuzuschreiben.

 
Vom Einfluß der klimatischen Gegebenheiten

Der Einfluß des Himmels muß den Samen beleben, aus welchem die Kunst soll getrieben werden, und zu diesem Samen war Griechenland der auserwählte Boden; und das Talent zur Philosophie, welches Epicurus den Griechen allein beilegen wollen, könnte mit mehrerm Rechte von der Kunst gelten. Vieles, was wir uns als idealisch vorstellen möchten, war die Natur bei ihnen. Die Natur, nachdem sie stufenweise durch Kälte und Hitze gegangen, hat sich in Griechenland, wo eine zwischen Winter und Sommer abgewogene Witterung ist, wie in ihrem Mittelpunkte gesetzt, und je mehr sie sich demselben nähert, desto heiterer und fröhlicher wird sie, und desto allgemeiner ist ihr Wirken in geistreichen witzigen Bildungen und in entschiedenen und vielversprechenden Zügen. Wo die Natur weniger in Nebeln und in schweren Dünsten eingehüllt ist, gibt sie dem Körper zeitiger eine reifere Form; sie erhebt sich in mächtigen, sonderlich weiblichen Gewächsen, und in Griechenland wird sie ihre Menschen auf das feinste vollendet haben. Die Griechen waren sich dieses und überhaupt, wie Polybius sagt, ihres Vorzugs vor andern Völkern bewußt, und unter keinem Volke ist die Schönheit so hoch als bei ihnen geachtet worden; deswegen blieb nichts verborgen, was dieselbe erheben konnte, und die Künstler sahen die Schönheit täglich vor Augen. Ja es war dieselbe gleichsam ein Verdienst zum Ruhme, und wir finden in den griechischen Geschichten die schönsten Leute angemerkt: gewisse Personen wurden von einem einzigen schönen Teile der Bildung, wie Demetrius Phalereus von seinen schönen Augenbrauen, mit einem besonderen Namen bezeichnet. Daher wurden Wettspiele der Schönheit bereits in den allerältesten Zeiten vom Kypselus, König in Arkadien, zur Zeit der Heraklider, bei dem Flusse Alpheus, in der Landschaft Elis, angeordnet; und an dem Feste des Philesischen Apollo war auf den gelehrtesten Kuß 116 unter jungen Leuten ein Preis gesetzt. Eben dieses geschah unter Entscheidung eines Richters, wie vermutlich auch dort zu Megara bei dem Grabe des Diokles. Zu Sparta und zu Lesbus, in dem Tempel der Juno und bei den Parrhasiern waren Wettstreite der Schönheit unter dem weiblichen Geschlechte.

 
Vom Einfluß der gesellschaftlichen Zustände

Die Freiheit im politischen Leben

In Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland ist die Freiheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst. Die Freiheit hat in Griechenland alle Zeit den Sitz gehabt, auch neben dem Throne der Könige, welche väterlich regierten, ehe die Aufklärung der Vernunft ihnen die Süßigkeit einer völligen Freiheit schmecken ließ, und Homerus nennt den Agamemnon einen Hirten der Völker, dessen Liebe für dieselben und Sorge für ihr Bestes anzudeuten. Ob sich gleich nachher Tyrannen aufwarfen, so waren sie es nur in ihrem Vaterlande, und die ganze Nation hat niemals ein einziges Oberhaupt erkannt. Daher ruhte nicht auf einer Person allein das Recht, groß in seinem Volke zu sein und sich mit Ausschließung anderer verewigen zu können.

Die Kunst wurde schon sehr zeitig gebraucht, das Andenken einer Person auch durch seine Figur zu erhalten, und hierzu stand einem jeden Griechen der Weg offen. Da nun die ältesten Griechen das Gelernte dem, wo sich die Natur vornehmlich äußerte, weit nachsetzten, so wurden auch die ersten Belohnungen auf Leibesübungen gesetzt, und wir finden von einer Statue Nachricht, welche zu Elis einem spartanischen Ringer, Eutelides, schon in der achtunddreißigsten Olympias aufgerichtet worden; und vermutlich ist dieselbe nicht die erste gewesen. In kleineren Spielen, wie zu Megara, wurde ein Stein mit dem Namen des Siegers aufgerichtet. Daher suchten sich die größten Männer unter den Griechen in der Jugend in den Spielen hervorzutun; Chrysippus und Kleanthes wurden hier eher als durch ihre Weltweisheit bekannt; ja Platon selbst erschien unter den Ringern in den Isthmischen Spielen zu Korinth und in den 117 Pythischen zu Sikyon. Pythagoras trug zu Elis den Preis davon und unterrichtete den Eurymenes, daß er an eben dem Orte den Sieg erhielt. Auch unter den Römern waren die Leibesübungen der Weg, einen Namen zu erhalten, und Papirius, welcher die Schande der Römer ad Furculas Caudinas an den Samnitern rächte, ist uns weniger durch diesen Sieg als durch seinen Beinamen, der Läufer, welchen auch Achilles bei Homerus führt, bekannt.

Eine Statue des Siegers, in dessen Gleichheit und Ähnlichkeit, an dem heiligsten Orte in Griechenland gesetzt, und von dem ganzen Volke gesehen und verehrt, war ein mächtiger Antrieb, nicht weniger dieselbe zu machen als zu erlangen, und niemals ist für Künstler, unter irgendeinem Volke von je an, eine so häufige Gelegenheit gewesen, sich zu zeigen; der Statuen in den Tempeln sowohl der Götter als ihrer Priester und Priesterinnen nicht zu gedenken. Den Siegern in den großen Spielen wurden nicht allein an dem Orte der Spiele, und vielen nach der Anzahl der Siege, Statuen gesetzt, sondern auch zugleich in ihrem Vaterlande, und diese Ehre widerfuhr auch andern verdienten Bürgern. Dionysius redet von den Statuen der Bürger zu Cuma in Italien, welche Aristodemus, der Tyrann dieser Stadt, in der zweiundsiebzigsten Olympias, aus dem Tempel, wo sie standen, wegnehmen und an unsaubere Orte werfen ließ. Einigen Siegern der Olympischen Spiele aus den ersten Zeiten, da die Künste noch nicht blühten, wurden lange nach ihrem Tode, ihr Andenken zu erhalten, Statuen aufgerichtet, wie einem Oibotas aus der sechsten Olympias die Ehre allererst in der achtzigsten widerfuhr. Es ist besonders, daß sich jemand seine Statue machen lassen, ehe er den Sieg erhielt; so gewiß war derselbe. Ja zu Ägium in Achaja war einem Sieger eine besondere Halle oder verdeckter Gang von seiner Stadt gebaut, um sich daselbst im Ringen zu üben.

 
Denken in Freiheit

Durch die Freiheit erhob sich, wie ein edler Zweig aus einem gesunden Stamme, das Denken des ganzen Volks. Denn wie der Geist eines zum Denken gewöhnten Menschen sich höher zu erheben pflegt im weiten 118 Felde oder auf einem offenen Gange, auf der Höhe eines Gebäudes als in einer niedrigen Kammer und in jedem eingeschränkten Orte, so muß auch die Art zu denken unter den freien Griechen gegen die Begriffe beherrschter Völker sehr verschieden gewesen sein. Herodotus zeigt, daß die Freiheit allein der Grund gewesen von der Macht und Hoheit, zu welcher Athen gelangt ist, da diese Stadt vorher, wenn sie einen Herrn über sich erkennen müssen, ihren Nachbarn nicht gewachsen sein können. Die Redekunst fing an aus eben dem Grunde allererst in dem Genusse der völligen Freiheit unter den Griechen zu blühen; daher legten die Sizilianer dem Gorgias die Erfindung der Redekunst bei. Die Griechen waren in ihrer besten Zeit denkende Wesen, welche zwanzig und mehr Jahre schon gedacht hatten, ehe wir insgemein aus uns selbst zu denken anfangen, und die den Geist in seinem größten Feuer, von der Munterkeit des Körpers unterstützt, beschäftigen, welcher bei uns, bis er abnimmt, unedel genährt wird. Der unmündige Verstand, welcher wie eine zarte Rinde den Einschnitt behält und erweitert, wurde nicht mit bloßen Tönen ohne Begriffe unterhalten, und das Gehirn, gleich einer Wachstafel, die nur eine gewisse Anzahl Worte oder Bilder fassen kann, war nicht mit Träumen erfüllt, wenn die Wahrheit Platz nehmen will. Gelehrt sein, das ist, zu wissen, was andere gewußt haben, wurde spät gesucht; gelehrt, im heutigen Verstande, zu sein, war in ihrer besten Zeit leicht, und weise konnte ein jeder werden. Denn es war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nämlich viel Bücher zu kennen, da allererst nach der einundsechzigsten Olympias die zerstreuten Glieder des größten Dichters gesammelt wurden. Diesen lernte das Kind; der Jüngling dachte wie der Dichter, und wenn er etwas Würdiges hervorgebracht hatte, so war er unter die Ersten seines Volkes gerechnet.

 
Achtung der Künstler durch die Gesellschaft

Ein weiser Mann war der geehrteste, und dieser war in jeder Stadt, wie bei uns der reichste, bekannt; so wie es der junge Scipio war, welcher die Cybele nach Rom führte. Zu dieser Achtung konnte der Künstler auch gelangen; ja Sokrates erklärte die Künstler allein für weise, als 119 diejenigen, welche es sind und nicht scheinen, und vielleicht in dieser Überzeugung ging Äsopus beständig unter den Bildhauern und Baumeistern umher. In viel späterer Zeit war der Maler Diognetus einer von denen, welche den Marcus Aurelius die Weisheit lehrten. Dieser Kaiser bekennt, daß er von demselben gelernt habe, das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden und nicht Torheiten für würdige Sachen anzunehmen. Der Künstler konnte ein Gesetzgeber werden: denn alle Gesetzgeber waren gemeine Bürger, wie Aristoteles bezeugt. Er konnte Kriegsheere führen, wie Lamachus, einer der dürftigsten Bürger zu Athen, und seine Statue neben dem Miltiades und Themistokles, ja neben den Göttern selbst gesetzt sehen: so stellten Xenophilus und Strato ihre sitzenden Figuren bei ihrer Statue des Äsculapius und der Hygiea zu Argus. Chirisophus, der Meister des Apollo zu Tegea, stand in Marmor neben seinem Werke, und Alkamenes war erhaben gearbeitet an dem Gipfel des Eleusinischen Tempels; Parrhasius und Silanion wurden in ihrem Gemälde des Theseus zugleich mit diesem verehrt. Andere Künstler setzten ihren Namen auf ihr Werk und Phidias den seinigen zu den Füßen des Olympischen Jupiters. Es stand auch an verschiedenen Statuen der Sieger zu Elis der Name der Künstler, und an dem Wagen mit vier Pferden von Erz, welchen der Sohn des Königs Hiero zu Syrakus, Dinomenes, seinem Vater setzen ließ, war in zwei Versen angezeigt, daß Onatas der Meister dieses Werkes sei. Dieser Gebrauch aber war dennoch nicht so allgemein, daß man aus dem Mangel des Namens des Künstlers an vorzüglichen Statuen schließen könnte, daß es Werke aus spätern Zeiten seien. Dieses war nur zu erwarten von Leuten, die Rom im Traume oder wie junge Reisende in einem Monate gesehen.

Die Ehre und das Glück des Künstlers hingen nicht von dem Eigensinne eines unwissenden Stolzes ab, und ihre Werke waren nicht nach dem elenden Geschmacke oder nach dem übelgeschaffenen Auge eines durch die Schmeichelei und Knechtschaft aufgeworfenen Richters gebildet, sondern die Weisesten des ganzen Volkes urteilten und belohnten sie, und ihre Werke in der Versammlung aller Griechen und zu Delphos und zu Korinth waren Wettspiele der Malerei unter besondern dazu bestellten Richtern, welche zur Zeit des Phidias angeordnet wurden. Hier wurde zuerst Panäus, der Bruder oder, wie andere wollen, der Schwester 120 Sohn des Phidias, mit dem Timagoras von Chalkis gerichtet, und der letzte erhielt den Preis. Vor solchen Richtern erschien Aetion mit seiner Vermählung Alexanders und der Roxane: derjenige Vorsitzer, welcher den Ausspruch tat, hieß Proxenides, und er gab dem Künstler seine Tochter zur Ehe. Man sieht, daß ein allgemeiner Ruf auch an anderen Orten die Richter nicht geblendet, dem Verdienste das Recht abzusprechen: denn zu Samos wurde Parrhasius in dem Gemälde des Urteils über die Waffen des Achilles dem Timanthes nachgesetzt. Aber die Richter waren nicht fremd in der Kunst: denn es war eine Zeit in Griechenland, wo die Jugend in den Schulen der Weisheit sowohl als der Kunst unterrichtet wurde. Daher arbeiteten die Künstler für die Ewigkeit, und die Belohnungen ihrer Werke setzten sie in Stand, ihre Kunst über alle Absichten des Gewinns und der Vergeltung zu erheben. So malte Polygnotus das Poikile zu Athen und, wie es scheint, auch ein öffentliches Gebäude zu Delphos ohne Entgelt aus, und die Erkenntlichkeit gegen diese letztere Arbeit scheint der Grund zu sein, welcher die Amphyktiones oder den allgemeinen Rat der Griechen bewogen, diesem großmütigen Künstler eine freie Bewirtung durch ganz Griechenland auszumachen.

Überhaupt wurde alles Vorzügliche in allerlei Kunst und Arbeit besonders geschätzt, und der beste Arbeiter in der geringsten Sache konnte zur Verewigung seines Namens gelangen. Wir wissen noch jetzt den Namen des Baumeisters einer Wasserleitung auf der Insel Samos und desjenigen, der daselbst das größte Schiff gebaut hat; ingleichen den Namen eines berühmten Steinmetzen, welcher in Arbeit an Säulen sich hervortat; er hieß Architeles. Es sind die Namen zweier Weber oder Sticker bekannt, die einen Mantel der Pallas Polias zu Athen arbeiteten. Wir wissen den Namen eines Arbeiters von sehr richtigen Waagen oder Waageschalen; er hieß Parthenius. Ja es hat sich der Name des Sattlers, wie wir ihn nennen würden, erhalten, der den Schild des Ajax von Leder machte. In dieser Absicht scheinen die Griechen vieles, was besonders war, nach dem Namen des Meisters, der es gemacht hatte, benannt zu haben, und unter dergleichen Namen blieben die Sachen immer bekannt. Zu Samos wurden hölzerne Leuchter gemacht, die in großem Werte gehalten wurden; Cicero arbeitete auf seines Bruders Landhause des Abends bei dergleichen Leuchter. Auf der Insel Naxus waren jemandem, welcher 121 zuerst den pentelischen Marmor in der Form von Ziegeln gearbeitet hatte, um Gebäude damit zu decken, bloß wegen dieser Entdeckung Statuen gesetzt. Vorzügliche Künstler hatten den Namen Göttliche, wie Alcimedon beim Virgilius.

 
Die Kunst im Leben der Nation

Der Gebrauch und die Anwendung der Kunst erhielt dieselbe in ihrer Großheit. Denn da sie nur den Göttern geweiht und für das Heiligste und Nützlichste im Vaterlande bestimmt war, und in den Häusern der Bürger Mäßigkeit und Einfalt wohnte, so wurde der Künstler nicht auf Kleinigkeiten oder auf Spielwerke durch Einschränkung des Ortes oder durch die Lüsternheit des Eigentümers heruntergesetzt, sondern was er machte, war den stolzen Begriffen des ganzen Volks gemäß. Miltiades, Themistokles, Aristides und Kimon, die Häupter und Erretter von Griechenland, wohnten nicht besser als ihr Nachbar. Grabmale aber wurden als heilige Gebäude angesehen; daher es nicht befremden muß, wenn sich Nikias, der berühmte Maler, [hat] gebrauchen lassen, ein Grabmal vor der Stadt Tritia in Achaja auszumalen. Man muß auch erwägen, wie sehr es die Nacheiferung in der Kunst befördert habe, wenn ganze Städte, eine vor der anderen, eine vorzügliche Statue zu haben suchten, und wenn ein ganzes Volk die Kosten zu einer Statue sowohl von Göttern als von Siegern in den öffentlichen Spielen aufbrachten. Einige Städte waren auch im Altertume selbst bloß durch eine schöne Statue bekannt, wie Aliphera wegen einer Pallas von Erz, von Hecatodorus und Sostratus gemacht.

 
Vom verschiedenen Alter der Künste

Die Bildhauerei und Malerei sind unter den Griechen eher als die Baukunst zu einer gewissen Vollkommenheit gelangt: denn diese hat mehr Idealisches als jene, weil sie keine Nachahmung von etwas Wirklichem hat sein können, und nach der Notwendigkeit auf allgemeine Regeln und Gesetze der Verhältnisse gegründet worden. Jene beiden Künste, welche mit der bloßen Nachahmung ihren Anfang genommen 122 haben, fanden alle nötigen Regeln am Menschen bestimmt, da die Baukunst die ihrige durch viele Schlüsse finden und durch den Beifall festsetzen mußte. Die Bildhauerei aber ist vor der Malerei vorausgegangen und hat als die ältere Schwester diese als die jüngere geführt; ja Plinius ist der Meinung, daß zur Zeit des Trojanischen Krieges die Malerei noch nicht gewesen sei. Der Jupiter des Phidias und die Juno des Polycletus, die vollkommensten Statuen, welche das Altertum gekannt hat, waren schon, ehe Licht und Schatten in griechischen Gemälden erschien. Denn Apollodorus und sonderlich nach ihm Zeuxis, der Meister und der Schüler, welche in der neunzigsten Olympias berühmt waren, sind die ersten, welche hierin sich zeigten; da man sich die Gemälde vor ihrer Zeit als nebeneinander gesetzte Statuen vorzustellen hat, die außer der Handlung, in welcher sie gegeneinander standen, als einzelne Figuren kein Ganzes zu machen schienen, nach eben der Art, wie die Gemälde auf den sogenannten etrurischen Gefäßen sind. Euphranor, welcher mit dem Praxiteles zu gleicher Zeit und also später noch als Zeuxis lebte, hat, wie Plinius sagt, die Symmetrie in die Malerei gebracht.

Der Grund von dem späteren Wachstume der Malerei liegt teils in der Kunst selbst, teils in dem Gebrauche und in der Anwendung derselben: denn da die Bildhauerei den Götterdienst erweitert hat, so ist sie wiederum durch diesen gewachsen. Die Malerei aber hatte nicht gleichen Vorteil: sie war den Göttern und den Tempeln gewidmet, und einige Tempel, wie der [der] Juno zu Samos, waren Pinacothecä, d. i. Galerien von Gemälden; auch zu Rom waren in dem Tempel des Friedens, nämlich in den obern Zimmern oder Gewölben desselben, die Gemälde der besten Meister aufgehängt. Aber die Werke der Maler scheinen bei den Griechen kein Vorwurf heiliger zuversichtlicher Verehrung und Anbetung gewesen zu sein; wenigstens findet sich unter allen von Plinius und Pausanias angeführten Gemälden kein einziges, welches diese Ehre erhalten hätte, wo nicht etwa jemand in unten gesetzter Stelle des Philo ein solches Gemälde finden wollte. Pausanias gedenkt schlechthin eines Gemäldes der Pallas in ihrem Tempel zu Tegea, welches ein Lectisternium derselben war. Die Malerei und Bildhauerei verhalten sich wie die Beredsamkeit und Dichtkunst: diese, weil sie, mehr als jene heilig gehalten, zu heiligen Handlungen gebraucht und besonders belohnt 123 wurde, gelangte zeitiger zu ihrer Vollkommenheit; und diese ist zum Teil die Ursache, daß, wie Cicero sagt, mehr gute Dichter als Redner gewesen. Wir finden aber, daß Maler zugleich Bildhauer waren: ein atheniensischer Maler, Miko, machte die Statue der Kallias von Athen; sogar vom Apelles war die Statue der Tochter des spartanischen Königs Archidamus, Cynica, gearbeitet. Solche Vorteile hatte die Kunst der Griechen vor andern Völkern, und auf einem solchen Boden konnten so herrliche Früchte wachsen.

 


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