Christoph Martin Wieland
Die Grazien
Christoph Martin Wieland

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Sechstes Buch

Wie sehr man bei Ihnen auf seiner Hut sein muß, Danae! – Ich dachte nicht, daß Sie sich eines Ausdrucks wieder erinnern sollten, der mir, ich weiß nicht wie, entschlüpft war; und nun glauben Sie sogar, ein Recht zu haben, mich, wie Sie sagen, zu Erfüllung meines Versprechens anzuhalten. – War es denn wirklich ein Versprechen? Ich sagte, vielleicht würd ich Ihnen in der Folge von den Grazien Geheimnisse verraten; und ohne für mein Vielleicht die mindeste Achtung zu haben, bestehen Sie darauf, daß ich Ihre Neugierde gereizt hätte. Es wäre sehr unhöflich, gefällt es Ihnen zu sagen, die Neugier eines Frauenzimmers rege zu machen, wenn man nicht gesonnen sei, oder sich nicht im Stande wisse, sie zu befriedigen.

In der Tat ist dies ein Grund, gegen den ich nicht sehe was man einwenden könnte. Ich kann nicht daran denken solche Vorwürfe von Ihnen zu verdienen: Sie sollen befriediget werden.

Göttinnen, in denen der höchste Grad des Reizes mit der ersten Blüte einer ewigen Jugend gepaart ist, die unter lauter Freuden, Scherzen und Liebesgöttern leben, und ihrer Natur nach lauter Gefälligkeit sind, – mit Einem Worte, die Grazien, wie sollten sie immer ohne kleine Anekdoten geblieben sein? Töchter des frohen Bacchus und der zärtlichen Cythere, müßten sie ganz aus der Art geschlagen sein, wenn sie unempfindlich gegen die Liebe sein könnten, die sie einflößen; und unter so vielen Göttern, Halbgöttern und Sterblichen, von denen sie jemals geliebt wurden, sollten wohl alle, Alle, nicht Einen ausgenommen, nur Platonische Liebhaber gewesen sein? – Es ist nicht wahrscheinlich!

Gleichwohl habe ich die gemeine Meinung und das Zeugnis einer unendlichen Menge von Schriftstellern vor mir, wenn ich Ihnen versichre, daß die Grazien – die unschuldigsten unter allen Göttinnen sind.

Es ist wahr, der jungfräuliche Stand, der ihnen gewöhnlich beigelegt wird, ist für sich allein nicht hinlänglich, sie gegen schalkhafte Vermutungen völlig sicher zu stellen. Auch Minerva hatte ihr Abenteuer mit dem hinkenden Vulkan; Luna das ihrige mit dem schönen Endymion; die schöne Io, Kallisto, Europa und zwanzig andre die ihrigen, die den reizenden Stoff der Maler und Dichter vermehren. Und erzählt uns nicht Ovid, wie wenig es gefehlt hätte, daß sogar die ehrwürdige Vesta von dem gefährlichsten Liebhaber, den eine Spröde haben kann, überrascht worden wäreFastor. VI. Est multi fabula plena joci, sagt er; und zu seiner Ehre müssen wir gestehen, daß er sie den Grazien selbst nicht anständiger hätte erzählen können. ? Überdies find ich nirgends, daß uns die geheimen Geschichtschreiber der Götter eine hinlängliche Nachricht geben, woher alle die kleinen Amoretten kommen, die in den Hainen von Paphos und Gnidos und Cythere, in größerer Anzahl als die Schmetterlinge in einem warmen Sommer, herum flattern. Der einzige Claudian (wenn ich nicht irre) begnügt sich, ihnen überhaupt die Nymphen zu Müttern zu geben

Milie pharetrati ludunt in margine fratres,
Ore pares, aevo similes, gens mollis Amorum.
Hos Nymphae pariunt –
De Nupt. Honorii et Mariae, v. 72.
. Sehen Sie, Danae, ob dieses genug ist, die Grazien frei zu sprechen, – wenn man anders Ursache haben könnte zu erröten, so lieblichen kleinen Göttern als die Amoretten sind, das Dasein gegeben zu haben. Doch, ich will Ihnen ohne Umschweife gestehen, was man sich am Hofe der Liebesgöttin in die Ohren geflüstert hat.

Erinnern Sie sich des reizenden Genius,

– Halb Faun, halb Liebesgott,
Der flatterhaft um alle Blumen scherzet,
Um alle buhlt, doch nur die schönsten herzet,
Und, daß sein kleines Horn die Nymphen nicht erschreckt,
Es unter Rosen schlau versteckt.

Ein Dichter, den Sie kennen, malte Hamiltons Geist unter diesem Bilde ab: aber dieses Bild ist kein Geschöpf der Phantasie, wie Sie vielleicht dachten; wirklich findet sich unter den Paphischen Göttern einer, der das Urbild davon war.

Unter den jungen Faunen, welche die Spielgesellen der Amoretten sind, war einer,

Der schönste kleine Faun,
Der je, statt an der Brust, am Nektarschlauch gesogen;
Ihm fehlten nur Flügel und Bogen,
So glaubtet ihr, Amorn zu schaun.
An einem Rosenzaun
Ward einst um ihn ein Nymphchen vom Schlafe betrogen;
Denn auch dem Schlaf ist nicht zu traun!
Dem schönen kleinen Faun
War alle Welt und Venus selbst gewogen;
Gefällig erzogen die Nymphen zu Gnid
Den holden Findling auf; er hüpfte, scherzt' und lachte
Mit andern Amorn herum, und keine Seele dachte,
Daß Art noch nie von Art sich schied.
Thalia selbst, der Grazien munterste, machte
Sich eine Freude daraus, so lang' er Knabe noch war,
Den schönen jungen Wilden
Zum Amor umzubilden,
Sein kleines Horn zu vergülden,
Und Rosen zu flechten ins lockige Haar.

Wer hätte dem kleinen Faun zugetraut, daß er fähig wäre, so viele Liebe mit – einer Art von Gegenliebe zu erwidern, welche, die Wahrheit zu sagen, der Natur eines Fauns so gemäß war, daß man sich vielmehr wundern sollte, wie man ihm weniger zutrauen konnte?

Ich weiß nicht, wie es kam; Göttinnen haben in gewissen Dingen besondre Vorrechte; man wurde nichts davon gewahr; – aber, ein allerliebstes kleines Geschöpf, in dessen Gestalt und Zügen ein seltsames Gemische von Leichtfertigkeit und Anmut seinen zweideutigen Ursprung verriet, kam auf einmal in den Hainen zu Gnid zum Vorschein. Mit süßer Bestürzung fand es Pasithea, da sie einst in einer Sommerlaube eingeschlafen war, beim Erwachen,

So zärtlich und bekannt,
Als wären sie verwandt,
Auf ihrem Busen spielen,
Und mit der kleinen runden Hand
In seinen Rosen wühlen.

    Efeugleiches krauses Haar umkränzte
Seine breite Stirn', im schwarzen Auge glänzte
Süßer Trotz; die Mutter tat der Mund,
Um und um von Reiz umflossen,
Hörnerchen, die aus den Locken sprossen,
Und der kühne Blick den Vater kund.

    Mit tausend reizenden Grimassen
Stahl ins Herz der kleine Gott sich ein,
Und schien ganz ausgelassen
Vor Freude, da zu sein.

Der schöne Faun und ihre Schwester Thalia waren der erste Gedanke, den Pasithea hatte, da sie das kleine Mittelding von Faun und Grazie betrachtete. Sie eilte damit ihren Schwestern zu. Aber keine wollte wissen, woher er gekommen sein könnte. »Und doch«, sagte Thalia lächelnd, »sieht er so sehr in unser Geschlecht, daß man wetten sollte, eine von uns müßt ihm näher verwandt sein als sie gestehen will.«

Ein scherzhafter Streit erhob sich darüber unter den Grazien; eine schob ihn immer der andern zu, und machte gewisse Züge ausfündig, worin sie die eine oder die andre Schwester erkennen wollte. Ihr Lachen zog eine Menge von Amoretten und Nymphen herbei, die an dem kleinen Lustspiele Teil nahmen. Alle fanden den kleinen Gott unendlich liebenswürdig, aber keine wollte sich zu ihm bekennen. Sein Ursprung blieb eines von diesen Geheimnissen, die jedermann weiß, und niemand zu wissen scheint.

    Die Zärtlichkeit, womit, da sie allein sich hielt,
Thalia den kleinen Faun, der kindlich nach ihr blickte,
An ihren Busen drückte,
Verriet sie einer Najade,
Die an des Cepheus Gestade
Zwischen den Binsen hervor geschielt.

Wollen Sie wissen, Danae, was aus diesem kleinen Impromptu der artigsten unter den Grazien geworden ist? Er wurde der Genius der Sokratischen Ironie, der Horazischen Satire, des Lucianischen Spottes.

Er lehrte Phänaretens SohnDie Mutter des Sokrates hieß Phänarete.
Die Kunst, durch lauerndes Verstellen,
Der Narren, die vor Weisheit schwellen,
Der Gorgiassen, Stolz zu fällen;
Und dich, Horaz, den eleganten Ton,
Die Narren Roms, die Nattas, die Metellen,
Die Catius und Cupiennius,
Und zwanzig andre Narrn in us
So fein zum Gegenstand von unserm Spott zu machen,
Daß selbst der Tor, indem wir ihn belachen,
Gern oder nicht uns lachen helfen muß.

    Den schönen Geistern neuer Zeiten
Scheint er nicht minder hold zu sein.
Er gab den Lockenraub, den frommen Vert-vert ein,
Ließ Manchas Helden kühn mit Klappermühlen streiten,
Den schönen Fakardin an Kristallinens Seiten,
Ein Spinnrad in der Hand, im Schlafrock, unversehrt
Durch funfzig Mohrensäbel schreiten,
Und meinen lieben Stern' auf seinem Steckenpferd –
Poor Yorick! – sich zu Tode reiten.

Doch, Sie erwarten nicht, Danae, daß ich Ihnen ein Verzeichnis seiner Eingebungen aufschreibe; Sie wollen noch mehr von den geheimen Geschichtchen der Grazien erfahren. – Allein, was könnte ich Ihnen, nach dem was Sie bereits wissen, noch Unterhaltendes davon sagen? Wenn sie deren noch mehr gehabt haben, so müssen sie vermutlich diesem ähnlich gewesen sein.

Doch etwas hätte ich beinahe vergessen, das Ihnen vermutlich unerwarteter ist, als alles andre was ich von meinen geliebten Göttinnen noch sagen könnte. Oder hätten Sie sich wohl vorgestellt, daß eine von den Grazien wirklich, in ganzem Ernste, verheiratet ist; so sehr in Ernste, daß Juno selbst die Ehestifterin war?

»Verheiratet?« – Nicht anders. – »Aber an wen?« – O! gewiß, Sie würden alle möglichen Götter raten können, und den rechten doch verfehlen. Wenn wir nicht einen so unverwerflichen Zeugen vor uns hätten als Homer ist, wer würde sich einfallen lassen, eine Grazie an – den Schlaf zu verheiraten?

Doch, vielleicht stellen Sie sich den Gott Schlaf nicht so liebenswürdig vor, als ihn die Griechischen Dichter und Künstler zu bilden pflegten. – Und warum sollten wir ihn unter einem weniger lieblichen Bilde denken, den holden Schlaf, ihn, der, eben so wohl als die Grazien und Amor selbst, unter die Wohltäter des Menschengeschlechtes zu zählen ist?

Ihn, dessen magischer Duft
Ein süßes Vergessen der Sorgen
Auf unsre Stirne träuft, und uns mit jedem Morgen
In neues Dasein ruft;
Ihn, dessen Gunst der Mann in Purpur gekleidet
Dem Mann am Pfluge, dem Sklaven beneidet;
Den holden Gott, der wenigstens bei Nacht
Des Glückes Eigensinn vergütet,
Und, wenn der Gram an goldnen Betten wacht,
Und Harpax seinen Schatz mit hohlen Augen hütet,
Auf Stroh den Ärmsten glücklich macht?

Welcher Unglückliche findet nicht in ihm das Ende seiner Schmerzen? Und wer ist so sehr den Göttern gleich, um durch seinen Verlust sich nicht für elend zu halten?

Schlummert nicht, von Küssen müde,
Mit gesenktem Augenlide
Amor selbst an seinem Busen ein?
Ja, es würden (glaubts Homeren!)
Selbst die Götter in den Sphären
Ohne ihn nicht selig sein.

Genug, der Schlaf, den Sie sich nun unter einem so angenehmen Bilde, als Sie immer wollen, denken mögen,

Mit krausem, gelbem Haar,
Und schlaffen, jugendlichen Zügen,
Schön, wie der Liebesgott, wenn er von seinen Siegen
In Psychens Armen ruht, – wie Lunens Schläfer war,
Als er, in ihrem einsamen Vergnügen
Sie nicht zu stören, tief in süßen Träumen lag;
Schön, wie die schönste Nacht nach einem Sommertag!

    Er liebte Pasitheen,
Und Pasithea – zwar, sie wollte nichts gestehen,
Allein man wußte doch, sie war ihm heimlich gut,
Wie itzo noch manch artig Mädchen tut.
Man sagt, er habe, bloß sie länger anzusehen,
Sie oft bei hellem Tag auf Rosen eingewiegt,
Und von des Anblicks Reiz besiegt,
Indem er neben ihr gesessen,
Sich und sein Amt so sehr dabei vergessen,
Daß allgemeine AgrypnieSchlaflosigkeit.
Die Sterblichen befiel. Vergebens riefen sie
Dem süßen Schlaf. Die Hippokraten
Erschöpften fruchtlos Kunst und Müh;
Das Übel widerstand den stärksten Opiaten.
Es griff zuletzt sogar die Götter an,
Und Zevs, der sonst doch in den Schlummerstunden
Vor Junons Aug und Zunge Ruh gefunden,
Fand keinen Augenblick, den Schwan
Bei unsern Leden mehr zu machen,
Und spielte nun, aus bösem Mut, den Drachen.

Kurz, die ganze Natur kam aus ihrem Geleise, und ihren Untergang zu verhüten, mußte auf ein schleuniges Mittel gedacht werden, den Gott des Schlafs wieder einzuschläfern. Man fand kein zuverlässigeres, als ihn unverzüglich mit der schönen Pasithea zu vermählen. Die Hochzeit wurde in größter Stille vollzogen. Die Grazien führten die errötende Braut an den Eingang seiner Grotte; in wenigen Minuten schlossen sich die Augen des kleinen phlegmatischen Gottes, und die ganze Natur entschlief.

Ein so schläfriger Gemahl würde, wir gestehen es, nicht viele sterbliche Schönen glücklich machen, und vielleicht der sprödesten Tugend am gefährlichsten sein. Nur die sanfteste unter den Grazien war dazu gemacht, einen Gemahl liebenswürdig zu finden, der, wenn ihre Küsse ihn weckten, kaum so lange wachte, um sie anzusehen, und vor Vergnügen – wieder einzuschlafen.

Gleichwohl sagt man, daß die Welt der Vermählung des Schlafs mit der jüngsten Grazie diese süßen Träume zu danken habe,

Wobei der keusche Sinn
Von Vestas Priesterin,
Wenn sie zu früh erwacht,
Sich viel Gedanken macht,
Und doch aus Neubegierde –
Wie alles enden würde?
Der Wiederkunft der Nacht
Bei Tage schon entgegen gähnt,
Und sich nach ihrem Traume sehnt;

    Die Träume, deren Scherzen
In einsamen Nächten die Schmerzen
Der jungen Witwe betrügt,
Und unter günstigen Schatten
Den wieder gefundenen Gatten
In ihren Armen wiegt;

    Kurz, Danae, im ganzen Träumereich
Die angenehmsten Träume,
Die, jungen Amorinen gleich,
Dich unter Myrtenbäume,
Und, wenn sie Zeugen spüren,
In stille Grotten führen,
Wo Amor lachend sich versteckt;
Dann abends dich zum Baden
In laue Brunnen laden,
Wo, wenn der Freund der fliehenden Najaden,
Ein Faun, die dunkeln Büsche schreckt,
Dich Ledas Schwan mit seinen Flügeln deckt.


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