Christoph Martin Wieland
Athenion
Christoph Martin Wieland

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12.

In dem Augenblick, da Aristion von dem Pöbel von Athen zum Oberbefehlshaber ausgerufen wurde, legte er auch die Maske ab, hinter welcher er bisher seine wahre und letzte 333 Absicht versteckt hatte. Er nahm auf einmal das Ansehen, die Miene und den Ton eines Perikles an und sagte ihnen, nachdem er sich für das Zutrauen, wovon sie ihm eine so wohlüberlegte Probe gegeben, bedankt hatte: »Da ihr also wieder eure eigenen Herren seyd, so werde ich nun, wenn ihr getreulich zu mir haltet, so viel vermögen, als ihr Alle zusammengenommen.« Die albernen Leute glaubten, daß er ihnen ein großes Compliment gemacht habe, und merkten nicht, daß er sie mit einer zweideutigen Spitzfindigkeit zum Besten hatte. In einer Republik ist der Mann, der allein so viel vermag, als die Andern alle zusammen, ein Despot, und die athenische Demokratie hatte mit der ersten Souverainetätshandlung, die sie dadurch ausübte, daß sie alle ihre Gewalt einem Einzigen übertrug, wieder ein Ende.

Die Art, wie sich der Philosoph Aristion der unumschränkten Macht bediente, die ihm von einem unbesonnenen Pöbel in einem unglücklichen Anstoß von schwärmerischem Wahnwitz anvertraut worden war, ist unsers Wissens ohne Beispiel in der Geschichte. Einfacheres kann man sich nichts denken, als den Plan seiner Staatsverwaltung. Seine einzige Absicht scheint gewesen zu seyn, sich so bald als nur möglich in den alleinigen Besitz des Ganzen zu setzen, indem er alle Athener, die nicht schon Bettler waren, zu Bettlern machte. Wer nichts hat, hat nichts zu verlieren, dachte der Philosoph; wer nichts zu verlieren hat, hat für nichts zu sorgen, und wer ohne Sorgen blos von einem Tage zum andern lebt, ist, sobald er dieser Art von Glückseligkeit ein wenig gewohnt ist, der glücklichste Mensch von der Welt. Der erste und der wichtigste Punkt seiner neuen Regierung war also – die Athener von allen Hindernissen eines so glücklichen Zustandes zu erleichtern. Das Mittel, wodurch 334 er diese große Staatsoperation bewirkte, war das zweckmäßigste von der Welt. Er brauchte nur den Reichen Alles zu nehmen, so blieb auch den Uebrigen nichts mehr, die sich bisher durch ihre Industrie von den Reichen genährt hatten. Glücklicher Weise war in der damaligen Lage der Sachen nichts leichter als dieß, wiewohl unter andern Umständen nichts schwerer gewesen wäre. Der Pöbel, welcher nichts hatte und bei Weitem den zahlreichsten Theil ausmachte, war mithridatisch gesinnt – Alle hingegen, die etwas zu verlieren hatten, öffentlich oder heimlich Freunde der Römer. Der Pöbel und der Oberbefehlshaber Aristion standen für einen Mann; alle Römischgesinnten wurden also für Verräther und Feinde des Vaterlandes erklärt und als solche entweder ohne weitern Proceß todtgeschlagen oder, wenn es Männer waren, mit denen man so kurz nicht verfahren konnte, gefangen genommen und dem Mithridates zugeschickt. In beiden Fällen fiel ihr Vermögen dem Staat, d. i. dem Regenten Aristion anheim, der, vermöge seiner mit dem Volke getroffenen stillschweigenden Convention, den ganzen Staat in seiner Person vorstellte. Wer nur die mindeste Miene machte, daß er mit dem gegenwärtigen Zustande des Vaterlandes nicht zufrieden und also (nach der gemeinen Definition) kein guter Bürger sey, wurde, wenn es sich nur einigermaßen der Mühe verlohnte, eines geheimen Verständnisses mit den Römern oder doch wenigstens eines Vorsatzes, sich in dergleichen einzulassen, angeklagt und, wenn er nicht bekennen wollte, so lange mit Daumenschrauben und Folterseilen gefragt, bis er sich schuldig gab. Aristion betrieb dieses Geschäft mit solchem Ernst, daß Viele, an welche (weil man doch nicht Alles auf einmal thun kann) die Reihe noch nicht gekommen war, sich für glücklich genug gehalten hätten, wenn sie nur ihre Person in Sicherheit 335 hätten bringen können. Aber auch das war nicht erlaubt. Aristion besetzte alle Thore der Stadt mit Soldaten, die keine Seele ohne seine Erlaubniß hinaus lassen durften; und da sich einige bei Nacht über die Stadtmauer an Stricken heruntergelassen hatten, schickte er ihnen auf allen Straßen Reiter nach, welche sie theils wieder zurückbrachten, theils niedermetzelten, wenn sie sich nicht gleich ergeben wollten. Auf diese Weise brachte er in kurzer Zeit einen unermeßlichen Schatz an barem Geld und Geldeswerth zusammen; denn vermöge seines angenommenen staatswirthschaftlichen Grundsatzes wollte er nicht nur Herr alles Geldes in Athen, sondern auch, so viel möglich, aller Lebensmittel seyn, und seine Kornböden wurden also mit allem Getreide angefüllt, welches einen beträchtlichen Theil der confiscirten Güter ausmachte. Eine natürliche Folge dieser Administration war, daß in kurzer Zeit auch die mithridatisch gesinnten Athener nichts mehr zu essen hatten. Aber der weise Aristion hatte dieß vorhergesehen und sich nichts darum bekümmert, weil er ein unfehlbares Mittel in Händen hatte, das Schlimmste, was daraus hätte erfolgen können, ein allgemeines Hungersterben, zu verhüten. Er ließ nämlich alle Tage beinahe ein Pfund Gerste (einen Chönix, d. i. ein Maß von sechzig Unzen, auf vier Tage) auf den Mann unter die ganze Bürgerschaft austheilen – eine Portion, welche Hühnern oder Gänsen angemessener gewesen wäre als Menschen. Aber Aristion, dem nichts so sehr am Herzen lag, als die Sicherheit seiner Regierung, hatte wohl erwogen, daß man nicht leben soll, um zu essen; daß es also genug ist, so viel zu essen, als man braucht, um nicht zu sterben; und daß das sicherste Mittel, die animam concupiscibilem und irascibilem, den thierischen Theil der Menschen, welcher der Sitz aller bösen und gefährlichen Leidenschaften, Begierlichkeit, 336 Unzufriedenheit, Widerspenstigkeit und Meuterei ist, im Zaum zu halten, unstreitig dieses ist, wenn man ihm den Brodkorb so hoch als möglich hängt und ihm dadurch die Kräfte entzieht, sich gegen die Vernunft, seine Regenten und Oberherren aufzulehnen.

Der athenische Pöbel war ein so leichtsinniges und jovialisches Völkchen, daß er sich bei Müßiggang und fünfzehn Unzen Gerste des Tags eine Zeitlang noch ziemlich glücklich finden konnte. Allein Aristion hatte doch nicht Alles, was besser als Pöbel war, ausrotten können, und es war zu besorgen, daß noch immer Manche hier und da verborgen stecken könnten, denen das Glück seiner Regierung nicht so völlig einleuchten möchte, daß sie nicht fähig seyn könnten, die Köpfe zusammen zu stecken und Entwürfe zu machen, wobei sein Interesse schwerlich zu Rathe gezogen würde. Bei Tage konnte er deshalben ruhig seyn, denn da wurde die kleinere Anzahl von der größern genugsam beobachtet; aber, heimliche Zusammenkünfte bei Nacht zu verhindern, gab es nur ein Mittel, das seine vorsichtige Furchtsamkeit beruhigen konnte. Dieses war eine Polizeiverordnung, vermöge welcher bei hoher Strafe verboten war, daß sich Niemand, weß Standes, Alters und Geschlechts er auch seyn möchte, nach Sonnenuntergang weder mit noch ohne Laterne oder Fackel durfte blicken lassen. Diese Verordnung hatte etwas, das man nicht bei allen Polizeiverordnungen findet: sie erreichte ihren Zweck; aber das undankbare und unbeständige Volk fing jetzt an gewahr zu werden, daß es, um sich besser zu befinden, eine Arznei genommen hatte, die um ein großes Theil schlimmer als die Krankheit war.

Man hat es unserem regierenden Philosophen sehr übel genommen, daß er, nicht zufrieden, das Vermögen so vieler 337 Privatpersonen an sich gezogen zu haben, seine gottesräuberischen Hände auch sogar nach dem reichen Schatz, der in dem Tempel des Apollo zu Delos verwahrt lag, ausgestreckt und denselben mit Hülfe von zweitausend Mann, womit ihn Archelaus, ein General des Mithridates, unterstützte, weggenommen und nach Athen bringen lassen. Uns dünkt aber, er habe hierin nicht nur seinem Charakter und dem großen Grundsatz seiner Staatsökonomie, zu nehmen, was er erreichen konnte, sondern selbst der gemeinen Politik gemäß gehandelt. Denn, indem er sich des Schatzes zu Delos bemächtigte, that er weiter nichts, als daß er dem römischen Feldherrn Sylla zuvorkam, der es bald hernach mit den Schätzen der Tempel zu Delphi, Olympia und Epidauros eben so machte. Wem die Rechte der Menschheit nicht heilig sind, von dem ist nicht zu erwarten, daß er die Schätze der Götter respectiren werde.



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