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XIII

Barbara Runge saß bei ihrem Vater: sie saß auf demselben Stuhl, auf dem der Indianer gesessen hatte, und auch sie sah den Kopf des Forstkassenrendanten a.D. Hindersin nur wie hinter einem Nebel. Sie war im Dogcart gekommen, ohne Kutscher – C. A. Runge war mit dem Wagen auf eine Woche fort –, und sie konnte durch das Fenster den Kopf des Pferdes sehen, der sich mitunter von dem vorgeworfenen Heu aufhob und sich schüttelte, um die Fliegen zu vertreiben. Die Nachmittagssonne brannte, und die Streifen der Harke lagen sauber und mit hoffnungsloser Parallelität im braunen Sand der Gänge.

»Es ist mir sehr gleichgültig«, erwiderte sie auf eine Frage ihres Vaters, »ob die Firma gut oder schlecht steht. Ich bin gekommen, damit du den Schwur von mir nimmst.«

Er stellte die Aschenschale zurecht, bis sie genau in der Mitte des eingelegten Schachbrettes stand, und verbarg die Hände dann wieder in seinen weiten Ärmeln.

»Ich lebe«, erwiderte er kurz.

»Folgt daraus denn«, sagte sie bitter, »daß ich nicht leben darf?«

»Was fehlt dir?« fragte er feindselig. »Willst du alles hinwerfen, um diesem Landstreicher nachzulaufen?«

Sie schwieg.

Er zuckte nur mit seinen hageren Schultern. »Die Bücher müssen in Ordnung sein«, murmelte er nach einer Weile. »Das andre …«

»Vor wem? Vor Riechenberg? Vor der Regierung? Abteilung Domänen und Forsten? Und Gott?«

»Gott? Du hast geschworen. Willst du über meine geharkten Gänge laufen?«

»Gott wird fragen: ›Wo ist deine Tochter Barbara?‹«

»Und ich werde antworten: ›Sie ist bei C. A. Runge. Eine gehorsame Ehefrau, die das vierte und sechste Gebot gehalten hat und der des Vaters Segen ein Haus gebaut hat.‹«

In ihrem weißen Gesicht war weder Haß noch Demut zu lesen. Ihre gefalteten Hände waren nicht zu ihrem Vater erhoben, sondern auf die Erde gerichtet, als wollte sie die Dielen bitten, sich aufzutun und ein Geheimnis herauszugeben. »Ich bitte dich«, sagte sie mit der Stimme eines Menschen, der im Schlaf spricht, »ich bitte dich um Christi Blut, mich zu lösen von meiner Marter.«

Hindersin nahm die Hände aus seinen Ärmeln, um die Aschenschale wieder parallel zu den Rändern des Schachbrettes zu stellen. »Die göttliche Ordnung«, sagte er; »man darf nichts gegen die Ordnung tun.«

Aber sie war schon aufgestanden. Sie ging zur Tür, wobei sie darauf achtete, auf derselben Diele zu bleiben, und hinaus zu ihrem Wagen. Als sie das Zaumzeug ordnete und mit der linken Hand die Lippen des Pferdes öffnete, hatte sie das schwindelerregende Gefühl von der Wärme eines lebendigen Körpers, und während sie die Schnallen zuzog, legte sie dann ein wenig ihre Stirn an den Hals des Pferdes. Sie hörte nicht, was Hindersin sagte, sie sah seine Hand nicht. Sie sah nur, daß er sich schnell bückte, um das Heu aufzusammeln, das übriggeblieben war, und daß er zurückspringen mußte, um nicht vom Rad gestreift zu werden.

Die Sonne zerbröckelte die welken Wälder. Die Eichelhäher lärmten, und vom See riefen die sich sammelnden Wasserhühner. Sie sah auf alles dieses, aber vor ihren Augen war ein dunkler Fleck, und sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie in die Sonne gesehen hätte und nun das Nachbild in ihrer Netzhaut trüge. Ihre Gedanken verwirrten sich … da waren die Ohren des Pferdes über dem Weg, den sie entlang sah … nichts wird zerbrochen, keine Kette, keine Krippe, kein Sielengeschirr …

Als sie in die Stadt einfuhr, war ihre Haltung genau dieselbe, mit der sie ihren Vater verlassen hatte, aufrecht, starr, nur die Tränen strömten über ihr Gesicht. Aber es war dunkel. Lurkschies war da, ein Schatten, der neben dem Pferd aus dem Boden wuchs. Wie er immer da war, wenn sie ankam. Schirmmütze, Knotenstock, Taschenlampe. Wie immer sagte er »guten Abend«, hob mit der Rechten ein wenig die Schirmmütze über sein rötliches Haar und mit der Linken die Taschenlampe, um in ihr Gesicht zu leuchten. Und nur eines war heute anders, war zum ersten Male anders: daß sie mit der Leine auf seine Taschenlampe schlug, bevor das Licht ihr Gesicht erreichte, so daß sie zu Boden fiel und von dort aus in den leeren Raum einen Lichtkegel schickte, in dem die feuchte Abendluft weißlich und körperhaft stand.

Lurkschies sagte nichts, wie er nie etwas sagte. Er nahm die Leine und bückte sich nach der Lampe, und als sein Gesicht in den Scheinwerfer des Lichtes kam, war Weiß und Schwarz ohne Übergang in ihm gemischt.

Als sie im Dunklen am Fenster ihres Zimmers saß, hatte sie auch das vergessen. Das Haus war leer und still, und nur der immer stärker aufkommende Wind rauschte in den Pappeln des Gartens. Er schwang hoch oben über der Erde, ein großer, fremder Wind, ein Kronenwind, der aus den Wolken niedergriff und in den Wipfeln wohnte. Er machte die Seelen voll der großen Ahnung, daß etwas außer der Erde war, was sein Leben unter den Sternen lebte.

Zur selben Stunde, als der große Wind über dem Garten das Antlitz Barbaras im dunklen Fenster sich aufwärts heben ließ, trug er im Walde außer dem Brausen der Wipfel, dem Stöhnen der Stämme und dem Heulen der Lichtungen einen andren Ton an Wolfs Ohr, ein leises, verwehtes Klagen, das nur in den Pausen des großen Chores als ein dünner Unterton die Luft erfüllte, ohne Worte, gleich der Klage eines jungen Tieres. Und als Wolf die Zügel anzog, wendete auch das Pferd den Kopf zur Seite, als vernehme es die leidende Kreatur.

Sie drangen in das Dunkel des Waldes ein, langsam, von Pause zu Pause, bis sie das Kind fanden. Es kauerte unter dem Wurzelwerk eines gestürzten Stammes, und als Wolf die Taschenlampe vorsichtig in das Dunkel der Höhlung richtete, erschien in dem kleinen Scheinwerfer das Gesicht eines vielleicht sechsjährigen Mädchens, das mit offenen Augen in den wilden Wald hinausweinte. Ja, es sei bei den Fischern gewesen, wo ihr großer Bruder sei, und sie sollte ein kleines Gericht Weißfische holen. Schon oft sei sie dagewesen. Und auf dem Rückweg wäre der ganze Wald voller Brombeeren gewesen, und dann sei es dunkel geworden, und die Bäume seien immer im Kreise gestanden, wohin es auch gelaufen wäre. Ja, in der Fischerstraße sei es zu Hause, und er sei doch der Indianer.

Dann saß sie vor ihm auf dem Sattelknopf, seitwärts, wie ein kleiner Baum mit Wurzeln, Zweigen und Wärme in ihn hineingeschlungen, den Kopf an seiner Brust, ohne Angst nun und ohne Sorgen. Sie sprachen kindliche Dinge. Von den Nachbarskindern und den Äpfeln im Lehrergarten. Von Kiepel und dem Wassermann, von Pilzen, Brombeeren und dem Vogel Schwarzspecht, der böse lache, wenn ein Kind Blumen abreiße. Es war so hell unter den geteilten Wolken, daß Wolf das Unverkleidete des jungen Gesichts erkennen konnte, die Spiegelungen der kleinen Gedankensprünge, den unverschlossenen Wechsel von Scherz, Bedeutung und Aberglauben. Und mehr als das: das Gesicht war ihm so nahe, daß der junge und reine Atem über ihn dahinging, die Unschuld eines jungen Wesens, unverstellt wie der Geruch eines Zweiges, einer Blüte oder eines jungen Tieres. Das Durchsichtige eines menschlichen Lebens, weder durch Verstellung getrübt noch durch Absicht oder Befürchtung, öffnete sich vor seinen Augen, baute einen stillen Gang hinein in das Dunkle und Verbitterte seines Daseins, das hoffnungslos auf der Grenze zweier Erdteile zögerte, und berührte ihn auf eine unvergeßliche Weise mit der Erkenntnis, daß hier, in einem solchen Gesicht, wahrscheinlich das Ziel des Lebens liege, die Verbürgung der Ewigkeit, die große Ruhe, die keine Wanderung über alle Erdteile zu gewähren vermöge. Plötzlich erfuhr er, daß es nicht Barbara allein sei, an deren Brust er in der Dämmerung des Gewächshauses seine Wange gelegt hatte, nicht allein die Geliebte, sondern die Mutter eines solchen Menschenkindes, die verschlossene Quelle dieser Wärme, die sich hier an ihn schmiegte.

Als sie zur Stadt einbogen und der Sturm nun hinter ihnen herfuhr, begann er zu galoppieren. Die ersten Laternen klapperten im Wind, und der Schatten von Pferd und Reiter schoß jedesmal gespenstisch unter ihnen fort, verzerrte sich zur Riesenform und ertrank dann im Dunkel.

Und als er das Kind in die Arme der Mutter hinunterreichte, war ihm, als gäbe er die Sicherheit und die Wärme seines Lebens ab und reite nun frierend und einsam ins Heimatlose. Ein Mann, der einen gefundenen Schatz an seinen Besitzer abgeliefert hatte.

Neben dem großen Mörser in der Rezeptecke lag das Kabelgramm. Der Apotheker sah über die Glaswand hinüber, als Wolf in den Laden trat. »Hier ist es«, sagte er bedrückt. »Es kam vor einer Stunde.«

Wolf beeilte sich nicht. Er schob mit der Kante des Umschlages die Reste eines weißen Pulvers auf der dunklen Tischplatte zusammen. »Als ich geboren wurde«, sagte er und sah an den Glasflaschen in die Höhe, »nein … als ich ein Kind war … sechs Jahre vielleicht … war da irgendeine Erfüllung in deinem Leben, Vater? So etwas wie ein Bund mit der Ewigkeit?«

Der Apotheker nahm die Brille ab und begann die kleinen Rezeptpapiere auf seiner Waage zu wiegen. Er sah nicht nach der Skala, auf der der Zeiger sich lautlos bewegte. Es genügte ihm, einen Punkt zu haben, auf den er seine Augen richten konnte, damit seine Worte sich nicht an seines Sohnes Gesicht verwirrten. »Siehst du«, sagte er mit seiner behutsamen, bescheidenen Sprechweise, »wir Pharmazeuten tun ja unser Leben lang nichts anderes, als das Unorganische mischen. Wir säen kein Korn und pflanzen nicht. Wir wissen ein wenig von der Elemente Hassen und Lieben. Nicht mehr. Und als du da warst, ein neues Leben, so wunderbar wie der erste Mensch, da wußte ich zum ersten Mal, daß ich beheimatet war, im … Kosmos, ja … daß ich ein Bürgerrecht im Weltall erworben hatte, verstehst du? Vielleicht klingt es ein wenig pathetisch, aber es war nun alles anders, das Haus, die Stadt, der Beruf, ja selbst meine Hände, wenn sie ein Rezept machten, es waren nicht mehr dieselben Hände, nicht mehr nur Werkzeuge zum Geldverdienen … verstehst du?«

»Ja«, erwiderte Wolf und sah auf den kleinen Berg weißen Papiers, der sich auf der Messingschale türmte, »ich glaube, daß ich dich verstehe.«

Er nahm eine der Pinzetten und schnitt langsam den Umschlag auf. »Aufstandgefahr, Rückkehr dringend«, stand auf dem schmalen Papierstreifen.

Er schob ihn seinem Vater zu, griff in die Tasche und begann eine Zigarette zu drehen, die Augen wieder auf die Glasflaschen in den Schränken gerichtet.

»Dann wird es ja sein müssen«, sagte der Apotheker leise.

»In zehn Tagen geht der nächste Dampfer«, meinte Wolf. »Wollen sehen, daß ich fertig werde.«

Aber als er hinaufging, ließ er das Kabelgramm auf dem Tisch liegen, und beim Abendessen erzählte er von dem Kind und daß seine Reise schon deswegen gelohnt habe.


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