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XII

Auch in Riechenberg ist alles Vergängliche nur ein Gleichnis.

Der Hagel war geschmolzen, sein Schmelzwasser war verdunstet. Frühgeburt hatte alle zerschlagenen Fensterscheiben wieder eingesetzt und sauber verkittet, die von Naturkräften zerstörten genauso sauber und liebevoll wie die von Menschenhand in eine andre Form gewandelten. Er schüttelte so mißbilligend das kahle Haupt über die Zerstörung wie sein Nachbar, der Sargtischler Beiderwand, über jeden Todesfall, und genau wie dieser lächelte er über den Wechsel der Materie, der ihm Brot und seinen sechs Kindern warme Winteranzüge brachte.

Professor Boas hatte eine neue Brille gekauft und seinen Maurerhut von seiner Haushälterin aufbügeln lassen. Er empfand die Entscheidung der Behörde über die verhängten Schulstrafen als einen »Schlag ins Gesicht« und war weit von der Nachfolge Christi entfernt, die ihm gebot, auch die andre Wange hinzuhalten. »Ostern, Herr Kollega«, sagte er lächelnd und klopfte liebevoll auf sein Notizbuch, »Ostern werden … wieder einmal … Väter und Mütter diverse Kleider zerreißen und mit Gram in die Grube fahren …«

Assessor Freyhold schickte die Ladung zur Hauptverhandlung hinaus und war bereit und entschlossen, die geborene Pfeffer zu fünfundzwanzig Mark Geldstrafe, im Nichtvermögensfalle zu drei Tagen Haft zu verurteilen, und Amtsgerichtsrat Ewerling hatte sein drittes Versetzungsgesuch geschrieben und wieder zerrissen.

Kiepel hatte seine Wachstuchmütze naß gemacht und zur Nacht auf einen umgekehrten Kochtopf gezogen, damit sie ihre alte, von unbekannter Hand beschädigte Form wiedergewinne.

Fräulein Bierkandt ging, sobald sie dienstfrei war, den Weg zur Halbinsel, traf Wiltangel ein einziges Mal und konnte nichts als unter Tränen lächelnd zu ihm aufblicken.

»Du mußt ein tapferes Mädchen sein«, sagte er und glitt mit der Hand über ihr Haar. »Aber es muß nun zu Ende sein. In vierzehn Tagen muß ich zurück.« Er sah grau und müde aus, und er ließ die Zügel tief über den Pferdehals hängen, als er weiterritt.

Die Campfeuer brannten, aber das Herbstlaub fiel in die kleine Flamme, und es wurde nur von der Zukunft gesprochen. »Unser brauner Bruder leidet«, sagte Bechler leise. »Es wird die Zeit kommen, wo wir ihn heilen werden.«

In der Apotheke Zum Goldenen Adler strich der alte Wiltangel seinen Kalender ab und blätterte scheu bis zu dem roten Kreuz, das den Abfahrtstermin anzeigte. Es dauerte länger als sonst, bis seine Rezepte fertig wurden, und er stand oft vor der Karte mit den roten Linien, die von Alaska bis zum Feuerland liefen.

Der Streik bei C. A. Runge war durch Spruch des Schlichters beendet worden, und die beiden Landjäger, die acht Tage lang mit dem Verwalter Skat gespielt hatten, waren zurückgezogen worden und hatten den Holzhof unter den ironischen Glückwünschen der Arbeiter verlassen. C. A. Runge sah heiter aus, kaufte auf den Submissionen, bezahlte bar, ließ sich den Hof vollfahren und erhöhte mit Rücksicht auf die großen Vorräte seine Feuerversicherung um dreißig Prozent.

Schreyvogel, mit der Karte »C. A. Runge, Spezialfälle, dringend«, erschien bei Wiltangel und gab ein ausführliches Gutachten ab.

Indessen war, nach dem Abzug der Kaltluftmassen, ein zweiter verspäteter Sommer über Riechenberg aufgezogen. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, die Rosen begannen noch einmal zu blühen, das Bad wurde noch einmal eröffnet, und die Kinder holten noch einmal Brummkreisel und Murmeln aus ihrem Winterlager. Dabei war das Laub schon gelb und rötlich gefärbt. Marienfäden hingen an kahlen Ästen, die letzten Schwalben saßen auf den Telegrafendrähten, am Morgen waren die Wiesen und Felder weiß bereift, und am Abend stand der blaue Rauch der Kartoffelfeuer über der ganzen Stadt.

Von den Erschütterungen der vergangenen Wochen schien nichts übriggeblieben, als daß

Professor Boas den Exoten nicht mehr grüßte,
die geborene Pfeffer nicht mehr Lina,
Gollimbek nicht mehr Lina,
Kiepel nicht mehr Naujoks,
Keiserling, genannt Schmalzbacke, nicht mehr Domänenpächter Krauthenne,
die Postmeisterin, Mitglied des Vorstandes des Vaterländischen Frauenvereins, nicht mehr die geborene Pfeffer.

Und daß

die geborene Pfeffer ihre Hienfong-Essenz nicht mehr in der Apotheke Zum Goldenen Adler und ihre Briefmarken nicht mehr auf der Post kaufte,
Graf Kalnein die Privatstunden seines Sohnes bei Dr. Keiserling kündigte,
beim Vaterländischen Frauenverein der schriftliche Antrag gestellt wurde, Lina Schönwald in den Vorstand zu wählen.

Dieses schien das Übriggebliebene. Hinter diesem Schein aber stand als das wahre Ergebnis aller Erschütterungen eine Wandlung, die sich dem Stadtbewußtsein durchaus entzog und auf die Erkenntnis nur eines kleinen Kreises beschränkt blieb. Diese Wandlung war in ihren Erscheinungen nicht auffälliger als der Stimmbruch in der Obertertia oder die Sommersprossen bei den Töchtern Schleichhases oder das Auftreten von Frostbeulen bei den Lehrlingen der Kolonialwarenhandlungen in Riechenberg. Aber mit den Schicksalen Riechenbergs war sie auf eine tiefere Weise verknüpft als jene.

Diese Wandlung bestand darin, daß Jürgen Bechler sehr bald nach den Kaltluftereignissen an Melancholie zu leiden begann. Jürgen Bechler, Sohn von G. F. Bechler, Kolonial- und Eisenwaren, mit einem kreisrunden Gesicht und einer sich bäumenden, weißblonden Haarlocke, der »eines Mangels zufolge« nicht im Busch-Album stand, sondern mit siebzehn Jahren auf der Untersekunda saß, verlor in wenigen Tagen nach einem Abendgang mit Wolf Wiltangel, auf dem nur wenige und zudem rätselhafte Worte gefallen waren, seine ihm zugehörige Fröhlichkeit, Sorglosigkeit und Dickhäutigkeit, wurde verschlossen, finster, menschenscheu, gleichgültig gegen Schule, Arbeiten, Revolutionen, stand einsam an der Mauer des Schulhofes, starrte vor sich hin und begann im Boot, im Wasser leise mit sich zu sprechen, wobei seine großen Hände sich zur Faust ballten oder mit weiten Bewegungen sich von seinem Körper fortschleudern konnten. Die greifbaren Äußerungen dieser Gemütsverdüsterung bestanden zunächst darin, daß er eine bedenkliche Menge von Zigaretten zu rauchen begann, die er aus dem Lager von G. F. Bechler stahl, und daß er auf die ironische Frage des Unterprimaners Birkenwald, Sohnes der Leopille, ob er verliebt sei, mit einer ungeheuren Maulschelle antwortete.

Eine weitere und für das Schicksal Riechenbergs bedeutsamere Folge seiner Gemütsverdunklung war, daß er eines Abends bei Hugo Schreyvogel anklopfte und auf dessen mürrische Frage, welcher Satan ihn herbeigeschleppt habe, zur Antwort gab, daß er ihn unbedingt sprechen müsse, ob es ihm nun passe oder nicht.

Mit einer Zigarre versorgt, die er ingrimmig in Wolken verwandelte, sagte er dann ohne Übergang, die scheuen Augen gewaltsam zu einem nüchternen Blick zwingend: »Es muß etwas geschehen … er leidet, und ich weiß nicht warum …«

»Boas?« fragte Schreyvogel unschuldig.

»Es ist keine Zeit, Witze zu reißen«, erwiderte Jürgen finster.

»Wir haben einer des andren Blut getrunken.«

»Der Indianer also … tja …« Der Kneifer flog auf die Geiernase.

»Anzeichen?«

»Viele … Campfeuer und so weiter … Gingen neulich abends am See entlang … sprachen eine Stunde kein Wort … ja … nein … ›Willst du meine Hazienda haben, Jürgen?‹ fragt er plötzlich.

›Wieso? Was ist los?‹

›Bin sie über … bin alles über … mich selbst am meisten …‹ Und sein Gesicht ist so wie bei dem Adler, den Kalnein einmal im Käfig hatte.«

»Wollen ihm helfen, Sie junger Dachs, he?«

»Natürlich.«

»Gar nicht natürlich. Natürlich ist, für den eignen Bauch zu sorgen und die andren an ihren eignen Nüssen nagen zu lassen. Helfen heißt, kopfüber in ein brennendes Haus springen, um einen Blumentopf herauszuholen. Imstande dazu?«

»Sofort!«

»Tja … der Alte zwar ein hervorragender Spießer, Volkspartei, Kriegerverein und so. Wiegt immer fünf Gramm zuwenig am Streuzucker. Aber die Söhne … kann sein … zwischen siebzehn und siebenundzwanzig besinnt der Mensch sich manchmal auf seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit … tja … Frau Runge … bekannt? Barbara Runge, geborene Hindersin?«

»Ja, etwas.«

»Hingehen … kann sein, daß alles Quatsch ist … bis über die Ohren belämmert umkehren müssen … kann auch anders sein … Aufgabe eines Gentleman, verstanden? Furchtlos und treu … versuchen?«

Jürgen starrte ihn mit zugekniffenen Augen an. »Lurkschies?« fragte er kurz.

Schreyvogel zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Gewürm genug bei C. A. Runge …«

»Also unglückliche Liebe«, sagte Jürgen männlich abschließend, nicht ohne eine leise Enttäuschung.

»Dachten, daß er den Urwald umarmen soll, he? Oder den Silberstrom? Oder seinen verschütteten Grafen, he?«

»Es ist natürlich nur menschlich«, erwiderte Jürgen und stand auf.

Von acht bis halb eins – Deutsch, Mathematik, Latein, Religion – entwarf Jürgen auf seiner Bank Briefe, die große Hand schützend um sein Heft gelegt. »Geehrte Frau Runge … verehrte Frau Runge … sehr geehrte gnädige Frau … – Idiot!« murmelte er erbittert und brach die Bleistiftspitze ab.

»Ja, Herr Bechler, Sie erlaube ich mir zu meinen«, ertönte die ironische Stimme des Direktors. »Wo die dritte Reise endete, erlaubte ich mir zu fragen.«

»Am Silberstrom«, erwiderte Jürgen aus der Dunkelheit seiner Seele heraus. Er erwachte erst unter dem Gelächter der Klasse und sah sich zornig um. Birkenwald hatte nach der dritten Missionsreise des Paulus gefragt. Aber es läutete, bevor weiteres »erfolgen« konnte.

Um halb fünf stand er vor dem Spiegel in seinem Zimmer und riß sich Kragen, Schlips und den dunkelblauen Anzug vom Leibe. »Waldaffe!« murmelte er. »Wie zu einem Schulfest!« Lederhosen, dunkelblaues Hemd, Kniestrümpfe. Alle zehn Finger durch den weißblonden Schopf. Fertig.

Aus dem gleichen Instinkt wie sein brauner Bruder nahm er das Boot und wartete die Dämmerung ab. Er brauchte nicht zu klingeln und sich anmelden zu lassen, denn Frau Runge saß auf der Gartenbank am Ufer, ein dunkles Tuch um die Schultern, und sah ihm entgegen. Ein Ebereschenstrauch neigte seine roten Dolden über sie, und selbst in Jürgens auf alles Männliche beschränkter Seele stieg eine dumpfe Ahnung von Einsamkeit, Schönheit, Schmerz und Seligkeit auf. Außerdem war diese Gestalt geheiligt, weil sie in das Leben seines braunen Bruders verflochten war. Die Aufgabe eines Gentleman, dachte er noch, als er mit unruhigen Händen seinen Kahn festmachte.

Sie stand nicht auf und sah ihm ruhig entgegen wie einem treuen Tier, das am Abend zu ihren Füßen zurückkehrte. Sie rückte nur auf der Bank etwas zur Seite, deutete auf den Platz neben sich und kehrte wieder in ihre Haltung zurück, das Kinn in die rechte Hand gestützt und die Augen in seinem Gesicht ausruhend.

»Sie haben eine Botschaft, Jürgen?« fragte sie, und bevor er ein Wort gesprochen hatte, hatte sie den Mantel des Vertrauens um ihrer beiden Schulter gelegt.

Aber Jürgen saß noch aufrecht, in der Feierlichkeit seiner Aufgabe, wie im väterlichen Kontor ein kleiner Dorfkaufmann zu sitzen pflegte. »Nein, gnädige Frau«, erwiderte er, »eine Botschaft ist es nicht eigentlich.«

Sie legte die linke Hand auf sein bloßes Knie, lächelte ein wenig und sagte: »Wollen Sie nicht Frau Barbara sagen, Jürgen? Es würde leichter zwischen den Menschen sein, wenn sie wie Bruder und Schwester sprächen … oder glauben Sie, daß man am Silberstrom ebenso spricht?«

Er errötete und steckte seine Hände zornig in die Taschen seiner Lederhose. »Weshalb gehen Sie nicht hin?« fragte er dumpf, auf jede Einleitung verzichtend.

»Einen Mantel über den Arm«, fragte sie, »ein Kursbuch … und dann fort?«

Er starrte auf den See hinaus, in dem die Lichter der andren Seite sich zu spiegeln begannen. »Gestern hat mir einer gesagt«, fuhr er fort, »was einen Menschen retten heißt …«

»Und es heißt?«

»Es heißt, sich in ein brennendes Haus stürzen, um einen Blumentopf herauszuholen.«

»Und so haben Sie sich zu Frau Barbara Runge gestürzt?«

»Ja.«

Schweigen. Der Wind rührt leise in den Ahornbäumen, und man hört die welken Blätter von Ast zu Ast fallen. Der leise Duft der Frau mischt sich mit dem Erdgeruch des Gartens, und Jürgen fühlt, daß die Tränen in ihm aufsteigen wollen. So groß ist alles und weit, der See, die Erde, die Welt, das Meer, die grünen Ebenen, auf denen das Leben wartet … und die Liebe … und daß er hier sitzt …

»Er leidet«, sagt er und erschrickt vor seiner fremden Stimme. »Er soll nicht leiden … Sie müssen mitgehen, hören Sie?«

»Haben Sie einen Auftrag, Jürgen?«

Er stößt verächtlich den Atem durch die Nase. »Mein brauner Bruder würde eher sterben als ein Wort über seine Lippen bringen.«

Sie beugt sich ganz nahe zu ihm. Es ist so dunkel, daß ihr Gesicht weiß ist und ihre Augen schwarz erscheinen. »Wie sagten Sie, Jürgen?« fragt sie. »Sagen Sie es noch einmal, bitte.«

Er versteht nicht.

»Er würde eher sterben als …«

»Nein, das andre … wie Sie ihn nannten?«

»Mein brauner Bruder.«

»Mein brauner Bruder?« wiederholt sie leise. »Ja … und wenn Sie keinen Auftrag haben, woher wissen Sie, ob Sie nicht einen Garten zu früh ausgestiegen sind?«

Einen Augenblick lang fühlt er sich im Bodenlosen. »Unsinn«, sagt er dann sehr entschieden. »Schwören Sie, daß Sie mitgehen? Ich gehe nicht weg, bis Sie geschworen haben.«

»Man wird mich suchen kommen.« Sie versucht, im Scherz zu lächeln, aber er fühlt das Verlorene und Heimatlose ihres Wesens.

»Ich schlage sie tot«, sagt er und sieht sich schnell um. »Beide.« Einen Augenblick stocken ihre Gedanken. Dann begreift sie, auch das »Beide«. »Es ist ein schönes Alter«, erwidert sie langsam, »in dem man glaubt, daß alle Schmerzen durch Totschlagen zu beseitigen sind … Lieben Sie ein Mädchen, Jürgen?«

»Nein, am Campfeuer gibt es keine Liebe … nur Treue.«

Sie wendet die Augen langsam von seinem Gesicht, und sie sehen nun beide auf das dunkle Wasser hinaus. Beide sehen die Falten um den fremden Mund und das weiße Haus, vor dem er sitzen wird, im ungeheuren Abendrot der Pampa, allein, durch die Wölbung des Ozeans von ihnen geschieden.

»Haben Sie einmal geschworen, Jürgen?« fragt sie leise.

»Ja, am Campfeuer. Die Blutstreue.«

»Glauben Sie, daß man einen Schwur brechen kann?«

»Nein … das heißt … diesen nie.«

»Und wenn Sie einmal geschworen hätten, früher, nie von Ihren Eltern fortzugehen, und der … braune Bruder riefe Sie übers Meer … würden Sie diesen Schwur brechen, Jürgen?«

Er stützt die Ellbogen auf seine Knie und wühlt seine zehn Finger in seinen Haarschopf. Er fühlt sehr gut, daß der Hebel einer Entscheidung in seine Hand gelegt wird, und er erinnert sich ohne Übergang, daß er Ostern eingesegnet worden ist. Und wenn sie es auch alle »Zinnober« nannten und er am nächsten Tage dem Pfarrer fünfzig Mark in einem Geschäftsumschlag von G. F. Bechler zu bringen hatte, erinnert er sich doch, schmeckt die Oblate und den süßen Wein … Vielleicht ist das Leben doch nicht so einfach, wie er gedacht hat.

»Ich würde ihn nicht brechen«, sagt er langsam, »aber ich würde den zerbrechen, der mich aus meinem Schwur nicht herausläßt.«

»Und … und wenn es Gott ist?«

Und da gibt Jürgen Bechler, Untersekunda im zweiten Jahr, ein »schwaches Gefäß«, wie Keiserling sagt, erfüllt von der unüberwindlichen Stunde, angerührt von dem Hauch des Herbstes, der kaum sichtbaren Gestalt der Frau, der Ahnung eines großen Schicksals, die düstere Antwort: »Dann würde ich Gott zerbrechen.«

Er hat noch eine kindliche Phantasie, das heißt, er sieht die Dinge, die er sagt, und hält sie zwischen seinen Händen, er »begreift« sie. Gott, das ist in Riechenberg etwas anderes als in der Welt. Sie haben den Bürgermeister abgesetzt und ihn in einer Kieslore abtransportiert, aber sie haben ihren Gott nicht abgesetzt. Und in dem dunklen Garten, in dem die welken Blätter leise fallen, neben der unwirklichen Gestalt einer schmalen, müden Frau, sieht Jürgen nur einen Riechenberger Götzen vor sich, ein starres, unbestimmtes Bild, das man zerbrechen kann wie einen Stab.

Er steht auf und sieht auf den See hinaus. Ein müder Stern erscheint zwischen langsam treibenden Wolken, und alles ist dunkel, trostlos und ohne Weg. Kein Campfeuer wird sein, kein stiller Raum über der Apotheke, keine Achse in einem rollenden Rad. Boas wird sein und der Lehrkörper, Schillers »Glocke« und der Satz über die Ähnlichkeit zweier Dreiecke, Kiepels Pfeife in der Nacht und der Sonntagsspaziergang mit Eltern und Geschwistern. Und niemand, für den er sich kopfüber in ein brennendes Haus stürzen könnte.

Und er fühlt eine Hand über sein Haar gleiten und sich an seine Wange legen. Ein fremdes Leben, unter dem er erzittert. Er nickt nur, als habe er verstanden, und ist mit ein paar Schritten am Ufer und im Boot. Wenn er zu sprechen versuchte, würde er wahrscheinlich weinen, und er rudert von dem dunklen Garten fort, daß die Dollen sich stöhnend bei jedem Schlag biegen.


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