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IX

Für dilettantische Wetterkundige scheint alles gut. Der Zyklon ist vorüber. Eine Beruhigung der Luftbewegung ist eingetreten. Für wissenschaftliche Wetterkundige heißt es: »An der Rückseite des Tiefs dringen kalte Luftmassen von Norden herein. Kumulusbildung. Regen und Hagelböen.«

Erstens: Birkenwald versammelt die Schüler in der Zehn-Uhr-Pause des nächsten Tages in der Aula. »Folgt der allgemeine Schleim«, sagt Bechler.

Aber es folgt mehr. Birkenwald gibt das Urteil bekannt. Sehr feierlich und eindrucksvoll. Aber er hängt ein Schwert an das Urteil. Nachdem sich nunmehr herausgestellt habe, daß der Geist der Aufsässigkeit in einem nicht zu leugnenden Zusammenhang mit einer gewissen Persönlichkeit dieser Stadt stehe, nachdem ferner die obenbesagte Persönlichkeit sich geweigert habe, sich freiwillig von dem Umgang mit den Schülern dieser Anstalt gänzlich und durchaus zurückzuziehen, sehe er sich aus pädagogischen Gründen genötigt, allen Schülern der Anstalt jedweden Verkehr und Umgang mit obenbesagtem Herrn Wiltangel auf das strengste zu untersagen, widrigenfalls er sich genötigt sehen werde, mit den schärfsten Disziplinarstrafen einzuschreiten.

Krauthenne sieht ihn an. Die Blutsbrüder sehen ihn an. Fünfhundert Augen sehen ihn an. Die gelben Vorhänge der Aulafenster rauschen leise.

»Hm …«, sagt Graf Kalnein.

»Bitte, spricht dort jemand?«

Der Graf steht langsam auf. Es sieht seltsam aus, wie seine lange, schmale Gestalt sich über zweihundertfünfzig Köpfe erhebt.

»Ich hätte gern gewußt, Herr Direktor«, sagt er langsam und mit klarer Stimme, »nach welchen Paragraphen der Schulordnung … oder irgendeiner anderen amtlichen Ordnung … dieses Verbot ausgesprochen wird.«

Birkenwald errötet, vielmehr er entbrennt. Das Blut steigt bis in seine behaarten Ohren. »Sie wollen sich gütigst um das bekümmern, was ich Ihnen gesagt habe, Kalnein«, sagt er mit erhobener Stimme, »und das andere denen überlassen, die von Staats wegen als Obrigkeit für Sie eingesetzt worden sind … Die Schüler sind entlassen.«

Aber die Schüler sehen, daß Kalnein langsam den Kopf schüttelt. »Ich betrachte das Verbot als ungesetzlich«, sagt er, »und sehe somit keinen Anlaß, mich ihm zu fügen.« Er gibt seiner Klasse einen Wink, die Klasse erhebt sich, und die andern Klassen erheben sich. Niemand lacht, aber eine dumpfe Drohung steigt aus der vielgliedrigen Masse empor.

Der Direktor hebt noch einmal die Hand, aber die Gesichter wenden sich zur Tür.

Der Handschuh ist geworfen und aufgenommen worden.

 

Zweitens: »Das kommt davon«, schreit Amtsgerichtsrat Ewerling, »daß du deine Nase in alle fremden Kochtöpfe hineinsteckst! Und ich soll dir nachher helfen, sie herauszuziehen, wenn man sie mit einem Deckel beklemmt hat.«

Frau Emilie, die Linke um das goldene Kreuz gelegt, unbewegten Antlitzes, sagt: »Wenn es dir paßt, daß die Frau des Amtsgerichtsrats von Riechenberg coram publico mit Gegenständen beworfen wird, dann mag das ja dein Geschmack sein, und über den Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten. Nur über die Folgerungen der Nichteinreichung der Klage durch dich für unsere Beziehungen und unser eheliches Leben solltest du dich dann keinen Illusionen hingeben.«

»Herrliche Sache für Freyhold«, knirscht der Amtsrichter und rennt wie ein Amokläufer durch die Räume. Freyhold ist der Assessor, ein »Linker«, und ihre Beziehungen sind nicht zart.

»Wie du beliebst, lieber Balduin«, flötet die geborene Pfeffer. »Ich verlasse jedenfalls das Haus und fahre zu meiner Mutter, bis meine Ehre in Riechenberg wiederhergestellt ist. Oder wünschest du zuzusehen, wie ich auf dem Markt mit Pferdeäpfeln beworfen werde?«

Die Mutter entscheidet. Alles andere ist schon schlimm genug, aber die Mutter entscheidet. Sie ist wie ein Salpetersäurebad, und vier Wochen Aufenthalt bei ihr pflegen die geborene Pfeffer auf eine sehr nachhaltige Weise zu verändern. Der Amtsrichter weiß das. Es hilft ihm nichts, daß die Adern in seinen Augen dunkelrot sind. Es macht keinen Eindruck auf seine Frau.

Acht Tage später erhält Lina einen eingeschriebenen Brief, dessen Empfang sie umständlich quittiert. »Ladung«, liest sie mit Vergnügen.

»Herr Amtsgerichtsrat Ewerling hat eine Klage gegen Sie wegen Beleidigung seiner Ehefrau bei mir eingereicht und beschuldigt Sie wie folgt: Ihre am 23. v. M. mit der Ehefrau des Antragstellers gehabte Unterredung enthält Beleidigungen. Zur mündlichen Besprechung und gütlichen Einigung habe ich einen Termin auf … und so weiter … Außerdem wird Ihnen eröffnet § 39 Schiedsmannsordnung … und so weiter – Gollimbek. Schiedsmann.«

»Kiek an«, sagt Lina und legt den Brief lächelnd in ihr Gesangbuch.

 

Drittens: Heft 74, 2. Jahrgang der »Flamme«, Seite 3 oben: »Kleinstadt-Zoo oder Kriminalabteilung an höheren Schulen.«

»Wenn du, Studienreferendar, -assessor oder -rat, eine Klassenarbeit schreiben zu lassen dich gedrängt fühlst, tue nicht, wie deine Väter taten, also daß du, aus dem Schutz einer oder zweier Brillen lautlos funkelnd, die Selbständigkeit deiner Schüler zu bewachen pflichtgemäß übernimmst. Es schädigt deine Augen und führt, der Dreidimensionalität jedes Raums zufolge, nicht immer zu dem sehnlichst gewünschten Ziel. Stelle dich vielmehr, Referendar oder Rat, vor eine im angemessenen Winkel geöffnete Fensterscheibe, tue, als ob du das Leben der gefiederten Sänger auf dem Schulhof beobachtest, und im rechten Augenblick … nunmehr in der Tat! … drehe dich um und eröffne dem jungen Mann, dessen Erscheinung du in der Fensterscheibe bei lasterhafter Tat des Mogelns erspäht hast, daß er sein Heft zu schließen habe und wegen versuchter Täuschung eingetragen werde.

Also verfuhr ›Schmalzbacke‹, Studienrat an einem Steinzeitgymnasium unsrer mit Recht hochgeschätzten Provinz. Verfuhr also zu berechtigter Verblüffung der Untersekunda im allgemeinen und eines ihrer Schüler, genannt der ›Fliegende Affe‹, im besonderen. Derselbe, bescheiden anfragend, ob Schmalzbacke hinten Augen besitze, und über die optischen Funktionen eines halbgeöffneten Fensterflügels belehrt, quittierte diesen Zuwachs seiner Erfahrung mit der ohne Emphase geäußerten Antwort: ›Saubock‹.

Wobei es zunächst sein Bewenden hatte.

Signum. ›Der Beobachter.‹«

Heft 74, 2. Jahrgang der »Flamme« landet, nachdem es den postalischen Weg von der Provinzialhauptstadt bis Riechenberg ordnungsmäßig passiert hat:

bei Herrn Studiendirektor Dr. Birkenwald
bei Herrn Studienrat Dr. Keiserling
beim verehrlichen Lehrerkollegium des Staatlichen Gymnasiums zu Riechenberg
bei der Schriftleitung der Riechenberger Zeitung
bei dem Bürgermeister von Riechenberg
bei Herrn Hugo Schreyvogel
bei der Untersekunda des Staatlichen Gymnasiums zu Riechenberg

Die ersten drei Exemplare tragen einen roten Zettel mit dem Aufdruck: »S. 3 für Sie von persönlichem Interesse.«

Ein Exemplar besagter »Flamme« hängt am nächsten Morgen, mit Rotstift umrandet und mit Blaustiften festgemacht, an der Pumpe des Marktplatzes.

Von den Empfängern besagten Exemplars rasen Empfänger 1 bis 3 und Empfänger 5 vor Empörung. Empfänger 4 reibt sich die redaktionellen Hände. Empfänger 6 lächelt mit ironischen Mundwinkeln, unter Zuhilfenahme eines Zigarrenstummels. Empfänger 7 rast vor Entzücken.

Die Schriftleitung der Riechenberger Zeitung, die in der nächsten Nummer besagten Aufsatz der »Flamme« ohne Kommentar unter »Lokales« abgedruckt hat, erhält vom Bürgermeister ein Schreiben des Inhalts, daß sämtliche Anzeigen des Magistrats für die Zeitung gesperrt würden, sobald nicht in der nächsten Nummer eine entscheidende »Abrückung« von dem Pamphlet der »Flamme« erschiene.

Die Schriftleitung, nicht mehr händereibend, wird vom Verlag gezwungen, eine wenn auch lendenlahme Notiz über die »Nichtidentifizierung« mit dem Pamphlet zu veröffentlichen.

Der Verfasser des Aufsatzes und die Klebekolonne an der historischen Pumpe bleiben unbekannt. Boas beschließt, die Fäden, soweit sie in das Reich der Schule hineinreichen, zu entwirren. »Coûte que coûte!« sagt Schmalzbacke.

 

Kumulus 1: Die Parteien treffen, in Erfüllung der ihnen zugesandten Ladung, beim Schiedsmann aufeinander.

Gollimbek, erster Lehrer an der Volksschule in Riechenberg, seit dreißig Jahren Bürger der Stadt, bescheiden, versöhnlich, unpolitisch, erfüllt seit zehn Jahren das dornenvolle Amt des Schiedsmannes. Er hat eine langjährige Erfahrung mit folgenden Objekten erworben: Verbalinjurien, nachbarliche Hühner, Gänse, Hunde, Beleidigungen, Verleumdung, üble Nachrede, Backpfeifen, Kratzwunden, ausgerissene Haare. Gollimbek, dem das Streben nach Höherem in bescheidenem Maße nicht fremd ist, hat nicht ohne Erfolg versucht, die Vielfältigkeit dieser Komplexe in ein ordnendes System zu bringen. Er arbeitet an statistischen Tabellen, und es schwebt ihm in ruhigen Stunden, vor seinen Bienenstöcken oder unter reifenden Apfelbäumen, ein Werk vor, das er geneigt ist, »die Mentalität des Kleinbürgers« zu benennen.

Gollimbek ist klein, mit undichtem Haupthaar und Spitzbart und einer Brille vor etwas scheuen Augen. Er ist mit einer großen, robusten, cholerischen Frau nicht sehr gesegnet und liebt sein Nebenamt. Sein polnischer Name bedeutet in deutscher Übersetzung »Täubchen«.

Der Verhandlungsraum ist sein Arbeitszimmer, ein kümmerlicher Anhang zur ehelichen Wohnung, aber nicht ohne Liebe und Symbolik eingerichtet. Der segnende Christus hebt seine Arme über den Schreibtisch, und es sind einige gebrannte Haussegen an der Wand, auf die die Parteien ihren Blick wohl oder übel richten müssen. »Liebet eure Feinde«, heißt es, oder »Kindlein, liebet euch untereinander« oder »Selig sind die Friedfertigen«.

Die Parteien treffen zur gleichen Zeit ein, nur daß Lina, aus Gewohnheit und Bescheidenheit, den Kücheneingang benutzt. Gollimbek ist nicht frei von Nervosität. Personen und Sachen stehen in einer kleinen Stadt eng beieinander, und die Berührung verschiedener »Kreise« erfordert viel diplomatisches Geschick, schon bei der Begrüßung. Am besten ist, hinter dem Schreibtisch zu stehen, die Finger leicht auf die Platte gestützt, zum Platznehmen einzuladen, sich dann selbst zu setzen und eine Weile ernsthaft in die sauber ausgerichteten Blätter zu sehen, die die »Vorgänge« enthalten.

Lina ist heiter. Die Wandsprüche entgehen ihr. Sie betrachtet zunächst Herrn Gollimbek und wendet dann, sich bequem zurechtsetzend, den freundlichen und beharrlich prüfenden Blick auf ihr Gegenüber.

Die geborene Pfeffer, in Schwarz, das goldene Kreuz auf der Brust, sieht streng und abweisend auf die drei Wandsprüche. »Hem, hem«, beginnt Gollimbek. »Meine Damen …«

Der Eingang ist nicht geschickt. Junge, Junge …, denkt Lina.

Prolet! denkt die geborene Pfeffer.

»Meine Damen«, fährt Gollimbek fort, »es ist meine Pflicht und, wie ich glaube sagen zu dürfen, meine schönste Pflicht, Sie vor Eintritt in die Verhandlung zur Versöhnlichkeit und zur Vergebung derjenigen menschlichen Schwächen zu ermahnen, an denen wir alle keinen Mangel haben. Denn wir sind, wie so schön geschrieben steht, allzumal Sünder.«

Er macht eine Pause und blickt zu dem Thorwaldsenschen Christus empor. Lina und die geborene Pfeffer sehen ihn schweigend an.

Als keine Rückäußerung erfolgt, beginnt er, ohne weitere Einleitung, die Klageschrift des Amtsgerichtsrats Ewerling zu verlesen. Die Wiederholung von Formeln und Vorgängen hat keine Mechanik der Seele bei ihm erzeugt. Seine Stimme ist nicht gleichmäßig, nüchtern, maschinenhaft. Es fehlt ihr nicht an der Fähigkeit zu dramatischer Steigerung, zur Melancholie des Epilogs, zu Klage und Kummer. Als er geendet hat, ist es, als habe ein Drama geendet. »So is richtig«, sagt Lina, nicht ohne naive Ironie.

Was bedeuten solle, ergänzt Gollimbek geschickt, daß sie die vorgelesenen Anschuldigungen in vollem Umfange als wahr zugestehe?

»Nee«, erwidert Lina trocken. Das solle nur bedeuten, daß sie diesen Brief »'n bisken komisch« fände, weil die Frau Amtsgerichtsrat Ewerling da eine Masse von Kleinigkeiten vergessen habe.

Gollimbek hebt die Augenbrauen, aber Frau Ewerling äußert nur aus einer kühlen und unbeteiligten Ferne, daß sie jede Silbe des Schriftsatzes auf ihren Eid nehmen werde.

Was denn vergessen sei, fragt Gollimbek.

»Wat verjete is, Herr Rektor«, sagt Lina, »wer ick för Jericht vertelle, hier nich.«

Aber sie seien doch dazu hier, um das Gericht zu ersparen.

Nein, Lina beabsichtige nicht zu sparen.

Die Frau Amtsgerichtsrat?

Die geborene Pfeffer verlangt eine feierliche Abbitte und eine öffentlicher Ehrenerklärung in der Riechenberger Zeitung.

Lina strahlt vor Vergnügen.

Gollimbek, etwas peinlich berührt über die seinem Amt nicht angemessene Heiterkeit, beginnt einen neuen Vorstoß, indem er in hoffnungslos sich verstrickenden Perioden auf die anderen Fälle zu sprechen kommt. Das Thema ist sehr heikel, aber das Amt kennt keine Scham, und schließlich wird Lina gefragt, ob sie sich der schweren Beleidigung bewußt sei, derer sie sich mit dem behaupteten Gebrauch des Wortes »Liebesfähigkeit« schuldig gemacht habe.

Aber hier endet sein Amt, denn Lina, mit unnachahmlichen Mitleid ihn von oben bis unten betrachtend, sagt nur: »Wat weete Se, Herr Rektor, von ›Liebesfähigkeit‹? Man jerad soviel as de ejne Fru?« Der Rest ist eine nachsichtige Bewegung ihrer runden Schulter.

Die geborene Pfeffer steht auf, so schroff, daß das goldene Kreuz an seiner Kette auf und ab schwankt.

Und auch Herr Gollimbek erhebt sich. Er ist bis unter die Brille errötet. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Fräulein Schönwald«, sagt er, »daß ich Sie wegen Ungebühr in Strafe zu nehmen befugt bin. Ich glaube gleichzeitig feststellen zu dürfen, daß der Sühneversuch ergebnislos verlaufen ist. Erhebt sich Widerspruch bei den – Parteien? Da sich kein Widerspruch erhebt, ist die Verhandlung geschlossen. Das Recht wird nunmehr seinen Weg nehmen. Guten Abend.«

 

Kumulus 2: Professor Boas erhält mit der Nachmittagspost in einem korrekten Umschlag einen zerknitterten Zettel mit verstellter Handschrift: »Heute nach Sonnenuntergang Campfeuer Reiherhorst, Schwarzer Fluß.« Unterschrift: »Ein Wohlmeinender.«

Boas lächelt, dreht den Zettel hin und her, betrachtet ihn mit einer Lupe, die er zur Nachprüfung der Klassenarbeiten gebraucht, schließt den Band Cicero »De senectute«, geht ans Barometer, ans Thermometer, bestellt bei seiner Haushälterin einen frühen »Imbiß«, geht nachdenklich in seinem Arbeitszimmer auf und ab, neben dem Teppich, überlegt die Kriegslage und beschließt nach reiflicher Erwägung, vor dem Feind am Kampfplatz zu sein, um Handlungsfreiheit zu besitzen.

Er kleidet sich sorgfältig um: Winterwäsche, wollne Strümpfe, Bergschuhe, Lodenanzug, Lodenmantel, eine wollne Leibbinde. Waffen: eine Taschenlampe.

Er trinkt ein Glas Rotwein zum Imbiß, sieht noch einmal nach dem Himmel, nimmt die Angelrute über die Schulter, den Kahnschlüssel in die Hand und verläßt durch die Hintertür das Haus. Der See ist leer. Ein kalter Wind geht über das graue Wasser. Bevor er die Ruder in die Hand nimmt, fühlt er nach seiner Brusttasche. Das Notizbuch ist da.

Die Kleidung erweist sich als unzweckmäßig, auch nach Ablegen des Mantels. Zudem steigt eine Wolkenwand im Südwesten lautlos und unaufhaltsam empor. »Non soli vedit!« murmelt Boas und kämpft sich gegen Wind und Wellen voran. Im Schwarzen Fluß rudert er an der Reiherkolonie vorbei. Die Vögel erfüllen den schweigenden Wald mit der Heiserkeit ihrer Schreie, und Boas beeilt sich. Es dämmert leise hinter Schilf und Ufergebüsch. Die tiefstehende Sonne hat sich verschleiert, und das Licht liegt böse und drohend über der Landschaft.

Hinter der ersten Biegung treibt er das Boot in das Schilf, macht es fest, bedeckt es mit ein paar trockenen Zweigen und klettert vorsichtig auf das hohe Ufer. Er findet einen Baumstumpf hinter jungen Fichten, schlägt den Kragen des Mantels hoch, bindet das Halstuch darüber und beginnt, sich dem Genuß einer Zigarre hinzugeben. Der Lauf des Flusses liegt so klar vor ihm, daß nichts seinen Augen entgehen kann.

»Constringo … constrictus … constringere«, murmelt zwei Pfeilschüsse stromabwärts der Untersekundaner Bechler im Wipfel einer Schirmfichte. »An deinem ersten Bissen sollst du dich selbst erwürgen.«

Er sitzt seit einer Stunde auf seinem Hochsitz, die Stummelpfeife mit Navy cut im Mund, sieht über See, Fluß und Wald, fühlt den Baum lebendig unter sich beben und im Winde schwanken, und ihm ist, als brauchte er nur die Arme zu öffnen, um sich hinausheben zu können über Riechenberg, Schule und dumpfe Last des täglichen Dienstes.

Er hat den Mann im Maurerhut gesehen, und hinter seiner Knabenstirn bereitet sich langsam der Plan der nächsten Stunde. Er sieht die Sonne in der Wolkenwand ertrinken und noch einmal, über dem Horizont, durch einen schmalen Spalt im Gewölbe brechen. Eine rote Schwertklinge schießt waagerecht über Wasser und Land, und aus ihrem Funkeln tauchen schwarz und übernatürlich die Boote auf. Die Nebel stehen schon bläulich über dem Fluß, als sie leise in das Schilf gleiten, aber Bechler sieht den roten Schein der Zigarre noch immer von seiner Höhe hinter den jungen Fichten aufleuchten.

Als sie das Ufer hinaufsteigen, einer hinter dem andern, Wiltangel als letzter, gleitet er lautlos wie ein Tier von dem dunklen Stamm. Er legt die Hand auf die Lippen, und in zwei Minuten ist jedem bestimmt, was er zu tun hat.

Sie sind im Wald zu Hause wie in ihren Knabenzimmern. Die erste Gruppe geht sorglos, lärmend, Zweige achtlos knickend, an Boas vorbei und dann im rechten Winkel vom Fluß fort in den Wald hinein. Zwanzig Schritte hinterher schleicht der Mann mit dem Mauererhut, und wieder zwanzig hinter ihm gleitet lautlos der Halbkreis auseinander, der ihn in die Vergeltung zu treiben hat. Der Kauz beginnt in den Eichen zu klagen, und hier und da bricht einer der schlafenden Reiher aus den Kiefernwipfeln, polternd und stürzend, und fällt mit heiserem Schrei in Schweigen und Nebel hinein.

Boas bleibt stehen, als hätte ein Hauch der kühlen Stunde ihn warnend angerührt. Die Treiber stehen, die Führer stehen. Für einige Herzschläge Länge ist nichts als die Unbewegtheit der Stämme im lautlosen Wald.

Und dann fällt in den dunklen Spiegel zerbrechend und zerspaltend der Schrei des Puma. Ein wildes Geheul, über die Wipfel steigend wie eine Feuersäule und ersterbend.

Er ist das Signal. Ein Pistolenschuß schlägt hart durch den Wald, und das Echo eines vielstimmigen Gebrülls steht versperrend vor jedem Pfad und jeder Seite.

Der Sprung der Boa bei Wiltangels Schrei geht in die Annalen seines Lebens und des Riechenberger Gymnasiums ein. Der Schulhof vieler kommender Generationen bleibt von ihm erfüllt.

Die erste Regung ist: zurück zum Fluß! Der Weg ist versperrt, und vor der hetzenden Meute öffnet sich nur ein schmaler Raum, in den das verstörte Opfer sich stürzt. Er weiß nicht, daß am Ende dieses Raumes kein Abgrund wartet, sondern nur das Brombeertal. Aber die anderen wissen es, jeder einzelne von ihnen. Für sie ist es Tag, und jeder Busch steht vor ihnen wie ein Kilometerstein an einer heimwärtsführenden Chaussee.

Bei jedem Schuß und jedem Schrei scheint der Wald sich zur Seite zu werfen, und dazwischen schlägt das Feuer aus Kalneins Repetierbüchse hart und gellend an die Echowand. Boas weiß nichts. Er hat vergessen, daß er auf der Spur von Missetätern war. Nebel hing über Booten und Menschen. Er hat niemanden erkannt, und es können Mörder, Wilddiebe oder Empörer sein. Das Plötzliche und ganz Unerwartete hat sich betäubend über ihn gestürzt. Er weiß nichts vom nächtlichen Wald, von Spur, Klang und Bodenlosigkeit der Nacht. Es ist ein Menschenalter her, seitdem er etwas davon gewußt hat.

Er läuft, als ginge es um sein Leben.

Seine Brille hängt längst an einem auf und ab schlagenden Ast. Ein trockner Zweig hat sich in seinem Halstuch verfangen und schlägt bei jeder vorwärtsstürzenden Bewegung des Körpers an sein Gesicht. Und so taumelt, fällt und stürzt er in die Brombeerschlucht hinein. Er stürzt und rafft sich auf. Es hält ihn, und er reißt sich los. Es greift nach ihm wie Schlangen, die ihn umwinden, und er entflieht. Wo er hinfaßt, sticht es. Wo er einem Griff sich entrungen hat, schlingt der nächste sich um seine Füße. Fetzen des Marc Aurel jagen durch sein verdunkeltes Gehirn, Anfänge horazischer Oden erfüllen ihn, und ganz, ganz weit, in einer unwirklichen Ferne, bebt der eisgekühlte Vorgeschmack der Rache.

Sie sorgen dafür, daß er nicht seitlich ausbricht. Sie haben ihm den Weg zugemessen, und als er ihn beendet hat, verstummt auf einen letzten Schuß die Jagd, erlischt in Nebel und Nacht wie ein Spuk, und durch eines Atems Länge von Wildheit und Lärm getrennt, steht das Schweigen lautlos um das Tal, zwischen den Stämmen und weithin durch die ganze Nacht. Man hört die Eicheln aus den Wipfeln fallen, von Zweig zu Zweig, und auf den Boden klopfen. Man hört ein Blatt sich lösen, in trockenem Laube flüsternd niedergleiten und unter den Zweigen zur Ruhe gehen. Man hört den schleichenden Schritt des Mannes, der nichts will als fort, weit fort, in die Stille, die Sicherheit, die Stadt, das Haus.

Kalnein, der sich nach einer Patrone bückt, findet die Krone der Jagd, eine zerbeulte Krone, aus der die Edelsteine gebrochen sind: Kalnein, am Eingang zum Brombeertal, findet den Maurerhut.

Und dann brennt das Feuer auf im rieselnden Wald, und sie liegen, am Rand des Gesetzes gleichsam, ohne Hohn, aber in dem stillen Glück, als hätten sie Schweiß und Tränen von vielen Generationen gewischt.

Am übernächsten Tage, Montag früh, steht das Fähnlein der sieben Aufrechten vor der Apotheke zum Goldenen Adler. Sie sind dunkel gekleidet, sehr ernst, sehr schweigsam. Kalnein hat ein dunkelgrünes Samtkissen in beiden Händen, das er feierlich vor sich hält wie ein Ordenskissen. Die andern stehen zu zweien hinter ihm. Es ist eine halbe Stunde vor Schulanfang. Die Lehrlinge sind schon unterwegs, die Gemüsefrauen, die Angestellten, die Fischer, die Arbeiter, die roten Mützen des Gymnasiums. Zuerst sind es fünf, die stehenbleiben, dann zwölf, dann der halbe Markt. Da es keine Antwort auf eine Frage gibt, bleibt alles stumm, halb lächelnd, halb verwirrt. Auf dem grünen Kissen liegt, verbeult, beschmutzt, entehrt: der Maurerhut.

Wiltangel erscheint in der Tür, im dunklen Anzug, die Melone auf dem Kopf. Er tritt vor Kalnein, und durch die sich lautlos öffnende und wie ein Strom sich hinter ihm schließende Menge schreitet die Prozession durch die Stadt. Um den ganzen Markt, die Hauptstraße entlang, an den Lehrerwohnungen vorbei, die Uferpromenade hinab, zum Gymnasium hinauf. Vor dem Eisentor hält der Zug, baut sich auf, am Gitter entlang, wartet und schweigt.

Keiserling kommt, wird tief gegrüßt, will fragen, sieht Wiltangel und die unbewegten Gesichter, zuckt mit seinem Gesicht und geht schnell vorbei. Der Ordinarius der Sexta kommt, der Untertertia, der Musiklehrer, der die Orgel zu spielen hat. Schleichhase kommt verstört aus seiner Kellerwohnung, fragt ratslos, schweigt und zieht sich zurück. An den Fenstern des Konferenzzimmers, die nach der Straße gehen, stehen Gesichter, bleich und körperlos in grauem Licht.

Und dann kommt Boas. Sie wissen, daß er die Morgenandacht zu halten hat. Er hat einen grauen kleinen Filzhut auf. Es ist zu sehen, daß er stockt und ausweichen will, aber es ist zu spät. Seine Augen springen von Gesicht zu Gesicht, gleiten ab und heften sich dann mit einer gleichsam verzweifelten Energie an Kalneins Gesicht. Wiltangel tritt zur Seite, und das grüne Kissen liegt regungslos auf den ruhigen Händen.

»Es ist mir gestern durch eine glückliche Fügung gelungen, Herr Professor«, klingt Kalneins Stimme hell und klar über die Menge, »beim Brombeerpflücken Ihren Hut zu finden, den Sie vermutlich verloren haben. Ich bitte, die Feierlichkeit der Gebärde zu entschuldigen, aber sie schien mir der Kostbarkeit des Objektes angemessen zu sein.«

Kein Mund, der sich zum Lächeln verzieht, kein Laut, der in die stille Herbstluft steigt.

Dann zuckt die Schulter unter dem Kaisermantel, und eine andere Stimme, heiserer, aber bis zum letzten Sextaner hörbar, sagt: »Das werden Sie büßen.« Dann wendet er sich ab und betritt den Hof.


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