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12.

Als die Birkenwälder grün waren, fuhr Harro in die ferne Stadt, wo in der stillen Parkstraße das graue Haus lag. Im Abenddunkel stand er vor dem hohen Gitter und sah noch einmal gedankenvoll auf das gelbe Schild, das ihm wie das Auge eines Raubtieres hinter grauem Eisen erschien. Das Feuer brannte wieder im Kamin, und Majas Hände spielten noch immer mit der feinen Kette über dem schweren Sammet.

»Ist es dir zu einsam geworden, Harro?« fragte sie mit trübem Lächeln. »Willst du wieder ins Leben hinaus?«

Er saß tief zurückgelehnt in seinem Sessel und sah sie unverwandt an. »Nein, Maja, ich will wohl nicht mehr hinaus. Ich habe mir mein Haus bereitet, um dort zu sterben.«

»Sind deine Schwingen müde?«

»Ja, schon lange, aber mir ist, als ob ich den Boden gefunden hätte, wo ich in Frieden sterben kann. Mir ist, als sollte ich noch einmal auferstehen.«

Sie nickte schwermütig.

»Aber du sollst mich nicht mißverstehen, Maja. Ich habe das Rätsel nicht gelöst. Ich höre den Klang, aber es fehlt noch eine Saite, denn der Klang ist leer.«

»Ich hoffe, daß du sie finden wirst«, sagte sie leise.

Er stand auf und ging auf dem Teppich auf und nieder, die Hände auf dem Rücken und den Blick zur Erde gerichtet. »Ich will dir etwas sagen, Maja«, begann er. »Du kennst mein Leben, wie niemand es kennt. Ich habe nichts verhüllt vor dir, denn du wolltest meine Schwester sein. Ich bin nicht mehr rein wie damals, aber der Hauch deines Mundes ist immer in mir geblieben, und er hat mich behütet. Ich bin nicht rein geblieben, aber ich bin nicht unrein geworden. Nur müde. Ich habe es gern, in der Dämmerung zu sitzen, wenn die Lampen nicht brennen. Das Leben ist mir wie eine Last, die man mir von hinten auf die Schultern geworfen hat. Ich wollte wandern, leicht und frei, aber man hat mir gesagt: ›Warte, dies mußt du mitnehmen. Gib es dort ab, wenn du angekommen bist.‹ Nun ist mir das Wandern verleidet. Ich habe vielleicht mein Bestes verschenkt, vielleicht auch vergeudet. Nun bin ich arm, ein trauriger Mensch. Vielleicht werde ich noch einmal blühen, aber ich glaube, ich werde immer traurig sein. Und ich kann diese Last nicht mehr allein tragen, so einsam bin ich geworden. Wenn der Herbststurm braust oder der Schnee liegt über dem Walde, dann weiß ich nichts, was ich halten und fassen könnte, nichts als deine Hand, Maja. Und deshalb bin ich hergekommen, um dich zu fragen, ob du meine Frau werden willst.«

Sie sah schon lange mit angstvoll geöffneten Augen in die sinkende Glut des Feuers, und ihre Tränen tropften schwer und langsam auf ihre gefalteten Hände. »Ich habe meinen Leib verkauft, Harro«, sagte sie mit vergehender Stimme. »Niemals kann das sein.«

Er trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Wer bin ich, Maja,« fragte er ernst, »daß ich von dir verlangen könnte, was ich nicht besitze? Deine Seele hast du nie verkauft, und dein Leib ist mir wie ein Heiligenbild, ohne Makel. Ich frage dich nicht, ob du mich liebst, denn ich weiß es. Ich frage dich nur, ob du den Mut hast, mit mir das Leben zusammen zu tragen, nach der Blüte und nach dem Sommer.«

»Nein, Harro,« sagte sie leise und nahm seine Hände, »ich habe den Mut nicht. Komm, setze dich zu mir. Du bist immer noch ein Kind, und aus den Menschen machst du Wesen deiner Träume. Aber das Leben ist kein Traum ... Sieh, wenn es nur das wäre, ich könnte vielleicht darüber hinweg. Sprich nicht, Harro. Eine Frau, die sich verkauft, ist in Schande, und wenn sie es um Gottes willen getan hat ... Aber da ist noch mehr. Wenn er mich gekauft hat, wie soll ich ihn betrügen um sein Gekauftes ...«

»Du hast bezahlt, Maja, mit dir selbst. Und nun betrügt er dich. Fühlst du nicht, daß du fort mußt aus solcher Ehe?«

»Ach Harro, es ist doch keine Ehe. Ich bin doch schon lange nicht seine Frau, verstehst du mich? Und was ist sein Betrug, wenn ich mich ihm versage? Er könnte den Vertrag lösen, er allein. Ich habe meine Pflichten nicht erfüllt, und nun soll ich aufstehen und sagen: ›Du hast mich betrogen und ich will fort‹? Nein, Harro. Ich kannte den Preis, ich bin nicht getäuscht worden. Ich habe mich nur geirrt, und für unser Irren müssen wir immer bezahlen, selbst mit dem Leben. Auch in Schande kann man tapfer leben; und ich will nicht zu allem auch noch feige sein ... Aber auch dies, Harro, ist nicht das Letzte. Das Letzte ist noch ganz wo anders ...«

»Und wo ist es?« fragte er finster.

»In dir, Harro.«

»In ... mir? So liebst du mich nicht?«

Sie sah ihn voller Qual an. »Was weißt du von meiner Liebe, Harro? Wenn ich dich nicht liebte, wie anders wäre dies alles! Aber hör' mich an. Hast du mir nicht dein Leben erzählt? Kenne ich dich nicht von Jugend an? Wenn ich jetzt mit dir ginge, Harro, weißt du, wie alles würde? Weißt du, wie lange du ... bei mir bliebest?«

»Maja!« rief er erblassend.

»Und wenn du bliebest, weißt du, wie lange ich dir Frieden geben würde? In einem Jahre vielleicht, vielleicht in fünf Jahren, aber einmal würde ich sehen, daß deine Augen schwer werden, und dann müßte ich dich gehen lassen, weil mir das Herz über dir brechen würde.«

»Niemals, Maja!«

Sie hob nur die Hand. »Und dann,« fuhr sie leise fort, »würde ich mich vielleicht zum zweiten Male zertreten fühlen ... und zweimal kann ich es nicht ertragen, nicht bei dir.«

Er faßte beschwörend ihre Hände. »Maja, liebe Maja! Das sind Hirngespinste. Zerbrochen haben sie dich, und nun hast du Angst vor Träumen. Wir lieben uns doch, Maja, von Kind an lieben wir uns ...«

Sie sah ihm ernst in die Augen. »Ja, wir lieben uns, Harro, mir zur Qual lieben wir uns ... Ich glaubte, du würdest mich verstehen, auch so. Nun muß ich auch dies noch sagen ... Sieh, wenn du ein Mensch wärest wie die andern und liebtest wie die andern, aber das bist du nicht. Was suchst du in der Liebe? Freude oder ... Rausch? Wenn es das wäre, Harro, dann ... dann könnte ich vielleicht mit dir gehen, weil ich dich liebe und weil ich ... es dir geben könnte. Aber du suchst etwas anderes, und du weißt es selbst, du suchst Erlösung, Harro. Das Letzte suchst du, das nur der Tod geben kann, Gott willst du in dich fassen ... Und das, Harro, kann ich nicht geben. Niemand wird es dir geben, keine Frau. Aber dein Fluch ist es, daß du nicht aufhören kannst zu suchen, daß du so unglücklich bist und glaubst, eine könnte es doch sein. Nun glaubst du es von mir, ich weiß, wie sehr du es glaubst. Aber du irrst, Harro. Und einmal kommt da die Stunde, da mußt du von mir gehen ... oder du tötest deine Seele.«

»Ich wollte nicht mehr suchen«, sagte er verzweifelt.

»Nicht du, Harro. Vielleicht. Aber es! Es sucht in dir ... Und einunddreißig Jahre bist du alt ...« Sie lächelte schmerzlich. »Die Welt willst du lassen mit einunddreißig Jahren? Du liebes Kind, ewig wirst du ein Kind sein.«

»So schickst du mich also fort? Für immer?«

Sie zitterte vor Qual und Erschöpfung, aber sie sah ihn gütig an. »Nicht für immer, Harro. Nur bis du müde geworden bist. Dann kann ich ruhig von hier gehen und kann ruhig bei dir sein. Dann wirst du mich mehr brauchen als jetzt. Nur ein, zwei Jahre gehe ganz fort. Dann kannst du wieder bei deiner Schwester sitzen und von deinem Leben erzählen.« Sie nahm seine Hände und legte sie an ihre Wangen. »Du weißt, daß ich dir gehöre ... sei doch zufrieden! Das Letzte ... es ist ja doch vergänglich ... mit Schmerzen zu bezahlen, mit Ernüchterung ... Laß es ein Geheimnis sein. Wir brauchen Geheimnisse, Harro, du vor allem, sonst wird dein Leben schal ... laß mich dies für dich verhüllen.«

»Du zerbrichst mein Leben«, flüsterte er.

»Nein,« antwortete sie mit letzter Kraft, »nein! Ich täusche mich nicht. Onkel Felix wußte es, als er es dir sagte, von den Lippen, die man hätte küssen können und doch nicht geküßt ... und nun geh, ich ... kann nicht mehr.«

»Wohin soll ich gehen?« schrie er auf. »Die Welt ist leer.«

Sie sah ihm tief in die Augen, bis auf den verstörten Grund. Dann löste sie seine Hände von ihrem Antlitz und küßte ihn auf die Stirne. »Du sollst gesegnet sein«, flüsterte sie todesernst. »Vergiß es nicht!«

Sie ging zur Türe. Ihre Hände flehten, daß er gehen möchte. Da verließ er sie. Sie lauschte, bis die Haustür unten ins Schloß fiel. Dann sank sie, wo sie stand, langsam auf die Knie, die Stirn an das kühle Holz gelehnt, die Hände um das Eisen des Schlosses gefaltet ...

Die Narzissen blühten schon, als Harro im fallenden Abend durch die stillen Parkwege des Schlosses zur Terrasse emporschritt. Sein Gesicht war blaß und gequält, und als er in die Schatten der Buchen blickte, schien es ihm, als müßten dort verwitterte Kreuze stehen, moosbewachsen, mit Namen, kaum zu lesen.

Onkel Felix lag im Rollstuhl, die Hände über dem Stock gefaltet, Veilchen im Knopfloch, und sah traurig über die knospenden Wipfel. Frau Maria saß auf den Stufen, ein Tuch um die Schultern, die Hände im Schoß gefaltet.

Sie wandten beide den Kopf, als die Schritte näher kamen. Frau Maria hob die Arme, als wollte sie aufspringen, aber schon kniete Harro vor ihr nieder und legte seine Stirn auf ihre Hände. »Harro,« sagte sie und lehnte sich kraftlos zurück, »mein Kind ... mein Kind!«

Er sah auf und blickte erschüttert auf ihren grauen Scheitel.

»Mutter,« sagte er leise, »ich wollte heimkehren.«

Sie streichelte sein Haar und neigte sich zu dem Licht seiner Augen. »Ich habe es ja gewußt ... mein böser, lieber Junge ...«

Er lauschte auf ihre Stimme, als käme sie aus weiter Ferne. Kindersonntage erstanden vor seinem leidvollen Blick, hohe Wolken, die in stille Gärten blickten, über Wald und Strom, und Glocken, die über die Felder riefen. »Bin ich wieder dein Kind?«

»Nicht wieder, Harro, nicht wieder ... nie bist du aus meinem Herzen fortgegangen.«

Dann ging er zu Onkel Felix. »Ja, ja, Harro, alles kehrt wieder, müde und alt, um zu warten, auf den Schlaf ... auch du hast nicht gefunden ...«

»Nein, Onkel Felix, ich habe nicht gefunden. Ich glaubte, es zu halten, und da entglitt es mir ... weil ich es nicht halten konnte.«

»Ja ja, immer entgleitet es, immer ... Die vielen Türen, Harro, sie sind immer noch da, und die Stimmen rufen, die man kennt und doch nicht kennt ... wie merkwürdig das alles ist.« Und er zog die Decke höher und sah über Harro hinweg in die dämmernde Ferne.

Gerhard kam mit Mademoiselle, und traumverloren sah Harro im Kreise umher, als müßten sie alle wiederkommen, die einst hier gelacht und geplaudert hatten, als das Leben noch jung und ahnungsvoll durch die blauleuchtenden Parkwege geschritten war.

Dann stand er mit Frau Maria am Gartentor der Mauer und blickte mit ihr über die abendroten Hügel. »Weißt du noch, Harro,« sagte sie fröstelnd, »wie wir hier im Winter standen und du sagtest, man müsse immer traurig sein, das ganze Leben lang?«

»Ja, Mutter.«

»Und heute, Harro?«

»Heute denke ich dasselbe, Mutter. Ich wollte heimkehren, und mein Haus war bereit. Aber Maja wollte nicht, und sie hat wohl recht gehabt.«

»Weshalb?«

»Weil ich sie vielleicht verlassen hätte, wie ich dich verlassen habe. Ein Fluch liegt auf mir, Mutter, ich muß einen Toten suchen.«

»Harro!«

»Ja, Mutter, damals, als ich von dir ging, da hatte ich das Kind in mir erschlagen. Es wehrte sich und bäumte sich und schrie, aber ich erschlug es. Da ging ich aus dem Paradiese. Und unstet und flüchtig muß ich nun sein, bis ich es finde. Dann werde ich schlafen können. Aber es mag wohl sein, daß ich es nicht finde, bis man mich selbst hinausträgt wie ein Kind.«

Frau Maria faltete die Hände um das Gitter. »Immer wollen sie den Himmel aufbrechen«, sagte sie schwermütig. »Gott wollt ihr erstürmen, aus seinem Mantel wollt ihr Kleider haben, ihr armen Friedlosen ihr ...«

Als sie wieder am Kamin saßen, legte Gerhard seine Hand auf Harros Arm und sagte errötend: »Harro ... du mußt aber nicht böse sein, hörst du? Was ist aus Elisabeth geworden?«

»Elisabeth ist schon lange, lange Frau Happek, Gerhard. Und ich glaube, sie ist eine ganz glückliche Frau. Ich werde sie vielleicht besuchen, bevor ich ... hinausgehe.«

»Weißt du, ich hätte sie gern geheiratet.«

»Daran hättest du vielleicht gut getan«, sagte Harro, in Gedanken versunken.

Frau Maria legte die Hand auf seinen Arm. »Verzeih, Harro, daß ich davon spreche. Aber ... tust du auch recht daran, noch einmal hinzugehen? Der Friede ist ein kostbares Ding ...«

»Nein, Mutter, nicht so. Ich gehe nur Abschied nehmen ... und danken. Das Leben ist kurz, wer weiß, wann ich wiederkehre. Ich gehe hinaus wie in eine Wüste. Was werde ich sehen? Wer wird bei mir sein, wenn nicht alle die, die mich geliebt haben?«

»Ja, Harro, wir werden alle bei dir sein, und wir werden warten, noch einmal warten ... aber du kehrst wohl nicht mehr wieder.«

Langsam ging er den weiten Weg zurück. Die Nacht war feucht und voll leisen Lebens. Über dem Wasser riefen wandernde Stimmen, und in den dunklen Wipfeln rauschte es auf und nieder, verwehend und langsam wiederkehrend: »Ich bin der Wald ... der weite ... weite ... Wald.«

Noch einmal saß er mit Simplizius auf der Bank vor dem einsamen Hause. Über Dach und Fenster war der Wald gewachsen wie über einen Stein. Die Hunde waren grau geworden, und Simplizius saß gebeugter zwischen ihnen, nur der Blick seiner Augen war noch immer wie der Blick des Wanderfalken.

»Ja, Harro,« sagte er, »und deshalb ist mir nicht angst um dich. Du hast nicht gemordet, und was du davon sagst, das ist nur deine zergrübelnde Seele. Du bist nur durchs Leben gegangen und hast vor den Menschen gespielt. Und eine Geige kann nicht morden. Einst wirst du heimkehren, namenlos und sündenlos. Du wirst vielleicht nicht mehr blühen, denn deine Seele hat schon geblutet wie der Baum, den man durch die Rinde schlägt. Aber ich glaube, daß du noch einmal jenseits des dunklen Stromes stehen wirst, auf dem die Schiffe ziehen.«

Harro lächelte nur wissend und traurig. »Und du, Simplizius?«

»Ich habe aufgehört zu leben, denn ich habe gemordet. Wir sterben, damit ihr leben könnt. Wir haben ein dunkles aber vielleicht ein hohes Los gezogen in den wirren Gärten dieses Lebens. Und wenn man mich fragt, weshalb ich hier den Tod erwarte, wo das Leben draußen braust, dann sage ich: ›Mein Kind, wir sind die Erde, durch die der Pflug gegangen ist. Wir sind die Scholle, die man gewendet hat, von Tiefe zu Tiefe. Nun laßt uns ruhen. Denn wir sind müde, und uns verlangt zu schlafen.‹ Du aber, Harro, du sollst leben. Und wenn du nur lebst, um in der Menschen Seele zu spielen. Auch der Wind tut nichts anderes, und was wäre die Erde ohne seine Flügel?«

»Ich weiß nicht,« sagte Harro, »ob ich noch einmal glücklich sein werde ... Mir ist manchmal, als müßte ich mich in die Erde hineingraben, tief, tief, bis da, wo die letzten Wurzeln in die Quellen tauchen. Oder als schrieen die Sterne nach mir, die ganze Nacht. Und ich hebe die Arme, und mein Herz schreit ihnen Antwort. Aber ich kann mir nicht entfliehen ... Nun leb' wohl, und lebe, bis ich wiederkehre!«

Am Seeufer ging er zurück, fast dieselbe Straße wie damals in der Winternacht. Dämmerung fiel über die Bäume und verhüllte das Dorf am andern Ufer. Frühe Lichter spiegelten sich im See, und Kinderstimmen riefen über das Wasser. Jeder Ton schwang klar durch die stille Luft. Eine Kette klirrte am Brunnen, und eine Frauenstimme sang, irgendwo aus einem geöffneten Fenster:

»Nun geht, ihr matten Glieder,
Geht hin und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt.
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh' ein Bettlein in der Erd'.«

Lange stand er noch, den Blick hinübergerichtet, den Worten nachlauschend. »Auch dort könnte es sein,« dachte er schmerzlich, »wo sie am offenen Fenster sitzt und über das Wasser sieht ... auch dort ...«

In den nächsten Tagen packte er seine Koffer und bestellte sein Haus. Nichts trug er in seinen Händen als Hut und Stock, als er es verließ, um den letzten Abschied zu nehmen.

Am Nachmittag kam er an. Gras wuchs in den Straßen, und die Finken schlugen in den Lindenbäumen. Vom Fluß her lärmten die Kinder, Kreisel tanzten über die holprigen Steine, und auf den Treppen, träumend in Sonnenlicht und schläfriger Stille, saßen alte Frauen über ihr Strickzeug gebeugt.

Langsam fand er den Weg zum Markte, und mit jedem Schritt in das Schweigen hinein fühlte er sein Herz schwerer und trostloser schlagen. Vom Brunnen aus sah er das große Schild, schwarz mit goldnen Buchstaben: ›Michael Happek, Kolonial- und Delikateßwaren‹. Vor dem Hause, wo der Gang zum Garten mündete, kniete ein Kind am Boden und pflanzte Unkraut und welke Blumen in einen Sandhaufen.

»Wie heißt du?« fragte Harro leise.

Das Kind sah auf und blickte ihn an, die Blumen fest umfassend.

»Wie heißt du?« fragte er noch einmal ergriffen.

»Johannes.«

»So ... Johannes ... so ... das ist ein schöner Name ... kannst du mich zu deiner Mutter führen, Johannes?«

Das Kind stand schweigend auf, einen unveränderten Ernst in seinen Zügen, und ging den Gang hinunter bis zur Türe, die an der Seite in den Garten führte. Hier zeigte es mit der Blumenhand nach den Beeten hin und kehrte still zu seiner Arbeit zurück.

Sie kniete vor einem frisch geglätteten Beet und streute vorsichtig mit zwei Fingern hellen Samen in eine schmale Furche. Harro stand hinter ihr und blickte auf sie nieder. Er hörte seinen Atem und das leise Rauschen des Flusses hinter der Hecke. »Elisabeth«, sagte er leise.

Sie wandte den Kopf und sah zu ihm auf. Sie schrie fast unhörbar auf, einen einzigen kurzen Laut, wortlos, wie ein Kind, aber ihr Gesicht wurde weiß, und sie stützte die Hand mit dem Samen in die dunkle Erde. »Harro,« flüsterte sie, »o weshalb ... du hättest nicht kommen sollen ...«

Er schüttelte den Kopf und nahm ihre freie Hand. »Nicht so, Elisabeth«, sagte er freundlich. »Fürchte dich nicht. Ich kam nur Abschied zu nehmen, bevor ich für lange Zeit fortgehe ... wenn du willst, gehe ich gleich.«

Sie stand auf und strich sich mit dem Handrücken das Haar zurück. »Nein, Harro,« antwortete sie, schon mühsam lächelnd, »vergib, es kam so schnell ... du mußt bleiben, bei uns. Guten Tag sagen ... meinem Mann und ... dem Kind ... erzählen mußt du ... ach, Harro!« Die Tränen schossen ihr über die Wangen, und ihr Mund bebte in weher Ergriffenheit.

Er streichelte ihre Hand. »Laß, Elisabeth,« sagte er gütig, »du solltest nicht Leid haben davon.«

Die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. »Nein,« sagte sie, die Tränen trocknend, »ich will auch nicht. Ich will mich freuen. Es kam nur so schnell. Nun komm hinein, ich muß dir doch Speise und Trank geben ... Johannes! Johannes!«

Das Kind kam zu ihr und hielt sich an ihrer Hand. »Du hast ihm einen schönen Namen gegeben«, sagte er dankbar und strich dem Kinde übers Haar.

Sie errötete, aber das alte frohe Licht stand mit einem Male in ihren Augen. »Ja, Harro konnte ich ihn doch nicht gut nennen, nicht wahr?«

Er lächelte, in Erinnerung verloren, während sie zur Hauslaube an der Hinterseite schritten.

»Vergib, Elisabeth, aber ... weiß dein Mann ...?«

»Nein ... frage nicht mehr, bitte.«

Sie saßen um den Kaffeetisch, und Harro erzählte. Herr Happek war nicht ganz unbefangen, weil seine leicht geröteten Hände ihm Pein bereiteten und weil das Künstlertum ihn bedrückte. Aber er war froh in seinem Nichtwissen, daß dieser Fremde, reich und vornehm, einmal treue Landsmannschaft mit seiner Frau gehalten hatte und daß er sie heute noch behandelte wie eine Fürstin. Nach dem letzten Schluck stand er auf und entschuldigte sich errötend. »Das Geschäft, Herr Bruckner ... und am Sonnabend weiß man nicht, wo seine Hände hernehmen ... meine Frau wird Ihnen die Stadt zeigen und den Fluß ... Sie bleiben doch noch ein paar Tage, ja?«

Harro verbeugte sich dankbar. »Ich weiß noch nicht, Herr Happek ... ich bin ein unruhiger Gast. Manchmal will ich eine Woche bleiben und bleibe eine Stunde. Aber vor allem sollen Sie nicht im geringsten gestört werden ... auf Wiedersehen.«

»Er ist noch immer gut, Elisabeth?«

Sie nickte.

»Nun ja ...« Er starrte auf die Türe, hinter der Herr Happek verschwunden war. »Habt ihr eine Bank, Elisabeth, wo wir still für eine Stunde sitzen können? Ich will noch vor Abend fort.«

Sie nahm das Kind bei der Hand und ging voraus. Am Ende des Gartens, jenseits der Hecke, saßen sie, den Fluß zu ihren Füßen. Die Gärten am andern Ufer blühten, dünner Rauch stand über roten Dächern, und flußabwärts schlug ein Sprosser am langsam ziehenden Wasser. Elisabeth hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah über das Kind hinweg, das zu ihren Füßen spielte, in die sonnige Weite.

»Wie still deine Welt ist, Elisabeth!« sagte er.

Sie schrak zusammen. »Ja ... weshalb bist du gekommen, Harro?« fragte sie bedrückt. »Es muß noch etwas andres sein ... wir hatten doch Abschied genommen.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte er traurig. »Ich wollte dich sehen, wie dein Leben ist. Wer weiß, wann ich wiederkomme? Gefährten suche ich, für die Fremde, für die Wüste.«

»Daß wir doch immer stärker sind als ihr ...«

Er sah sie an, mit suchender Qual in den Augen. »Damals ... wenn ich gewollt hätte, hättest du mich geheiratet?«

»Ich hätte gebettelt für dich«, sagte sie leise.

»Aber ich würde dich verlassen haben.«

»Dein Kind wäre mir geblieben.«

»Wovon ist es so ernst?« fragte er, auf Johannes blickend.

Sie sah gequält geradeaus.

»Es ahnt dir sehr, Elisabeth. Nur das Haar ist von ihm ... aber es ist ein Traumkind, es wird früh sterben.«

»Quäle mich doch nicht!« bat sie.

»Nur eins sag' mir«, fuhr er grübelnd fort. »Siehst du das Boot dort unten? Wenn ich dich hineintrüge und wir stießen ab ... die Stadt bleibt hinter uns, der Tag vergeht. Der neue Morgen ist ein neues Land. In die Ferne reisen wir, keinen Blick zurück. Wieder ist es, wie es einstmals war ... würdest du kommen?«

Sie sah ihm gerade in die Augen. »Harro!« sagte sie mahnend.

»Ja ... es kam mir ja nur so in den Sinn.«

»Schick' es wieder fort.«

»Hab' keine Angst ... ich werde dich nicht mehr wiedersehen. Aber du wirst mich begleiten, du und die anderen. So bin ich nicht mehr so ganz allein. Daß du Samen sätest, als ich dich sah, das war ein schönes Bild ... nun will ich gehen.«

»Es geht kein Zug jetzt«, sagte sie angstvoll.

Er hob nur lächelnd die Hand. »Ich brauche keinen Zug. Wandern will ich, die ganze Nacht, und an euch alle denken. ›Aus meinem Vaterlande und aus meiner Freundschaft.‹ Besinnst du dich noch? Das hat mich als Kind schon so ergriffen. Nur ›aus meiner Liebe‹ hat er vergessen. Aber vielleicht hatte er auch recht, denn wer könnte jemals aus seiner Liebe gehen?«

Er stand auf und nahm ihre Hand. »Leb' wohl, Elisabeth! Ich gehe. Ich kehre nie wieder ... und doch bleibe ich in dir ...«

Sie weinte nur lautlos.

Er hob das Kind auf und sah ihm in die ernsten Augen. »Wenn du mein wärest,« sagte er leise, »dann hätte ich vielleicht gesühnt ... das Erschlagene wäre wieder lebendig ... so aber wirst auch du erschlagen und suchen, auch du ...« Er küßte es auf die Augen und auf den Mund und ließ es behutsam nieder.

Dann nickte er ihnen zu und verließ den Garten. Langsam ging er durch die Straßen, über denen schon hohe Abendwolken standen. Am Fluß entlang lief die Chaussee. Der Sprosser schlug lauter und nächtlicher, und er wandte sich und sah auf die Stadt zurück. Die Fenster brannten in der letzten Sonne, die Gärten blühten, und ein Taubenschwarm warf sich leuchtend um das steile Kirchendach. »Ja, auch dort könnte es sein«, wiederholte er noch einmal.

In der Dämmerung überschritt er zum ersten Male den Fluß. In scharfer Wendung lief die Straße vom Wasser ab als schmales, helles Band in dunkle Wälder hinein. Er stützte die Hände auf das Brückengeländer und blickte flußaufwärts. Nebel hingen um dunkle Weiden und verhüllten das fernere Bett. Alles Helle und Starke ertrank in bläulichem Licht. Am weißen Abendhimmel stand glänzend ein einzelner Stern. Im tiefen Schweigen klang nur leise das Wasser, das mit langsamen Wirbeln zwischen die Pfeiler zog.

»Du schöne Welt,« flüsterte er, die Augen erhebend, »du schöne, traurige Welt ...«

Dann verließ er Brücke und Fluß und schritt die dunkelnde Straße in die Wälder hinein. Und obwohl seine Schritte hart und hell durch die Nacht klangen, so war doch sein Haupt tief gebeugt, und seine Augen hingen an der staubigen Erde, als gehe er aus seinem Vaterlande in das Elend.

 

Ende

 


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