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3.

Kurz bevor Harro sechzehn Jahre alt wurde, an einem blauen und windstillen Palmsonntag, wurde er von Pastor Laue eingesegnet.

Dreimal waren die Kraniche über die Insel nach Norden gezogen. Herr Immanuel war etwas stärker geworden in der Ganzheit seines Wesens. Er wohnte jetzt in einem großen Hause am See, und nur Harro verlebte mit einem Gehilfen seine Sommer unter den Reiherbäumen. Herr Immanuel hatte einen nicht unbeträchtlichen Teil seines Guthabens aus der Firma S. Rosenheimer und Sohn herausgezogen und in festen Werten angelegt. Er saß im Gemeindekirchenrat und hatte sich einen Weinkeller angeschafft, zu dem er den Schlüssel stets in der Tasche trug. Sein Herbarium war um einige Nummern erweitert worden.

Frau Brigitte war etwas stark geworden, und bei gelegentlicher Stickarbeit in den Vormittagsstunden zeigten ihre Hände ein leises, aber beständiges Zittern. Sie liebte es, ganze Nachmittage in bequemer Kleidung auf dem Ruhebett zuzubringen, Kognakbohnen essend und einen spannenden Roman lesend.

Maja lebte seit drei Wintern in der Großstadt und ließ ihre Stimme ausbilden. Wenn sie zu ihren Eltern kam, war sie herzlich, aber verschlossen. Zu Harro war sie wie zu einem lieben, sehr viel jüngeren Bruder, gegen Herrn Immanuels ungeheuchelte Bewunderung von befremdetem, hochmütigem Erstaunen.

Harro hatte in diesen drei Jahren eine schmerzlich verbitterte Seele sorgsam großgezogen und in Herrn Leberechts Bücherei die Rätsel des Seins auf seine Weise gelöst. In ohnmächtiger Erbitterung ließ er vormittags die fremde Feier über sich ergehen. Seine Mutter drückte ihn an ihre Brust und suchte vergeblich nach einem passenden, rührenden Wort. Harro sah ihr mit müder Gedankenlosigkeit in die leicht getrübten Augen, als suche er zum letzten Male Verlorenes. Um dem peinlichen Schweigen zu entgehen, sagte sie endlich: »Gott segne dich, mein Sohn!«

Herr Immanuel trat schüchtern näher, drückte den großen, blassen Jungen an sich, küßte ihn schonend auf beide Wangen und sprach unter dem gleichen verwirrenden Blick, wenn auch mit mehr Hingebung: »Gott segne dich, mein Sohn!«

Unter dem Brausen von Herrn Leberechts Orgelklängen verließ Harro gebeugten Hauptes die Kirche.

Als er, neben dem Tritt des Wagens stehend, zu den weißen Frühlingswolken aufsah, trat Maja an den Wagen, neigte vor Frau Brigitte den Kopf und streckte Harro mit ruhiger Freundlichkeit die Hand entgegen. »Auch von mir, lieber Harro, von Herzen alles, alles Gute!«

Er blickte sie wortlos an, mit seinen klaren, vom Leid der letzten Stunden umschatteten Augen, und sah dann starr an ihr vorüber auf Frau Hella, die an der Friedhofstüre stand und ihm zunickte, und auf einen jüngeren, etwas behäbigen Mann, der an ihrer Seite eben einen spiegelnden Zylinder vom dünnen Haar hob. Dann umfaßte er mit einem langen Blick Majas Gestalt und sagte in die peinliche Stille hinein laut und tonlos: »Danke.« Dann ließ er ihre Hand los, die er schnell berührt hatte, und stieg, fast stolpernd, in den Rücksitz des Wagens.

Maja nahm zerstreut Frau Brigittens Einladung zum Nachmittag an, streifte Harro mit einem fragenden Blick, den er nicht beantwortete, und schritt langsam über die Straße zurück, den atemlos herbeieilenden Herrn Parplies mit einem leichten Kopfnicken begrüßend und verabschiedend, so daß dieser mit tief zur Erde gesenktem Seidenhut verblüfft stehenblieb, wie ein Knabe, dem der schönste Schmetterling unter der Hand herausflattert.

Dann stieg er ein, behielt geistesgegenwärtig den Zylinder in der Hand, indem er ihn als Fächer benützte, und rief kurz und scharf: »Abfahren!«

»Eine sehr vornehme junge Dame«, sagte Frau Brigitte.

»Ein verdammt forsches Mädel!« äußerte ihr Gatte und blies den Rauch der Morgenzigarre von sich. »Und schick! Kolossal schick! Nischt zu machen!«

Frau Brigitte nahm die Tüte mit den Kognakbohnen aus der Tasche. »Ja«, antwortete sie gähnend. »Aber doch etwas zu mager.«

Zu Hause riß sich Harro die Kleider herunter, schlüpfte in sein blaues Sonntagsgewand und warf sich auf sein Bett. Unablässig, peinigend bis zur Verzweiflung schnitt ihm immer dieselbe zerrüttende Melodie durch den Sinn:

        »Siehst du, mein Bruder,
        Siehst du, mein Freund,
Fliegen die Kraniche in einer blauen Kette dahin?«


Um drei Uhr, als Herr Immanuel feierlich-erregt mit einer kleinen Zigarre durch die Zimmer schritt, ab und zu vor dem Spiegel seine weiße Krawatte zurechtrückend, fuhren die ersten Wagen vor. Er stand strahlend in der Vorflurtüre, klopfte den Herren auf die Schulter, drückte den Frauen zärtlich die Hand, begrüßte die Kinder mit burschikosen Kopfnüssen und geleitete die Gäste weiter. Seine laute, etwas ölige Stimme erfüllte das ganze Treppenhaus. »Alter Knabe! Nischt zu machen! ... So, mein Fräulein, immer raus aus die Überröcke ... tja ja, man ist noch jung und schön ...«

Im Salon stand Frau Brigitte im Schwarzseidenen und neigte sich vor den »Gönnern«, Herrn Fischereiaufseher Gottlieb Bumke mit Gattin und Tochter. Herr Bumke schloß nicht ohne Anstrengung den untersten Knopf seines bläulich schimmernden Gehrockes und verbeugte sich ruckweise. »Schönste Frau, ich küß die Hand ...« Und nach einem Augenblick, kurz und leise seufzend: »Tja, ja ...«

Dann schob Frau Amanda ihn beiseite und schloß die Hausfrau in die Arme. Während ihre Hand auf Frau Brigittens weichem Rücken vorsichtig prüfend die schwarze Seide befühlte, sagte sie mit erschreckend tiefer Stimme: »Meine Liebste, Sie können sich nicht denken, wie ich froh bin, Sie zu sehen!«

Fräulein Lina Bumke knixte, wurde gefragt, wie es ihr gehe, und antwortete kurz, schnell und bellend wie eine kleine Revolverkanone: »Dankschön mir geht gut.«

Und händereibend trat Salomon Rosenheimer ein, vorsichtig, wie zwischen den Wogen des Schilfmeeres, gefolgt von Frau Rosalie und dem jungen Herrn Moritz mit kurz geschorenem Diplomatenkopf und ausgedehnten Lackschuhen an gekrümmten Beinen. »Die Aristokraten des Geldes!« sagte Frau Brigitte.

Ihnen folgten Herr Gendarm Schimkus in Uniform und Reitstiefeln mit Frau Emma, lang und eckenreich, und den beiden Kindern Franz und Gustav. Und es erschienen zwei verknitterte, scharfäugige Schwestern Frau Brigittens, die im Flur die Bespannung des Kleiderständers befühlt hatten. Nach erledigter Begrüßung überblickte Paula, die ältere, scharf und schnell den Salon, hob Daumen und Zeigefinger der Rechten neben ihre Schläfe und sagte laut und durchdringend: »Brigitte, ich sage dir ...!« Und dann, in die erwartungsvolle Stille, während die erhobene Hand vorwärtsschnellte, kurz und scharf wie ein Peitschenschlag: »Pfein!«

Die Angeredete war verblüfft, und in der Gedankenlosigkeit, die sie in letzter Zeit oft überfiel, sagte sie nur abwesend: »Gott segne dich, meine Liebe!«

In das verständnislose Schweigen, das diesen Worten folgte, trat lächelnd der Pfarrer, »als ob die Vorsehung ihn geschickt hätte«, wie Herr Immanuel ihm nachher bekannte. Und während er sich noch suchend nach Harro umblickte, erschien dieser unbemerkt in der Tür, die er vor Ruhoffs geöffnet hatte. Herr Leberecht, weißer und kleiner geworden, erledigte die Pflicht der Begrüßung mit zwar hastiger, aber rührender Gewissenhaftigkeit. Maja reichte den Gastgebern die Hand, verneigte sich vor dem ihr bekannten übrigen Kreise und blickte dann bedeutsam von ihrem Vater auf den behäbigen, jungen Mann, den man in der Kirche neben ihr gesehen hatte. Herr Leberecht räusperte sich verlegen, machte eine schüchterne Handbewegung und sagte errötend: »Herr Fabrikbesitzer Obermeyer ... ein Freund ...«

»Also mein Verlobter,« fiel Maja abschließend ein.

Wie eine Brandung schwoll die Teilnahme empor und riß das Brautpaar in den zurückziehenden Strudel. Herr Obermeyer hielt sich gut.

»Paula, merkste was?« flüsterte Minna triumphierend.

»Und ob!« kam es giftig zurück.

In diesem Augenblick trat Harro zu Herrn Leberecht und sagte laut: »Ich danke dir für dein Orgelspiel, Onkel Leberecht.« Dann verbeugte er sich gegen die andern und blieb neben Herrn Ruhoff stehen, die Hand wie in Gedanken auf dessen Arm. »Und Tante Hella?« fragte er leise. »Ach Harro, seit dem Kriege ... du weißt ja ...«

»Auch sie hat dem Vaterland ... sozusagen ... geopfert!« sagte Obermeyer, indem er Harro mit leicht hervortretenden Hasenaugen düster anblickte. »Ihren einzigen Sohn verloren ...«

Harro blickte ihm nur schweigend in das blasse Gesicht, in dem über einem zurücktretenden Kinn ein blondes Bärtchen hing. Und nur Herr Leberecht fühlte besorgt, daß seine Hand zitterte.

Dann trat man zu Harro und beglückwünschte ihn mit leisem Mißtrauen. Auch die beiden jungen Schimkusse wurden mit einiger Mühe zu ihm gebracht. Tante Paula hob nur die Hand und sagte kurz und präzise: »Brigitte, ich sage dir ... pfein!«

Diesmal war Frau Brigitte nicht verblüfft. Sie seufzte nur glücklich. »Ach ja, Paulachen ... nur so eigensinnig. Nicht mal den schwarzen Anzug hat er an.«

»Kleider machen Leute, gnädige Frau,« sagte Obermeyer, verbindlich lächelnd, »aber Gott sieht .. sozusagen .. das Herz.« »Ihr heißt wohl beide Fritz?« fragte Maja teilnehmend die beiden Schimkusse, die zwischen Sofa und Klavier einen erbitterten Kampf um einen Lakritzenstengel ausfochten. Sie hielten befremdet inne. »Und nein! Franz!« sagte der Ältere höhnisch und bemühte sich dann weiter, Gustavs Daumen sachgemäß in zwei Teile zu brechen.

»Frag' dem Übermeyer, was er hat für ä Fabrik,« flüsterte Rosenheimer seinem Sohn zu.

»Nu, was wird er groß haben?« sagte Moritz und sah ärgerlich auf die Lackschuh des Bräutigams. »Wurst elektrisch!«

Frau Brigitte bat zum Kaffee.

Harro saß zwischen Lina Bumke und Tante Paula, ihm gegenüber Maja mit Obermeyer. Er fühlte eine würgende Verachtung gegen den ganzen Kreis, der ihn umgab. Aber der Begriff des verkannten Genies war ihm nicht fremd und gab seinem Wesen einen Rückhalt in knabenhaftem, düsterem Stolze.

Maja befestigte einen Primelzweig an ihrem roten Samtkleide und fuhr ab und zu tastend mit der Linken über ihr Haar, das sie noch immer in der alten Weise trug.

»Der Purpurmantel vom Schwarzen Fluß«, sagte Harro, in dumpfer Sehnsucht, weh zu tun bis zu Tränen. »Erinnerst du dich?«

Sie errötete leicht und sah ihn ruhig prüfend an.

»Was für ein Purpurmantel?« fragte Obermeyer teilnehmend und betrachtete eindringlich Majas Profil. »Ist das ein Märchen?«

»Ja,« sagte sie gelassen, »ein Kindermärchen.«

»Von einem Königssohn und einer Prinzessin«, ergänzte Harro.

Herr Obermeyer war nicht im Bilde, und so streichelte er nur mit wohlgepflegter Hand den Ärmel des Purpurmantels und sagte: »Ist auch in der Tat eine kleine Prinzessin, nicht?«

Maja zog die Stirne. »Möchtest du noch Napfkuchen, Ludwig? Ich glaube, du ißt ihn sehr gerne?«

»O bitte! Von zarter Hand!«

Harro zuckte zusammen, denn die Revolverkanone war losgegangen. »Harro was wirst werden?«

»Zigeuner.«

»Red' nich so dumm!«

»Das ist gar nicht dumm. Aber vielleicht werde ich auch Fischereimagnat und heirate dich. Die Märchen sterben, aber Geld ist lebendig.« Er zerpflückte abwesend einen Palmkätzchenzweig und lächelte finster.

Es wurde langsam heiß, und die Herren rauchten schon. Rosenheimer bohrte seinen langen Zeigefinger in Bumkes weiße Weste. »Konjunktur?« »Wie haißt Konjunktur? Hier is de Konjunktur!« Und er stieß seinen Finger wie eine Speerstange gegen seine Stirn. »Alter Fuchs!« sagte Herr Bumke schmunzelnd. »Aber man muß vorsichtig sein, nich?« Und mit einem kleinen Seufzer: »Tja, ja ...«

»Also,« schrie der Gendarm, »dem Kerl die Handgranate in die schwarze Fresse ... rums! Und den Kopf sollen Sie heute noch suchen, so wahr ich Schimkus heiße!« Und er blickte drohend wie ein gereizter Stier über den Tisch.

»Ja, es ist enorm, was wir geleistet haben«, sagte Obermeyer in die Pause der Erschöpfung und betrachtete liebevoll seine Handgelenke.

»Hast du auch einen in die Fresse geschmissen?« fragte Franz Schimkus erregt.

»Und ob, mein Junge! Ich konnte enorm weit werfen. Der Leutnant sagte immer: ›Obermeyer, Sie sind, sozusagen, der beste Handgranatenwerfer des Heeres!‹«

»Waren Sie an der Front?« fragte Harro.

»Das ganze Vaterland war Front!« antwortete Obermeyer nachdrücklich.

Moritz trommelte unruhig auf dem Tisch und beugte sich zu Maja: »Is doch ä gar grausames Handwerk, der Krieg, gnädges Fräulein, nich? Haben Se nich Angst zu heiraten so ä blutdürstgen Herrn? So ä wilden Handgranatenschmeißer?«

»Er macht jetzt nur Fleischkonserven«, sagte sie ironisch.

»Nu ... is auch blutig«, lachte Moritz.

Tante Paula hob die silberne Zuckerschale, legte Daumen und Zeigefinger zusammen und beugte sich nach Frau Brigitte vor. »Pfein!« sagte Gustav Schimkus, kurz und knapp. Moritz und Obermeyer prusteten, und Harro fuhr auf und blickte zerstreut, mit traurigen Augen in das wutbebende Gesicht seiner Tante.

Dann hob Frau Brigitte die Tafel auf, und man ging nach einer Anzahl kleiner Schnäpse etwas an die frische Luft. Die Sonne ging unter, und die Wasserfläche war grau und bewegt. Warmer Wind wühlte in den Kiefernkronen, und der Atem des Wachsens ging über das weite, dunkelnde Land.

Herr Leberecht saß auf der hohen Uferbank und streichelte Harros Hand, der sich hinter ihm über die Lehne beugte.

»Mein lieber Harro,« sagte er nachdenklich, »jetzt bist du groß geworden ...«

»Ja, Onkel Leberecht, jetzt werde ich ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft.«

»Ja, ja, habt ihr schon darüber gesprochen, was aus dir werden soll?«

»Ein Fischereipächter nach der Väter Art, Onkel Leberecht. Mein Stiefvater führt mich langsam ins Geschäft ein, dann kommt die feinere Lehre bei Rosenheimer, und dann werde ich vielleicht Fräulein Bumke heiraten ...«

»Harro!«

»Ach, du kannst mir ja nicht helfen. Mir kann niemand helfen, niemand!«

Schwermütig starrte der Knabe über das Wasser. Maja kam mit Obermeyer den Steg entlang und blieb an der Bank stehen. Die Drossel sang aus dunkelnden Wäldern. »Schatzi,« sagte Obermeyer und legte vorsichtig den Arm um ihre Hüfte. »Auch wir bauen bald ein trautes Nestchen, nicht?«

Maja machte sich frei. »Du sollst mich nicht mit diesem blöden Namen nennen,« rief sie zornig.

»Kinder! Kinder!« mahnte Herr Leberecht.

»Nun ... nun ...«, sagte Obermeyer nachsichtig lächelnd und trat vorsichtig einen Schritt zurück. »In diesen Monaten, mein lieber Vater, vor der Ehe ... ist man sozusagen, etwas explosiv ... tja.« Und er setzte sich den Zylinder fester auf den ovalen Kopf und sah wohlwollend auf Harro, der teilnahmslos noch immer über das Wasser blickte. »Tja, mein junger Freund, es ist eine ernste, bedeutungsvolle Stunde, die Sie heute erlebt haben. Als ich konfirmiert wurde, sagte mein Vater ... er war ein Ehrenmann durch und durch ... ›Ludwig,‹ sagte er, ›du trittst jetzt ins Leben, du wirst ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Laß dich nicht übers Ohr hauen und spreize die Ellbogen ab‹ ... tja. Am nächsten Tage durfte ich dann mein erstes Schwein schlachten, ganz selbständig. Denn ich habe von der Pike auf gedient ... Damals trug ich noch keinen Zylinder, sondern eine sehr kleidsame Ballonmütze ... Tja, auch Sie, junger Freund, können jetzt, sozusagen, alle Barrieren einschlagen, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Harro, ohne seine Haltung zu ändern. »Ich werde mich jetzt um Fräulein Bumke bewerben.«

Obermeyer lachte. »Nicht das Dümmste, mein junger Freund ... Das Leben ist, sozusagen, ein Drahthindernis. Auf die Drahtscheren kommt es an! Nicht auf Geige spielen oder Gedichte drechseln, nur auf die Drahtscheren ... tja.« Und er zog sein rotes Tüchlein und tupfte sich auf die Augen. Sie tränten immer etwas, wenn er erregt wurde.

Dann sahen sie schweigend über den See. Die Erde wurde grauer, nur die Drossel sang noch immer.

»Ein schöner, poetischer Abend,« bemerkte Obermeyer.

Maja fröstelte. »Wollen wir ins Haus gehen,« sagte sie leise. Als sie eintraten, berührte sie Harros Arm. »Komm um neun an die Bank,« flüsterte sie.

Man aß schon wieder. »Kommen Se, Fräuleinchen,« rief Herr Bumke freundlich und zog das Messer durch die Zähne. »Denn sonst, wo Bumkes reinhauen, bleibt nich viel übrig.«

Danach gingen die Herren ins Spielzimmer, und die Damen verlangten nach etwas Musik. »Was vom Frühling, Harroche!« bat Frau Amanda.

»Gebet der Jungfrau?« fragte er teilnehmend.

»Nein, das kenn' ich schon, das spielt Linachen immer.«

»Wir wollen die Frühlingssonate spielen, Harro,« sagte Maja ernst und schlug die Noten auf. Während sein Bogen über die Saiten strich, sah er gedankenlos auf ihr schwarzes Haar, dessen Rand im Licht der Kerzen leuchtete. »Was werde ich sagen?« dachte er. »Sie weiß, daß sie schlecht handelt, aber nichts wird sich ändern, nichts ... Sterben möchte ich, daß ihr Leben zerstört ist für immer ... wie schön sie ist ... und er, o Gott ...!« Das Herz schlug ihm schwer, und in halbem Bewußtsein sah er die Bank am schwarzen Wasser und den matten Mondschein über weißlichem Nebel.

»O Gottchen, wie muß das schwer sein!« sagte Frau Amanda ergriffen.

Obermeyer schlug einen gemütlichen »Gottes Segen« vor und übernahm die Bank. »Bis fünfzig Pfennig die Karte, meine Herrschaften! Unsolide Spiele mache ich grundsätzlich nicht.«

Tante Paula sah tückisch auf den Bankhalter. »Ich kaufe nie höher als zwei zu zwei,« sagte sie verbissen.

Herr Schimkus begann im Spielzimmer mit etwas schwankender, aber sehr starker Stimme: »O Deutschland hoch in Ehren!« Ab und zu schlug eine Faust auf den Tisch, und man hörte ein erbittertes »Pik Zehn, Mensch! Pik Zehn und die Sache war rum, verstehn Se?« Dann klirrten Gläser, und Herr Schimkus begann die zweite Strophe. Langsam ging Harro aus der Stube.

Mattes Licht floß über Wald und See. Auf dunklen Flügeln hob sich geheimnisvolles Leben in die Nacht. Die Erde dampfte hügelauf und hügelab. Nachtvögel schrien aus grauen Nebelhöhen. Mit zitternden Gliedern saß er auf der Bank. Schmerz und Seligkeit über den Schmerz wogten in seinem Bewußtsein durcheinander. Bebende Ahnung mischte sich mit echtem, erschütterndem Wissen, und aus allen Stürmen blühte echte Erkenntnis auf: ob Glück oder Unglück, süß war der Becher des Lebens, süßer als Träume, stärker als Stolz und Einsamkeit. Tiefer Gram floß aus Wipfelrauschen in seine Seele, Lieder des Keimens und Werdens, die ahnungsbang den Schleier hoben.

Dann rauschte Majas Kleid, und sie saß, schneller atmend, an seiner Seite. Ihr Atem und der reine Duft ihres Haares erfüllten langsam die schwere Frühlingsluft und fielen, warm, betäubend, wie ein Mantel über ihn.

»Harro,« begann sie, »sei verständig. Sieh, du warst mir immer ein lieber Freund, der liebste, und sollst es immer bleiben ... Weißt du, wie wir das Lied sangen? Wir wollten das Meer überfliegen ... es ist schön hier, aber ich muß die Schwingen ausspannen, ich muß, und wenn ich sterben werde. Vater wird seinen Dienst aufgeben, dann muß ich zurück oder eine Stelle annehmen ... dann zerbricht alles in mir ... er ist reich und nicht schlecht, und ich werde fliegen können, weit, sehr weit ...«

Er schwieg.

»Du wirst denken,« fuhr sie leiser fort, »daß ich mich verkaufe. Es ist vielleicht so ... aber ich verkaufe meinen Leib, um meine Seele zu erlösen, und Seele ist mehr als Leib ... ich fürchte mich vielleicht, und ... ach, was weißt du, wie elend mir ist, Harro! Du selbst, auch du bist gefesselt, aber du wirst frei sein. Nur ... ich kann nicht warten ... aber deine Schwester will ich bleiben, und immer wirst du einen Stuhl an meinem Feuer haben ... gib mir die Hand, Harro!«

Er rührte sich nicht. Da zog sie ihn mit wehem Lächeln an sich und legte seinen Kopf an ihre Schulter. »Geht's dir so nahe, mein Harro?« Und sie neigte ihr Gesicht über ihn, bis ihr Blick durch die Dunkelheit seine Augen fand und sie sein lautloses Weinen sah. Da küßte sie seine Lippen, und ihre Augen blickten schwermütig in die Nacht. Er zitterte unter ihrem Kuß, und sein Haupt sank an ihre Brust wie das Haupt eines Sterbenden.

»Harro!«

»Jetzt ... bin ich allein ... und er ... wird dich küssen ...«

»Harro,« sagte sie ganz leise, »laß uns scheiden.«

Er schlang die Arme wie in Todesnot um ihren Hals und streichelte Haar, Hals und Schultern in bebender Zärtlichkeit. Dann löste sie, zitternd an allen Gliedern, seine Arme von ihrem Körper und sah ihm erschüttert in das blasse Gesicht, wandte sich mit jäher Bewegung und verschwand in der Dunkelheit.

Vor Mitternacht noch brachen Ruhoffs auf. Harro half Maja in den Mantel. Dann traten sie alle hinaus. Die Pferde stampften im Lichtkegel der Laternen. Es war warm und dunkel, als sollte es nie mehr Tag werden. »Komm bald, Harro,« sagte Herr Leberecht, »jetzt fahren die Kinder fort ... es wird sehr einsam werden ...« Harro nickte. Ein Vogel schrie wie eine Möwe über dunkelndem Meer. Leb' wohl, lieber Harro!« sagte Maja leise, und schloß ihre Finger fest um seine Hand.

»Leb' wohl!«

Dann fuhr der Wagen in die dunkle Nacht. In der Ferne schrie noch einmal der Vogel auf.

Langsam stieg Harro die Treppe zu seinem Zimmer empor. Als der Morgen graute, fuhren die letzten Gäste vom Hof. Durch die fröstelnde Morgenstille schwang sich, unsicher, aber stark, Herrn Schimkus' wohlklingender Bariton: »Auf ein ... mal heißt ... es In ...fantrie ... dann stehn ... wir Mann ... für Mann ...«


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