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6.

Zur Fastnacht machten sie vom Schloß eine Schlittenfahrt zum Waldkrug am großen See. Harro hatte um den schmalen Einspännerschlitten gebeten, wo er selbst fahren konnte. »Und damit du dir nicht gar so zurückgesetzt vorkommst, Harro,« hatte Frau Maria gesagt, »wird Hedwig mit dir fahren.« Sie selbst fuhr mit Onkel Felix im vordersten Schlitten, dann Herr von Santen mit Magda, und Herr Bender mit Mademoiselle und Gerhard. Hedwig machte etwas hochmütige Augen, als Harro sie sorgsam in die Pelzdecke hüllte, aber als er die Peitsche nahm, um den andern nachzukommen, und er sie strahlend fragte: »Ist es nicht schön, Hedwig, daß alle mich so lieb haben?«, da lächelte sie doch, aber sie hielt sich sehr gerade, vergrub die Hände tief im Muff und sagte nur nachdenklich: »Jetzt wird bald der Frühling kommen ...«

Der Schnee war schon grau und feucht, und von den Fichtenzweigen rauschte hier und da mit dumpfem Laut die brüchige Last herab. Der Westwind zog tief durch sich lockernde Schonungen und wühlte brausend im Hochwald. Vertaute Fährten zogen über die einsamen Wege, und ab und zu leuchtete es blau vom hohen Himmel.

Sie saßen in dem engen Schlitten dicht beieinander. Hedwig, schlank und gerade, blickte mit ihren klaren Augen über die spielenden Ohren des Pferdes auf den verschneiten Weg, über den die leisen Schlitten flogen.

»Eile, mein Pferd ... eile mein Pferd ...« sang Harro halblaut vor sich hin. »Eines Königes Tochter ... fährst du zum Tanz ...«

»Was ist das nun wieder, Harro?«

»Das fiel mir so ein. Ich habe es eben erfunden. Der Waldkrug, das klingt so hübsch, nicht? Hohe Kiefern, über denen der Habicht zieht, Wellen mit weißem Schaum, und oben die Königstochter, die in die Ferne blickt ... Sie werden immer lieb und freundlich zu mir sein, Hedwig, ja? Dann kann ich so froh sein.«

»Weshalb nicht, Harro?« sagte sie und drückte, den Kopf neigend, ihre Wange in den weichen Muff. »Sie haben recht, Waldkrug ist wirklich ein hübscher Name.«

Sie fuhren vor und brachten einen Strom lachenden Lebens in das einsame Haus. In der großen Stube wurde noch einmal geheizt, und die Wirtin stellte fröhlich die Tassen zurecht. Onkel Felix stand am Ofen, Veilchen im Knopfloch, die Hände auf seinen Stock gestützt. »Nun, mein liebes Kind,« sagte er zu dem Dienstmädchen, das aufmerksam in die Kohlen blies, »sagen Sie mal, haben Sie auch einen Schatz?« Das Mädchen lachte und sah schnell zu ihm auf. »Einen Schatz? Ich brauch' keinen Schatz, ich hab' Arbeit genug. Das sind Dummheiten.« Und sie legte vorsichtig ein paar Scheite über die prasselnde Flamme.

»Dummheiten?« Er sah bekümmert über die frohen Gesichter. »Hast du gehört, Maria?« fragte er kopfschüttelnd seine Schwägerin, die mit stillem Lächeln durch allen Aufruhr an den Ofen kam. »Hast du gehört? Dummheiten, sagt sie ... ein sehr merkwürdiges Volk ...«

»Ja, Onkel Felix, wir sind alte Leute ... danke, danke!« Sie ließ sich, noch immer lächelnd, in einem Sessel vor dem Feuer nieder und wärmte ihre Hände.

»Ja, Maria, aber in deinem Hause wird man gern alt ... junge Menschen, und alte Bäume ... und ein warmes Kaminfeuer, und alle die Erinnerungen ... hübsch, sehr hübsch ...«

»Nur, daß es stiller und stiller wird.«

»Nicht wahr? Es ist so merkwürdig, wie still es manchmal ist, und immer kühler, weißt du ... In solchem alten Hause, da sind so viele Türen in den langen Gängen, und wenn man vorbeigeht, in der Dämmerung, da ist es immer, als öffneten sie sich, hier eine und da eine ... und es ruft jemand, ganz leise ... und man horcht ... es war so eine bekannte Stimme ... aber man kann sich nicht erinnern ... und dann sitzt man und denkt, und kommt nie zu Ende ...«

»Woran?« fragte Frau Maria leise.

»An das Leben und ... an das andre ... denn es wird Zeit, es wird Zeit.« Und er zupfte zerstreut ein paar Blätter aus den Veilchen.

Hedwig trat von hinten an den Stuhl ihrer Mutter und neigte sich über ihren Scheitel. »Meine liebe Mama!«

»Ja, mein liebes Kind.«

»Ist es schön im Waldkrug, Onkel Felix? Du siehst so sorgenvoll aus.«

»Ja, ja, meine Liebe«, sagte er langsam, sah sie mit seinen starren Augen an und erwachte dann plötzlich. »Sehr hübsch, sehr hübsch«, fuhr er freundlich fort. »Und weißt du was?« Er ging, auf seinen Stock gestützt, auf sie zu. »Nachher machen wir ein Tänzchen, einen Menuettwalzer, nicht? Und dann brauen wir einen Punsch, süß und heiß wie in alten Zeiten, weißt du? Ja, da muß ich doch gleich ...« Und er steuerte, ein Lächeln um seine sauberen Wangen, eilig und schwerfällig zur Tür, um die Wirtin einzuweihen.

»Also ich sage Ihnen, gnädige Frau, solche Waldkrüge sind etwas Wundervolles!« Und Herr von Santen hob die Lider von den müden Augen und stellte vorsichtig die Zuckerdose zurück. »Einsam, poetisch, primitiv. Mir ist immer so, als träumten sie noch tagelang nach unsrem Verschwinden von dem Glanz, der sie erfüllt hat. Schon im Kriege ist mir das so gegangen. Wenn die Panjemädels uns anstarrten wie ein Wunderbild. Wir ritten auch auf Patrouille immer sehr elegant, wir hielten darauf.«

»Trugen Sie auf Patrouillen auch immer ein Monokel, Herr von Santen?« fragte Harro aufmerksam.

»Selbstverständlich! Es machte einen guten Eindruck ... man stand eben über der Sache.«

Harro sah Frau Magda an, die ihn leicht erstaunt betrachtete.

»Das ist sehr merkwürdig«, sagte er nachdenklich.

Frau Maria lächelte, und Herr von Santen hob das Glas ans Auge. »Bitte?«

»Also wir glauben es gern, Herr von Santen,« sagte Magda fröhlich, »daß es einen guten Eindruck machte. Aber jetzt wird Onkel Felix einen Punsch brauen, und wir werden tanzen. Können Sie tanzen, Harro?«

»Nein.«

»Also werden wir es Ihnen beibringen.«

»Liebe Schwägerin«, sagte Onkel Felix eifrig. »Darf ich dich bitten, mir zu assistieren? Ein Punsch ist immerhin ... ein Kunstwerk.«

Der Tisch wurde abgeräumt und zur Seite gestellt. Herr Bender spielte langsam ein paar Walzertakte.

»Also, bitte, mein Prinz!«

Harro trat befangen in die Mitte des Raumes. Frau Magda hob lächelnd mit beiden Händen ihr grünes Kleid über die Füße und sah auf ihre spiegelnden Schuhe mit den gekreuzten Spangen. »Ich bitte aufzupassen ... eins ... zwei drei! Eins ... zwei drei! Es ist so einfach, nicht? Und wer Musik in der Seele hat, muß es gleich begreifen.« Sie sah zärtlich zu ihm auf und drehte der Gruppe am Ofen den Rücken.

Harro sah verwirrt auf den schwarzen Flor der Strümpfe, der die zarten Knöchel schimmernd umschloß. »Nun?« fragte sie, »können Sie schon?«

»Bitte, noch einmal.«

»Eins ... zwei drei! Eins ... zwei drei, nicht?«

Er tat die Schritte nach, während Herr Bender die Melodie wiederholte.

»Nun, sehen Sie, wie es geht! Es liegt Ihnen im Blute ... so ... so war's ganz richtig. Nun wollen wir zusammen versuchen, ganz langsam ... Aber etwas näher müssen Sie schon kommen, Harro. Ich tue Ihnen wirklich nichts zuleide ... so ... jetzt!«

Harro drehte sie, unsicher, aber nie den Rhythmus verlierend, langsam durch das Zimmer. »Es geht schon sehr gut, nicht wahr?« fragte er fröhlich und sah auf.

Sie hob die langen Wimpern, die ihr Gesicht so kindlich machten. »Wundervoll geht es mit Ihnen, Harro! Wundervoll!«

Am Klavier brausten plötzlich die Akkorde auf. Harro lächelte, ohne Gedanken. Da neigte sich Frau Magda unmerklich zu ihm, schob die Schultern ganz leise nach vorn und flüsterte mit demselben Lächeln: »Wollen Sie mich verzaubern, Harro?«

Da schlug er langsam die Augen nieder. Vor ihren gesenkten Schultern hob sich der schwere Samt, und Harro blickte auf die dünne Kette und das goldene Medaillon, das tief auf Magdas Brust sich schimmernd unter dem grünen Kleide hob und senkte.

»Ich ... kann nicht mehr ... später, bitte ...«

»Sie werden es bald lernen«, erwiderte sie und ließ ihn frei.

Herr von Santen verbeugte sich vor ihr, und Harro ging zum Ofen. Als er an Hedwig vorbeikam, traf ihn ihr Blick mit so schneidendem Haß, daß er erblaßte. Aber er ging vorüber und setzte sich an das Feuer. In jähem Schwindel lehnte er den Kopf an Frau Marias Schulter. »Es ist alles gleich,« dachte er, »alles gleich ... aber ich muß das Medaillon küssen ...«

Es wurde ein sehr fröhlicher Abend. Onkel Felix wanderte zu wiederholten Malen, auf den Stock gestützt, freundlich durch den Raum, ließ sich versichern, daß der Punsch wundervoll sei, fragte das Mädchen noch einmal eindringlich, ob sie keinen Schatz habe, wurde aber nicht bekümmert, sondern blieb heiter und teilnehmend. Harro trank ihm lächelnd zu und erhielt von Zeit zu Zeit von Magda einen schnellen Blick, der ihm schwer wie Wein durch alle Glieder rann. Er tanzte übermütig mit Herrn Bender und spielte ungarische Tänze mit so viel Leidenschaft, daß Frau Maria ihm das wirre Haar aus der Stirn strich und seine heißen Wangen zwischen ihre kühlen Hände nahm. »Harro, du bist so erregt. Was ist dir?«

»Ich bin so glücklich, Mutter.«

Es wurde spät, bis sie zum Aufbruch rüsteten. »Kinder,« sagte Onkel Felix und hüllte sich kopfschüttelnd in seinen Pelz, »das Leben ist doch ab und zu ganz scharmant ...« Und er schob sich langsam ins Nebenzimmer, um mit zitternden Händen fürstliche Trinkgelder zu verteilen.

»Mama,« sagte Hedwig ruhig, »ich möchte mit dir fahren. Ich fürchte, daß Harro umwirft.«

»Ja? ... Aber Onkel Felix?«

Magda knöpfte langsam ihren Pelzmantel zu. »Nun gut, dann fahre ich mit Harro. Ich fürchte mich nicht, und Herr von Santen erzählt Onkel Felix Kriegsgeschichten.«

Onkel Felix saß schon mit hochgeschlagenem Pelzkragen im Schlitten. »Du verzeihst, liebe Schwägerin, aber meine Füße ...«

»Keine Ursache!« unterbrach ihn Herr von Santen schlecht gelaunt und zog die Pelzdecke um seine Füße.

»Ach, ich dachte, das sei Frau von Gontermann ... sehr merkwürdig ... diese Punschrezepte ...« Und er vergrub kopfschüttelnd seine Hände im Jagdmuff.

»Danke, danke, Harro! Ich sitze so warm!« sagte Magda und schlug mit einem tiefen Atemzuge den Schleier zurück.

Dann fuhren sie ab.

Die Luft war feucht und warm. Es tropfte von den Zweigen, und wenn der Wind verschlafen durch die Kronen ging, rauschte es wie ferner Regen in den weichen Schnee. Der Himmel war dunkel, aber der Schnee gab ein mattes Licht, daß man die Gesichter erkennen konnte. Der nächste Schlitten lief immer wie ein dunkles Tier den Weg entlang, und die feuchten Kiefernstämme glitten schwarz an den Pferden vorbei, während die Kronen im Nebel verschwammen.

Harro hielt mit müden Händen die Leine und blickte auf den gleitenden Rücken des Pferdes. Ein rieselnder Strom floß von der Seite in seine Glieder hinein, hob sich zum Herzen und sank zurück. »Es blühen ... es blühen die Gärten ...« Nie gehörte Worte, nie vernommene Melodien erfüllten ihn, und sein Herz war schwer, wie gebeugte Zweige unter reifender Frucht. Und immer nur die lastende Stille, in der die Hufe des Pferdes dumpf in den feuchten Schnee schlugen. Und der immerwährende Duft, der aus Haar und Kleid wie aus blühenden Gärten stieg.

»Harro,« sagte sie leise, »Sie sind so still?«

Er schwieg.

»Harro?« Sie beugte sich vor. »Fahren Sie nicht gern mit mir?«

Er schluchzte auf, einmal nur und kaum hörbar.

»Lieber ... o du mein Lieber!« Sie zog ihn zu sich nieder, daß sein Kopf an ihrer Brust lag und küßte ihn auf die zuckenden Lippen. Und trank bewußtlos die Glut seiner Küsse, bis ein Schwindel sie überfiel und sie sich schweratmend aufrichtete.

Da ließ er langsam die Hände von ihrem Körper. »Muß ich jetzt ... fort vom Schloß?«

Sie lachte nur leise und wehrte sich gegen ihn. »Nein,« flüsterte er sinnlos, »Magda ... ich muß dein ...«

»Was mußt du?«

»Ich muß dein Medaillon küssen.«

Sie zauderte, nur einen Herzschlag lang. Dann gab sie ihm, was er verlangte.

»Genug, Harro, genug ... mich schwindelt.« Ihr Gesicht war totenblaß, und sie lehnte sich schwer an seine Schulter. Schweigend fuhren sie durch die Nacht.

Als sie in die Kastanienallee bogen und der tiefe Westwind lauter brausend über die Felder zog, richtete er sich auf. Schwellendes Lebensgefühl floß mit seinem Atem in seine Brust, als ob die Tore der Jugend dröhnend aufgesprungen wären und seine Blicke daseinstrunken über schäumendes Meer sich spannten.

»Hörst du, Magda? Hörst du? Die blauen Schwingen, wie sie rauschen?«

»Harro, du mußt warten, bis zum Frühling ... später, ich will barmherzig sein, mein lieber Junge ...«

»Und jetzt?«

»Jetzt mußt du mich in Sehnsucht lieben, wie die Pagen alle.«

»In Sehnsucht,« flüsterte er, »in Sehnsucht ...«


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