Ernst Wiechert
Der Wilddieb
Ernst Wiechert

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Pawils Lauronat blieb verschwunden. Vergeblich spürte die Polizei ihm überall in den Häusern am Moor und in den Fischerdörfern am Haff nach. Die wenigen Gendarmen, über welche sie verfügte, reichten zu einer planmäßigen Verfolgung nicht aus. Meilenweit Wald und Sumpf. Wenn er dorthin geflüchtet war, wie konnte der Fang glücken, falls nicht der Zufall half?

An eine wirksame Unterstützung durch die litauischen Bauern und Fischer war nicht zu denken. Sie billigten nicht die Tat, aber sie hatten doch ihre besondere Meinung darüber. »Lauronat hat den Juden erschossen –«, ging es von Mund zu Mund; darin sprach sie sich zum Teil schon aus. Der Jude hatte für sie keinen Namen – er war eben der Jude schlechthin. Sie konnten dem alten Hirsch nichts Böses nachsagen, aber er war der Mann, der das Geld hatte, und sie waren die Armen, die es immer brauchten. Sie wußten, daß ihnen durch seinen Tod nicht geholfen werden konnte; aber es erschien ihnen doch wie eine Art von Vergeltung für allerlei eigene Unbill des Schicksals, daß einer den Mut gehabt hatte, die seinige blutig zu rächen. Es fiel ihnen kaum ein, zu untersuchen, ob Lauronat selbst sein Unglück verschuldet, ob der Jude ihm ein Unrecht zugefügt hatte, ob irgendeine menschliche Pflicht verletzt und eine Sühne herbeigeführt sei: Lauronat war ein Litauer, und der Jude ein Jude, und was geschehen war, war nun einmal geschehen. Es stand ja auch fest, daß Lauronat Haus und Hof verlieren sollte, und daß ihm sogar verwehrt wurde, sein Eigentum zu zerstören und über das alte Holz nach Gefallen zu verfügen. »Jeder wehrt sich, wie er kann, und rettet, was noch zu retten ist.« Darüber dachten sie gerade wie er. Auf einen Menschen mehr oder weniger kam es auch nicht viel an, und nun gar auf einen Juden ...

Etwas anders sah die Sache schon aus, als die Söhne des Ermordeten fünfhundert Mark für den zur Verfügung stellten, der Lauronat gefangen dem Arme der Gerechtigkeit überliefern würde, und der Staatsanwalt nun in allen Schankstuben ein Plakat anschlagen ließ, das diese Belohnung zusicherte. Fünfhundert Mark waren für jeden eine große Summe, für manchen armen Teufel ein Kapital, das ihn fürs Leben glücklich machen konnte. Schade um Lauronat, aber – jeder ist sich selbst der Nächste. Die Lockung war groß und die Versuchung nicht gering. Hätte man ohne Gefahr an ihn kommen können, diesem oder jenem, der noch nie so viel Geld in der Hand gehabt, würde das Gewissen nicht hinderlich gewesen sein. Aber man hatte es mit dem »Starken« zu tun. Ein einzelner war ihm nicht gewachsen, und wenn mehrere sich zusammentaten, minderte sich der Lohn. Auch dann konnte man noch nicht wissen, was geschah. Daß Lauronat seine Freiheit teuer verkaufen würde, konnte nicht zweifelhaft sein.

Aus der Welt war er nicht gegangen, nicht einmal aus dem nächsten Bezirk. Aber dieser nächste Bezirk war die meilenweite Ibenhorster Forst, die sogar dem Elch noch naturwüchsig genug erschien. Daß er dort hauste, nahmen die Förster als gewiß an; ihnen konnten die Spuren der Wilddieberei nicht entgehen, die jetzt ganz besonders schwunghaft und keck betrieben wurde. Alle Wachsamkeit nützte nichts; manchmal in der Nacht fielen Schüsse unweit der Forsthäuser. Bald glaubten sie sich zu überzeugen, daß eine ganze Bande tätig war, die wohlorganisiert sein mußte und einem Oberbefehl gehorchte. Es lief auch überall das Gerücht um, Lauronat habe die verwegensten Wilddiebe an sich gezogen und kommandiere sie wie ein Räuberhauptmann. Sie hätten ein verstecktes Lager im Walde, das auch die Förster nicht zu finden wüßten, und wären entschlossen, jeden über den Haufen zu schießen, der sie anzugreifen wagte. Mitunter wurden in den Dörfern unter Drohungen Lebensmittel requiriert; an einer angezeigten Stelle sollte dafür Wild zu finden sein und wurde stets auch gefunden. Es kam auch vor, daß einem Kinde ein Zettel in die Hand gesteckt war, auf dem geschrieben stand, was man brauchte und einzutauschen beabsichtigte. Das Verlangte wurde nach dem Versteck gebracht, wo sich der Empfänger nie blicken ließ, das Wild verheimlicht und weiter ins Land hineingeschafft. Der Polizei Anzeige zu machen, hielt niemand für geraten. Öfter als sonst kamen in der Gegend Brände vor, und man munkelte, das Feuer sei aus Rache angelegt. Blieb das auch unbewiesen, so mochte man doch Haus und Speicher keiner Gefahr aussetzen. Aber was geschah, war öffentliches Geheimnis, und im Landratsamte wurde ernstlich in Erwägung gezogen, wie diesem Unwesen zu steuern sei.

Eines Abends spät, als der Pfarrer mit der langen Pfeife in der Hand in seinem Garten auf und ab ging, die Predigt zum nächsten Sonntag vorzubereiten, trat unvermutet ein Litauer an ihn heran, der ihm seiner ungewöhnlichen Länge wegen gleich auffallen mußte.

»Du kennst mich doch?« fragte dieser, ganz demütig seine Mütze abziehend.

»Lauronat!« rief der Pfarrer, indem er ängstlich zurückwich.

»Ja – Pawils Lauronat,« bestätigte jener, »derselbe, der den Juden erschossen hat. Du weißt doch.«

»Was willst du von mir?«

»Sei ohne Furcht, es geschieht dir nichts. Ich wollte dich nur fragen –«

Der Geistliche sah sich um, ob er jemand zur Hilfe herbeirufen könnte. Lauronat merkte seine Absicht und legte den Finger an den Mund. »Zu fangen bin ich nicht,« sagte er, »aber einem, der's versuchte, könnt's schlecht gehen – das wäre dann seine Schuld und deine.«

»So sprich.«

»Ich wollte dich nur fragen, Herr Pfarrer, ob es wirklich eine so große Sünde ist, daß ich den Nathan Hirsch totgeschossen habe.«

»Einen Menschen –!« rief der Geistliche verwundert.

»Doch nur einen Juden«, fügte der Litauer hinzu.

»Ist ein Jude kein Mensch?«

»Ja – – aber die Juden haben den Herrn Christus ans Kreuz gebracht. Er hat schwer gelitten bis Sonnenuntergang.«

»Und deshalb willst du befugt sein –«

»Der alte Nathan ist gleich auf der Stelle tot gewesen. Nicht eine Minute hat er sich gequält. Er hat nicht einmal –,« er stockte und schüttelte sich ein wenig, wie von einem Schauer erfaßt –, »er hat nicht einmal Zeit gehabt, die Augen zuzumachen.«

»Soll dir das zur Entschuldigung dienen, Pawils? Du hast Menschenblut vergossen – vielleicht in der Erregung des Augenblicks, im Zorn, im Trunk ... Ich weiß nicht, ob der Richter dein Verbrechen für todwürdig erachten müßte. Aber eine schwere Sünde hast du begangen, und sie drückt auch schon schwer dein Gewissen, sonst kämst du nicht zu mir.«

Lauronat starrte vor sich hin. »Es ist nicht so ... Nein! Nur weil ich immer das Gesicht mit dem weißen Bart und den offenen Augen sehe – im Wachen und Schlafen ... Es ist eine Krankheit. Und ich komme zu dir, um zu hören, ob du nicht ein Mittel dagegen kennst?«

»Reue und Buße, Pawils – ein anderes Mittel gibt's nicht«, sagte der Pfarrer überzeugt.

»Das ist schlimm,« sprach der Litauer leise vor sich hin, »es geht mir schon schlecht genug, und leid kann mir's doch nicht tun um so einen. Du hast selbst gesagt, Gott hat die Juden zur Strafe ausgestreut über alle Länder der Erde!«

Dem Pfarrer war längst die Tabakspfeife ausgegangen. Er hatte sie in der Mitte angefaßt und gestikulierte nun so lebhaft damit, daß die grünseidenen Troddeln um die Spitze schwenkten. »Ich habe aber auch gesagt,« fiel er eifrig ein, »daß wir Gott das Gericht lassen sollen in Ewigkeit. Hab' ich das nicht gesagt?«

»Ja – das hast du wohl gesagt«, antwortete Lauronat kleinlaut. Er stand noch eine Weile unschlüssig. »Du meinst also, daß der liebe Gott mir doch den Juden anrechnen wird – da oben?«

»Gewiß! Nach seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Bete, Pawils, bete! Damit dich nicht einmal deine letzte Stunde unvorbereitet trifft.«

Lauronat ergriff seinen Arm und bückte sich, einen Kuß darauf zu drücken. Aber der Pfarrer zog ihn fort. »Laß das,« verwies er, »du machst damit nichts besser.«

Er zögerte noch. »Ich hab' ein Reh in deiner Küche abgegeben,« sagte er, »nimm's zum Dank für deinen Rat, Herr.«

Ehe der Geistliche noch darauf antworten konnte, war der Litauer seinen Blicken entschwunden. Sehr aufgeregt trat er ins Haus. Er gab sogleich Befehl, daß das Reh auf dem Amt abgegeben würde. In seinem Arbeitszimmer schrieb er dann einen umständlichen Bericht an den Staatsanwalt.

Lauronat ging übers Feld dem Moore zu. Er vermied auch das Dorf Iblauken und gelangte in weitem Bogen zum Torfhause. Innen war's ganz dunkel. Er klopfte ans Fenster, dreimal mit kurzen Unterbrechungen und jedesmal mit zwei schnellen Schlägen, das war das verabredete Zeichen. Dann wartete er an der Tür, bis sie geöffnet wurde. »Bist du's Pawils?« fragte Lenke.

»Ich bin's«, antwortete er.

»So komm rasch herein. Die Nachtluft ist kalt.«

Er bückte sich und trat durch die niedrige Tür, sie hinter sich zuziehend.

»Soll ich Licht anzünden?«

»Nein – ich gehe gleich wieder.«

»Was willst du denn so spät?« fragte sie. »Mich friert. Ich muß mir ein Tuch umbinden. – Nun?«

»Ich hab' dieses Leben satt, Lenke.« Er suchte mit der Hand nach dem Schemel und setzte sich. »Tag und Nacht keine Ruhe – gehetzt von den Förstern und Gendarmen ... Wie lange dauert's noch, da fallen mir die Kleider in Fetzen vom Leibe – ich kann dann nicht mehr fort. Lieber gleich. Der Jude gibt mir auch hier keinen Frieden – mit seinen großen Augen ist er überall, und der Pfarrer sagt ... Das ist ein dummes Gerede. Aber bleiben kann ich nicht. Wer weiß auch ... Es ist viel Geld auf meinen Kopf gesetzt, und einem von den Schuften, die bei mir sind, könnt's doch einfallen ... Ich will über das Wasser –«

»Nach der Nehrung?«

»Nein, nach Amerika.«

»Ach –!«

»Da kennt mich keiner und ich kann arbeiten und meinen Kindern etwas schicken – und ich denke auch, die Augen des alten Juden reichen nicht so weit.«

»Was sprichst du doch – ? Du kannst einen graulich machen.«

»Es ist nur nicht so leicht fortzukommen. Überall wird mir aufgepaßt. Und ich muß auch erst auskundschaften, ob von Memel ein Schiff abgeht. Das kann ich vielleicht in Ruß erfahren. Wir haben da gute Freunde. Jedenfalls komm' ich übermorgen um diese Zeit, dir zu sagen, wie's steht, und Abschied zu nehmen und das Geld zu holen –«

»Das Geld?«

»Ja. Es liegt doch noch unter dem Herde?«

»Gewiß – es liegt da. Du hast aber gesagt, es gehört mir so gut wie dir.«

»Ich konnte doch nicht wissen ... Und jetzt brauch' ich's nötiger, wie du. Wie soll ich ohne Geld nach Amerika kommen? Von dort schick' ich dir mehr als das.«

Sie schien zu bedenken. »Übermorgen um diese Zeit?« fragte sie.

»Ja, dann kann ich reisefertig sein. Oder wenn du mir das Geld gleich geben willst –«

»Nein, nein! Wozu? Sie können es dir fortstehlen. Hole es nur, wenn du es wirklich brauchst. Ich denke, du besinnst dich noch anders.«

Er schwieg und stand auf.

»Also übermorgen um diese Zeit.«

»Ja. Ich klopfe wieder an. Halte das Geld bereit.«

Lauronat tappte nach der Tür und verließ die Hütte.

Am nächsten Tage bald nach Mittag hatte Lenke Kalbis einen sehr merkwürdigen Besuch. Moses Hirsch kam zu ihr; sein Bruder Jakob hielt mit dem Fuhrwerke hinter dem Birkenwäldchen am Dorfe. »Ich denke, du kennst mich«, sagte er.

Das bestätigte sie lachend. »Willst du mir die Kate abkaufen?«

»Nein,« antwortete er, »aber du kannst viel Geld verdienen, wenn du klug bist.«

»Da wär' ich doch neugierig.«

Moses Hirsch meinte, sie wisse wahrscheinlich noch nicht, daß er und sein Bruder und sein Schwager kürzlich den Lohn für den, der Lauronat gefangen einbrächte, verdoppelt hätten. »Tausend Mark sind zu verdienen.«

Lenke stieß einen Laut der Verwunderung aus: »Tausend Mark –«

»Wenn du wolltest ...«

»Ich?«

»Du wirst es ja ableugnen, und bewiesen kann's nicht werden. Aber für uns ist kein Zweifel, daß du weißt, wo der Mörder steckt, und wie man an ihn kann. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß er mitunter zu dir kommt – und jedenfalls wird er kommen, wenn du ihn lockst.«

Sie sah ihn erschreckt an. »Aber wer kann das sagen?«

»Ich sag's, und es hört's niemand. Warum willst du's bestreiten? Ich weiß doch, was ich weiß. Und ich weiß auch, daß tausend Mark sind für dich ein Reichtum. Weshalb soll sie ein anderer haben? Lange halten kann er sich doch nicht in der Forst. Mir ist's gleich, wer ihn der Justiz überliefert; ich tu' nur, was ich schuldig bin meines Vaters Andenken und der Gerechtigkeit. Ich habe keinen Schlaf, bis die Mordtat ist gerächt nach dem Gesetz. Willst du mir dazu helfen, so verbürg' ich dir den Lohn. Was geht dich der Mann an? So hübsch und jung du bist – für tausend Mark kannst du dir einen aussuchen nach deinem Gefallen. Überleg's und entscheide zu deinem Besten.«

Lenke war blutrot geworden und hatte dann wieder die Farbe verloren. Mit hastenden Fingern flocht sie an dem blonden Zopfe, der ihr nach vorn über die Schulter gefallen war. Die Blicke hafteten am Boden und die Wimpern waren in flimmernder Bewegung. Sie überdachte blitzschnell, was zu tun sei. Sie war dem langen Menschen recht gut, recht gut – aber er wollte fort, weit fort außer Landes, und sie würde ihn nie mehr sehen. Und das Geld nimmt er mit ... Und sein Sinn ist schon verändert ... Wenn sie ihn fangen, ist's doch aus – und sie werden ihn fangen. Warum also nicht? Die Finger zuckten begehrlich. Nun fing aber auch das Herz zu pochen an, die Stirn krauste sich – sie schüttelte den Kopf. »Du irrst,« sagte sie, »ich weiß von Lauronat nichts ich sehe und spreche ihn nicht. Wahrhaftig, du irrst.«

»Wie du willst«, antwortete Moses Hirsch, sich abwendend. »Ich dachte, die tausend Mark wären dir ein lieberer Schatz als der. Helfen kannst du ihm doch nicht. Aber wenn du Bedenken hast ... ich will dich nicht überreden.«

Er grüßte kurz und ging. Nach hundert Schritten sah er zurück. Lenke stand noch auf derselben Stelle. Sie hatte den Kopf gesenkt und den Daumen der rechten Hand zwischen die Zähne gesteckt. Soll ich – soll ich nicht? Sie ließ Moses Hirsch noch hundert Schritte weiter gehen. Dann – mit einem raschen Entschluß sich losreißend – eilte sie ihm nach. Er blieb stehen und wartete auf sie. »Du hast recht,« zischelte sie ihm zu, »ich kann ihm doch nicht helfen. Morgen – zwischen zehn und elf – hat er versprochen, zu mir zu kommen. Wer vorher zu mir kommt, den will ich einlassen.« –

Lauronat hielt Wort. Er klopfte dreimal, wie verabredet, ans Fenster und ging dann nach der Tür. Sie wurde nach einer kleinen Weile von innen her geöffnet. Kaum war er in den finsteren Raum getreten, als ihn rechts und links kräftige Arme packten. »Da haben wir den Schurken,« rief eine männliche Stimme, »Licht – Licht!« Ein Streichhölzchen flammte hinten im Winkel auf. Lauronat sah, daß zwei Gendarmen ihn gefaßt hatten. Der das Licht auf dem Tisch anzustecken versuchte, war Moses Hirsch, und neben ihm stand sein Bruder Jakob. »Ha verraten!« schrie er auf. Im Augenblick lähmte ihn die fürchterliche Gewißheit.

Der Docht faßte nicht sogleich. Es wurde wieder dunkler, bis das Flämmchen sich allmählich vergrößerte.

In dem engen Raum entstand ein wütendes Ringen. Die beiden sehr kräftigen Gendarmen faßten Lauronat am Halse und suchten seine Hände festzuhalten und aneinander zu bringen. Jakob Hirsch stürzte mit einem Strick auf ihn und war bemüht, ihm die Schlinge überzuwerfen. Nun aber wehrte sich der Litauer, der rasch die volle Besinnung wiedergewonnen hatte, mit aller Macht. Die Gefahr steigerte noch seine Kraft. Mit einer scharfen Drehung machte er seinen rechten Arm frei und versetzte damit seinem Gegner auf dieser Seite einen so heftigen Schlag gegen die Brust, daß er taumelte und nach Atem rang. Jakob Hirsch stieß er mit dem Knie zurück. Die freigewordene Hand griff nach der Kehle des anderen Gendarmen und drückte sie fest zu. Dieser mußte seinen Hals loslassen, um erst selbst den Angriff abzuwehren. Mit einem heftigen Rucke schüttelte Lauronat ihn gänzlich ab und warf ihn zu Boden. Er hätte jetzt entfliehen können, wenn die Tür nicht zugefallen gewesen wäre. Gegen diese wich er zurück; zugleich ergriff er den Schemel, der umgeworfen und über den Boden gerollt war, hob ihn drohend und schrie: »Wer mir in die Nähe kommt, ist des Todes!« Mit der linken Hand griff er hinter sich und suchte die Tür aufzuziehen; es gelang aber nicht. Nun hatte der erste Gendarm den Säbel gezogen, der andere sich aufgerafft, auch die beiden Juden gingen mutig vor. In wenigen Sekunden mußte der ungleiche Kampf mit der Niederlage des Litauers geendet haben. Er selbst konnte sich darüber nicht täuschen; was er noch zu seiner Verteidigung tat, war nur ein Gewaltstreich der Verzweiflung. Mit dem Schemel fing er den Säbelhieb auf, dann schleuderte er ihn mit furchtbarer Wucht gegen die Köpfe der Angreifer. So gewann er ein wenig freien Raum. Er wußte, daß der Türpfosten nur schwache Verbindung mit der Torfwand hatte. Mit der Schulter gegen die Tür anlaufend, drückte er ihn zusamt derselben nach außen hinaus. Die Bretter brachen krachend zusammen. Er selbst fiel über sie hin, behielt aber Zeit, sich wieder aufzurichten. Mit einer gellenden Lache stürzte er fort in das Dunkel. Die Gendarmen fluchten mit den Juden um die Wette hinter ihm drein.

Lauronat trieb sich die ganze Nacht in der Heide, im Moor und im Walde umher. Eine tiefe Traurigkeit befiel ihn. Lenke hatte er nicht gesehen; sie hielt sich hinter dem Bretterverschläge versteckt oder war fortgegangen. Aber er zweifelte keinen Augenblick an ihrem Verrat. »Die Bestie –,« knirschte er, »sie hat mich verkauft! Das Geld unter dem Herde und das Geld der Juden – ah, du Hundsblut!« Auf sie hatte er sich verlassen, und sie zuerst verriet ihn.

Am Morgen fühlte er sich ganz mutlos, ganz gebrochen. Wohin – wohin? In Ruß hatte er an einer Mauerecke das Plakat gesehen, inhaltsdessen für seine Ergreifung der doppelte früher versprochene Lohn zugesichert wurde. Wenn Lenke ihn verriet, wie konnte er den Wilddieben, die seine Gesellen waren, ferner noch Vertrauen schenken? Er hatte sich auch überzeugt, daß es nicht möglich sein würde, über Ruß nach Memel zu entkommen. Die Schiffer, denen er sich entdecken mußte, waren nicht zuverlässig. Über die russische Grenze zu gehen, schien ebenso bedenklich. Wie sollte er sich drüben ausweisen, wo jeder Litauer als Schmuggler verdächtig war? Wohin – wohin?

Todmüde setzte er sich auf einen Stein und stützte den Kopf in die Hände. Er schloß die Augen und ließ allerhand traumhaften Vorstellungen freie Bahn. Busze und die Kinder kamen ihm in Gedanken – die Altsitzer – die beiden Braunen – die Pferdehändler mit der schönen Stute – Keleiwis – die Kahnfahrt mit Jakubs Kalbis – die Elche ... und wie alles so eins aus dem andern entstanden war und sich doch nicht recht erklären lassen wollte. Und da lag wieder der Weißbart auf der Erde und starrte ihn mit offenen, verglasten Augen an – der alte Jude ... aus der Brust sickerte ihm das Blut. Und hinter sich hörte er ganz deutlich den Pfarrer sprechen: »Reue und Buße – Reue und Buße!«

Er raffte sich auf und ging nach dem Gewehr. Es war geladen. Er überzeugte sich davon und hielt es eine Weile auf der linken Hand vor sich hin, die rechte am Schloß, wie auf dem Anstand. Dann schüttelte er den Kopf und lachte grinsend, setzte den Kolben auf die Erde und richtete den Lauf nach seiner Brust. Wieder schien ihm ein anderer Gedanke in die Quere zu kommen. »Schade um die tausend Mark,« murmelte er, »soll die keiner verdienen?« Plötzlich ruckte er den Kopf zurück. »Ja – das kann geschehen.«

Er stand auf und ging über das Feld auf Gilguhnen zu. Sein Haus fand er noch ungefähr in der Beschaffenheit, in der er es verlassen hatte. Das Dach war nicht wieder aufgesetzt; die Sparren und Balken lagen in großen Stapeln an der Wand, und das Stroh in einem Haufen mitten auf dem Hofe. Die in die Stallwand gerissene Lücke war mit Brettern vernagelt; die im Gärtchen niedergeschlagenen Birken hatte man entästet und zersägt. Lauronat ging um das Haus herum und trat durch den Pfeilergang in den Flur ein, der keine Bedachung hatte, dann in die große Stube. Hier waren über die Deckbalken Bretter geschoben, um den Regen abzuhalten. Im Bett lag Stroh; in der Ecke nach den Fenstern hin stand der Tisch vor der in der Wand befestigten Bank.

Dort saß Busze mit den Kindern. Es war noch früh. Sie verzehrten ihr Morgenbrot und löffelten aus einer am Rande eingebrochenen Schale eine Suppe. Die Frau sah vergrämt aus und handhabte den Löffel langsam, kaum an das Nächste denkend. Als die Tür knarrte, blickte sie um und ließ ihn auf den Tisch fallen. »Pawils –,« rief sie, »mein Gott – du? Kinder – der Vater!«

Sie liefen ihm entgegen. Er küßte sie und nahm sie mit sich zur Mutter. Ihr reichte er die Hand, die Augen waren ihm feucht. »Wie geht's euch?« fragte er.

»Schlecht, schlecht,« antwortete sie, »wir müssen froh sein, daß man uns noch nicht ausgetrieben hat. Dir aber geht's noch schlechter –«, sie hielt nur mit Mühe das Weinen zurück.

»Sorge nicht um mich«, sagte er. »Es kann sein, daß ich's verschuldet habe. Vielleicht ... Wer denkt im voraus an alles? Um die Kinder tut's mir leid. Wenn ich denen ...« Er setzte sich und hob sie auf sein« Kniee. »Habt ihr noch das Schreibzeug und ein Stück Papier?«

Es fand sich ein Schulheft mit einigen reinen Blättern vor, und in der Ecke des Wandschranks auch ein Fläschchen mit Tinte, eine alte Stahlfeder und ein Stückchen Siegellack; der Winkelschreiber hatte die Sachen gebraucht, wenn er Eingaben anzufertigen kam. »Willst du schreiben?« fragte Busze verwundert.

»Ja,« antwortete er, »darum komm ich nach Hause. Es ist etwas sehr Wichtiges und muß gleich fort. Mache dich zu einem Gange bereit.«

»Ich soll – weggehen«, wendete sie schüchtern ein, »und du ...«

»Ich bleibe hier, bis du zurückkehrst«, entgegnete er. »Aber es ist ein weiter Weg, du wirst ein paar Stunden brauchen. Dafür bringt er sich auch ein. Wenn du Glück hast, bringst du tausend Mark mit.«

Busze betrachtete ihn scheu. Sie fürchtete, es sei in seinem Kopfe nicht ganz richtig, aber sie sagte nichts, sondern zog die Jacke an, die an dem kahlen Bettpfosten hing, und knüpfte das schwarze Tuch um den Kopf zurecht.

Währenddessen schrieb der Mann am Tische mit großen lateinischen Buchstaben in litauischer Sprache auf das Blatt: »Der Wirt Pawils Lauronat, der den Juden erschossen hat, sitzt jetzt in seinem Hause zu Gilguhnen. Die Herren können ihn dort gefangennehmen. Die Anzeige macht die Frau Busze Lauronatene, die es weiß. Sie erhält dafür die tausend Mark, die von den Juden auf seinen Kopf gesetzt sind. Warum sie's tut, das geht keinen was an. Sie bekommt das Geld.«

Er schwenkte das Blatt, bis die Schrift trocken war, legte es klein zusammen und verschloß den Brief mit dem Siegellack, so daß die Kanten nur oben zusammenhielten. Obenauf schrieb er: »Pons Staatsanwalts.« Dann reichte er ihn seiner Frau. »Der Herr Staatsanwalt wird auf dem Gerichte sein«, sagte er ganz ruhig. »Geh' zu ihm und laß dir den Brief nicht von einem anderen aus der Hand nehmen. Was darin steht, ist eine wichtige Sache, die soll kein anderer erfahren. Wenn er dich aber ausfragt, so sage nur: es steht alles richtig im Brief, und weiter nichts.«

Busze nickte. »Mir ist so angst«, sagte sie. »Bleibst du jetzt bei uns? Aber wie kann das sein? Sie suchen dich ja.«

Er reichte ihr wieder die Hand. Ihre Frage beantwortete er nicht. Nach einer kleinen Weile ließ er sie los und kehrt sich ab. Sie ging.

Mehrere Stunden waren verlaufen. Lauronat hatte von dem Brote, das noch auf dem Tische lag, ein kleines Stück gegessen, sich dann auf die Bank gestreckt und geschlafen. Die Altsitzer waren aus ihrer Kammer hereingekommen, aber gleich wieder zurückgegangen, als sie merkten, welcher Gast eingekehrt war. Sie wollten für alle Fälle nichts gesehen haben. Dann, bevor Busze noch wieder zu Hause anlangte, trabten die beiden Gendarmen auf den Hof, sprangen ab und traten rasch ein. Die Kinder versteckten sich und weinten.

Lauronat erhob sich von der Bank und setzte sich aufrecht, die Schulter an die Wand lehnend. Die Gendarmen waren mit Karabinern bewaffnet und hielten sie schußfertig in der Hand. »Jetzt haben wir dich,« sagte der Wachtmeister, »du sollst uns nicht wieder durchbrennen. Ergib dich – du bist unser Gefangener.«

Der Litauer lächelte. »Ihr habt mich, weil ich mich selbst gefangen gebe«, antwortete er. »Der Brief, den meine Frau überbracht hat, ist von mir geschrieben.«

»Von dir?«

»Und sie hat nicht gewußt, was darin stand. Aber sie hat mich angezeigt und bekommt die Belohnung, wenn's nach dem Rechten geht.«

Der Schulze, den die Gendarmen im Vorbeireiten instruiert hatten, kam mit einem Fuhrwerk. Lauronat erhielt den Befehl, sich fertig zu machen. »Wir müssen dich binden«, sagte der eine. »Wer weiß, ob es dir nicht unterwegs leid tut.«

Lauronat zuckte die Achseln. »Laßt mich nur noch von den Kindern Abschied nehmen«, bat er. Er winkte sie heran, küßte sie und sagte ihnen dann, sie sollten der Mutter entgegengehen und sie grüßen und ihr bestellen, daß alles gut sei.

Die Kleinen machten sich eiligst aus dem Staube. Kaum konnten sie die Dorfstraße erreicht haben, als Lauronat unter die Bank griff und sein Gewehr hervorholte. Ehe die Gendarmen zuspringen konnten, hatte er den Kolben auf die Erde gesetzt und die Stirn auf den Lauf gebückt. »Nun braucht ihr mich nicht zu binden«, rief er. Mit dem Fuße drückte er ab. Ein Knall erschütterte das Haus, Pulverdampf erfüllte den Raum. Ein schwerer Körper sank von der Bank auf den Fußboden.

Als die Gendarmen entsetzt zutraten, lag Lauronat mit zerschmettertem Schädel da. Es war kein Leben mehr in ihm.

Der Wachtmeister zog seine lederne Brieftasche unter dem Uniformrocke vor und schrieb den Rapport. »Er behält recht«, knurrte er. »Zu binden brauchen wir ihn nicht.«


 << zurück