Ernst Wiechert
Der Wilddieb
Ernst Wiechert

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Am andern Morgen besah er wieder die Stute. Sie gefiel ihm sehr. Neunhundert Mark war eigentlich ein mäßiger Preis. Doch bot er noch fünfzig darunter. »Besorge nur Geld,« sagte Löwenberg, »wir werden schon handelseinig werden.«

Geld! Lauronat brauchte auch sonst Geld. Es ging so nicht weiter. Wenigstens die kleinen Schulden mußten bezahlt werden, und auch mit dem Altsitzer wär' er gern ins reine gekommen. Keleiwis hatte vor den Juden gewarnt, das reizte ihn gerade, dort anzufragen. Wo sollte er auch sonst anfragen?

Er steckte wie alle seine Landsleute tief in nationalen Vorurteilen, war auch durchaus nicht frei von Aberglauben. Der Jude war ihm, wenn auch immerhin ein Mensch, so doch jedenfalls eine besondere Art von Mensch, auf den er hochmütig hinabsah. Dabei stand ihm allerdings zunächst der russische Jude im langen Kaftan und hoher Mütze vor Augen, den er mit den Wittinnen und Holzflößen so oft stromab hatte kommen sehen, oder die elende und schmutzige Bevölkerung der kleinen russischen Grenzstädte, die er gelegentlich einmal besuchte. Aber die Scheu und Abneigung übertrugen sich auch auf die einheimischen Mitbürger. Hätte man ihm erzählt, daß letzte Ostern in Czibullen ein Christenkind geschlachtet sei, er würde die Möglichkeit nicht in Abrede gestellt haben.

Nun spannte er doch sein Wägelchen an und fuhr dorthin. Er hätte auch gehen können, da der Ort recht nahe war, aber es schien ihm besser, sich dem »weisen Nathan« mit seinen Braunen zu zeigen.

Nathan Hirsch hieß ganz allgemein »der weise Nathan«, auch bei den Litauern. Warum, das wußte niemand zu sagen, und es kümmerte sich auch niemand darum. Die Herren vom Gericht hatten den alten Mann so genannt, weil er ein Jude war und Nathan hieß und also an »Nathan der Weise« erinnerte. Diese Bezeichnung blieb natürlich über diesen engsten Kreis der Studierenden hinaus dunkel. Weise war übrigens ungefähr so viel als klug, und klug war Nathan Hirsch gewiß; es hatte noch keinem gelingen wollen, ihn übers Ohr zu hauen. Es fehlte ihm aber auch nicht an der Ruhe und Bedächtigkeit, die einem bejahrten Manne ein würdiges Ansehen geben, und er galt für einen »durchaus anständigen Geschäftsmann«, ein Begriff, der freilich wieder nur für jene engeren Kreise eine bewußte Bedeutung hatte. Die kleinen Leute sagten allenfalls zu seinem Lobe: er betrügt keinen, wenigstens so lange, als er nachsichtig mit ihnen verfuhr. Das tat er denn auch meist zu seinem eigenen Vorteil. Er war der ländliche Bankier, hatte allerhand Agenturen und gab sich auch mit Vermittlungsgeschäften beim Besitzwechsel von Grundstücken ab. Auf dem Amtsgericht sah man ihn nicht ungern; seine Eingaben hatten immer Hand und Fuß, und auch in verwickelte Angelegenheiten wußte er Klarheit zu bringen. Er war immer bescheiden und nahm's auch nicht übel, wenn man sich einmal einen Spaß mit ihm erlaubte und seinen Jargon nachäffte. Sein Familienleben galt für musterhaft, und daß er sich als ein rechtgläubiger Jude zeigte, rechnete ihm selbst der Pfarrer zur Ehre an.

Er wohnte in Szibullen in seinem eigenen Hause. Es war ein richtiges Bauernhaus von Holz mit hohem Strohdach und blauen Laden, niedrigen Stuben, kleinen Fenstern und Balkendecken, die Türen waren nicht einmal viel besser verwahrt, als die der Nachbarn, nur daß sich innen eine Eisenstange vorlegen ließ. Zu dem Hause gehörten auch einige Hufen Land. Sein Sohn, der Jakob Hirsch, bewirtschaftete sie. Jakob war verheiratet und hatte Kinder. Zur häuslichen Gemeinschaft gehörte aber auch noch ein zweiter lediger Sohn, der Moses Hirsch, der dem Vater im kaufmännischen Geschäft half, und eine verheiratete Tochter namens Esther, deren Mann, Moritz Levy, viel auf Reisen war, mit ihren Kindern. Die große Familie schränkte sich auf vier Stübchen und einige Kammern ein. Die Ökonomie war gemeinschaftlich, die Töchter halfen der alten Frau Rebekka Hirsch in der Küche. Nathan herrschte wie ein Patriarch im Kreise ehrfürchtiger Kinder und Enkel.

Lauronat fuhr mit lustigem Peitschenknallen an dem »Judenhause« vor, sprang vom Wagen herunter, strängte die Pferde auf der einen Seite ab und band die Leine kurz an den Stollen. Die »schöne« Esther fegte den kleinen Flur. Er fragte sie nach Nathan Hirsch und wurde in die Stube gewiesen. Dort saß der alte Mann in einem langen Schlafrock auf dem Lehnstuhl am Fenster. Er trug ein schwarzes Samtkäppchen, weit aus der Stirn zurückgeschoben über dem schneeweißen Haar. Nicht weit von ihm stand Moses an einem Pult und schrieb in einem großen Buch. Er hatte einen Schreibärmel von grauer Leinwand übergezogen. Andere Bücher hatten ihren Platz in einem kleinen Regal an der Wand. Das auffallendste Möbel war ein großer eiserner Geldschrank neben dem Himmelbett, vor dem Rebekka, eine schon etwas gekrümmte Matrone mit schwarzem Scheitel von falschem Haar, am Tisch bei einer Näharbeit beschäftigt war. Der Geldschrank stand offen; das Riegelwerk an der inneren Tür zog sogleich den Blick des Litauers auf sich, so daß er zu grüßen vergaß. Er war hier zum erstenmal.

»Was ist dein Begehr, mein Sohn?« fragte Nathan ihn in seiner Sprache.

Nun wandte sich Lauronat zu ihm. »Ich brauche Geld,« antwortete er dreist, »und komme, mich bei dir zu erkundigen, ob du es mir geben willst – natürlich nicht umsonst.«

»Hm, hm, hm –«, knurrte der Alte, ihn scharf ins Auge fassend. »Du bist der Wirt Pawils Lauronat aus Gilguhnen, wenn ich nicht irre. – Irre ich, Moses?« Er blickte um die Lehne nach seinem Sohn.

Dieser unterbrach seine Arbeit und kehrte sich halb zurück. »Es ist der Wirt Pawils Lauronat aus Gilguhnen, Vater.«

»Ja, der bin ich«, bestätigte der Litauer.

»Ich habe dich auf dem Gericht gesehen – zwei-, dreimal«, fuhr Nathan Hirsch fort, indem er mit dem Kopfe nickte. »Du hattest einen Prozeß mit dem Erdenings, deinem Altsitzer, dem ich einmal die erste Hypothek besorgt habe. Er hat mir gesagt, daß du sein Schwiegersohn bist und hat bitter geklagt über dich, daß du ihm mit Undank lohnst. Ja, ja, das ist mir wohl erinnerlich. Aber meine Augen werden schon schwach – ich konnte doch irren in der Person.«

»Was ich mit dem Erdenings habe, ist meine Sache«, entgegnete Lauronat. »Wenn er über mich klagt, über ihn hätt' ich noch viel mehr zu klagen.«

»Ein schönes Grundstück damals, ein sehr schönes Grundstück. Ich hab's selber in Augenschein genommen für den Tilsiter Herrn. Fast hundert Morgen, nicht wahr?«

»Sechsundneunzig Morgen und die Wiesen. Dazu die Fischerei für den Hausbedarf und die Holzablage.«

»Ja, ja, ein schönes Grundstück und mäßig verschuldet bis auf das Ausgedinge. Und jetzt bist du in Not und brauchst Geld?«

»Ich bin nicht in Not,« entgegnete Lauronat mürrisch, »aber ich brauche Geld, um ein Pferd zu kaufen. Noch diesen Vormittag muß ich's haben.«

»Mußt du's haben – um ein Pferd zu kaufen – noch diesen Vormittag ... ja, ja, ja. Hab' ich recht gehört, daß du ein großer Nimrod bist?«

»Das versteh' ich nicht.«

»Ein großer Jäger, mein' ich – und daß sie dich auch gefaßt haben in der königlichen Forst?«

Der Litauer lächelte, eher geschmeichelt als beleidigt. »Das ist wohl einmal geschehen,« sagte er. »Ich habe die Jagd in Gilguhnen gepachtet, und wenn du als Margritsch einen Hasen in die Küche haben willst ...«

Der Alte wehrte mit der Hand ab. »Wieviel Geld brauchst du denn, Pawils?« fragte er, sich vorbeugend und die Arme auf die Seitenlehnen des Stuhles stützend.

»Nun – tausend Mark.«

»Tausend –!« rief Nathan Hirsch und erhob sich ein wenig. »Gott gerechter – wie leicht dir das vom Munde geht!«

»Die Stute kostet so viel – kostet beinah' so viel«, berichtigte er sich, da der alte Jude ihn mit seinen schwarzen Augen so eindringlich ansah.

»Ist das Pferd eine Stute – und kostet beinah' so viel? Hm, hm! Tausend Mark. Und was davon übrigbleibt –«

»Das brauch' ich, um Kleinigkeiten zu bezahlen, die hängengeblieben sind. Aber was geht es dich an, wozu ich das Geld brauche?«

»Kleinigkeiten – nu ja – Schulden mit Schulden bezahlen – äh! es gefällt mir nicht. Und warum kaufen ein teures Pferd, wenn man das Geld muß borgen?«

»Es bringt sich wieder ein – das ist meine Sache.«

»Kann sein, kann auch nicht sein. Und wenn sich 's nicht einbringt – «

Der Litauer stieß ärgerlich den Peitschenstock auf die Diele. »Was geht es dich an. Sprichst du mit einem Kinde?«

»Ja, was geht es mich an? Weil ich dir rate zur Vorsicht, erzürnst du dich gegen mich. Tausend Mark sind viel Geld. Sie nehmen sich leicht in die Hand und geben sich leicht aus der Hand, aber bis sie wieder zurückkommen in die Hand ... Gut, gut! Du willst nicht hören. Wie denkst du mir denn zu verschreiben die tausend Mark?«

»Pah! Ich bin dir doch sicher.«

»Mit dem Grundstück! Soll's eingetragen werden?«

»Das dauert mir zu lange. Ich muß das Geld heut' haben.«

»Ja, ich vergaß. Heut'! Auf der Stelle! Also gegen Wechsel.«

»Wie du willst.«

»Nicht wie ich will. Ich will nicht. Aber ich muß doch etwas in Händen haben. Weißt du, was ein Wechsel ist, mein guter Pawils?«

»Gewiß weiß ich das.« Lauronat lachte dazu. Er hatte Gelegenheit gehabt, sich solche Papiere anzusehen.

»Auf drei Monate.«

»Meinetwegen. Mach's nur schnell.«

»Du sagst: meinetwegen! so leichthin ... Aber die Frist ist kurz, und wenn sie abgelaufen ist, sag' ich: wo ist mein Geld? und laß mich nicht vertrösten, sondern greife zu. Denn das ist ein Geschäft, und ich will's nicht machen mit Verlust. Bist du sicher, daß du mir gerecht werden kannst, ohne dir selbst zu schaden?«

Lauronat wies auf die Straße hinaus. »Die beiden Braunen allein sind das reichlich wert.«

»Ich glaub's wohl. Und das Grundstück ... ja, ja! so viel Sicherheit ist vorhanden.« Nathan Hirsch guckte wieder um die Stuhllehne nach seinem Sohne. »Können wir machen das Geschäft, Moses?«

Der Buchhalter wiegte den Kopf hin und her. »Wir können's machen, Vater.«

»So schreib' den Wechsel, litauisch und deutsch – tausend Mark nach drei Monaten. Die Zinsen zieh' ich ab im voraus – das ist die Usance bei dem reellsten Geschäft. Sechs Prozent, nicht mehr als üblich. Ich mache kein Geschäft aus Barmherzigkeit, aber ich bin auch kein Wucherer. Und nochmals rat' ich ernstlich ab – meine Frau und mein Sohn sind Zeugen. Glaub' meiner Erfahrung! Es ist nicht gut, Geld zu borgen auf Wechsel. Hinterher kommt oft Heulen und Zähneklappern, und dann heißt's: der Gläubiger ist hart und ein Kehlabschneider, wenn er doch nur zurückhaben will das Seinige. Laß dir nicht die Augen verblenden durch das schöne Pferd – morgen wirst du's vergessen haben – und kaufe erst, wenn du gespart hast. Dann wirst du mit Ruhe –«

Lauronat wurde ungeduldig. »Was machst du für Gerede!« unterbrach er. »Spar' dir deinen guten Rat für einen, der ihn brauchen kann. Willst du mir das Geld geben oder nicht?«

»Such's heraus, Moses«, sagte der Alte. »Er will nicht hören. Lies vor die Schrift und gib sie ihm in die Hand, zu lesen, damit er sich nicht übereilt.«

Es geschah, Lauronat unterschrieb seinen Namen mit ganz fester Hand und strich dann das Geld ebenso ruhig ein, nachdem es ihm Nathan Hirsch wohl dreimal vorgezählt hatte. Er bewegte nickend den Kopf ein wenig und ging zur Tür hinaus, ohne auch nur Adieu zu sagen.

»Vergiß nicht, heut' über drei Monate –« hörte er sich nachrufen. An der Schwelle des Hauses spie er aus. Er dachte sich kaum etwas dabei: es verstand sich ganz von selbst, daß er hinter dem Juden ausspie.

Im Galopp jagte er nach Kaukehmen zurück. Die Pferdehändler wollten eben aufbrechen. Man wurde nun bald handelseinig und trank dann noch mehr als eine Flasche auf das gute Geschäft, das jeder den anderen gemacht zu haben versicherte. Darauf fuhren die Juden sehr lustig ab. Sie wollten zum großen Markt nach Königsberg.

Lauronat kam aus dem Kruge nicht fort, bevor er sich mit dem Krüger nicht verrechnet hatte. Er erschrak, als er hörte, wie hoch seine Schuld schon aufgelaufen sei. Sie ganz zu tilgen, war ihm nicht möglich; fünfzig Mark wenigstens mußte er in der Tasche behalten.

»Bringe nur bald wieder etwas,« sagte der Wirt, »du kommst zu selten.«

Lauronat hielt's für geraten, seine Stute gleich nach Trakehnen zu bringen. Er legte ihr kleine Strohkränze um die zierlichen Fesseln, flocht Schweif und Mähne ein und band sie dicht an den Wagen. Dann fuhr er auf der Chaussee in der Richtung nach Tilsit fort.

Er hatte am nächsten Abend Insterburg noch nicht erreicht, als er bemerkte, daß das Pferd auf dem rechten Vorderfuß lahmte. Er untersuchte das Gelenk und den Huf, fand aber die Ursache nicht heraus. Er meinte, das Tier werde sich einen Stein eingetreten haben, der dann von selbst wieder abgefallen sei, kühlte aber vorsichtig am nächsten Brunnen den Fuß und setzte die Reise langsamer fort. Das Lahmen jedoch nahm zu, und das Fesselgelenk wurde dick. In der Stadt wartete er den nächsten Morgen ab. Das Pferd hatte schlecht gefressen. Nun blieb Lauronat doch nichts übrig, als den Tierarzt zu befragen.

Der untersuchte den kranken Fuß genau, verordnete Umschläge und meinte, er müsse jedenfalls einige Tage Ruhe haben. »Übrigens –«, sagte er, mit Kennerblick die Stute betrachtend, »den Fuß da hab' ich schon einmal vor sechs Wochen in Behandlung gehabt.«

Lauronat horchte mit ängstlicher Spannung. »Vor sechs Wochen – in Behandlung –?«

»Ja. Das Pferd gehörte damals einem Besitzer Neuendorf aus Jodolischken. Hast du es von ihm gekauft?«

»Nein, von den Juden. Sie haben mich betrogen!« Er nannte die Händler.

»Das Pferd wird durch verschiedene Hände gegangen sein, bis es zu ihnen gekommen ist«, meinte der Tierarzt. »Du kannst nicht behaupten, ,daß sie von der Krankheit gewußt haben. Sie gelten sonst als ehrlich. Was hast du gegeben?«

»Achthundertundfünfzig Mark.«

»Der Preis ist allerdings verdächtig, gering, wenn das Pferd fehlerfrei wäre ... Hoffentlich wird die Geschwulst bald wieder weichen und später auf der Weide nicht zurückkehren. Aber ein paar Tage muß das Tier unbedingt stehen und dann in ganz kleinen Tagemärschen transportiert werden. Es besticht sehr, ist aber ein ängstlicher Besitz.« Lauronat fügte sich unwillig. Der Aufenthalt war ihm verdrießlich schon der Kosten wegen; die Freude über den guten Kauf war ihm ganz vergangen. Das Pferd stand eine volle Woche. Nun riß ihm die Geduld. Trotz dringenden Abratens des Arztes band er es wieder an seinen Wagen und fuhr weiter. Aber schon nach einer halben Meile mußte er umkehren. »Da ist der Teufel im Spiele gewesen«, rief er. Die Behandlung begann von neuem. Der Arzt nahm den Fall nicht mehr leicht. »Du hast die Sache sehr verschlimmert«, sagte er. »Wenn du meinen Rat nicht befolgen willst, kann ich dir nicht helfen.«

So ging's doch aber auch nicht gut weiter. Lauronat fuhr mit der Bahn nach Königsberg, die beiden Händler aufzusuchen. Er ermittelte wirklich Pinkus, der auf dem Herzogsacker einen Fuchshengst zuritt. »Das Pferd ist krank,« schrie er ihn an, »du mußt es zurücknehmen. Es lahmt auf dem rechten Vorderfuß. Der Fehler ist alt.«

»Das tut mir leid«, entgegnete der Händler achselzuckend. »Ich habe nichts davon gewußt. Löwenberg hat die Stute gebracht.«

»Wo ist er?«

»Was weiß ich? Er reist in der Provinz herum.«

»Das ist eine nichtswürdige Betrügerei! Ich will mein Geld zurück.«

»Mich geht die Sache nichts an«, versicherte Pinkus. »Und nun laß mich ungeschoren. Der Fuchs wird unruhig, wie du siehst.« Er ritt davon.

Der Litauer ermittelte Löwenbergs Wohnung, in einer Seitengasse der Vorstadt. Die Frau bestätigte, daß ihr Mann auf der Reise sei. Sie wollte ihm schreiben, daß er den Rückweg über Insterburg nehmen und sich dort das kranke Tier ansehen sollte. Lauronat blieb nichts übrig, als dorthin zurückzufahren, nachdem er einem Anwalt den Fall vorgetragen, und Prozeßvollmacht erteilt hatte.

Löwenberg meldete sich wirklich in Insterburg. Er wollte von einem Besitzer Neuendorf gar nichts wissen, die Stute von einem ganz anderen zum Verkauf in Kommission erhalten haben. An den möge Lauronat sich wenden.

»Mit dir allein hab' ich's zu tun«, sagte der Litauer. »Nimm das Pferd und gib mir mein Geld.«

»Das ist zum, Lachen«, antwortete der Händler. »Du hast das Pferd besehen und keinen Fehler entdeckt. Ich bin nicht klüger als du.«

»Aber das Tier ist krank.«

»Du wirst es auf dem Transport schlecht behandelt haben.«

»Das sollst du mir beweisen!«

»Du hast das Gegenteil zu beweisen. Die Stute war in Kaukehmen ganz gesund, dafür hab' ich meine Zeugen.«

»Die ist vorher schon krank gewesen.«

»Davon weiß ich nichts, und ich höre auch, daß du das kranke Tier unvernünftig angestrengt hast.«

»Nein, ich bin im Schritt gefahren. Gib mir mein Geld.«

»Nicht einen Pfennig. Klage doch! Verständiger ist, wir machen einen neuen Handel. Wenn du mir aber die Braunen verkaufen willst, zahle ich einen guten Preis.« Dabei blieb Löwenberg.

Lauronat schrieb dem Anwalt, er solle schleunigst die Klage gegen beide Händler einreichen. Er wisse jetzt, daß sie Spitzbuben seien.

Er konnte sich in Insterburg, zumal mit dem Fuhrwerke, nicht länger aufhalten. Seine Barschaft war bei aller Sparsamkeit schon beinahe verzehrt. Er ließ die kranke Stute dem Gastwirt in Pflege und zugleich in Pfand, gab dem Arzt einen Schuldschein und machte sich in verdrießlichster Stimmung auf den Heimweg.

In Gilguhnen fand er Busze schon sehr besorgt wegen seines langen Ausbleibens. Er gab ihr nur unzureichende Auskunft – so von oben her, als hätte er's überhaupt nicht nötig. Er war ja der Herr und konnte tun, was ihm beliebte! Mit Erdenings, der eine spitze Bemerkung nicht zurückhielt, geriet er gleich am ersten Tage in Streit. »Wenn du mir nicht gibst, was du mir schuldig bist,« schrie der Alte, »so laß ich dir das Grundstück subhastieren. Ich habe mich erkundigt, das kann ich.« Pawils riß das Gewehr von dem Wandnagel. »Wenn du das tust –!« Busze trat dazwischen und hielt seinen Arm. »Um Gottes willen! Was hast du für Gedanken, Pawils? Mein Vater!«,

»Er macht mich toll«, sagte Lauronat, das Gewehr wieder forthängend.

Urte lag, in der Kammer zu Bett und hustete unaufhörlich. »Und nicht einmal – das Fuhrwerk läßt er hier,« keuchte sie, »daß man zum Doktor – schicken kann. Mit dem Fuhrwerk – treibt er sich – wochenlang herum. Das nimmt ein schlechtes – Ende, ein schlechtes ...«

»Schweig', alte Nachteule«, rief Pawils, stieß Erdenings in die Kammer und schlug die Türe hinter ihm zu.

Busze erfuhr nach und nach von dem Pferdeverkauf und daß er von den Juden betrogen sei. Zwischenein schimpfte er immer auf sie und drohte, daß er es ihnen schon besorgen werde. Von wem er das Geld geliehen, erzählte er nicht. Sie wagte auch gar nicht zu fragen, wo er's her hätte.

An Nathan Hirsch schickte er einen sehr sonderbaren Brief. »Die Stute ist lahm«, schrieb er, »und steht in Insterburg. Ich will sie nicht. Die Juden haben mich betrogen. Dein Geld muß Löwenberg dir abgeben, mich kümmert es nicht. Wenn du willst, kannst du auch das Pferd nehmen, aber der Gastwirt und der Arzt sind noch zu bezahlen. Sieh zu, wie du mit ihnen fertig wirst.«

Er erhielt nach einigen Tagen eine schriftliche Antwort, zu der er den Kopf schüttelte. Er schien sie gar nicht zu verstehen. »Es wird sich ja finden!« brummte er in den Bart.

Eine Weile arbeitete Lauronat nun ganz fleißig in der Wirtschaft, das Versäumte nachzuholen. Es zeigte sich wieder, wie leicht ihm alles von der Hand ging, wenn er nur wollte. Die Wiese mähte er in der halben Zeit, wie der Nachbar Liebert die seine, und die Kartoffeln auf dem Grenzacker behäufelte er besonders sorgfältig, um ihm zu beweisen, daß er's auch verstehe. Bei der Roggenernte war er mit den Frühesten auf und mit den Fleißigsten abends noch auf dem Felde. Dabei kamen auch die Braunen und die beiden Füllen, die er aufzog, nicht zu kurz. Busze freute sich ihres tüchtigen Mannes, den alle rühmten, und auch die Altsitzer waren jetzt mit ihm zufrieden. »Wenn's so fortgeht,« meinte Erdenings, »kann er sich noch auf den grünen Zweig bringen.«

Dann aber kam wieder Ärger über Arger. Der Advokat in Königsberg und das Gericht forderten Vorschuß. Die beklagten Pferdehändler machten Einwendungen, auf die er antworten sollte. Er begriff gar nicht, wie das von Wichtigkeit sein könnte. Ein Winkelschreiber, an den er sich gewandt hatte, schien die Sache noch mehr zu verwirren. Dazu meldete der Gastwirt aus Insterburg, die Stute werde wahrscheinlich lahm bleiben; sie sei jetzt schon nicht mehr so viel wert, als seine Forderung für Stall, Futter und Wartung betrage. Wenn Lauronat sie nicht abhole und ihn befriedige, müsse er sie vom Gericht öffentlich ausbieten lassen. »Das ist alles der Juden Schaden,« schrieb Lauronat ihm, »tu', was du willst.« Die Stute wurde wirklich verkauft. Der Gastwirt kam nicht einmal zu seinem Gelde und klagte wegen des Restes. Auch der Tierarzt klagte. Zu Johanni waren die Hypothekenzinsen unberichtigt geblieben; nun wurde auch dieser Gläubiger schwierig. Der Exekutor kam wiederholt nach Gilguhnen und pfändete. Heu und Roggen wurden fortgenommen; eins von den Füllen kam unter den Hammer, und der Verdruß darüber steigerte sich noch, als Liebert es kaufte, der verhaßte deutsche Nachbar. »Der Teufel ist los,« rief Lauronat, »er läßt zu, daß man mir Gewalt antut. Aber die Abrechnung wird schon kommen.«

Nun verlor er rasch wieder die Lust zur Arbeit. »Für wen strapaziere ich mich?« Busze bat ihn flehentlich, den Mut nicht sinken zu lassen, an seine Kinder zu denken. Er nahm abends wieder das Gewehr und ging auf die Jagd. Oft blieb er die halbe Nacht aus, mitunter kehrte er erst am Morgen zurück. »Brauchst du den Kahn nicht mehr?« fragte die Frau. Eigentlich wollte sie wissen, weshalb er sie nicht aufforderte, ihn zu begleiten. Er verstand sie auch so. »Ich habe einen anderen, der mir hilft«, antwortete er. »Es ist auch für alle Fälle gut, daß einer sagen kann, ich sei zu Hause gewesen.« Sie schwieg dazu. Was er von ihr verlangte, wußte sie.

Er war nicht der einzige, der im Moor und in der Forst wilderte. Auf seinen Streifzügen hatte er einen waghalsigen Burschen kennen gelernt, der ihm gefiel. Jakubs Kalbis hatte von einem Wirt in Iblauken ein Stück Bruchland und Weide gepachtet, darauf auch eine Hütte und einen kleinen Stall von Torf und alten Brettern gebaut, mit Stroh und Moos über einem leicht zusammengefügten Sparrenwerk von Kiefernzweigen gedeckt. Er hauste darin mit seiner Schwester, der Lenke Kalbis, die schon im Gefängnis gesessen hatte. Auch er selbst stand nicht in gutem Ruf, obgleich man ihm nichts Bestimmtes nachsagen konnte. Der Kartoffelacker, der Krautacker am Häuschen, die magere Weide für eine kleine Kuh, der Eiersegen von einigen Hühnern und der Schweinestall ernährten sie nicht; sie mußten bei den Wirten und, wenn diese nichts zu tun hatten, weiter ins Land auf Arbeit gehen. Im Winter ließ Kalbis sich beim Holzschlagen in der Forst beschäftigen und half dann auch beim Abrücken. Lauronat traf ihn einmal nachts mit einem Gewehr am Waldrande. Kalbis hielt ihn für den Förster und legte auf ihn an, da er meinte, nicht mehr entfliehen zu können. Das Mißverständnis klärte sich noch rechtzeitig auf. Seitdem begegneten sie einander öfters auf Verabredung und pirschten gemeinsam oder hielten füreinander Wache. Kalbis besaß einen schmalen und flachen Kahn, den er sich selbst gezimmert und versteckt hielt; auf den Gräben im Moore war er sehr brauchbar. Er pflegte die Jagdbeute damit abzuholen, und Lauronat überließ ihm nun auch die seine, da er am Fluß einen stets bereiten, heimlichen Abnehmer hatte. Der Gewinn wurde geteilt. Sich mit dem Büdner öffentlich zu zeigen, hätte der Wirt für eine Schande gehalten; nachts waren sie zwei Wilderer, die auf völlig gleichem Fuße verkehrten. Es kam auch vor, daß Lauronat in die Hütte eintrat und sich von Lenke einen Schnaps anbieten ließ. Sie kam dann aus einem Bretterverschlage zum Vorschein, wo ihr Bett stand. Aus dem Schlafe gestört zu werden, schien ihr gar nicht verdrießlich zu sein. Sie lachte viel und plauderte gern, wenn der vornehme Wirt dazu aufgelegt war. Sie hatte hübsche muntere Augen und perlweiße Zähne, mit denen selbst eine Litauerin Staat machen konnte. Die Figur war aber unansehnlich, und sie scherzte wohl auch selbst darüber, daß sie zu dem baumlangen Gast in die Höhe sehen müsse.

Indessen hatte der September heftigen Weststurm und Regen gebracht. Alle Zuflüsse zum Haff stauten hoch auf, die Gräben im Moor und in der Forst standen bis zum Rande voll Wasser. Die Pfade wurden ungangbar. Lauronat mußte sich in diesen Tagen zu Hause halten. Eines Vormittags kam Nathan Hirsch auf einem Wägelchen, das sein Schwiegersohn Moritz Levy kutschierte, nach Gilguhnen gefahren und stieg bei ihm ab.

»Ich muß zu dir kommen«, sagte er, »da du meinen Brief unbeachtet gelassen hast. Du hast ihn doch bekommen?«

»Ja«, antwortete der Litauer mürrisch, »der Postbote hat ihn gebracht. Ich dachte, es hätte nicht solche Eile. Wozu sollt' ich dich auch besuchen?« Er hatte den Brief in die Tasche gesteckt, als ginge er ihn gar nichts weiter an.

»Die Frist ist abgelaufen,« bemerkte Nathan, »da hat ein Wechsel doch wohl Eile. Er ist ausgeschrieben in meinem Hause, deshalb durft' ich Zahlung erwarten in meinem Hause. Kommst du aber nicht zu mir, muß ich kommen zu dir und das Papier präsentieren, damit du weißt, daß es noch in meiner Hand ist.« Er zog seine Brieftasche vor und nahm das Blättchen heraus. »Ist das dein Wechsel über tausend Mark, zahlbar nach drei Monaten? Sieh ihn dir an.«

Lauronat blickte ohne besondere Aufmerksamkeit darüber hin und schielte nach Busze, die am Webstuhle saß und jetzt das Schiffchen ruhen ließ. Ihre Anwesenheit war ihm augenscheinlich sehr unlieb, aber sie fortzuschicken, fand sich doch kein Grund. Sie hatte schon ein recht erstauntes Gesicht gezeigt, als der alte Jude mit dem langen weißen Bart eintrat; seine Reden mußten ihn ihr noch verdächtiger machen.

»Ich habe dir doch gleich geschrieben«, sagte Pawils.

Nathan Hirsch setzte sich auf einen Stuhl am großen Tisch und ließ den Wechsel vor sich liegen. »Erlaube, daß ich nehme Platz, bis du das Geld aufgezählt hast,« äußerte er sich, »das Alter steckt mir in den Beinen, sie wollen nicht mehr taugen zum Gehen und Stehen. Bin ich dir kein lieber Gast, so fertige mich rasch ab.«

»Ich habe dir doch gleich geschrieben«, wiederholte der Litauer.

»Was hast du mir geschrieben? Daß das schöne Pferd ist lahm und steht krank in Insterburg, und daß die Händler dich haben betrogen. Ich kann nicht prüfen, ob das wahr ist, aber es hat mir aufrichtig leid getan, dein Malheur. Bei der Sache helfen konnt' ich doch nichts.«

»Die Stute ist mit deinem Gelde gekauft – Löwenberg hat dein Geld erhalten und muß es zurückgeben«, meinte Lauronat kühl. »Ich habe dir geschrieben: nimm die Stute und fordere dein Geld. Du hast aber die Stute nicht genommen, als es Zeit war, und nun hat sie sich selbst aufgezehrt. Das ist deine Schuld.«

»Gott gerechter!« rief Nathan Hirsch. »Was soll sein meine Schuld? Ich hab' dir geliehen tausend Mark auf Wechsel, und die drei Monate sind reichlich um. Ich habe dich gewarnt, zu kaufen ein Pferd mit geborgtem Gelde, aber du hast wollen klüger sein. Bist du nun zu Schaden gekommen, halte dich an den, der dich geschädigt hat. Ich will mein Geld.«

»Und ich mein Pferd.«

»Ist das ein unsinniges Gerede! Ich sage dir, mein Wechsel ist mein Wechsel, und dein Pferd ist dein Pferd. Es fehlt ja jeder Zusammenhang. Was kümmert mich dein Pferd?«

»Ja, wenn du das Geld haben willst –«

»Natürlich will ich das Geld.«

»So warte ab, bis Löwenberg es zurückzahlt. Behalten werd' ich's nicht.«

»Du magst es behalten, wenn du mich befriedigt hast. Ein Kind muß doch einsehen –«

»Ein Kind muß doch einsehen, daß ich nicht das Pferd verlieren kann, und überdies noch Geld zahlen soll!«

Nathan Hirsch ließ es nicht an Zeichen der Ungeduld fehlen. »Man könnte ärgerlich werden,« sagte er, »wenn man dich so mit ganz ernstem Gesicht Unsinn reden hört. Aber ich will nicht ärgerlich werden, weil du Unglück gehabt hast, und weil ich doch bin in meinem guten Recht. Da liegt der Wechsel. Willst du ihn einlösen oder nicht?«

Der Litauer ging an den Wandschrank, öffnete ihn und nahm die Branntweinflasche heraus. Er stellte vor den Gast ein Gläschen hin und füllte es bis zum Rande. »Trink«, sagte er, »und sprich nicht weiter davon.«

Hirsch schob das Glas zurück. »Ich will trinken, wenn das Geld auf dem Tische liegt.«

»Ich habe kein Geld.«

»Dacht' ich's doch. So gib mir dein Fuhrwerk in Pfand, und ich will dir eine kurze Frist bewilligen.«

»Daß ich ein Narr wäre!« rief Lauronat. Er hatte auch für sich einen Schnaps eingegossen und warf ihn über die Zähne.

Der Jude stand auf. »Ich hätte dir die Gerichtskosten gern erspart,« bemerkte er, »aber du bist eigensinnig.« Er verwahrte den Wechsel wieder in der Brieftasche. »Was bleibt mir anders übrig, als gegen den böswilligen Schuldner zu klagen, und ihn zwingen zu lassen zu seiner Pflicht? Sage hinterher nicht, daß ich hart mit dir verfahren bin.«

»Die Gerichtsherren werden ja doch einem Juden nicht mehr glauben, als einem Litauer,« antwortete Lauronat sehr ruhig über die Schulter hin.

Nathan Hirsch machte eine Gebärde, die ausdrücken sollte: ich glaube gar nicht, daß du so vernagelt bist, als du dich stellst. An der Tür wandte er sich noch einmal zurück und sagte zu Busze: »Dein Mann handelt töricht. Er hat Verlust gehabt durch den Pferdekauf – das ist ein Unglück, das er tragen muß. Warum will er ihn vergrößern durch die Gerichtskosten? Ich will warten bis heute abend. Sprich mit ihm verständig.« Er fuhr ab. Busze sah's vom Fenster aus. Sie hatte bis dahin kein Wort gesprochen und nicht einmal zu den beiden Männern hinübergeblickt. Jetzt erhob sie sich, lehnte den Arm an den Pfosten des Webstuhls und senkte die Stirn darauf. Pawils hörte schluchzende Laute.

»Was gibt's denn?« fragte er unwirsch.

»Du hast dich in des Juden Hand gegeben,« antwortete sie, »nun kommt alles heraus. Wie willst du die tausend Mark zahlen? Er richtet uns zugrunde.«

»Aber du hörst ja –«

»Du hast doch das Geld von ihm geliehen.«

»Ja, aber ich hab' ihm gesagt, daß ich die Stute kaufen wollte, und dazu hat er mir's gegeben. Wo ist nun die Stute? Dafür kann ich doch nicht, daß sie einen Fehler gehabt hat, den kein Mensch entdecken konnte! Es sind ja auch noch andere Leute bei der Besichtigung zugegen gewesen; ich kann zehn Zeugen stellen. Was will der Jude jetzt von mir? Er muß warten, bis ich zu meinem Rechte gekommen bin.«

Sie gab darauf keine Antwort, hörte aber auch nicht auf zu weinen. Ärgerlich ging er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Nach wenigen Tagen schon kam die Klage mit einem kurzen Termin. Lauronat verweigerte seine Unterschrift. »Das kann dir doch nichts helfen«, meinte der Postbote.

»Ich gehe selbst aufs Gericht,« sagte Lauronat, »man braucht's ja den Herren nur klar vorzustellen.«

»Es ist mit einem Wechsel so eine besondere Sache«, entgegnete der Beamte. »Da fragen sie nur, ob du ihn geschrieben hast.«

Er lachte. »Wir werden ja sehen.«

Der Termin war auf einen Freitag anberaumt. Am Donnerstag gegen Abend kam die Lenke Kalbis auf den Hof und fragte nach dem Wirt. Sie hatte den Weg über die schmutzige Landstraße zu Fuß gemacht, was ihren Schnürstiefeln anzumerken war. Übrigens hatte sie ihre besten Röcke angezogen, wohl fünf oder sechs übereinander, und den obersten von hinten her über den Kopf genommen, ihn selbst und die stramm über der Brust zugehakte Tuchjacke gegen den Regen zu schützen, den der Wind unter den Schirm getrieben haben mochte. Unter diesem Dache blitzten die munteren Augen und bewegte sich das Stumpfnäschen unaufhörlich. Die Magd wies sie an die Frau. Busze musterte die keck eintretende Person. Zu den ihr bekannten Wirtsfrauen und Wirtstöchtern der Nachbarschaft gehörte sie nicht. »Was willst du?« fragte sie.

»Ich muß den Wirt Pawils Lauronatis sprechen«, antwortete das Mädchen, sich neugierig in der Stube umschauend. »Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?«

»Er hat in der Wirtschaft zu tun«, sagte Busze. »Ist etwas an ihn zu bestellen?«

»Nein – ich muß es ihm selbst sagen«, erwiderte Lenke und zeigte dabei lachend die weißen Zähne.

»Es wird doch wohl nichts sein, was ich nicht auch hören kann«, meinte die Frau.

»Wenn Pawils es dir sagt, wirst du's ja wissen«, wich die Kleine aus.

Busze betrachtete sie mit mißtrauischen Blicken. »Ich hoffe, daß du mit meinem Manne keine Geheimnisse hast.«

»Ach –!« Sie senkte die spitzbübischen Augen und schmunzelte.

»Wenn du mich nicht kennst, ist's besser für dich, ich sage es dir nicht. Das ist für alle Fälle besser. Warum brauchst du zu wissen, mit wem dein Mann heimlich gesprochen hat?«

»Mein Mann hat mit niemand heimlich zu sprechen.«

»Du kannst ja abwarten, ob er mich abweist. Es ist auch nichts, was dich angeht.«

Busze bedachte sich eine Weile. »Pawils ist im Stalle bei den Pferden«, sagte sie dann. »Setze dich, bis er in die Stube kommt.«

»Ich will lieber zu ihm gehen,« antwortete der sonderbare Gast, »es dauert mir sonst vielleicht zu lange. Ich habe einen weiten Rückweg, und es wird früh dunkel.«

Sie wartete die Erlaubnis nicht ab, sondern kehrte gleich um und trippelte über den Flur nach der Stalltür.

»Wer ist das?« fragte Busze die Magd, die am Herde beschäftigt war.

»Die Lenke Kalbis aus Iblauken,« gab sie Auskunft. »Sie wohnt bei ihrem Bruder dicht am Moor und geht manchmal auf Arbeit. Hier hab' ich sie sonst noch nicht gesehen. Ihr Bräutigam war der Anus Kulies aus Karkeln, der als Matrose gefahren und mit dem Schiff untergegangen ist. Ein paar Monate, nachdem er das letztemal in Karkeln bei ihr war, hat sie ins Gefängnis müssen.«

»Weshalb?«

»Ach – weil ihr Kind so schnell gestorben war.«

Dieser Grund reichte Busze völlig aus. Sie fragte nicht weiter. Aber sie horchte nun doch im Vorbeigehen an der Stalltür, ob sie von dem Gespräch etwas erlauschen könne. Es wurde ganz leise geführt.

Lenke hatte Lauronat gesagt, daß ihr Bruder sie schicke. Er sei mit dem Boote in der Forst gewesen, um Holz zu holen, und habe bemerkt, daß ein Rudel Hochwild auf einem Heideplane vom Wasser abgesperrt sei. Das dumme Vieh stecke dort die Köpfe zusammen und wage sich nicht durch den Sumpf. Mit dem flachen Kahne könne man ihm aber ankommen. »Jakobus meint, du hast einen Elch schießen wollen«, zischelte sie. »Das ist jetzt leicht getan. Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Läßt der Wind nach, so tritt das Wasser zurück – und es kann auch sein, daß die Förster aufmerksam werden und an einer schmalen Stelle Zweige hineinwerfen, damit die Tiere eine Brücke haben.«

Lauronat horchte gespannt. »Wann will Jakubs ...«

»Am liebsten schon die nächste Nacht. Allein aber kann er nichts ausrichten – die Last ist zu schwer für einen, und es muß ein sehr Starker dabei sein, sonst zwingen auch zwei sie nicht.«

»Gut, ich komme. Nächste Nacht also.«

»Wenn dir das Wetter nicht zu schlecht ist.«

»Es ist mir nicht zu schlecht. Jakubs soll auf mich warten. Hier hast du etwas für deinen Gang.« Er faßte in die Tasche und holte einige Silbermünzen hervor.

»Laß nur«, sagte sie, seine Hand abwehrend. »Ich brauche nichts, und es ist gern geschehen.«

Jetzt erst, da er in den Stallgang getreten war, sah er sie sich genauer an. »Du hast dich ja ausgeputzt, als ob du zum Tanz gehen wolltest«, bemerkte er, sie bei den Schultern fassend.

»Gefalle ich dir?« fragte sie.

»Ich hätte nicht gedacht, daß du so blitzsauber aussehen könntest.«

»Das dachte ich wohl. Bei uns ist's finster, und in der Zeit, wenn du zu kommen pflegst, sind auch alle Katzen grau. Da hab' ich für dich einmal Sonntag gemacht.«

Er lächelte geschmeichelt. »Ich will nur wünschen, daß du nicht naß wirst«, sagte er. »Ich komme also. Geh' dort hinten hinaus. Es ist besser, man sieht dich nicht.«

»Deine Frau hat mich schon gesehen«, kicherte sie in die Hand.

»Das hat nichts zu bedeuten,« meinte er, »wenn's darauf ankommt, weiß sie doch nichts.« Er beugte sich vor, öffnete mit der linken Hand die Tür und klopfte ihr mit der rechten die runde Schulter, indem er sie zugleich sanft hinausschob. »Hilf nur noch, den Rock über den Kopf nehmen«, bat sie. Das geschah. Dann öffnete sie auf der Schwelle den Schirm unter der Traufe und sprang mit einem lauten »Hopp« über die Pfütze. Pawils sah ihr durch die Spalte nach.

Bald darauf blickte Busze durch die Flurtür. Es dauerte ihr zu lange, bis die Margelle zurückkam. »Nun?« fragte er.

Sie bemerkte, daß er allein war. »Ist sie schon fort?«

»Wer?«

»Ich habe doch Augen und Ohren.«

»Es ist niemand hier gewesen«, sagte er in befehlendem Tone, der jeden Einwand abschneiden sollte.

Busze verstand ihn und schwieg.

Sie schwieg aber auch, als er sie später in der Stube ganz freundlich anredete, und stellte ihm sein Abendessen auf den Tisch, ohne sich zu ihm zu setzen. Dann ging sie früh schlafen. Auch er ließ das Licht nicht lange brennen und legte sich zu Bett.

Aber nach einer Stunde schon stand er leise wieder auf und tappte nach seinen Kleidern herum. Er zog die hohen Wasserstiefel und den Pelzrock an, der an der Wand hing, und setzte die blaue Kapuze auf. Aus der Ecke hinter dem Bett nahm er das Gewehr und den Schrotbeutel. Er wollte eben hinausschleichen, als er seinen Namen rufen hörte. »Was willst du?« flüsterte er. »Schlafe doch.«

»Ich kann nicht schlafen«, sagte Busze, sich aufrichtend.

»Das ist dumm«, schalt er.

»Wohin gehst du?« fragte sie.

Er antwortete nicht, aber der Hahn des Gewehrs knackte leise.

»Nimm mich mit, Pawils.«

»Heute nicht. Schlafe doch.«

»Ich kann dir so gut helfen als eine andere.«

Er lachte kurz auf. »Ach so ...«

»Ich soll schon längst von deinen Wegen nichts mehr wissen.«

»Das kann sein.«

»Die Lenke Kalbis weiß aber davon.«

Darauf erfolgte eine Weile keine Antwort. Dann trat er ans Bett und sagte: »Du bringst mich auf Gedanken, die ich bis jetzt nicht gehabt habe. Ich will versuchen, sie wieder zu vergessen.«

Busze faßte seinen Arm, ihn zurückzuhalten. »Ich tat dir alles zuliebe – mehr als ich sollte. Weil ich dir gut bin, Pawils, war ich schlecht gegen Vater und Mutter. Mitten in der Nacht bin ich aufgestanden, so oft du mich wecktest, und mit dir ausgefahren – «

»Schweige still,« befahl er, »die Wand ist dünn. Das braucht keiner zu hören.«

»Wenn du der Person mehr vertraust als mir –«

»Nun ist's aber genug,« fiel er ärgerlich ein. »Du weißt nicht, was du sprichst. Es ist ganz dumm.« Er machte sich von ihr los und entfernte sich mit schleichenden Schritten aus der Stube, die Tür leise hinter sich zuklinkend.

Es regnete jetzt nicht in Tropfen, aber ein dichter nasser Nebel zog vom Haff her über die Stoppelfelder und Weidepläne, durch die er seinen ungebahnten Weg nahm. Mitunter tauchte aus der grauen Wand der dunklere Schattenriß eines Baumes oder einer Reihe von Bäumen vor, die den Rand eines Grabens anzeigten und bald wieder verschwanden. Lauronat mied die Landstraße, die ihn durch Dörfer führen mußte, und behielt immer das Moor ein paar hundert Schritte seitwärts. Trotz der Dunkelheit verirrte er sich nicht. Es ging ihm zwar durch den Kopf, daß Busze sich so sonderbar benommen hatte, wie noch nie, aber das beunruhigte ihn wenig. Wenn alles gut ablief, konnte er ihr ja sagen, was Lenke gewollt hatte. Jetzt beschäftigte ihn nur die Jagd, zu der er sich mit leidenschaftlichem Eifer rüstete. Er beeilte seine Schritte und öffnete den Pelzrock, als ihm zu heiß wurde. Nach einer Stunde sah er die dunkle Masse der Torfhütte dicht vor sich. Er klopfte an das kleine Fenster, hinter dem kein Licht brannte.

»Bist du's?« fragte eine Stimme von innen.

»Komm nur,« antwortete Lauronat, »ich bin bereit.«

Kalbis brachte zwei Stangen mit. Das Gewehr hatte er unter dem langen Rocke von grauem Want versteckt. »Geh an den Graben voran,« sagte er, »ich bringe das Boot aus dem Schilf. Aber nimm dicht in acht, daß du nicht einsinkst. An der Weide kannst du stehenbleiben und auf mich warten.«

Dort stieg Lauronat ins Boot, um dann hinten die Stange zu handhaben, während Kalbis mit der seinen vorn zur Seite einstieß und den Weg kreuz und quer durch das Moor anzeigte.

Endlich nach scharfer Arbeit war die Forst erreicht. Das Boot glitt zwischen Erlengebüsch hin, mitunter an dessen Wurzeln stoßend. Eine Viertelstunde weiter lichtete sich wieder der Wald. Die Ränder des Grabens wurden ganz flach und verloren sich bald völlig im Sumpf, der sich rechts und links seeartig ausbreitete, soweit der Nebel einen Ausblick gestattete. Dahinter tauchten einzelne Bäume auf, die auf einer Insel zu stehen schienen. Wirklich stieß das Boot nach einer Weile auf festeren Grund. Kurz vorher noch waren die Stangen tief eingesunken.

»Hier ist's«, sagte Kalbis, indem er aufsprang und die Spitze aufs Land zog. »Das Wasser geht rundherum. Gestern stand es aber noch höher, und morgen wär's zu spät gewesen.« Er machte sein Gewehr schußfertig.

Lauronat folgte ihm. Er war ein wenig heller geworden. Der Mond mußte aufgegangen sein; wenn er auch unsichtbar blieb, gab er doch dem Nebel einen mehr lichten Ton. Mitunter riß auch der Sturm in die Wand ein Loch, das sich erst nach Minuten wieder schloß. Die beiden Männer schritten durch das nasse Gras den Bäumen zu. An einer Stelle, wo sie dichter aneinandergereiht waren, machte Kalbis halt. Er zeigte mit der Hand geradeaus, ohne zu sprechen. Lauronat sah, daß sich hinter dem Gebüsch etwas bewegte. Bald erkannte er die Schaufelgeweihe von mehreren Elchen.

Sie schlichen heran, das Gewehr unterm Arm, von einem Baumstamm zum anderen Deckung suchend. Plötzlich entstand unter den Tieren eine merkliche Bewegung. Die Köpfe richteten sich mit ihrer schweren Last auf, das klappernde Geräusch der Hufe wurde hörbar. Wie auf ein Zeichen setzte sich die Herde in Trab und jagte in entgegengesetzter Richtung davon. »Sie kommen nicht durch«, flüsterte Kalbis, »das Wasser ist zu flach zum Durchschwimmen und zu tief zum Durchwaten; sie wissen ganz genau, wie weit sie mit den Beinen einsinken und bringen sich nicht in Gefahr – wir müßten sie denn verfolgen und in Schrecken setzen. Das lassen wir bleiben. Wenn wir einen Hirsch schießen, der halb im Sumpfe steckt, wie bekommen wir ihn heraus! Aber es dauert nicht lange, so kehren die Tiere hierher zurück. Ich habe sie da gestern auch stehen gesehen – es ist ihr Standort. Wir können uns indessen noch etwas näher heranbringen.«

Sie nahmen hinter einer mächtigen Kiefer Aufstellung. Es verging wirklich keine lange Zeit, bis das Elchwild sich wieder hinter dem Gebüsch zeigte. Freilich war die Dunkelheit so groß, daß ein Schuß auf einen der sich schwach auf der Nebelwand abzeichnenden Köpfe kaum ein sicherer Treffer sein konnte. Die Jäger warteten noch. Da setzte eins von den größten Elchen aus dem Gebüsch heraus und näherte sich ihnen langsam mit hocherhobenem Geweih. Jetzt zielte Lauronat und schoß. Das Tier war getroffen und kehrte schwankend um. Nun legte auch Kalbis an und gab einen Schuß in die Seite. Mit einem ächzenden Laut brach es zusammen. Die erschreckte Herde jagte in wilder Flucht davon.

Die beiden Wilddiebe sprangen vor, um sich ihrer Beute zu bemächtigen. Sie faßten das noch zuckende Tier an den Hinterläufen und bemühten sich, es über das Gras zu schleifen. Das erforderte größere Anstrengung, als sie erwartet haben mochten. Doch gelang es ihnen, den Elch bis in die Nähe des Bootes zu schaffen. Nun mußte er aber gehoben werden. Die Gewehre waren ihnen sehr hinderlich. Sie stellten sie diesseits an einen Wacholderstrauch. Jetzt bewies Lauronat seine Riesenkraft, indem er die Schulter untersetzte und so das Hintergestell vom Boden und über Bord brachte. Kalbis schleppte den Kopf am Geweih nach und warf ihn ins Boot, um selbst nachzupoltern, da er das Gleichgewicht verloren hatte. Nun schob Lauronat mit aller Anstrengung das schwer belastete Gefährt so weit ins Wasser, daß er es mit einem letzten Stoß ganz freimachen konnte. Er wollte vorher nur noch die Gewehre holen.

In diesem Augenblick aber gewahrte Kalbis von der Forst her einen Kahn mit zwei Männern. Im Nebel hat er sich um die Insel herum unbemerkt bis auf fünfzig Schritt nähern können. »Der Förster,« zischelte er, »fort, fort!« Zugleich stieß er mit der Stange gegen den Erdrand. Lauronat erkannte sogleich die Gefahr. Es war keine Sekunde zu versäumen. Mit den beiden kräftigen Armen das Bordbrett fassend, stieß er ab und schwang sich hinüber. Das Boot schwankte und schöpfte Wasser, wurde aber bald wieder ins Gleichgewicht gebracht, als er erst stand und seine Stange regierte. Es war doch durch dieses Manöver ein kurzer Aufenthalt entstanden, der hingereicht hatte, die Entfernung von dem Förster und seinem Gehilfen bedeutend abzukürzen. Sie wäre noch geringer geworden, wenn deren Kahn nicht, zuletzt in zu rasche Bewegung gesetzt, am Ufer aufgestoßen wäre und erst wieder hätte flottgemacht werden müssen.

»Hatt' ich mir's doch gedacht,« knurrte der Förster, »daß die Kerle sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden. Diesmal aber krieg' ich dich, Halunke! Wir haben auch ein Boot. Halt!« schrie er, »und ergebt euch, ihr Schufte, oder ich schieße. Ich kenne dich, Pawils Lauronatis, ich kenne dich, warte nicht ab, bis dir eine volle Ladung in die Kaldaunen fährt. Halt, sag' ich, und zum drittenmal halt!«

»Niederknien!« kommandierte der frühere Unteroffizier, »und die Stange fest einsetzen!«

Der Schuß krachte, aber die Rehposten pfiffen über ihren Köpfen hinweg.

»Zum Teufel,« knirschte Lauronat, »wir haben unsere Gewehre zurückgelassen. Sonst sollt' er bald merken, daß ich besser treffe als er.«

Der Förster lud von neuem. Indessen mußte der Gehilfe allein den Kahn schieben. Dadurch gewannen die Wilddiebe einen Vorsprung, der sich mehr und mehr vergrößerte, als sie nun wieder aufrecht standen und mit dem ganzen Körpergewicht gegen die Stangen drückten. Sie hatten schon den Graben erreicht, als die Verfolger noch durch den Sumpf einen Weg für ihren breiteren Kahn suchten.

Und nun begann eine tolle Jagd durch das Moor. Kalbis wußte hier so gut Bescheid, daß er wagen konnte, in die Quergräben einzulenken und die Verfolger irrezuführen. Er fand sich immer wieder zur richtigen Fahrstraße zurück. Diese plötzlichen Wendungen hinderten den Förster denn auch, nochmals von seinem Gewehre Gebrauch zu machen. Er mußte von Glück sagen, wenn er im nächtigen Nebel die Gestalten der Wilderer nicht ganz aus den Augen verlor. »Vorwärts, vorwärts,« ermunterte er den Gehilfen, dem schon der Arm matt wurde, »sie dürfen uns nicht entwischen.« Ihm selbst perlte der Schweiß von der Stirn.

Für Kalbis' kleines Boot war die Last der beiden Männer und des Elchs fast zu groß. In der Mitte ragte das Bordbrett kaum einen Zoll aus dem schwarzen Wasser vor. Nur wenn sie ganz gleichmäßig die Stangen einstießen, beugten sie gefährlichen Schwankungen vor, und bei allem Geschick konnten sie das Einströmen doch nicht ganz hindern. Ihre Hoffnung, den Forstbeamten außer Sicht zu kommen, wurde immer wieder getäuscht. Und jetzt, nach einer Stunde eiligster Flucht, näherten sie sich bereits dem Ende des Moors, wo die Gräben flacher wurden und in verschilfte Sümpfe einliefen. Kalbis wußte, daß er dort festsitzen müßte, wenn er den Förstern nicht die einzige Fahrstraße nach seinem Hause zu anzeigen wollte. »Es hilft nichts«, sagte er, »wir müssen den Elch abwerfen und ihnen den Graben sperren.«

Lauronat überlegte noch eine Weile. Der Entschluß, die Beute fahren zu lassen, wurde ihm sehr schwer. Endlich stimmte er doch seufzend zu. »Dann aber sogleich«, riet Kalbis. »Es geht hier immer geradeaus, und sie sind uns bald nach.« Er gab dem Boot, um einen festeren Halt bei der schwierigen Ausladung zu schaffen, eine Wendung, so daß es sich vorn und hinten in den Grabenrand eindrückte. Dann steckten sie zu beiden Seiten die Stangen knapp und tief ein. Nun hoben sie mit Anstrengung aller Kräfte den schweren Körper hoch, gaben ihm eine schwingende Bewegung und ließen ihn quer durch den Graben plumpen. Es spritzte auf und übergoß das schwankende Boot. Viel fehlte nicht, so wäre Lauronat nach der anderen Seite übergefallen. Er mußte sich bücken und lang niederlassen. Kalbis zog seine Stange heraus. »Weiter können sie nicht«, sagte er lachend. »Bis sie den Elch aus dem Wege geschafft haben, sind wir in Sicherheit.«

Der Zeitverlust war doch groß gewesen. Kalbis hatte eben erst wieder sein Boot flottmachen können, als der Förster die Sperre erreichte. Er bemerkte sofort, was geschehen war; der Rücken des Tieres und die Schaufeln des Geweihs ragten aus dem Wasser vor, der Kahn saß fest. Ohne Zögern legte er das Gewehr an. »Halt!« rief er, »zum letztenmal halt!« Die Wilddiebe achteten nicht darauf, sondern suchten sich nur um so eiliger zu entfernen. Da ein Blitz und ein Knall. Kalbis sank in die Knie. »Verdammt – ich bin getroffen«, ächzte er. Lauronat erhob sich und schob das Boot weiter. »Der Schuft«, murmelte er in den Bart. »Er weiß, daß er uns nicht einholen kann und schießt doch. Das ist eine elende Rache. Nimm dich zusammen, Jakubs – halte dich aufrecht, es wird so viel nicht sein. Ich weiß nicht den Weg durchs Schilf. Rechts oder links?«

»Links«, stöhnte Kalbis. »Ich kann nicht auf – der Schuß traf gut – es ist ein Höllenschmerz. Da links hinein – und dann auf die verkrüppelte Weide zu – dann, wo das Schilf aufhört, rechtsum – noch hundert Schritt weiter, da liegt trockener Fichtenstrauch und ein Brett – beeile dich, sonst bringst du mich – nicht mehr – lebend ...«

Lauronat wurde bange. Mit gewaltigen Sätzen trieb er das Boot vorwärts, bis es an der bezeichneten Stelle auf den Grund geriet. Kalbis konnte sich nicht aufrichten, selbst mit seiner Hilfe nicht gehen. Er lud ihn auf die Schulter und trug ihn die weite Strecke über Land bis zur Torfhütte. Ohne ihn loszulassen, klopfte er an. »Aufgemacht, Lenke, aufgemacht«, rief er. »Schnell! Es ist ein Unglück geschehen.«

Sie hatte eiligst ein wollenes Tuch übergeworfen und öffnete die Tür. Kalbis wimmerte kläglich. »Gott im Himmel! – Bruder –«, sagte sie ängstlich, »was ist es mit dir?«

»Der Förster – ein Schuß in den Rücken –«, antwortete er. »Mach' Licht, aber verhäng' die Fenster.«

»Ja, mach' Licht«, sagte Lauronat. »Der Teufel hole den Schurken ...«

Lenke zündete mit zitternden Händen eine kleine Blechlampe an. Dann half sie, Jakubs auf dem Stroh in seiner Bettlade niederzulassen. Lauronats Pelz war mit Blut überströmt. Ganz erschöpft sank er auf einen Holzschemel und suchte Atem zu schöpfen.

Das Mädchen stellte eine Flasche mit Branntwein vor ihn auf den Tisch. Er goß zwei Gläser dicht hintereinander hinunter. »Wir müssen ihm den Rock und die Jacke abziehen«, sagte er dann. »Bringe Wasser und alte Lappen. Ich hab' als Unteroffizier einen Kursus gehabt, wie sie das nannten, und gelernt, wie man zur Not einen verbindet. Hast du nicht alte Leinwand, so müssen wir ein Hemd zerreißen. Es soll euer Schade nicht sein – ich will später eins von den meinen an die Stelle geben.«

»Trinken,« stöhnte Jakubs, »trinken – laßt mich einen Schluck – trinken.«

Lenke hielt ihm die Flasche an den Mund. Er schien sie leeren zu wollen, so gierig sog er mit den trockenen Lippen daran. Dann krümmte er sich wieder auf seinem Lager. »Ach – hier in der Brust – es muß da – etwas zerrissen sein ...« Er spie aus. Der Mund war ihm blutig.

Lauronat entkleidete ihn mit Lenkes Hilfe. Nahe dem linken Schulterblatt fand er zwei Wundstellen, »der Förster hat Rehposten geladen gehabt,« bemerkte er, »herausholen kann ich sie nicht, sie stecken zu tief.« Er wusch das Blut ab und kühlte die Wunden mit frischem Wasser. Lenke mußte Scharpie zupfen und viereckige Lappen schneiden. Jakubs drückte die Fäuste gegen die Brust und knirschte mit den Zähnen. »Hier inwendig – da brennt's – hier inwendig ...«

Eine Stunde war vergangen; draußen fing es an zu dämmern. »Wenn du willst«, sagte Lauronat, »spanne ich zu Hause an und hole den Doktor. Gegen Mittag kann ich hier sein.«

»Nein, nein,« – ächzte Kalbis, »er sieht ja doch gleich – daß ich angeschossen bin – und dann ist's heraus.«

»Ja, dann ist's heraus«, wiederholte Lauronat. »Wenn du dir's verbeißen kannst, ist's besser, niemand erfährt ...«

»Gebt mir nur zu trinken. Es steigt mir immer heiß auf ... Dieser höllische Durst! O – o – o!«

»Du könntest einmal sehen, Lenke,« sagte Lauronat nach einer Weile, »ob der Elch noch im Graben liegt. Die Schaufeln hätt' ich ihm gern ausgebrochen.«

Das war auch für Kalbis eine wichtige Sache. So schwer er litt, beschrieb er doch seiner Schwester genau die Stelle und den Fußweg, der nicht weit davon vorüberführte.

Lenke brachte die Nachricht zurück, der Elch sei fort. Von Torfarbeitern, die in der Nähe beschäftigt waren, hätte sie gehört, der Förster habe sie, als sie früh zur Arbeit kamen, angerufen und aufgefordert, ihn beim Einladen des Tiers in seinen Kahn zu helfen. Das sei geschehen. Er hätte auf die Wilddiebe geflucht und gesagt, den einen kenne er ganz gut; ob das derselbe sei, dem er eins auf den Pelz gebrannt, wisse er freilich nicht, das werde sich aber bald zeigen.

»Von mir weiß er nichts«, äußerte Kalbis befriedigt. »Das ist auch gut, sonst hätt' ich hier am Moore keine Ruhe mehr.«

»Hätten wir nur nicht die Gewehre eingebüßt«, bemerkte Lauronat, den Lappen wieder in kaltes Wasser tauchend.

»Ja, das ist schlimm«, stöhnte Kalbis. »Wer weiß aber ob sie der Förster gefunden. Vielleicht sucht er nicht einmal. Er kann denken ... Ah – ah!« Er krümmte sich winselnd.

»Es ist wohl möglich, sie stehen noch im Wacholder«, meinte Lauronat. »Ich kann mich natürlich da nicht blicken lassen, aber ein anderer – «

»Die Lenke kann mit dem Boot hinfahren – und nachsehen. Ich habe noch – einen Haufen Knüttelholz in der Forst stehen. Hält einer sie an – so fährt sie danach.«

Lenke zeigte sich sogleich bereit. Es war indessen heller Tag geworden und die Lampe längst ausgelöscht. »Aber einer muß doch bei dir –«, sagte sie zu Jakubs und sah dabei den Wirt von der Seite an.

»Ich bleibe hier, bis du zurückkehrst«, versicherte Lauronat. »Ich wär' auch sonst nicht fortgegangen.«

Lenke flocht nur ihre Zöpfe vor einem Spiegelscherben, der schräg ans Fenster gestellt war. Es schien ihr gar nicht unlieb zu sein, daß der Gast ihr zuschaute.

»Du solltest deinen Pelz abwaschen«, riet sie, als sie über das Hemd mit den weiten Ärmeln eine Jacke zog und ein Tuch um den Kopf band. »Wenn das Blut antrocknet, wirst du die Flecken gar nicht mehr fortbekommen.«

»Du hast recht«, antwortete Lauronat. Er machte sich auch nach ihrer Entfernung gleich an die Arbeit. Zwischendurch bediente er den Kranken und aß von dem Schwarzbrot, das Lenke auf den Tisch gelegt hatte.

Allmählich wurde Kalbis ruhiger und dann schlief er, von dem Blutverlust ermattet, ein. Beim Atmen röchelte er aber beängstigend. Mitunter war ihm die Kehle wie abgeschnürt, bis ihn ein Husten erleichterte. Einmal würgte er eine Weile, richtete sich plötzlich auf und spie einen Strom Bluts auf die Erde. Er riß dabei die Augen auf, blickte Lauronat wie geistesabwesend an, ächzte schwer und sank wieder auf das Strohlager zurück.

Lauronat wiegte bedenklich den Kopf. »Das wird nicht gut. Zum Teufel –! Er stirbt mir unter den Händen.«

Es dauerte mehr als drei Stunden, bis Lenke zurückkehrte. Aber sie brachte die beiden Gewehre. »Das ist brav«, lobte Lauronat und klopfte ihr die Wange. »Wir müssen sie verstecken, bis alles von der Sache wieder still ist.«

»Schläft er?« fragte sie.

»Ja – aber das Blut kommt ihm immer in den Hals. Wer weiß –«

Sie schälte Kartoffeln zum Mittag, wusch sie ab und setzte sie in einem eisernen Topfe mit drei Füßen aufs Feuer. Die Hütte hatte keinen Schornstein; der Rauch mußte durchs Dach abziehen und erfüllte bald den kleinen Raum. Sie schien davon nicht die geringste Beschwerde zu haben, aber der Kranke hustete häufiger und heftiger. Lauronat stieß die Tür auf, aber es nützte wenig, denn der Wind blies hinein. Kalbis stöhnte schmerzlich, der Mund stand offen, die Augen schlossen sich nicht ganz. Mitunter stockte der Atem, und dann warf er wieder Blut und Schaum aus. Bei einem besonders heftigen Anfall sprangen, beide hinzu, ihn aufzurichten. Er rang mit den Armen und Beinen, es steckte ihm etwas in der Kehle, und er konnte es nicht herausstoßen, das Gesicht wurde ganz blau. Dann brach er zusammen, röchelte noch ein paarmal und bewegte sich nicht mehr.

»Um Gottes Jesu willen,« jammerte Lenke, die neben ihm kniete, »er wird doch nicht –«

Lauronat faßte seine Hand und hielt das Ohr über seinem Munde. »Tot –«, sagte er leise. »Es ist nicht anders – tot.«

Lenke weinte und wehklagte. Dann holte sie aus ihrer Kammer ein litauisches Gesangbuch und legte es Jakubs auf die Brust.

»Wir müssen ihn abwaschen und anziehen«, bemerkte Lauronat. »Ich will dir helfen.«

So geschah es denn auch. Sie zogen dem Toten die Sonntagskleider an. Das blutige Stroh wurde aus der Bettlade genommen und in den Schweinekoben geworfen. Am Strauchzaune blühten noch einige Astern, die pflückte Lenke und legte sie auf das weiße Leinentuch, das sie über Jakubs gedeckt hatte. Dann stand sie daneben mit gefalteten Händen und sang ein geistliches Lied. Lauronat stimmte leise mit ein.

»Du wirst dem Schulzen Anzeige machen und das Begräbnis ansagen müssen«, gab er zu bedenken.

»Ja, gleich nach dem Essen«, antwortete sie, jetzt wieder ganz gefaßt. Sie goß die Kartoffeln ab und schüttelte sie in eine irdene Schale. Auch ein hölzernes Gefäß mit Salz stellte sie auf den Tisch und einen Teller, auf dem eine Speckschwarte lag. »Iß,« sagte sie, »dich wird hungern. Mehr hab' ich nicht.«

»Es ist auch genug«, versicherte er. Er ließ sich nicht nötigen und griff zu. Auch sie setzte sich und langte in die Kartoffelschale. »Was wirst du dem Schulzen sagen?« fragte er.

»Daß er sich bei der Arbeit einen Brustschaden geholt hat, krank gewesen und gestorben ist«, antwortete sie. »Sie werden sich nicht viel darum kümmern – der Jakubs war ja nur ein Häusler. Die den Sarg bringen, sehen auch nicht nach.« Sie steckte die Kartoffel in den Mund, die sie auf das Taschenmesser gespießt hatte, und wischte mit dem Rücken der Hand eine Träne von der Backe fort.

»Er ist nun einmal tot –«, sprach Lauronat vor sich hin.

»Ja –«

»Und du wirst nicht ausbringen, daß ich dabei gewesen bin, Lenke?«

»Gewiß nicht, weshalb braucht das einer zu wissen?«

»Ich werde dich nicht verlassen, Lenke«, sagte er nach einer Weile und reichte ihr die Hand über die Ecke des Tisches. »Aber bei mir darfst du dich jetzt nicht blicken lassen.«

»Das will ich auch nicht. Sieh nur, daß du unbemerkt fortkommst.« Sie trat vor die Tür hinaus. Der Nebel war wieder so dicht, daß sich nicht einmal die Häuser des Dorfes erkennen ließen.

Nach einigen Schritten trennten sie sich. Lenke ging auf dem Fußpfade dem Dorfe zu, Lauronat in entgegengesetzter Richtung über die Heide nach dem Moor.


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