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Briefe (1863–64)

Ich war gestern im Campbell-Spital, um zwei Jungens aus Brooklyn, vom 51. Regiment, zu besuchen. Sie wußten von meinem Aufenthalt in Washington und hatten mich brieflich gebeten, zu ihnen zu kommen. O liebe Schwester, wie würde dein Herz bluten, wenn du so durch die Reihen der verwundeten jungen Leute gingest, wie ich: manchmal bleibe ich stehen, um ihnen ein gutes Wort zu schenken. Da lagen sie, Dutzend um Dutzend, in einem schmalen Saal, der nichts als eine längliche, innen weiß getünchte Baracke ist. Einem gab ich ein kleines Geldstück, das ich gerade hatte. So unbedeutend das Geschenk war: er konnte sich nicht mehr halten und begann zu schluchzen. Und da waren noch viele, viele andere.

Ich glaube, der Grund, warum ich in den Spitälern den schmachtenden und verwundeten Jungens ein wenig nützen kann, liegt darin, daß ich stark bin und gesund. Ich sehe wirklich wie ein mächtiger, wilder, behaarter Bison aus. Viele Soldaten kommen aus dem Westen oder dem äußersten Norden, und da gefällt es ihnen, wenn einer nicht geschoren und glattrasiert ist und so eine weiße, schimmernde Haut hat, wie man sie in den großen Städten und im Osten findet. Gestern war ich 3–4 Stunden lang im Armory-Spital. Einer meiner Schützlinge lag im Sterben und verlangte, daß ich ein wenig bei ihm bliebe. Er konnte kaum ein Wort herausbringen, aber die Sprache seiner Augen und seiner Hände, die sich an mich krallten, war erschütternd. Vor acht Tagen war er schon geheilt, stand schon auf, da war er vielleicht unvorsichtig, erkältete sich wieder, mußte wieder liegen, und nun ging es schnell bergab. Gestern war es ganz schrecklich, wie er mit aller Mühe nach Atem rang. Ein junger Bauer aus New England. Heute nachmittag oder abend, wenn ich wiederkomme, wird sein Bett wahrscheinlich leer sein. Mutter, wenn du oder Mat hier nur zwei Tage verbrächtest, ihr würdet euch die Augen ausweinen. Ich aber muß an mich halten und meinen ganzen Mut zusammenraffen. Es geht. Adieu, sehr liebe Mutter.

 

Mutter, indes ich diese Zeilen schrieb, kam ein großer Zug von Gefangenen der Südstaatenarmee, mehr als tausend, auf der Pennsylvania-Straße vorbei. Sie waren von einer starken Bewachungsmannschaft umgeben. Ich lief auf die Straße, stand ganz nahe bei ihnen, so daß ich sie berühren konnte.

Ach! Die meisten von ihnen waren erst grüne Bengels. Mir war wehmütig zu Mut; denn die auch, waren sie nicht unser Fleisch und Blut? Viele Verwundete unter ihnen sahen ganz elend aus, beschmutzt und in Fetzen und waren doch schöne junge Männer! Mutter, ich kann dir nicht sagen, was ich alles beim Anblick dieses Gefangenenzuges empfunden habe!

 

Sehr liebe Mutter; diese Woche schreibe ich etwas später. Meine armen, armen Jungens nehmen mir alle Zeit weg – ich bin alle Tage bei ihnen, manchmal auch nachts.

Schrieb ich dir schon von einem jungen Mann, der eine schwere Beinverwundung hatte und Höllenschmerzen litt? Das Bein mußte ihm gestützt werden; ein Wärter ließ immerzu, Tag und Nacht, Wasser darüber fließen. Eine Weile hoffte ich, er werde es überstehen. Aber vor einiger Zeit war es plötzlich ganz schlimm geworden. Er starb noch am selben Tag um 3 Uhr. Aus sehr guter Familie, hübsch, intelligent, 20 Jahre ungefähr, verheiratet: er hieß John Elliott, aus Cumberland Valley, Grafschaft Bedford, in Pennsylvanien, und gehörte zum 2. Kavallerieregiment dieses Staates.

Ich schrieb an seinen Vater; eine Antwort habe ich bis heute nicht erhalten. Kein Freund, kein Verwandter war da: sie hatten wohl alle gar keine Ahnung. Er war so schwach, daß die Chirurgen die Amputation nicht vornehmen wollten, doch blieb schließlich nichts anderes übrig. Aber scheußlich zu berichten, Mutter: man trug ihn tot vom Operationstisch fort! Er war unter den Händen der Ärzte gestorben, und das hatte ich befürchtet und geahnt. Armer Junge, er hat so schrecklich viel gelitten, seit so langem schon, und ertrug die Qualen so geduldig, daß man seinen Tod als eine Erlösung ansehen muß. Ich glaube, daß Chirurgen und Wärter alles taten, was in ihrer Macht lag. Für die Amputation mußte er chloroformiert werden. Alles wurde versucht, um ihn zur Besinnung zurückzurufen; man arbeitete 3 Stunden lang, hielt ihm scharfe Salze unter die Nase und wendete noch sonst verschiedene Mittel an. O Mutter, wie einem alle die kleinen, nichtigen Gewohnheiten und die Ruhmestaten dieser Welt, all dieser Kraftaufwand, um »etwas« zu sein, verächtlich vorkommen, angesichts derartiger Erlebnisse: wahrhaftiger Tragödien der Seele und des Leibes! Das alles mitansehen und doch nicht helfen können! Ich schäme mich beinahe, so gesund zu sein.

 

Mutter, heute nichts Besonderes. Ich sehe und höre von nichts anderem als: Krankheiten, alten und frischen Wunden meiner in den Spitälern lungernden Freunde, und ich meine, ich habe dir schon genug darüber geschrieben. Seit mehr als drei Wochen bin ich keinen Tag vom Spital ferngeblieben; mein Werk nimmt mich ganz in Anspruch. Von den Jungens würden einige tatsächlich untergehen und sich ganz ihrem Schicksal überlassen, verbrächte ich nicht einen Teil meiner Zeit mit ihnen. Was die Vorlesungen betrifft, so bin ich zu dieser Unternehmung ganz und gar entschlossen: kein Zweifel, daß sie gelingen wird! Du weißt ja, Mutter, daß ich das nur tue, um Geld zu verdienen und auf diese Weise meinen Dienst in den Spitälern in größerem Maßstab und unbeschränkter fortführen zu können. Die Gesundheitsvereine und dergleichen Einrichtungen ekeln mich alle an; ich möchte von keinem eine Anstellung annehmen. Das solltest du nur sehen, wie die Kranken, die geschwächt in ihren Betten liegen, sich abwenden, wenn sie diese Agenten, Seelsorger und was sonst von weitem erblicken (Söldner nannte sie Elias Hicks: sie kommen mir immer vor wie eine Bande von Füchsen und Wölfen). Sie sind gut bezahlt und erweisen sich immer als Nichtsnutze und unangenehme Leute. Die einzigen anständigen Menschen sind die vom Christlichen Verband. Sie sind überall dabei und nehmen kein Geld.

 

Mutter, seit einigen Tagen hatte ich ziemlich starke Hals- und auch Kopfschmerzen, gestern abend noch, aber heute fühle ich mich wieder ziemlich wohl. Ich bin wie gewöhnlich herumgegangen in den Spitälern. Ich bleibe, trotz Warnung, an den Krankenbetten, auch wenn sie Fieber haben, brandige Wunden und ähnliches. Bei einem, der seit 14 Tagen hier ist und durch ein Nervenfieber sehr heruntergekommen war, habe ich mich besonders lange aufgehalten. Als ich ihn zum erstenmal sah, schien er im Sterben zu liegen; er war auf einer furchtbaren Fahrt von mehr als 60 Kilometern über schlechte Straßen und in schnellem Tempo vollständig vernachlässigt worden, und hier angekommen – er ist vom Land, etwas beschränkt, schüchtern und schweigsam – kümmerte sich kein Mensch um ihn. Ungefähr derselbe Zustand wie bei John Holmes, vergangenen Winter. Da machte ich den Arzt auf ihn aufmerksam, rempelte die Wärter an, ließ ihm ein Alkoholbad geben und legte ihm Eisstückchen auf den Kopf; er litt an heftigen Kopfschmerzen, daß er meinte, der Schädel müßte zerspringen; sein Körper glühte förmlich. Er blieb aber sehr ruhig; ein sehr einfacher Bursch, wie noch aus früheren Zeiten. Da er keine Lust hatte zu sterben, mußte ich rückhaltlos lügen, denn er glaubte, daß ich alles verstände, und ich behauptete natürlich immerzu, daß meine Aussagen die reine Wahrheit seien, und daß ich es ihm wohl sagen würde, wenn es sich anders verhielte. Bei schweren Fällen werden die Fieberkranken aus den Sälen gescharrt und in Zelten isoliert, und der Arzt wollte auch ihn dorthin transportieren. Als ich ihm das mitteilte, bildete sich der arme Junge sofort ein, er sei vom Tod gezeichnet, und das sei der Grund, warum man ihn fortschaffe. Das machte einen starken Eindruck auf ihn, und obwohl ich ihm diesmal die Wahrheit sagte, hatte ich weniger Erfolg, als früher mit den kleinen Lügen. Da überredete ich den Arzt, ihn hier zu lassen. Drei Tage lang schwankte er, wie zwischen zwei gleichen Stühlen, zwischen Leben und Tod, mit einer leichten Wendung zum letzten. Aber, um es kurz zu machen, Mutter, jetzt ist die größte Gefahr vorbei. Er war von Anfang bis Ende sehr vernünftig, jetzt fängt er an, etwas zu sich zu nehmen. (Eine ganze Woche lang hatte er nichts gegessen, und ich mußte ihn zwingen, hie und da ein Orangestückchen zu schlucken!) Und ich muß zugeben, mag man das Dünkel nennen oder nicht: wenn er sich wirklich erholt und wieder auf die Beine kommt, so bin ich es, der ihm das Leben gerettet hat. Mutter, ich wiederhole es dir, du machst dir keinen Begriff, wie sich diese kranken und siechenden Kinder an einen Menschen anklammern, und wie das einen berauscht, trotz all dem Traurigen, all den abstoßenden Todesszenen im Spital!

Im selben Spital, wie dieser junge Kavallerist, haben sich 15–20 Kranke mir anvertraut, um die ich große Sorge trage. Zwei aus Brooklyn: Georges Monk, von der 4. Kompanie 78. Regiment New York, und Stephan Redgate (an dessen Mutter, eine Witwe aus East Brooklyn, ich geschrieben habe), sind ziemlich schwer verletzt, und beide sind noch nicht 19 Jahre. Da, Mutter, wenn ich durch die Reihen der kleinen Betten gehe, kommt es mir etwas hart vor, daß solche Kinder aufgenommen und diesen frühzeitigen Leiden preisgegeben werden konnten! Ich widme dem Spital von Armory-Square viel Zeit, weil da vor allem die schweren Krankheiten und gräßlichen Verwundungen zu finden sind, die meisten Schmerzen und das größte Trostbedürfnis. Ich gehe regelmäßig hin, jeden Tag, oft auch abends, und bleibe manchmal bis spät in die Nacht. Niemand stört mich, weder die Wärter, noch die Sanitäter, noch die Ärzte: man läßt mir vollkommen freie Hand.

Ich habe mir folgende Handlungsweise angewöhnt: erst durchlaufe ich alle Säle nur ganz flüchtig und versuche, jedem ein Wort der Ermunterung zu schenken, wenn nicht noch etwas mehr, und widme dann meine Pflege solchen, denen sie am meisten nottut und zu helfen scheint. Mutter, ich bin wirklich stolz darauf, dir sagen zu können, daß ich mir bewußt bin, auf diese Weise manch ein Menschenleben zu retten, indem ich die Leute nicht verzweifeln lasse und lange bei ihnen bleibe. Das sagen die Kranken und auch die Ärzte; es ist wahrhaftig so, ohne Überhebung. Ich weiß, daß du das gern hörst, Mutter, darum schreibe ich es dir.

Mutter, es ist ein Glück, daß ich Washington in verschiedener Hinsicht liebe, und daß es mir im großen und ganzen gut geht, denn das, was ich täglich in den Spitälern erlebe, zerwühlt einem das Herz vor lauter Hingabe und Qual, und vielleicht könnte ich das alles nicht ertragen, wenn ich nicht draußen ein Gegengewicht fände. Sonderbar: bei den furchtbarsten Szenen – Todesfällen, Operationen, schlimmsten Wunden, in denen oft die Würmer wimmeln – zucke ich mit keiner Wimper. Trotz außerordentlicher innerer Erregung kann ich ganz ruhig bleiben. Aber dann geschieht es oft, daß mich, viele Stunden später, zu Hause oder beim Spaziergang, eine Schwäche befällt; ich zittere förmlich, vergegenwärtige ich mir das Erlebte und lasse es im Geiste auferstehen.

 

Was den armen Jungens die größte Freude macht, ist eine Freundschaft oder die Erscheinung eines anziehenden Menschen. Einige haben ein glühendes Bedürfnis danach. Aber ach, wie jung sind sie und haben so blasse Wangen und so einen traurigen Ausdruck in den Augen! Und wirklich fängt man an sie zu lieben, einige immer mehr als die andern. Sie sind gequält, so gut, so männlich, so von Liebesbedürfnis überschwellend! Abby Eine alte gute Freundin Whitmans und seiner Mutter., Sie würden lächeln, wenn Sie mich unter ihnen sähen! Viele sind noch Kinder. Alle Förmlichkeiten sind gewöhnlich beiseite gelassen: sie leiden nur, sind schwach und matt, und viele hält der Tod schon in den Armen!

Mit manchen ist abgemacht worden, daß ich am Abend nicht fortgehen darf, ohne sie umarmt zu haben, und deren sind oft so viele, daß ich die Runde machen muß: arme Jungens! Im Krieg ist der Soldat wenig verwöhnt, aber ich weiß, Abby, was in ihrem Herzen wohnt und immer da ist, obwohl sie es selbst nicht wissen. Die ganzen Abende verbringe ich im Spital, oft auch die ganzen Tage. Ich teile ein wenig Geld aus, in geringen Beträgen, was ich gerade geben kann und dann eine Menge anderer Dinge: Eßwaren, Kleidungsstücke, Briefmarken (ich schreibe eine Unmenge von Briefen), hier und da ein paar Krücken usw. Ich lese ihnen auch vor. Alle Kranken des Saales, die gehen können, bilden dann einen Kreis um mich und lauschen.

 

Jetzt ist wieder ein neuer Schub Verwundeter eingetroffen. Seit drei Tagen strömen sie herbei: Kranke und Verwundete, erst lange Ambulanzenzüge mit Kranken und gestern eine große Zahl von Schwerverletzten mit roten und schwarzen Wunden. Ich dachte, ich sei schon abgehärteter und an das Schauspiel gewöhnt. Aber beim Anblick von einigen konnte ich doch kaum an mich halten.

Mutter, gestern war mir das Glück beschieden, viel Gutes tun zu können. Ich hatte einen Vorrat an Eßwaren eingekauft, der eigentlich für einen andern Ort bestimmt war. Aber ich hatte sie gerade da unter der Hand und konnte sie unverzüglich an die neuen Ankömmlinge verteilen; sie waren schwach und ganz verhungert, durch die lange, mühevolle Fahrt zermürbt, schmutzig und zerfetzt, aschfahl und mit Blut beschmiert. Der Vorrat wurde verteilt: auch Sanitäter bekamen davon, die ich kannte, und die ihre Schutzbefohlenen gut versorgten. Außerdem fand ich in der Nähe eine große Ration Austernsuppe, die ich auf der Stelle kaufte. Mutter, gerade wenn die Leute so ankommen, ist ihr Anblick am traurigsten, glaube ich. Ich muß mich ermannen und mein Herz halten, denn es sind alles so hartgewordene junge Menschen, meistens Kavalleristen.

 

Mutter, wenn der eine oder andere meiner kleinen Soldaten dich aufsuchen sollte (denn oft verlangen sie meine Adresse in Brooklyn), behandle sie, wie es so deine Art ist, ohne Förmlichkeiten. Wenn du zufällig ein Stückchen übrig hast oder ihnen sonst einen Bissen vorsetzen willst, tue es ohne Rückhalt! Und wenn ich heimkomme, will ich dir ein paar Briefe von ihren Müttern, Schwestern und Vätern zeigen, du wirst mehr als belohnt sein.

Gestern brachte man mehrere Hundert von neuen Kranken. Ich blieb heute den ganzen Tag bei ihnen, und das genügt, um einen düster zu stimmen. Trotz ihrer Jugend sind viele nur mehr Ruinen; in mancher Hinsicht ist Krankheit schlimmer als Verletzung. Ein sechzehnjähriger Bursch aus Portland in Maine, der vor einem Monat erst angekommen ist, ein Rekrut, liegt im Spital, schwerkrank und niedergeschlagen. Ein richtiger Bauer, aber ich halte ihn für schwindsüchtig. War nur eine Woche beim Regiment. Ich blieb lange an seinem Lager, denn ich merkte, daß ihm das wohl tat. Anderen gab ich zu essen. Das macht mich ordentlich stolz zu sehen, wie oft es mir gelingt, die Leute zum Essen zu bringen, wo es kein anderer fertig bringt. Manche rühren sonst unter keinen Umständen, keinem anderen Menschen zulieb, die Speisen an. Das ist oft sehr erschütternd, glaube es mir. Heute zum Beispiel erlebte ich so einen Fall: einem, der ein Halsleiden hat und sehr herunter ist, habe ich ein ganzes Mittagessen eingegeben. Seine Kameraden ringsum sahen ganz verblüfft zu, und nachher erzählte mir einer, daß der Kranke seit 3 Monaten nicht soviel auf einmal zu sich genommen hatte. Mutter, ich will für einen Augenblick viel Mut haben; schreibe mir alles Neue von zu Hause.

 

Der arme Junge, der eine schwere Gehirnentzündung hatte und schwer litt, ist gestorben. Kaum 19 Jahre alt und von reichen Eltern. Obwohl er seit acht Tagen nur mehr hindämmerte, war er immer gelassen und hatte noch eine ungefähre Vorstellung von den Dingen. Kein Verwandter, kein Freund: es war sehr traurig. Ich blieb lange Zeit an seinem Lager, nur um ihn zu beruhigen. Er phantasierte immerzu, und was er sagte, war manchmal ergreifend. In den letzten 24 Stunden sah man deutlich, daß es mit ihm zu Ende ging. Seit einigen Monaten erkrankt, war er ins 6. Invalidenkorps gesteckt worden – man hätte besser getan, ihn nach Hause zu schicken. Einen Tag nach seinem Tod kam sein Bruder an.

Mutter, mir kommt es vor, als ginge es immer schlechter, hier in den Spitälern. Der Auswurf sozusagen aller Krankheiten und des größten Elends aus den letzten drei Jahren kommt hierher. Hundert- und tausendmal triffst du die Diarrhöe mit ihren schmerzlichsten Folgen; wahrscheinlich wegen der schlechten Ernährung in der Armee. Ich möchte dir, liebe Mutter, jetzt nicht mehr soviel über die Kranken schreiben, und doch weiß ich, wie sehr du wünschest, daß ich es tue. Die Menschen sind so gleichgültig. Das ist die allgemeine, ewige Klage. Die Verpflegung ist elend. Oh, wenn ihr da wäret – ich meine Frauen wie du und Mat – daß ihr in Schwärmen da wäret, als Beschützerinnen und Vorsteherinnen bei diesen armen Kranken und Verwundeten! Eure Anwesenheit allein würde genügen! Wie gut ihnen das täte! Das ekelt mich ja an, wenn ich die Leute ansehe, denen sie ausgeliefert sind – diese berechnenden und förmlichen Menschen, die Angst haben, sie anzurühren.

 

Mutter, das war eine schreckliche Nacht, letzten Freitag – schwarz, von wildem Wind geschüttelt, Sturzregen – und da war einer (o, nur ein Beispiel für sechshundert andere hier!): furchtbar jung, ganz klein noch. Er stöhnte ein wenig, als die Träger ihn zum Tor des Spitals hinaustrugen, und als sie die Bahre zur Erde niederließen, um nach ihm zu sehen, war er tot. Man trug ihn in den Saal zurück, der Arzt kam sofort: es war nichts mehr zu machen.

Was das Grimmigste ist: er war vollständig unbekannt, keine Angabe auf seinen Kleidungsstücken, kein Mensch, der etwas über ihn aussagen konnte, und nun bleibt er ewig unbekannt. Wahrscheinlich werden seine Angehörigen nie erfahren, was mit ihm geschehen ist. Er schien kaum 18 Jahre alt.

In letzter Zeit habe ich das Gefühl, als müßte ich etwas Ruhe haben. Es geht mir gut, ich fühle mich wohl, meine Gesundheit war überhaupt nie so befriedigend, aber ich habe die ganze Zeit so schmerzliche Aufregungen erlebt. Schlimmer und schlimmer wird es mit den Kranken, und die, die mit ihnen zu tun haben, werden immer härter und teilnahmsloser. Mutter, wenn ich mir die Leiden der Soldaten vergegenwärtige und sehe, wie alle Welt sie nur ausnutzt, was für Mumpitz und Gaunerei mit ihnen getrieben wird, in jeder Hinsicht – bis zu jener Kanaille von einem Sanitäter, der den Körper eines sterbenden Soldaten absucht, um ihm sein Geld zu stehlen, oder einfach unter das Kopfkissen der Kranken langt, was alle Tage vorkommt, und wenn ich an alle die täglichen Todesqualen denke, bekomme ich Angst vor den Menschen!

Mutter, wenn ich das alles überlebe, werde ich scheußliche Gedanken und Träume haben. Daran wird es nicht fehlen. Aber es ist so erhebend, wahrhaft Gutes zu tun, diese Schmerzen und furchtbaren Wunden zu lindern oder gar Menschenleben zu retten. Das ist das einzige, das einen aufrecht hält.

 

Gestern verbrachte ich einen großen Teil meines Nachmittags neben einem Jüngling von 17 Jahren, Charles Cutter, aus Lawrence City in Massachusetts, von der Batterie M im 1. Schwer-Artillerieregiment dieses Staates. Tödliche Unterleibsverwundung. Wie ich so neben ihm saß, dachte ich mir, welcher Trost es trotz alledem für seine Eltern wäre, wenn sie sehen könnten, wie wenig er leidet. Er lag ruhig ausgestreckt im Halbschlaf, die Augen geschlossen. Da es sehr heiß war, fächelte ich immerzu über ihn hinweg und wischte den Schweiß von seinem Gesicht. Schließlich öffnete er große Augen und blickte fragend um sich. Ich sprach ihn an: »Was ist, mein Lieber? Willst du etwas?« »O nein,« erwiderte er ruhig mit gütigem Lächeln, »ich wollte nur sehen, wer neben mir sitzt.« Er hatte ein ganz klein wenig Delirium, und war doch so ruhig, am Rande des Todes. Er sah aus wie ein richtiger Junge vom Land mit schlichten Manieren, er war hübsch. Zweifelsohne ist er diese Nacht gestorben.

 

Den ganzen Morgen in einem der schrecklichsten Spitäler gewesen, mit etwa 1600 Kranken. Pfeifen und Tabak verteilt. Tabak ist so selten! Wie das einigen wohl tat! Ärzte und Geistliche sehen mich deswegen schief an, aber ich gebe ihnen, sie sollen rauchen! Andere kriegten Orangen.

 

Mutter, wenn der Feldzug nicht so fortdauerte, würde ich nicht mehr hier bleiben. Denn ich beginne jetzt ein wenig die Wirkung von alledem zu spüren. So viel schwere Verletzungen, Wundfieber, arge Wunden, bei denen ich mich etwas zu lange aufgehalten habe! Doch wie die Dinge stehen, bleibe ich hier, bis eine Entscheidung fällt. Ich kann jetzt unmöglich aufhören, zu verschiedenen Kranken zu gehen, und diese Gänge bringen mich zu andern, und so geht es weiter. Ich komme eben von Oscar Cunningham (aus Ohio), todkranker, hoffnungsloser Fall, zum Heulen! Wenn man ihn ansieht, auch das härteste Herz müßte zerfließen: er sieht aus wie ein Skelett und 50 Jahre alt. Weißt du noch, was ich dir schrieb, als man ihn vor einem Jahr herbrachte? Ich nannte ihn das schönste Exemplar aus dem Westen, wahre Riesengestalt, und immer ein Lächeln um die Lippen. Oh, welche Veränderung! Seit langer Zeit verträgt er keines Menschen Nähe mehr außer mir; er ist einfach hingeschmolzen.

Mutter, weißt du, der vor einer Woche, letzten Sonntag, mit schwerer Verletzung an der Brust eingeliefert wurde, ist gestorben! Durchschnittlich stirbt hier im Hauptspital von Armory-Square einer in der Stunde.

Mutter, heute morgen sehe ich alles sehr düster, da zwei junge Leute, die ich gut kannte, gestorben sind. Der eine gestern abend, der andere vor einer halben Stunde, ehe ich kam. Weder von dem einen, noch von dem anderen hatte ich es erwartet. Furchtbar, furchtbar, beide noch ganz jung!

Da sehe ich, daß ich schon wieder nur einen Brief über die dunkle Welt geschrieben habe. Ich fühle mich nicht so wohl wie sonst.

 

Mutter, es ging mir gar nicht gut vergangene Woche. Ich hatte Anfälle von beklemmender Schwäche, heftige Kopf- und Halsschmerzen. Im Kopf war's am schlimmsten. Aber ich weiß nicht mehr viel davon, die Schwächezustände waren sehr unangenehm, nun aber, glaube ich, ist alles vorbei! Heute morgen fühle ich mich ganz frisch. Es ist jetzt gerade eine große Anhäufung in Armory-Square, ungefähr zweihundert der allerschlimmsten Verwundungen, und wahrscheinlich bin ich zu lange dabei geblieben. Ein Steinherz müßte hier weich werden. Ein Drittel von ihnen ist amputiert. Mutter, der arme Oscar Cunningham mußte sterben (der vom 82. Regiment Ohio, verwundet am 3. Mai 1863). Ich habe dir so oft von ihm geschrieben, daß diese Nachricht dich wohl ebenso tief bewegen wird, wie wenn du ihn gekannt hättest. Samstag früh und abends war ich bei ihm. Er war ruhiger als sonst, hatte es aber schwer, ein Wort herauszubringen. Sonntag früh um 2 Uhr verschied er – sehr langsam, hat man mir gesagt. Ich war nicht dabei. Er starb, weil zuguterletzt sein Organismus den Eiter und das schlechte Blut aus seiner Wurde einsog, statt sie auszustoßen.

Ich teilte dir wohl schon mit, daß ich über das Ableben einiger mir gutbekannter junger Leute sehr traurig bin: insbesondere von zweien, auf deren Genesung ich gehofft hatte.

Es geht für die Verwundeten immer schlechter. Unendliche Nachschübe hier in Washington, und alle, die aus der »Wüste« kommen und jener Gegend, waren vernachlässigt und in trostlosem Zustand. (So die aus Fredericksburg und Ball Plain.)

Die Zeitungen sind voller Lobhudelei, aber in Wahrheit erhalten auch die allerschwersten Fälle nur wenig oder gar keine Pflege. Hier kommen sie an, die Wunden voller Würmer, angeschwollen und in Brand. Viele Amputationen müssen noch einmal vorgenommen werden. Bezeichnend ist, daß in letzter Zeit viele von diesen leidenden jungen Leuten verrückt geworden sind. In jedem Saal gibt es welche, die delirieren. Sie haben zuviel gelitten; und das ist vielleicht ein Vorteil für sie, daß sie den Verstand verloren haben. Mutter, das alles ist wirklich zu viel für einen einzigen Menschen, manchmal möchte ich heraus – aber das kommt wohl, weil ich mich selbst nicht mehr ganz beisammen fühle, glaube ich.


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