Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Zweites Kapitel.

Wenn einmal die Liebe so weit ist, dann sorgt das Schicksal gemeiniglich, daß sie nicht auf der Hälfte des Wegs stehen bleibt: ein Zufall mußte sogar den beiderseitigen Vortheil der jungen Personen mit ins Spiel ziehn, und sie nöthigen, Parthie mit einander gegen die Unterdrückung eines Dritten zu machen – ein neues Band, das Herzen fester zusammenzieht!

Der Graf hatte unter seinen vielfältigen Marotten eine von der seltsamsten Art: er wollte seinem Hause gern das Ansehn eines Hofs geben, und empfand daher eine besondre Freude, wenn die Kabalen eines Hofs darinne regierten: Ränke, Unterdrückungen, Uneinigkeiten, Verläumdung, zierten seine kleine Hofstatt, nach seiner Meinung; und er gab sich sogar selbst Mühe das Feuer der Zwietracht wieder aufzuwecken, wenn es ihn zu niedrig brannte. Deswegen führte man auch in seinem ganzen Hause die eigentliche Hofsprache: wenn der Koch das 295 Küchenmensch geprügelt und bey dem Haushofmeister es dahin gebracht hatte, daß er ihr den Abschied gab, so sagte man allgemein, der Koch hat die Küchenmagd gestürzt. Hatte der Kutscher des braunen Zugs es so einzuleiten gewußt, daß er den Grafen bey der sonntäglichen feierlichen Promenade fuhr, da es einige Zeit her sein Kamerad mit dem perlfarbnen gethan hatte, so sagte man: Jakob hat Gürgen untergraben. Wenn der eine Laufer den Grafen nach dem Spatziergange im Garten die Schuhe abbürsten mußte, da es sonst der andre gethan hatte, so berichtete man sich: daß Albert wider Franzen eine Intrigue gemacht habe; und durfte der Stallknecht auf ausdrücklichen Befehl, der meistens nur ein Einfall war, nicht mehr die perlfarbenen Wallachen in die Schwemme reiten, so war, nach der allgemeinen Sage, der Stallknecht in Ungnade gefallen.

Zuweilen giengen die Kabalen wirklich ins Große: man plagte und quälte sich so herrlich, als wenns ein Königreich gegolden hätte, und gewöhnlich war doch nichts als die kleine 296 Glückseligkeit, mit einem Befehle mehr vom Herrn Grafen beehrt zu werden, der Preis, um dessenwillen man sich das Leben sauer machte. Vornehmlich war der Liebling des Grafen, sein sogenannter Maulesel, der große Hetzhund seines Herrn, der sich ein ordentliches Studium daraus machte, seine Kameraden in unaufhörlichem Streite zu erhalten. Er hatte es darinne so unglaublich weit gebracht, das ihm seine Absicht nie mislang: er gieng zu dem einen, den er zum Zank ausersehen hatte, und erzählte ihn die aufbringendsten Dinge, die ein Andrer von ihm gesagt haben sollte und nie gesagt hatte, daß er vor Zorn kochte: darauf begab er sich zu dem Andern und vertraute ihm die nämlichen Beleidigungen an, als wenn sie jener von ihm gesagt hätte; und jeder mußte ihm noch oben drein dafür danken, weil er ihm diese erlognen Nachrichten als Heimlichkeiten entdeckte, wobey er inständigst bat, den Ueberbringer derselben ja nicht zu verrathen: wenn sie nun beide vor Grimm brausten und sprudelten, dann giengen nicht drey Minuten vorbey, so legte ers so 297 geschickt an, daß sie an einem dritten Orte einander treffen mußten; und die menschliche Natur wirkte bey beiden sogleich einen so heilsamen erleichternden Zank, daß ihr Zusammenhetzer im Winkel, wo er sie behorchte, sich vor Freuden hätte wälzen mögen. Meistens hatte er auch noch eine andre boshafte Nebenabsicht: nach der Gewohnheit dieser Leute warfen sich die Streitenden jedesmal alle Spitzbübereyen und Schelmenstreiche ins Gesicht, die einer vom andern wußte: sonach erfuhr er auch die skandalose Chronik des ganzen Schlosses, und es kamen durch dieses Mittel zuweilen Gottlosigkeiten an den Tag, die man außerdem nicht anders als mit dem höchsten Grade der Tortur aus ihren Urhebern herausgebracht hätte. Zuweilen, wenn er wußte, daß einer einen Groll auf einen Andern hatte, brachte er diesen unter irgend einem Vorwande in die Nähe bey des Erstern Wohnung, oft stellte er ihn ausdrücklich unter das Fenster, um ihm zu beweisen, wie schlecht jener von ihm spreche: dann gieng er hinein, leitete das Gespräch auf denjenigen, der unter dem Fenster 298 horchte, lobte oder tadelte ihn, und wenn der Mann, der von seinem Feinde nicht behorcht zu werden glaubte, treuherzig genug war, so stimmte er mit lautem Halse in den Tadel ein: dann nahm der Boshafte die Partie des Horchenden und feuerte den Mann in der Stube durch den Widerspruch zu solcher Erbitterung an, daß der Mann unter dem Fenster seinen Zorn nicht länger halten konnte, sondern hereinbrach und auf der Stelle den Beleidiger mit Worten oder Thätlichkeiten angriff. In diesen Kunstgriffen, die Leute ohne ihren Willen zum Sprechen wider einen Dritten zu reizen, wenn und wie oft es ihm beliebte, bestand sein ganzer Verstand: er war unerschöpflich erfindsam darinne und beständig so neu, daß er oft den Klügsten des Nachmittags wieder betrog, wenn er ihn gleich des Vormittags schon einmal betrogen hatte. Jedermann floh ihn deswegen, und jedermann mußte ihn suchen, weil er der einzige Kanal war, bey dem Grafen etwas auszuwirken. Alle solche Lustbarkeiten endigten sich damit, daß sie ganz frisch und warm dem Grafen hinterbracht wurden, 299 der zuweilen so herzlich darüber lachte, daß ihm die Augen übergiengen. Die Folgen solcher Klatschereyen waren aber meistens sehr ernsthaft: einer von den Zankenden, dem der Maulesel übel wollte, wurde seines Dienstes entlassen oder auf einige Zeit aus dem Schlosse gewiesen, oder der Graf kehrte ihm allemal den Rücken, wenn er sich zeigte, oder es widerfuhren ihm andre herzangreifende Kränkungen; und alles geschah in der stolzen Absicht, daß große und öftere Revolutionen im Hause seyn sollten, die ihm die höchste Aehnlichkeit eines Hofs zuwege brächten. Daher war auch das Schloß des Grafen von Ohlau ein wahrer Sammelplaz, ein Raritätenkabinet von Lügen und Klatschereyen: nicht eine Minute lang stunden zween Menschen auf Einem Flecken, so wurde ein Drittes zum Schlachtopfer ihres Gesprächs: eine Grube voll Füchse, Wölfe und Tiger wars, die sich alle angrinzten und zerfleischten; und wenn Falschheit, Feindschaft und Verläumdung nöthige Ingredienzien eines Hofs sind, so war dies Haus der größte in ganz Europa.

300 Das große Schwungrad dieser herrlichen Maschine – den Maulesel meine ich – hatte schon gleich anfangs mit Widerwillen die Aufnahme des jungen Herrmanns auf das Schloß angesehen, und war zum Theil daran schuld, daß er die Gunst des Grafen nur kurze Zeit genoß: da auch die überspannte Liebe der Gräfin bald wieder schlaff wurde, und man den Purschen, abgesondert von der übrigen Hofstatt, zu Schwingern steckte, wo er mit Niemanden als seinen Büchern und der Baronesse Ulrike in Gemeinschaft stand, und nach dem Beispiel seines Lehrers sonst keine Seele im Hause anredte, so entgieng er gewissermaßen der Aufmerksamkeit jenes Boshaften: er war nebst seinem Freunde so gut als todt geachtet, und keiner von beiden werth, daß man wider ihn maschinirte, weil sie zum Zanken nicht taugten. Izt aber besann sich der Mann, daß sein eigner Sohn in dem Alter sey, um eine Kreatur des Grafen zu werden, und sich durch zeitige Uebung zum Nachfolger seines Vaters zu bilden. Er lag also dem Grafen an, oder vielmehr er befahl ihm – 301 denn so klangen alle seine Bitten und hatten auch die nämliche Kraft – seinen Sohn auf dem Schlosse, wie den jungen Herrmann, erziehen zu lassen: der Graf sagte ohne Bedenken Ja, und den Tag darauf erschien der Bube, das ächte Konterfey seines Vaters. Unsern Heinrich wollte er nicht geradezu verdrängen, weil er hofte, daß sein vielversprechender Sohn bald einen glücklichen Zank bewerkstelligen werde, wo jener, als die schwächere Partey, nothwendig den Kürzern ziehen und durch seine Veranstaltung in Ungnaden den Plaz ganz räumen müsse.

Schwinger hätte lieber einen leiblichen Sohn des Satans unterrichtet, als diesen Buben. Allein was sollte er thun? Es war Befehl des Grafen, von dem er sein Glück erwartete. Jakob – so hieß er – wurde also der Stubenkamerad und Mitschüler des armen Heinrichs. Schwinger gab seinem bisherigen Zöglinge heilsame Verhaltungsregeln und empfahl ihm vor allen Dingen, Zank zu verhüten, den gefährlichen Nebenbuhler zu meiden, so viel es sich thun 302 ließ und keine von seinen Beleidigungen der Aufmerksamkeit zu würdigen: er selbst beobachtete eine ähnliche Aufführung gegen ihn, ließ ihn bey seinem Unterrichte gegenwärtig seyn, ohne sich um ihn zu bekümmern, ob er etwas lernte oder nicht; er konnte gehn, kommen, Acht haben oder nicht, und wegen seiner Aufführung lobte und tadelte er ihn mit keiner Silbe. Der Bube, der nicht den mindesten Trieb zum Fleiße hatte, war mit dieser verächtlichen Behandlung äußerst zufrieden und brachte die Lehrstunden meistens am Fenster mit dem unterhaltenden Spiele zu, daß er Fliegen fieng, an Stecknadeln spießte, und mit inniger Freude sich zu Tode quälen sah. Deswegen sagte ihm auch einmal Schwinger: du bist zum Scharfrichter geboren – welche Bestimmung er so freudig anerkannte, daß er versicherte, er wolle einem Menschen wohl den Kopf abhauen, wenn er still hielt. Heinrich kehrte ihm vor Abscheu den Rücken zu und verzog sein ganzes Gesicht in die Miene der Empfindlichkeit: es schauerte ihn.

303 Noch giengs auf allen Seiten gut: allein der Junge war von der Natur so zum Hasse ausgezeichnet, daß man ihn unmöglich um sich sehen und blos verachten konnte. Aus seinen lichtgrauen, beinahe grünen Augen lauschte der ausgemachteste Schelm hervor, der niederträchtig seyn mußte, weil er zur Bosheit zu tumm war: alle Muskeln des Gesichts bewegten sich unaufhörlich: bald zog sich der Mund in eine schiefe hönende Lage, bald rümpfte sich die Nase, bald rissen die Augen, wie große unterirrdische Hölen, auf und die Augenbraunen fuhren über die Stirn bis an die Haare hinan, bald blekte er die Zunge, bald fletschte er die Zähne, wie ein grimmiger Tiger – und alles vor sich hin, ohne ein Wort zu sprechen! Zum freyen Blicke in die Augen ließ ers niemals kommen, sondern wandte sogleich die Augen hinweg, wenn sie ein fremdes Auge traf, und wollte er Jemanden anschauen, so geschahs nicht anders als mit einem hämischen Seitenblicke. Nie stand er gerade auf den Fußsolen, sondern Ein Fuß lag gewöhnlich auf der Seite und rieb sich an den Tielen: drey Finger in den eyrunden Mund zu stecken und daran zu kauen, beide Ellbogen auf den Tisch zu stützen und den Affenkopf in die Hände zu legen, sich nur mit einer Seite des Leibes auf den Stuhl zu setzen und mit der Schläfe an der Lehne hin und her zu fahren – diese und ähnliche waren seine Lieblingsstellungen. Der Kontrast, wenn dieser Pavian und Heinrich neben einander stunden, war so auffallend, als zwischen einem Satyr und einem Apoll. Dem jungen Herrmann sprach aus den feurigen dunkelblauen Augen eine Seele voll edler Größe und starken Gefühls: auf den rothen vollen Wangen blühte Heiterkeit und frölicher Muth: der lächelnde kleine Mund kam, auch schweigend, mit Gefälligkeit und Liebe entgegen: die gebogne Nase kündigte Verstand, die hochgewölbte Stirn Tiefsinn und Ernst, und die starken, in erhabne Bogen gekrümmten Augenbraunen Würde an: aus allen Punkten des Gesichts redte Offenheit, daß man beym ersten Anblicke in ein Herz zu schauen glaubte. Jede Bewegung seines wohlgebildeten Leibes wurde von einem Reize, einem 305 bezaubernden Reize begleitet: selbst die stolzeste Dame, wenn sie die Pantomime sah, womit seine Lebhaftigkeit alle Reden beseelte, spitzte den Mund zu einem Kusse, und würde ihn gewiß auf seine Lippen gedrückt haben, wenn sie nicht die Erinnerung an ihren Stand zurückgezogen hätte. Erblickte man neben diesem Marmorbilde des Phidias den thönernen Jakob, von dem elendesten Töpfer geformt – einen dicken kugelrunden Kopf, mit Schweinsaugen, einer ungeheuern Nase, einem großen verzerrten Munde, und hauptsächlich zur Warnung aller Sterblichen mit der hämischsten, tückischsten, gelbsüchtigsten Miene und der niederträchtigsten Dummdreistigkeit so deutlich und leserlich, als ein Dieb vom Scharfrichter, gebrandmahlt: sah man diesen krumbeinichten Pagoden dahinschlentern, und mit den plumpsten Manieren oder leidenschaftlichem Ungestüm die Arme bewegen: dann wünschte man sich das Recht, ein so mislungenes Werk zu zerstören, das eine Welt verunstaltete, die solche Geschöpfe hervorbringt, wie eins neben ihm stund.

306 Die natürliche Antipathie, die zwey so dissonirende Kreaturen von einander wegstoßen muß, verstattete dem jungen Herrmann schlechterdings nicht, der Ermahnung seines Lehrers ganz getreu zu bleiben: doch wäre er vielleicht wieder in das Gleis der stillen Verachtung zu leiten gewesen, hätte sich nicht Eifersucht darein gemischt. Troz aller Merkmale der Verwerflichkeit zog der Graf das Geschöpf Heinrichen weit vor: diesen ließ er niemals zu sich kommen, und jenen sehr oft zu sich rufen: wenn ihm die Baronesse einen Einfall von Heinrichen erzählte, so schwieg er und that, als ob ers nicht hörte, oder sprach gleich etwas anders darein: warf Jakob eine Grobheit oder plumpe Hönerey Jemanden an den Hals, so erschallte ein beyfallvolles Lachen: sehr oft erzählte er sogar Einfälle, die Heinrich gesagt und die Baronesse bey Tafel vorgebracht hatte, als ob sie von dem struppköpfichten Jakob herrührten. – Es ist ein unseliger Trieb in der menschlichen Natur, der die Menschen gegen die Vortreflichkeit empört: lieber räuchern sie einem abgeschmackten, geistlosen, 307 unwürdigen Apis, um einen Apoll zu demüthigen, weil er den Weihrauch verdient. Auszeichnendes Verdienst ist ein Fehdebrief an die Verachtung, den die Natur ihren Günstlingen auf die Brust hieng, der jedesmal richtig beantwortet wird, wo es die Leute nicht der Mühe werth achten zu hassen. Zu diesem Grunde gesellte sich noch ein andrer nicht weniger wichtige: Jakob, weil er keinen Werth in sich selbst fühlte, kannte keinen andern als den Gehorsam eines Hundes, der sich von seinem Herrn zu allem gebrauchen läßt, wenn er ihn nur gut füttert: Heinrich hingegen voll vom Gefühl seiner Kraft, erwies und foderte Achtung, gehorchte aus Erkenntlichkeit, und rang nach keiner Gunst, die er als eine erniedrigende Gnadenbezeugung besitzen sollte: als Belohnung, als Verdienst wollte er sie empfangen. Dieser schmeichelte und ehrte den Grafen, um sich ihm verbindlich zu machen, und der Graf wollte nur aus Schuldigkeit geehrt und geschmeichelt seyn: er foderte Respekt als einen Tribut. Eine solche Foderung erfüllte Jakob ungleich besser: er 308 war sich in seinen eignen Augen nicht viel, und fand es also nicht befremdend, wenn ihn der Graf als gar nichts behandelte.

Heinrich sahe vielleicht einen großen Theil hievon ein: allein welche Menschenseele sollte nicht dessen ungeachtet bey einem so offenbaren Unrechte entbrennen und wider den Unwürdigen auflodern, der so ganz ohne Verdienst den Vorzug an sich reißt? – So oft auch Schwinger seine Ermahnungen zur Gelassenheit wiederholte, so konnte er sich doch nicht enthalten, ihn zuweilen mit bittern Spöttereyen und empfindlichen Verächtlichkeiten zu bestrafen: zu seinem Aerger verstand sie der Bube meistentheils nicht, war aber die Dosis so stark, daß er sie nothwendig fühlen mußte, so rächte sich der Beleidigte mit einer Plumpheit, und wenn er im darauf folgenden Wortwechsel nicht weiter konnte, so war seine gewöhnliche Zuflucht, den Streit mit Erdichtungen zum Nachtheile des Gegners dem Grafen zu hinterbringen, der nicht selten Heinrichen einen Verweis darüber geben ließ. Eines Tages gieng es so weit, daß 309 ihn der Graf, als er ihn von ohngefähr auf der Treppe traf, in Gegenwart seines ganzen Gefolgs und des Anklägers derb ausschalt, weil er diesen die Meerkatze des Grafen genannt hatte. Heinrich, über die Vorwürfe und das triumphirende Gelächter seines Gegners aufgebracht, antwortete bitter: »O ich hab' ihm noch zu viel Ehre angethan: ihre Hofsau hätt' ich ihn nennen sollen.« – Der Graf vergaß sich in der Hitze so weit, daß er ihm mit hoher Hand auf der Stelle eine Ohrfeige gab.

Wie eingewurzelt stand der Beleidigte da und wußte nicht, ob er dem Grafen nachgehen und sich durch stärkre Empfindlichkeiten rächen, oder dem Buben, der vor Freuden hüpfte, die Kehle zudrücken sollte: izt gieng er, izt stund er, knirschte mit den Zähnen, schlug sich mit der geballten Faust an die Stirn, daß es laut schallte, seufzte, lehnte den Kopf an die Wand und brach vor Schmerz über seine ohnmächtige Wuth in eine Fluth von Thränen aus.

Die Baronesse hatte durch eine schmale Eröfnung ihrer Thür den häßlichen Auftritt 310 angesehn: schon war sie auf dem Sprunge, sich zu verrathen und dazwischen zu laufen, als der Graf ausholte, allein zu ihrem Glück blieb sie mit der Falbala am untersten Riegel hängen, und ehe sie sich losriß, war die Ohrfeige schon empfangen und ihr Onkel fortgegangen. Sie that einen lebhaften Ruck, daß ein großer Theil der Garnitur an dem Riegel zurückblieb, und eilte auf Heinrichen zu, wie er mit dem Kopfe an der Wand lehnte. Sie legte beide Hände auf seine Schultern, um ihn abzuziehn, tröstete und bat ihn, sie in ihr Zimmer zu begleiten. – »Ich bin allein,« sezte sie hinzu; »Hedwig ist bey der Gräfin.« – »Lassen Sie mich!« rief er mit schmerzhaftem Tone und gieng die Treppe hinunter – stund – gieng über den Hof – und wieder – gieng in den Garten – ein paar Gänge aufwärts mit untergeschlagnen Händen und gesenktem Haupte, so tief in seinen Schmerz verloren, daß er an Bäume rennte, weder hörte noch empfand. Die Baronesse folgte ihm stillschweigend Schritt vor Schritt sehr nahe auf den Zehen. Er kam an einen 311 Teich: die Baronesse hatte schon die Hand am Rockzipfel, um ihn aufzuhalten, wenn er im Tiefsinne das Wasser nicht gewahr werden sollte: der Fuß war bereits aufgehoben, um ihn in den Teich zu setzen – die Baronesse zog ihn zurück: ohne sich des Zuges bewußt zu seyn, erwachte er, erblickte das Wasser, trat zurück und stund da. Er warf sich in den Sand hin, die Baronesse flüchtete hinter einen nahen Baum. Plözlich sprang er auf mit einer Bewegung als wenn er sich in den Teich stürzen wollte: daß er wirklich die Absicht hatte, ist nicht zu läugnen: aber der Entschluß war nur ein schneller Stoß, eine Verzuckung der Leidenschaft, und er hielt sich schon zurück, als die Baronesse hervorbrach und ihm um den Hals flog. Als wenn er noch immer bereit wäre, seinen Vorsaz auszuführen, packte sie ihn in ihrer Umarmung fest und trieb ihn mit aller Gewalt vom Wasser hinweg.

Der Uebergang von Schmerz und Kränkung zur Liebe ist nur ein halber Schritt: die zärtliche Stellung, in welcher er sich mit der Baronesse befand – von ihren Armen fest 312 umschlungen und dicht an ihren klopfenden Busen gedrückt, daß ihr Odem sein Gesicht bethaute – ihr Mitleid, ihre Vorsorge – alles drängte in Einem Tumulte auf seine Empfindung los und spannte ihre Federn so stark an, daß er sein Gesicht an ihren Busen verbarg und heiße Thränen hinströmte: beide zerflossen in einer Innbrunst, die auch Ulrikens Augen trübte. Bey der Baronesse erwachte Besonnenheit und Scham zuerst: sie machte ihre Arme los und schob ihn von der Brust hinweg: der Schwung, den Zorn und Wuth seiner Seele gegeben hatten, machte ihn dreist: er wiederholte eine Umarmung, die seinen Schmerz so merklich in sanfte, erleichternde Empfindungen verwandelte, und zog Ulriken mit sich unter den Baum hin: der Sturz entdeckte ihm ein Knie, das die Natur nur Einmal in solche Form goß, das ihm Neuheit und wallende Imagination in dem Augenblicke mit Reizen belebten, die alle seine Sinne benebelten: er war berauscht, er lechzte vor innerlicher Gluth. Ulrike wand sich zum zweitenmale los: beide sahen ins Gras und schwiegen.

313 »Ach, unmöglich kann ich aus dem Hause gehn,« fieng Heinrich an: »ich muß meinen Schimpf tragen – den entsezlichen Schimpf!«

Die Baronesse. Du? aus dem Hause gehn?

Heinrich. Ja, ich muß: aber ich kann nicht; und wenn ich alle Tage bis aufs Blut gequält würde, ich kann nicht! – Ulrike, wie mach ichs, daß ich mir nicht gram werde. wenn ich bleibe?

Die Baronesse. Rächen mußt du dich an dem Lotterbuben! Räche dich, und dann geh! Geh aus dem Hause und – lieber Heinrich, nimm mich mit dir! Das ganze Schloß ist mir so zuwider, daß ichs nicht gern ansehe. Man wird seines Lebens nicht froh darinn: das ist eine ewige Langeweile, ein ewiger Zwang: das reprimandiren, korrigiren hat gar kein Ende. Ich muß mich bücken und schmiegen und werde verachtet, weil ich aus Gnade im Hause bin: die geringste Kleinigkeit muß ich mir als eine große Gnade anrechnen lassen und – kurz, ich bin des Lebens satt. Nun soll ich auch noch dem Schandbuben, dem Jakob, aufwarten: noch 314 gestern hat mich der Onkel seinetwegen ausgescholten, daß ich –

Sie verstummte mit Thränen. Heinrich knirschte. »Ja,« sprach er, »rächen wollen nur uns und gehn! – Aber wohin?« sezte er bedenklich hinzu.

Die Baronesse. Wohin uns unsre Füße tragen. Ich kann ja Putz machen, nehen, stricken und tausend andre solche Arbeiten: ich will mich indessen als Kammerjungfer vermiethen: – aber es muß weit, weit seyn, daß Onkel und Tante nichts von mir erfahren – und wenn du einmal einen Dienst bekommst – möchte er auch noch so klein seyn – Ach, lieber Heinrich, wenn du das wolltest! –

Sie senkte den Blick und schwieg.

Heinrich. Baronesse –

Die Baronesse. Nenne mich nicht mehr Baronesse! Ich bin dem Namen feind: er klingt viel zu fremd für uns; und ich wills von nun an nicht mehr seyn.

Heinrich. Ulrike, hier ist meine Hand! Ich wandre aus: ich suche einen Dienst, der uns 315 ernähren kann; und dann – Ach, liebe Ulrike, wenn du das wolltest! –

Stillschweigend zog sie einen kleinen goldnen Ring bedächtlich vom Finger. – »Hast du keinen Ring?« fragte sie leise.

Heinrich. Ja, aber nur einen bleyernen, den mir einmal ein armer Hausirer für ein Almosen geschenkt hat.

Die Baronesse. Schadet nichts! Bleyern oder golden!

Sie steckte ihm den ihrigen an den Finger. – »Er paßt,« sprach sie freudig, »als wenn er für deinen Finger gemacht wäre. Gieb mir deinen bleyernen dafür!«

Heinrich. Noch heute!

Die Baronesse. Geh, suche einen Dienst! und dann – Heinrich, du hältst Wort?

Heinrich. So gewiß als ich dir diese Hand gebe! Du wirst Kammerjungfer: und dann – Ulrike, wenn gehn wir?

Die Baronesse. Bald! denn der Onkel ließ neulich ein Wort fallen, daß er mich nach Dresden zu einer alten Anverwandtin thun wollte; 316 da wird vollends ein hübsches Leben angehn! Ich grämte mich zu Tode – Wir müssen ja eilen!

Heinrich. Die Minute geh ich mit dir, daß ich nicht wieder in das schändliche Haus darf.

Die Baronesse. Komm! wir wollen sehn, ob die Thür offen ist! –

Sie giengen wirklich, um auf der Stelle einen Anschlag auszuführen, dessen nur ein unbesonnenes Mädchen im sechszehnten und ein beleidigter Pursche im funfzehnten Jahre fähig ist: allein zu ihrem Glücke war die Thür verschlossen. Zudem besann sich auch die Baronesse unterwegs, daß sie den bleyernen Ring noch nicht bekommen habe, und drang also in ihren Begleiter zurückzukehren. Auf dem Rückwege vertraute sie ihm eine andre Entdeckung, die nach ihrer Meinung für ihr künftiges Glück sehr heilsam seyn sollte. – »Du weißt vielleicht,« sagte sie, »daß mein Vater sehr viele Schulden hinterlassen hat, und nach seinem Tode haben die Leute, von denen er borgte, alles weggenommen. Nun sah ich ehegestern auf dem Sofa in der Tante 317 Zimmer und stickte an der Weste, die wir dem Onkel machen: er sprach mit der Tante im Nebenzimmer. Ich hörte meinen Namen nennen: gleich warf ich die Arbeit hin und horchte. So wäre doch Ulrike, sprach der Onkel, keine schlechte Partie, wenn wir Friedrichshain – das ist ein Gut von meinem verstorbnen Vater – aus dem Konkurse ziehen könnten: es ist offenbar, daß mans nicht dazu hätte nehmen sollen: aber meiner Schwester Mann war nachlässig, und die Advokaten haben das so in einander verwickelt, daß vielleicht zulezt weder Gläubiger noch Erben etwas bekommen werden: indessen einmal muß doch die Sache ein Ende nehmen, wenns auch noch einige Jahre hin dauerte. Weiter konnt' ich nichts hören: denn sie giengen ins chinesische Zimmer. – Sieh einmal, Heinrich! rief sie außer sich vor Freuden, wie reich wir noch werden können! Wenn ich das izt schon hätte, braucht' ich nicht erst Kammerjungfer zu werden. Ich weis auch gar nicht, was für schändliche Menschen die Advokaten seyn müssen, daß sie die Sachen so verwickeln. Sie können 318 das wohl so mit ansehn: sie haben, was sie lieben – Ach, unterbrach sie sich plözlich, dort kömmt die dicke Hedwig. Ich will zu den Erdbeeren gehn und thun als wenn ich für den Onkel pflückte. Hurtig! geh, daß sie dich nicht sieht.«

Ein Händedruck und ein freundlicher Blick war der Abschied. Zween Schritte! dann kam sie wieder zurück. »Heinrich,« zischelte sie, »du wirst doch den bleyernen Ring nicht vergessen?« –Er versicherte sie das Gegentheil, und sie flog zu den Erdbeeren und hatte schon eine ziemliche Menge gepflückt, als Fräulein Hedwig ankam. Die Baronesse freute sich über ihre gelungne List und die Leichtgläubigkeit ihrer Guvernante, die wegen eignen Herzenskummers die Richtigkeit ihres Vorwands weder bezweifelte noch untersuchte. Sie pflückten beide in Gesellschaft. Die Baronesse beklagte sich, daß sie ihren Ring verloren habe. Die Guvernante., die sonst bey solchen Gelegenheiten, wie ein Löwe, aufbrüllete, antwortete nichts als ein gleichgültiges »So?« – Sie suchten unter den Erdbeersträuchen 319 fanden ihn nicht und giengen beide fort, ohne sich weiter darüber zu beunruhigen.

Das Projekt der Entfliehung beschäftigte seitdem die Baronesse unaufhörlich. Jeden Morgen legte sie ihr Schlafzeug in ein kleines Packet zusammen und an das unterste Ende des Bettes: ihre diamantnen Ohrgehenge trug sie in der Tasche nebst dem kleinen Geldvorrathe, der sich nie sehr hoch bey ihr belief, weil sie aus Gutherzigkeit Jedem gab, der etwas brauchte. Etwas weniges Wäsche wurde in einem alten Pavillon im Garten hinter aufgeschütteten Ziegelsteinen verborgen, und bey Gelegenheit auch ein Schächtelchen, mit den Instrumenten aller weiblichen Arbeiten angefüllt, welche sie verstund, und wodurch sie ihren Unterhalt zu finden hofte. Ihre Vorsorge gieng so weit, daß sie sogar Seide, Goldfaden und andere Materialien zusammenpakte, und je länger sich die Flucht verschob, je mehr fand sich mitzunehmen, daß sie zulezt einen Maulesel gebraucht hätte, um ihr Gepäcke fortzubringen: überdies mußte sie sehr viele Sachen, wenn nach ihnen gefragt 320 wurde, oft wieder auspacken. Um sich dieser Unbequemlichkeit zu überheben, hielt sie für dienlich, ihre Geräthschaft blos in der pünktlichsten Ordnung zu erhalten, jedem Stücke den bestimmtesten Platz anzuweisen und es nach jedesmaligem Gebrauche pünktlich wieder dahin zu legen, um erforderlichen Falls in einer Viertelstunde sich reisefertig zu machen. Fräulein Hedwig wunderte sich ungemein, woher ihr plözlich diese ungewohnte Ordentlichkeit kam, und die Gräfin meinte, daß sie anfienge, die Kinderschuhe auszutreten. Die nahe Aussicht, nach ihren Begriffen aus einem Kerker erlöst zu werden, gab ihr die freudigste Munterkeit: die Hofnung begeisterte sie so sehr, daß sie auch die langweiligsten Stunden mit Standhaftigkeit ertrug und die lästige Gesellschaft des Grafen ohne den mindsten Verdruß aushielt: so sehr es ihr sonst schwer fiel, das Maas der Anständigkeit zu treffen. das sie nach seinem Verlangen ihren Reden und Handlungen geben sollte, so leicht fiel es ihr izt. Der Graf fand sie ganz umgeändert und versicherte, daß vielleicht doch 321 noch etwas aus ihr werden könnte. Ihre Geschäftigkeit und ihre Freude war ohne Gränzen: sie gieng niemals, sie flog, getragen auf den Schwingen der Hofnung.

Nicht weniger Anstalten machte auch Heinrich. Er war sogleich, nach ihrer Trennung durch Hedwigs Dazwischenkunft, ins Haus zurückgegangen und hatte seinen Ring, um keinen Verdacht zu erwecken, an einem Faden um den Hals gehängt; und so trug er ihn beständig unter dem linken Arme auf der bloßen Haut, nicht etwa aus Empfindsamkeit – diesem gekünstelten Hautgout in der Liebe, den er noch nicht kannte! – sondern weil er ihn auf diese Art am sichersten zu verbergen glaubte. Er gieng etlichemal vor dem Zimmer der Baronesse vorbey, um ihr sein bleyernes Gegengeschenk einzuhändigen: sie erschien nicht. Endlich begegneten sie einander: Fräulein Hedwig gieng neben der Baronesse, und also war nicht mehr Zeit als verstohlen zu geben und verstohlen zu nehmen: wie ein Wind war der Ring an ihrem Finger, den er auch nicht eher verließ, als wenn sie vor dem Grafe oder der 322 Gräfin erscheinen mußte, die sie verschiedenemal wegen dieser schlechten Zierde gescholten hatten und ihr drohten, das elende Ding zum Fenster hinauswerfen zu lassen, wenn sie es noch an ihrer Hand blicken ließ.

Heinrich pakte nach jener Uebergabe seines Liebespfandes nicht etwa Wäsche oder andere ähnliche Bedürfnisse, sondern einen alten Seneka, einen Antonin und ein paar andre seiner Lieblingsbücher zusammen, sezte Feder, Papier und Dinte in Bereitschaft, und dachte, wie ein wahrer Neuling in der Welt, der voll Berauschung nicht über die augenblickliche Ausführung seines Projekts hinaussieht, mit einem solchen Reisebündel seine Wanderschaft anzutreten. Schwinger bemerkte die Unruhe, die die unaufhörliche Beschäftigung mit einem so wichtigen Anschlage hervorbringen mußte: allein weil er glaubte, daß sie noch von der empfangnen Ohrfeige herrührte, so ermahnte er ihn mit den auserlesensten Sittensprüchen zur Standhaftigkeit und muthigen Ertragung seiner Beleidigung. 323

 


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