Johann Karl Wezel
Herrmann und Ulrike / Band 1
Johann Karl Wezel

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Erstes Kapitel.

Schwinger fand durch wiederholte Proben zu seiner großen Unruhe nichts gewisser, als was er vermuthet hatte: die Neigung seines jungen Freundes zur Baronesse war unverkennbar. Den Verliebten konnte die Entfernung, in welcher ihn seine Schüchternheit und so viele Aufpasser hielten, nicht so quälen, als seinen Lehrer jene Gewisheit: er übersah alle die traurigen Folgen für das Schicksal des jungen Menschen und für sein eignes, die eine solche Liebe begleiten müßten, die Vorwürfe, die man ihm deswegen machen würde, besonders da er immer sein Vertheidiger gewesen war und gewissermaßen es über sich genommen hatte, für ihn und seine Neigung zu stehn: er ängstigte sich selbst mit der Besorgniß, daß er vielleicht in der Erziehung einen Fehler begangen, ihn nicht 262 genug bewacht, die falsche Methode in seiner Bildung ergriffen, nicht genug gethan habe, einer gefährlichen Leidenschaft zuvorzukommen. Bald wollte er nunmehr selbst anhalten, seinen Freund aus dem Hause zu entfernen. aber welch ein Schmerz für ihn, wenn er an diese Trennung gedachte! welche neue Unruhe, was aus ihm werden könne! wer sollte ihn unterstützen, mit Rath und Geld auf der Bahn weiter führen, auf welche er ihn geleitet hatte?

»Wie unrecht that ich,« sprach er oft zu sich selbst, »daß ich diesen Durst nach Ehre in ihm rege machte! daß ich ihn in eine Laufbahn hinzog, in welcher er sich unmöglich erhalten kann! Sein Elend hab' ich in der besten Absicht bewirkt: er wird nach Ehre, wie nach dem höchsten Gute, aufstreben, und seine Armuth ihn, wie einen Vogel, dem Bley an die Flügel gebunden ist, wieder zurückziehn; und dann wird der Unglückliche sich im Staube wälzen, sich selbst durch Kummer und Aerger zerstören und dem fluchen, der ihn fliegen lehrte, da er nach dem Willen des Schicksals nur kriechen soll. – 263 Meine künftigen Tage, die das Bewußtseyn, einen edlen Menschen gebildet zu haben, erheitern sollte, werden unaufhörlich in Wolken und Stürmen über meinen Scheitel dahergehn. O daß mir mein erstes, mein hofnungvollstes Werk mislang! Was konnt' ich Elender, den das Geschick für die enge, kümmerliche Sphäre bestimmte, wo weder Ansehn noch Belohnung meiner warten, wo ich nicht durch Verdienste glänzen und nur mir selbst gefallen kann – für die enge Sphäre eines an geistlichen, der gern den Dank einer Nation verdienen möchte und alle seine Wirksamkeit auf eine Handvoll einfältiger Bauern einschränken muß – was für Trost konnt' ich in solch einer niederschlagenden Stellung wünschen und suchen, als einen Menschen gebildet zu haben, der verrichtete, was ich nicht verrichten konnte? – Auch dieser Trost ist dahin! Ich soll schlechterdings Kräfte und Willen haben, und nichts mit ihnen nützen. – Geh, Verachteter! predige, taufe, begrabe, gräme dich und – stirb!«

»Aber,« tröstete er sich zu einer andern Zeit, 264 »seine Liebe ist noch schüchtern: ich will meinem Plane treu bleiben und diesem Winke nachgehn, seine Ehrbegierde, seine Thätigkeit von neuem, bis zum Zerspringen, anspannen, seine Schüchternheit durch alle Mittel erhöhen, Tag und Nacht über ihn wachen, und wann es zum äußersten kömmt – ihn entfernen. Vielleicht macht mir unterdessen ein lebenssatter Seelsorger in der Herrschaft des Grafen Platz: dann soll er bey mir wohnen, bey mir leben, bis ich ihm zu einem Gewerbe oder einer Kunst verhelfen, oder auf der Bahn der Ehre weiter bringen kann. Aus solchem Thone muß ein edles Gesäß werden, oder es springe!«

Dem gefaßten Entschlusse gemäß verdoppelte er täglich die Beschäftigungen seines jungen Freundes, gab sich unendliche Mühe, daß ihn Graf und Gräfin einer höhern Aufmerksamkeit würdigen und durch Beifall aufmuntern sollten: sie thaten es beide und warfen dem Zöglinge, seinem Erzieher zu Gefallen, zuweilen einen Brocken Lob als eine Gnade zu, mehr mit derjenigen nachsichtigen Güte, womit man der Marotte 265 eines Menschen willfahrt, dem man nicht ungeneigt ist, als aus wahrer lebendiger Ueberzeugung. Bey der Gräfin mochte es noch ein Rest von Zuneigung seyn, aber es war gewiß nur ein Rest: denn so lange er ein Knabe war, hielt sie es nicht für unanständig, sich mit ihm abzugeben: allein sein itziges Alter sezte sie gegen ihn in das völlige Verhältniß des ungleichen Standes: sie sprach und handelte gegen ihn, wie eine gnädige Herrschaft, und wenn sie auch mehr Vergnügen in der Herablassung fand, so durfte sie vor dem Grafen nicht zu weit gehn, der so etwas eine Unanständigkeit nannte.

Sonach mußte Schwinger das meiste thun: er ließ sich gegen Niemanden von Heinrichs Liebe etwas merken, und Graf und Gräfin waren durch das Alter der Baronesse sicher gemacht, sie zu argwohnen, weil sie ihr nunmehr Verstand genug zutrauten, sich nicht mit ihrer Zuneigung wegzuwerfen. Auch ließ es besonders der Graf nicht an Bemühung fehlen, ihr Stolz und Verachtung gegen alle Personen unter ihrem 266 Stande einzupflanzen und die Vertraulichkeit zu benehmen, mit welcher sie sich gegen solche Leute betrug: seine Lehren fruchteten wenig: je mehr er sie zu Steifheit, zu Ernst und cerimoniöser Gravität zwingen wollte, je mehr wuchs ihr Misfallen daran, das sie freilich wohlbedächtig verbarg. Daher gefiel sie auch fast Niemanden von ihrem Stande: sie spielte wider ihre innern Antriebe eine angenommne Rolle, und es war nicht zu läugnen, daß ihr Betragen, ihre Manieren dadurch etwas ungemein Gezwungnes, Linkisches bekamen: sie war eine Puppe, die im Drathe geht, weil sie nicht natürlich gehn soll. Nicht besser fielen auch ihre Reden in der Gesellschaft aus: bey jedem Einfalle, der in ihr aufstieg, hielt sie sich zurück, aus Furcht zu frey, zu unanständig zu sprechen, und sagte in solchem Zwange meistens etwas Albernes. Man sagte allgemein: es ist ein gutes Mädchen, das Oekonomie lernen und einmal einen Landkavalier heirathen muß: für die Welt wird sie niemals. Die Damen rückten ihr ihren Mangel an Lebhaftigkeit vor, 267 tadelten sie, daß sie zu still sey, riethen ihr, sich ein wenig aufzumuntern, den jungen Herren zu gefallen zu suchen, um durch sie aufgeheitert zu werden, und sie ward durch die öftern Aufforderungen noch gezwungner, noch ängstlicher. Die Herren gaben sich die Ehre, sie lustig machen zu wollen, wie sie es nannten: ihre laue Frölichkeit erwärmte die Baronesse, daß die ihrige in Flammen ausbrach, sie wurde im eigentlichen Verstande lustig, das heißt, sie vergaß sich und fiel in ihre Natur zurück: gleich ergieng durch Fräulein Hedwig ein Befehl an sie, sich nicht zu frey und wider den Wohlstand zu betragen: da stand das arme Geschöpf, und war wieder eine unleidliche stumme Drathpuppe! Desto mehr hielt sie sich auf ihrem Zimmer wieder schadlos, wiewohl auch hier Fräulein Hedwig gleich über Unanständigkeit schrie.

Sie wunderte sich äußerst, daß ihr geliebter Heinrich seine Spatziergänge auf einmal so ganz einstellte, und kundschaftete aus, daß er den ganzen Tag mit Schwingern beschäftigt 268 sey: – keine erfreuliche Nachricht für sie. »Nun wird er mich wohl ganz vergessen« – dachte sie, aber sie hatte das nicht zu besorgen. Der gute Pursche war ein Fuhrwerk, an beiden entgegengesezten Enden mit Pferden bespannt: bald zog das vorterste Gespann den Wagen eine kleine Strecke vorwärts, und gleich zog das hinterste an und riß ihn nach sich hin. Die Arbeit war ihm zur Last: wenn ihm Schwinger die goldnen Früchte der Ehre vorhielt, griff er nur mit halber Entschlossenheit darnach, weil ihm die Liebe schönere Lockungen darbot: er hörte, er las, ohne oft etwas zu verstehen: sein Kopf war mit Nymphen, Liebesgöttern, Grazien und allen übrigen schönen Bewohnerinnen der poetischen Liebeswelt angefüllt, die ihm mancherley interessante Scenen zusammen vorspielten: er suchte nur Bücher auf, die ihm dieses Theater mit mehr Schauspielern und mannichfaltigern Auftritten versorgten; und da er die Alten nicht hinreichend dazu fand, wandte er sich zu den Neuern: je üppiger, je wollüstiger ihre Bücher mit der Imagination spielten, je 269 willkommner waren sie ihm. Schwinger konnte ihn von dieser Lektüre nicht abziehn, und wollte sie ihm geradezu nicht verbieten, weil durch das Verbot seine Begierde darnach nur mehr zu entflammen glaubte: er suchte sie ihm also anfangs mit guter Manier aus den Händen zu spielen, packte alle von diesem Schlage, die in seiner Bibliothek waren, heimlich in einen Kasten zusammen, und las sie nie als wenn sein junger Freund schlief.

»Aber warum hatte Schwinger, ein so gesezter Mann, ein künftiger Seelenhirte solche schädliche Bücher? warum las er solche verderbliche Schriften? Sauflieder, Hurengesänge, solch Buhlgeschwätze und verliebtes Zeug?« – Kurzsichtiger, der du so fragst! Weil ein solcher Mann ein Bedürfniß fühlte, solche Schriften zu lesen, ist das nicht Antworts genug? – Er las sie und würde sie auch seinem Freunde nicht verschlossen haben, wäre dieser mit ihm in Einem Alter und nicht in so einer kritischen Seelenlage gewesen; und da er ihren Verlust gelassen zu ertragen schien, und 270 in seinen Arbeiten wieder, wie vorher, fortfuhr, so glaubte er ihn völlig genesen. Der leichtgläubige Arzt! denkt, daß der Patient gesund ist, weil er nicht mehr im Bette liegt!

Noch mehr wurde er in seinem wohlmeinenden Selbstbetruge durch einen Vorfall bestärkt. Als er einstmals aus dem Kabinette herauskam, fand er Heinrichen vor dem Tische hingestellt, den Kopf auf beide Hände gestüzt, den Blick starr auf eine Büste des Antonins gerichtet, die vor ihm stand. Er redte ihn an und blieb ohne Antwort: er gieng um ihn herum und sah ihm ins Gesicht: große Thränentropfen rollten über die eisstarren Wangen aus den unverwandten Augen. – Was weinst du, fragte ihn Schwinger. Heinrich sprang erschrocken auf. Daß mein Vater kein Kaiser ist – sagte er zornig und stampfte. – »Warum ist dir denn das itzo erst so unangenehm?« – So könnt' ich doch noch etwas Gutes in der Welt ausrichten, war Heinrichs Antwort: aber so bleibe ich zeitlebens ein schlechter Kerl, und –

Er verstummte: ein Erröthen und der 271 gesenkte Blick hätten Schwingern leicht belehren können, was er verschwieg. – »Und ich dürft' es ungescheut wagen, die Baronesse zu lieben« dachte er sich so deutlich, als es hier gedruckt steht: aber Schwinger war von dem vermeinten glücklichen Erfolg seiner Kur so sehr bezaubert, daß er die Reticenz nicht einmal wahrnahm. Er sezte die Kur einige Zeit unermüdet fort, um ihn von Grund aus zu heilen: allein nicht lange! hatte sich der junge Mensch durch die gehäuften Beschäftigungen zu stark angegriffen? oder erschöpfte dies Hin und Hertreiben zweier Leidenschaften, worunter die eine seine ältre, und die andere seine liebere Freundin war, seine junge Maschine? – er wurde krank: er verfiel in ein Fieber.

Die Baronesse erschrack bis zur Ohnmacht, als sie die erste Nachricht davon bekam: nun war Graf und Gräfin samt Fräulein Hedwig zu schwach, sie zurückzuhalten: daß sie sich verrathen, und daß diese Leute sie treflich dafür ausschelten würden, daran dachte sie gar nicht, sondern hören, die Thür aufreißen, die 272 Treppe hinauf, ins Zimmer hinein und vor sein Bette treten, das war alles eine Handlung, in einem Paar Athemzügen gethan. Die Zusammenkunft war für den Kranken so verwirrend als unvermuthet: er wagte sich kaum zu freuen; er stammelte furchtsam etwas her, wenn sie ihn fragte; er zog schüchtern die Hand zurück, wenn sie nach ihr griff: er war so verlegen, so ängstlich, so überwältigt vom Zwange, daß er aus sich selbst nichts zu machen wußte. Ehe man sichs versahe, siehe! da kam Fräulein Hedwig herangekeucht.

»Ulrikchen! Ulrikchen!« schnatterte sie und schlug sich auf den Schoos – »was machen Sie hier? Wenn das der Graf erfährt?« –

Die Baronesse. Mag er! Ich bleibe hier, bis Heinrich wieder gesund ist.

Hedwig. Sind sie gar toll? – Was das für ein Unglück werden wird, wenn Graf und Gräfin dahinter kommen!

Schwinger. Sie sollen es nicht erfahren. Trösten Sie sich!

Hedwig. Ja aber – Sie wissen ja wohl!

Schwinger. Was soll ich wissen? – Was Sie vermuthen ist bloße Grille, bloße Einbildung. Ich stehe dafür. Lassen Sie die Baronesse immer ihren Besuch verlängern –

Die Baronesse. O ich bin nicht zum Besuch da. Ich bediene Heinrichen; daß Sies nur wissen!

Schwinger. Auch das! Ich will Ihr Mitbediente seyn.

Hedwig. Sie werden ja ihrer Tollheit nicht noch forthelfen? – So etwas gebe ich nicht zu. Kommen Sie, Ulrikchen! den Augenblick fort! – Ihn da gar zu bedienen!

Schwinger. Was ist denn böses darinne? – Sie sind ja sonst so gelehrt: kennen Sie denn die Königin in Frankreich nicht, die den Kranken in den Hospitälern aufwartete? – Es ist ein Beweis von der Baronesse gutem Herzen.

Hedwig. Ja, und – wenn man nicht wüßte!

Schwinger. Sie wissen auch immer, was andere Leute nicht wissen. Ich bleibe beständig hier am Bette sitzen; und wenn die Baronesse 274 ihres Amtes überdrüßig ist, dann bringe ich sie zu Ihnen.

Hedwig. Das geht nicht! das geht nicht! Bedenken Sie doch die Unanständigkeit! Der Mensch liegt ja, so lang er ist, im Bette.

Schwinger. Diese Freiheit entschuldigt die Krankheit.

Hedwig. Ja, liegen mag er: das wird ihm Niemand wehren: aber ihn liegen sehn – schämen Sie sich, Baronesse!

Schwinger. Verderben Sie doch dem lieben Kinde die gutherzige Freude nicht durch unzeitige Vorwürfe! Soll sie sich denn eines guten Werks schämen, weil sie es einem jungen Menschen unter ihrem Stande erweist? – Ich möchte daß alle Vornehme ihrem Beispiele folgten und keinen Sterblichen für einen Liebesdienst zu gering achteten.

Hedwig. Das ist wohl freilich wahr: wir sind allzumahl Sünder und Adams Nachkommen: mortalis nascimus: aber Sie wissen ja, wie der Graf ist!

Schwinger. Wenn er hierinne dem 275 Vorurtheil und nicht der Vernunft folgt, so ist es unsere Pflicht, zu verhüten, daß seine Anverwandtin nicht seine Denkungsart annimmt, da sie keine Anlage dazu hat. Der Graf soll es nicht erfahren, daß die Baronesse dem Triebe ihres menschenfreundlichen Herzens mehr gefolgt ist, als den lieblosen Gesezen ihres Standes.

Hedwig. Ich kann es wohl geschehen lassen; aber daß nur nicht die Schuld hernach auf mich kömmt! – So bald es dunkel wird, Marsch ab! Wie können Sie sich nur so etwas einfältiges einkommen lassen? hier bleiben zu wollen, bis der Pursche gesund wird! Sie werden doch nicht gar die Nacht hier bleiben wollen?

Schwinger. Die Baronesse ist viel zu verständig, als daß sie so etwas nur wollen könnte. Das war Scherz; wie Sie nun alles gleich im bittersten Ernste nehmen!

Hedwig. Ja, der Ernst kömmt mannichmal hinten nach: aber Sie sind ein Ungläubiger, der liebe Gott muß Sie mit der Nase darauf stossen – Nu! so bald es dunkel ist, Marsch ab!

276 Sie gieng. Schwinger ließ sich in ein Gespräch mit der Baronesse ein; aber sie hielt nicht lange darinne aus: alle Augenblicke war sie besorgt, daß der Kranke etwas brauchen möchte, erkundigte sich bey ihm darnach, und war so freudig als über ein Geschenk, wenn er etwas verlangte: machte er in seinem Verlangen eine zu lange Pause, gleich war sie mit dem Wasserglase, mit dem Löffel, oder mit der Arzney da. – »Wollen Sie nicht trinken? Sie durstet gewiß.« – »Izt müssen Sie einnehmen.« – »Das Kopfküssen liegt nicht recht.« – »Sie haben ja den ganzen Nachmittag noch nicht eingenommen.« – »Sie trinken ja gar nicht.« – »Wollen Sie Limonade?« – Bald zupfte sie an der Decke, um ihn recht warm einzuhüllen, bald am Küssen, um es ihm aus dem Gesichte zu ziehen, bald wedelte sie ihm mit dem Schnupftuche Kühlung zu, izt jagte sie eine Fliege vom Bettuche, daß sie ihn nicht künftig stechen sollte, izt wischte sie ihm den Schweis von den kleinen Fingern, um sie unter dem Schnupftuche verstohlen zu drücken: izt summte eine 277 Schmeißfliege am Fenster – sie machte Jagd auf sie und ruhte nicht, bis sie gefangen war: izt schloß der Kranke die Augen – gleich wurde Schwingern gewinkt, daß er schwieg, sie saß wie erstarrt, sie athmete kaum, und wenn ihr ein ganzes Heer Fliegen das Blut aus der Stirne zapften, so hätte sie nicht die Hand nach ihnen bewegt, sie zu vertreiben, und wenn Schwinger nur einen Finger regte, so winkte sie ihm schon unwillig mit den Augen: sobald der Patient die Augen wieder aufschlug, flog ihm auch gleich ein freundlicher, erquickender Blick entgegen. Die Dämmerung kam: sie ließ sich ungern, aber ohne Weigerung von Schwingern zurückführen; und bey dem Abschiede wußte sie es so listig anzufangen, daß ihr Begleiter schlechterdings auf einen Augenblick ins Kabinet gehen mußte: sie bat sich ein Buch von ihm aus, und indem ers holte – hurtig hatte der Kranke einen Kuß weg.

Der Kuß steckte seine ganze fieberhafte Imagination in Brand: mit einem wehmüthigen durchdringenden Schauer empfieng er ihn, und so oft sich in der Nacht seine Augen zu einem 278 kurzen Schlummer schlossen, wurde er im Traume von Grazien, Nymphen und den sämtlichen Göttinnen des Olimps, die zu seiner Bekanntschaft gehörten, wiederholt. Liebesgötter trabten auf Zephirn vom Himmel herab: andre tummelten sich auf bäumenden Grashüpfern herum: ein kleiner Verwägner wagte sich auf Alexanders Bucephal, und wurde für seine Kühnheit bestraft; das Roß spottete wiehernd der leichten Bürde, lehnte sich auf und schüttelte den schreyenden Knaben ab: dort lag er wie todt vor Schrecken, verlacht von dem umringenden Haufen seiner muthwilligen Brüder. Ein andermal zogen ihn und Ulricken sechs schneeweiße Rosse an einem römischen Triumphwagen: Graf, Gräfin und die ganze vornehme Welt, die er kannte, begleiteten sie zu Fuß in den festlichsten Kleidern: der Zug gieng nach dem prächtigen Kapitol, das wie ein Tempel auf seinen Kupferstichen, groß und majestätisch vor ihm stand: die Menge jauchzte. Plözlich, als wenn ein Wind sie wegführte, verschwand die zauberische Scene, er lag bis an den Kopf 279 in herkulanischen Schutt vergraben und arbeitete sich mit allen Kräften hervor, daß ihm der Schweis über die Stirne rang: die Baronesse, in weißen strahlenden Atlas gekleidet und mit einer goldnen Glorie umgeben, erschien, reichte ihm die Hand und riß ihn leicht heraus: dankend wollte er sie umarmen, einen Kuß auf die Lippen drücken, und hielt in den zusammengeschloßnen Armen – die dicke schielende Hedwig. Zu einer andern Zeit lag er todt am Rande des Styx: seine Seele irrte ängstlich am Ufer hinab, um über ihn zu setzen, und vermocht es nie: endlich gesellte sich zu ihm eine andre peinlich suchende Seele: es war Ulrike, die ihren Körper verlassen hatte, um ihm nachzueilen, sie flohen mit einander zu ihren Leibern zurück, belebten sie von neuem und starben nie wieder. – So ergözte ihn mit unendlichen Schauspielen seine träumende Fantasie; er schlief jede halbe Stunde zu neuem Entzücken ein, und die Baronesse erwachte jede halbe Stunde, um sich zu beklagen, wie lang die Nacht sey.

Nach dem Thee war sie schon wieder vor dem 280 Bette: ihre Guvernante fand in mannichfaltiger Rücksicht ihre Rechnung bey den Abwesenheiten der Baronesse, und sezte sich nicht mehr dawider, vornehmlich da Schwinger darauf bestund, daß man sie in ihrem freundschaftlichen Mitleiden nicht stören solle, und beständig Aufsicht über ihre Besuche zu haben versprach. Auf solche Weise brachte sie alle Zeit, wo nicht Onkel und Tante ihre Gesellschaft foderten, mit der sorgsamen Pflegung ihres Geliebten zu: sie las ihm vor, und jede Stelle, die Zuneigung und Liebe ausdrückte, wurde durch einen nachdrücklichen Ton ausgezeichnet und von einem Blicke auf den Kranken begleitet: auch er gewöhnte sich sehr bald an diese geheime Sprache: er that als ob er gewisse verbindliche Stellen nicht verstanden habe und wiederholte sie unter diesem Vorwande mit der bedeutungsvollsten Pantomime: so spielten sie in ihres Aufsehers Gegenwart den Roman und gaben sich die feurigsten Liebesversichrungen, ohne daß ers wahrnahm.

Die Krankheit wuchs in einer Nacht plözlich: als sie am folgenden Morgen heraufkam, lag 281 Heinrich sinnlos, ohne Bewußtseyn und Bewegung da: die verdrehten Augen standen weit offen, und doch erkannten sie Niemanden: die Lippen waren dick und blau, als wenn das Blut in allen Adern von der strengsten Kälte geronnen wäre: jede Muskel lag unbeweglich, abgespannt, und aus jedem seelenlosen Auge starrte der Tod hervor. Minutenlang stand sie vor ihm, wie ein Marmorbild, von Schrecken und Schmerz versteinert. Schwinger wollte sie bereden, daß er schliefe – »Nein,« schrie sie mit holem schauerdem Tone, die Augen unverwandt auf ihn gerichtet, »er ist todt!« – »Er ist todt!« schrie sie noch einmal – und dann in Einem Athemzuge: »Heinrich! Heinrich!« – Nicht Eine Fiber rührte sich an dem Kranken. Sie hob seine Hand auf: schlaff, kraftlos fiel sie wieder auf das Bette. Sie faßte den Kopf, konnte ihn kaum aufbringen: starr, schwer fiel er wieder aufs Kopfküssen. Sie rief dicht in das Ohr: »Heinrich! Heinrich!« – Kein Zuck!

Die Thränen standen wie geronnen in ihren 282 Augen, bis zum Ueberlaufen voll, und keine konnte fließen. Ohne ein Wort zu reden, stürzte sie sich zur Thür hinaus, die Treppe hinunter, und wer ihr begegnete, den stieß sie vor sich hin und rief: »den Arzt!« Sie flog in die Küche, in den Stall, brachte alles in Aufruhr, befahl allen den Arzt zu holen: Niemand gieng. Sie zürnte, sie tobte, sie stieß die Leute fort: schwerfällig blieben sie stehn, sahn sie an, und wußten nicht, was sie von ihr denken sollten. – Hie und da kam eine phlegmatische Frage: »Warum denn? Für wen denn?« – oder so etwas. – »Er ist todt!« schluchzte sie mit halbverbißnem Worte. – »Wer denn?« fragte man abermals. – »Heinrich!« rief sie, und hätte die dumpfen trägen Geschöpfe mit den Händen zerfleischen mögen. Sie bekam weiter nichts zur Antwort als ein langgedehntes »So?«, das die ganze Küche in Einem Tutti aussprach. Niemand gieng.

Der Zorn kochte, wie ein Strudel, in ihrer Brust: mit glühendem Gesichte verließ sie das unthätige Volk, und in den Hof! – Mit 283 aufgestreiften Armen, im Hemde, ein kurzes schwarzes Pfeifchen zwischen den Zähnen, lehnte der Stallknecht an der Thür und sah in die Sonnenstäubchen. Sie erblickte ihn: in Einem Fluge auf ihn los und ihm um den schmuzigen Hals! – »Ich bitte Euch um Gottes willen, holt den Arzt!« – Der Pursche, durch den andringenden Ton in Bewegung gesezt, rennte mechanisch über den Hof weg: als er an die Thür kam, besann er sich, daß er nicht wußte, wohin er sollte: – »wen soll ich rufen?« fragte er und kam wieder zurück. Indem die Baronesse von neuem entbrennen wollte, stand Schwinger hinter ihr und brachte ihr die Nachricht, daß der Medikus bey dem Grafen gewesen und bereits oben bey dem Kranken sey. Viel Freude für sie! Mit vorstrebender Brust eilte sie so geschwind hinauf, daß ihr Schwinger kaum folgen konnte. Das erste Wort, was durch die aufgerißne Thür flog, war – »lebt er wieder?« – »Ja,« versicherte der Arzt und bewies seine Versichrung aus dem zunehmenden Pulsschlage. Sie wollte den Beweis ganz 284 ungezweifelt haben und fühlte selbst an den Puls, hielt ihn lange Zeit. um sein steigendes Zunehmen zu bemerken, und in dieser Stellung erblickte und fühlte sich der Kranke bey seinem Erwachen aus der Betäubung. Welch ein glückliches Erwachen zu einem Bilde, das seine Nerven in verdoppelte Schwingungen sezte und ins Herz drang, um einen unlöschbaren Eindruck zurückzulassen! – »Izt blickt er mich an!« rief die Baronesse, und die Freude gieng in ihrem Gesichte auf, wie der volle Mond am Ende eines trüben Horizonts, wenn die Wolken vor ihm weichen.

Leben und Vergnügen auf beiden Seiten wuchs mit jedem Pulsschlag: sie konnte sich nicht genug über die fühllosen Kreaturen ärgern, die an Heinrichs vermeintem Tode nicht so vielen Antheil genommen hatten als sie: auch der Arzt kam nicht ohne Schmälen weg, daß er so kalt von seiner Besserung sprach und so gleichgültig versicherte, daß er wohl sterben würde, wenn so ein Sturz noch einmal käme. Sie zog ihn am Ermel zurück, als er gehn wollte, und verlangte schlechterdings, daß er diesen zweiten 285 Sturz abwarten möchte: allein er entschuldigte sich sehr höflich und gab zur Ursache an, daß er zu einer Braut müsse, bey der man vorige Nacht auf das Ende gewartet habe. – »Sie wird wohl nicht mehr am Leben seyn,« sezte er frostig hinzu: »aber ich muß mich denn doch erkundigen, ob sie wirklich todt ist.«

Die Baronesse stieß ihn von sich und mochte ihn vor Verachtung über seine Kälte nicht ansehn. »Ich hätte,« sagte sie zu Schwingern, als er hinaus war – »ich hätte dem krummnasichten Doktor ein Paar Ohrfeigen geben mögen, so hab' ich mich über ihn geärgert. Sprach er nicht von Heinrichs Tode als ob er gleich wieder einen andern aus seinen Büchsen herausdistilliren könnte, wenn dieser gestorben wäre? Ich bezahlte ihn gewiß nicht, wenn ich der Onkel wäre.« –

Noch hatte weder Graf oder Gräfin erfahren, wie thätig sie sich mit der Wartung des kranken Heinrichs beschäftigte: ein einzigesmal verrieth sie sich bey Tafel. Der prophezeihte zweite Sturz hatte sich eingefunden, und ein 286 Bedienter brachte die Nachricht, daß Heinrich eben gestorben sey. Der Gräfin stieg eine Thräne ins Auge, die sie durch ein Umdrehen des Kopfs nach dem Bedienten, der die Nachricht gebracht hatte, vor ihrem Gemahle verbarg, der schon zu berathschlagen anfieng, wie man ihm, ohne seinen Stand zu überschreiten, ein distinguirtes Begräbniß veranstalten solle. Die Baronesse ließ vor Schrecken den Löffel auf den Teller fallen, daß der Milchcreme weit herumsprüzte: sie schob ihren Stuhl mit dem Fuße zurück, blieb verwildert, sinnenlos kurze Zeit in halb fliehender Stellung: plözlich warf sie die Serviette in den Creme hinein und gieng zum Zimmer hinaus, langsam die Treppe hinauf – der Schrecken hatte ihre Kniee gelähmt – und große Tropfen rollten, wie Perlen, über das bleiche stumme Gesicht. Schwingern schauderte vor dem Anblicke, als immer eine Thräne die andre über die eiskalte, starre, steinerne Miene hinjagte. Sie mußte sich setzen, denn ihre Kniee sanken. – »Was haben Sie, liebe Baronesse?« fragte Schwinger. Sie redte nicht, sah immer 287 steif vor sich hin. – »Was fehlt Ihnen?« tönte eine ängstliche, schwachathmichte Frage hinter dem Vorhange des Bettes hervor. Es war Heinrichs Stimme. Die Freude traf sie wie ein elektrischer Schlag: sie fuhr zusammen und stürzte vom Stuhle. Schwinger erhaschte sie zu rechter Zeit noch, Fräulein Hedwig, die man ihr gleich nachgeschickt hatte, kam eben an und trug mit schwerfälligem Galope alle Fläschchen, die sie ansichtig wurde, herbey und hielt sie ihr unter die Nase, sie mochten riechen oder nicht. Endlich kam sie wieder zu sich: sie saß Heinrichs Bette gegenüber, der, um zu sehn, was vorgieng, die Vorhänge ein wenig zurückgeschoben hatte, und bey dem ersten Eröfnen der Augen traf Blick auf Blick. Wie mächtig Gefühl und Imagination durch solche Spiele des Zufalls aufgeregt, und welche bleibende Eindrücke durch sie der Seele eingedrückt werden, wird jedem Leser sein eignes Gedächtniß belehren; und warum sollte ich also mit Worten beschreiben, was ihm seine Erfahrung besser berichten kann? – Nach einigen Verwunderungen, Fragen und 288 Antworten auf allen Seiten entwickelte sichs, daß der Bediente entweder aus boshafter Schadenfreude oder aus der Gewohnheit dieser Leute, Vermuthung als geschehne Gewisheit wieder zu erzählen, gelogen hatte; denn es war ihm nichts weiter von der Kammerjungfer im Vorbeygehn gemeldet worden, als daß Heinrich wieder schlimmer sey und wohl sterben werde: und die ganze Sache war nichts, als eine kurze Betäubung, die schon lange vor jener Todesbothschaft aufgehört hatte.

Der Graf war über das Betragen der Baronesse ein wenig stutzig geworden: nicht als ob er Liebe dabey muthmaßte! – davon hatte er gar keinen Begriff – sondern eine zu große Vertraulichkeit zwischen beiden jungen Leuten argwohnte er; und die Idee, daß seine Schwestertochter sich zu einer so ausgezeichneten Betrübniß um den Sohn seines Einnehmers erniedrige, hatte so viel Widriges für ihn, daß er Fräulein Hedwig wegen ihrer schlechten Erziehung tadelte, ihr einen Verweis für ihre eigne Person ertheilte und einen zweiten für die 289 Baronesse in Kommission gab. Die Gräfin mußte auch einen versteckten annehmen, weil sie ihre Thränen nicht genugsam verborgen hatte: um sich nicht in seinen Augen so verächtlich zu machen, als ob sie aus Mitleid um den Sohn seines Einnehmers geweint hätte, wandte sie einen starken Schnupfen vor, der ihr bey jedem Worte das Wasser aus den Augen triebe; und damit ihr Gemahl nicht bey ähnlichen Vorfällen auf die Spur der wahren Ursache gerathen möchte, die ihre geheime Muthmaßung für unleugbar hielt, redte sie ihm mit ihrer gewöhnlichen Kunst alles aus, was er besorgte, und nahm es über sich, die Baronesse über ihr unanständiges Betragen selbst zu bestrafen.

Die Bestrafung fiel sehr gelind aus. Die Gräfin besaß von Natur viel Reizbarkeit, allein ihre Empfindung war durch die Erziehung ihrer Eltern und den Stolz ihres Gemahls in beständigem Zwange gehalten worden. Sie hatte sich dadurch eine gewisse künstliche Kälte erworben, dadurch gleichsam eine Eisrinde um ihr Gesicht gezogen, die ihr inneres Gefühl nicht 290 durchschmelzen konnte, wofern es ein Vorfall nicht zu plötzlich in Flammen brachte. Das Bewußtseyn ihres eignen Fehlers – denn dafür mußte sie es nach allen Begriffen erkennen, die ihr die Erziehung davon beygebracht hatte – machte sie gegen die Empfindlichkeit der Baronesse ungemein nachsichtig: der Rest von Güte des Herzens, den ihr Eltern und Gemahl nicht hatten auslöschen können, überredte sie, ihrer jungen Anverwandtin ein Vergnügen nicht ganz zu verwehren, das für sie selbst eine verbotne Frucht war: sie hatte es wohl ehmals aus Furcht vor dem Grafen gethan, allein da sie die Baronesse nunmehr für alt und verständig genug hielt, ihre Würde nicht ganz zu vergessen, so empfahl sie ihr blos Vorsichtigkeit und Zurückhaltung und vor allen Dingen Wachsamkeit über sich selbst, um sich in Gegenwart des Grafen nichts Verdächtiges entschlüpfen zu lassen.

Das Verfahren der Gräfin war in Ansehung der Absicht, die sie erreichen wollte, äußerst zu misbilligen: wenn sie eigentliche Liebe bey der Baronesse verhüten wollte, so mußte sie ja durch 291 die stillschweigende Anerkennung, daß man ihr einmal etwas unrechter Weise verboten habe, und durch den Rath, einen vormals unrechter Weise verbotnen und izt erlaubten Umgang unter der Bedingung fortzusetzen, daß sie ihn dem Onkel verheimlichte, nothwendig auf den Weg geführt werden, diese nämliche empfohlne Klugheit auch wider die Tante zu gebrauchen, wenn es diese einmal für heilsam erachtete, das alte Verbot zu erneuern. Außerdem begieng die Gräfin einen ungeheuren Fehlschluß, daß ihr die Aufhebung des Verbots itzo weniger nothwendig schien: doch man hatte einmal falsche Maasregeln genommen, und bey der Erziehung machen die ersten falschen Schritte meistens alle nachfolgenden zu Fehltritten: man verbot, da man erlauben, und erlaubte, da man verbieten sollte. Man glaubt nicht, wie listig die Leidenschaft bey aller Unbesonnenheit ist, die man ihr Schuld giebt: sie kennt ihren Vortheil so gut als ein Finanzpachter; und man darf ihn nur von fern weisen, so macht sie schon Projekte darauf.

292 Auch hatten die Maasregeln der Gräfin wirklich alle Folgen, die man erwarten konnte: die Baronesse gieng ohne Scheu mit Heinrichen nach seiner Genesung um, und weder Fräulein Hedwig noch Schwinger durften etwas dawider einwenden, weil sie die Begünstigung der Gräfin hatte, die allen einzig anbefohl, nichts davon zur Wissenschaft des Grafen gelangen zu lassen. Indem, sagte sie zu sich selbst, wird Ulricke oder der junge Mensch bald aus dem Hause kommen: mein Gemahl wollte sie ja neulich schon in eine Stadt thun, wo ein Hof ist; und so mag sie immerhin sich zuweilen mit einer jugendlichen Schäkerey vergnügen: die feinern Sitten des Hofs und der großen Stadt werden das alles wieder verdrängen: ein Mädchen muß in ihrem Leben einmal rasen: besser also früh, als spät!

So hatte der Schuzgott der Liebe alle Hindernisse durch die vermeinte Klugheit derjenigen selbst weggeräumt, die am feindseligsten gegen sie handeln wollten. Die Neigung der beiden jungen Personen wurde täglich durch Gefälligkeiten, Umgang und kleine Vertraulichkeiten 293 genährt und flammte allmählich zur Leidenschaft empor. Wie sollte Heinrich nicht ein junges Frauenzimmer lieben, das sich so lebhaft in seiner Krankheit für ihn interessirte, das täglich durch neue Unbesonnenheiten ihres guten Herzens und ihrer Zärtlichkeit für ihn sich Ungelegenheit und Verdruß zuzog, und nichts achtete, wenn sie ein paar Minuten mit ihm zubringen konnte? Und wie sollte die Baronesse den Eindruck eines jungen Menschen mit so einnehmender Figur und Bildung, von so auszeichnendem Charakter, so vieler Lebhaftigkeit und Unterhaltungsgabe von sich abwehren? – Die Fesseln des Zwangs wurden auf beiden Seiten mehr und mehr abgeworfen, und ihrer Leidenschaft ein anderes Gewand dafür angelegt – die Hülle der Heimlichkeit. 294

 


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