Paul Wertheimer
Respektlose Geschichten
Paul Wertheimer

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Der unechte Goethe

Eine Alt- und Neu-Weimarer Geschichte.

Zu Weimar, dem altehrwürdigen Musensitz, lebte in unsern Tagen und lebt hoffentlich noch ein gar stattlicher, ein wenig beleibter und ehrengeachteter Herr und Bürger, der nebst anderen vortrefflichen, doch mehr häuslichen Eigentümlichkeiten die eine überaus wertvolle Gabe besaß – Goethe verblüffend ähnlich zu sehen. Als Fabulisten haben wir die Freiheit verwegener Erfindung, und so wollen wir diesen vermeintlichen und vermutlichen Abkömmling des Altmeisters kurz und kühn Maier nennen. Er war Alleininhaber einer florierenden Papierfabrik am Ufer der Ilm, gerade an jener Stelle, wo der junge Goethe in Mondesnächten zum Entsetzen der Bürgerschaft wie ein heidnischer Gott der Flut zu enttauchen pflegte. Maier lieferte also das Papier, auf das die Ansichtskarten und Erinnerungsblättchen gedruckt werden, die jeder Weimar-Pilger getreulich nach Hause schickt, als Zeichen, daß auch er in der Nachbarschaft des Olympiers geatmet hat. Und auf all diesen Kärtchen sieht man jene wundersam menschlich gesteigerten Züge, vor denen Napoleon ausrief: »Voilà un homme!« Herr Maier betrachtete diese Züge oft in begreiflicher, stolzer Neugierde. Wenn man näher 202 zusah, war es gar nicht Herr von Goethe; es war Herr Maier, besonders wenn dieser apollinisch um sich blickte und den Gang des Altmeisters kopierte. Er kopierte auch dessen Statur, »des Lebens ernstes Führen« ward ihm bald zu eigen. Auch war er, unter heimlicher Berufung auf sein Vorbild, gelegentlich – bei Geschäftsreisen – einem kleinen amourösen Schabernack keineswegs abgeneigt. Aber das brauchte daheim niemand zu erfahren, und niemand erfuhr es. Er brachte, obwohl er Detektivgeschichten eigentlich vorzog, von solchen Reisen immer aufs neue kostbare Goethe-Ausgaben heim. Sie zierten sein stattliches Haus am Frauenplan, das er zu einem respektablen Goethe-Museum umgeformt hatte.

In Schränkchen und Vitrinen erblickte man majestätische Goethe-Locken von dessen siebentem bis zum achtzigsten Jahr. Ihm war es gelungen, dazu den letzten Kamm, die beglaubigten Bürsten des Gewaltigen aufzustöbern. Selbst einen Original-Goethe-Zahn hatte er seinem Museum einzuverleiben gewußt, obwohl die Echtheit gerade dieser Reliquie vielfach bestritten ward. »Ja, Goethe ist auch nur ein Mensch gewesen, ein starker und zuweilen auch ein schwacher Mensch«, pflegte Herr Maier den vielen Besuchern seines Museums zu bemerken. Und er richtete es geschickt ein, daß dabei der Blick des etwa Zweifelnden auf ein anmutiges Frauenbildnis fallen mußte, das aus dem Hintergrund des Salons hervorschimmerte. »Dies ist meine 203 Urgroßmutter, Gott hab' sie selig!« stellte Herr Maier zwanglos vor. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm; sehen Sie nur, wie ähnlich ihr meine Tochter Lili sieht.« Und es war in der Tat überraschend, in den wohlig geschwellten Lippen seines Töchterchens, wenn es eben durch das Zimmer schlüpfte, den heiteren Mund der Ahnin wieder zu erkennen, die einst in verschwiegener Stunde den »Zeus von Weimar« beglückt haben sollte. Und wenn dann der Besucher, Lili mit Wohlgefallen betrachtend, nicht umhin konnte, einige zeitgemäße Bemerkungen über Vererbung einzuflechten, stand Herr Maier wie zufällig mit einemmal dem Bildnis Goethes gegenüber, das ganz nahe der liebenswürdigen Ahnin im vollen Lichte hing – und der Besucher blickte überzeugt und bewundernd von ihr zu Goethe, von Goethe zu Herrn Maier und von diesem wieder zur Ahnfrau hinüber. Und jeder Weimar-Pilgrim dankte der Ahnfrau im stillen, daß sie durch ihr längst verjährtes Abirren vom Wege des bürgerlich Korrekten der Nachwelt den Anblick eines offensichtlich echten, des letzten Goethe-Sprossen gewährte. Herr Maier jedoch sonnte sich geradezu in dieser Untugend seiner Urgroßmutter und er hatte als Hausvater und Familienversorger auch das Recht, sich zu sonnen. Denn das geschäftliche Ansehen, dessen er in der kunstberühmten und zugleich gewerbetüchtigen Stadt genoß, gründete sich nicht zum geringsten Teil auf seine interessante Abstammung. Sein Kredit wuchs 204 unter den Mitbürgern; denn wer hätt' es gewagt, Herrn Maier-Goethe, der als wandelnde Gratis-Sehenswürdigkeit den Fremdenverkehr der Stadt so wesentlich förderte, ein kleines kommerzielles Ansuchen abzuschlagen? Die Firma florierte um so gewisser, je schwankender die Tugend seiner Ahnin schien. Aus dem Papierfabrikchen wurde allmählich ein beträchtliches Unternehmen, kurz, es ward an diesem Beispiel offenbar: daß zuweilen die Sünden der Großmütter Segen bringen bis ins dritte und vierte Geschlecht. Schon hoffte der klug rechnende Kaufmann, die Fabrik in eine Aktiengesellschaft umwandeln zu können. Schon sah er sich als deren Direktor, nur fehlte noch einiges Kapital, und das würde gewiß von den Mitbürgern gezeichnet werden, wenn – ja wenn einmal die Geschichte seiner dunklen und doch so lichtvollen Abkunft zum Gegenstand gelehrter Forschung erhoben und der breitesten Öffentlichkeit bekanntgegeben würde.

Und siehe, das Wunderbare, auch hier ward es Ereignis. Eines schwülen Augustmorgens kam in das Kontor des Direktoraspiranten ein Kärtchen geflattert. Es drückte nichts Geringeres aus als den Wunsch des hochgelehrten, als Durchforscher der letzten Heimlichkeiten in Goethes unendlichem Leben weithin berühmten Dr. Eusebius Zitterbein, sich mit dem ansehnlichen Herrn Johann Wolfgang Maier in der für das ganze deutsche Vaterland hochwichtigen Frage seiner Abstammung unterhalten zu dürfen. Sollten jene dämonischen Mächte, 205 von denen sein Ahnherr sagt, daß sie an der Lebenswende begnadeter Menschen sichtbar in die Erscheinung treten, sich nun auch für ihn und die Aktiengesellschaft wirksam erweisen?

Maier strich sich die Locken seines Jupiterhauptes zurecht, blickte mit den schwarzen Augen feurig und begab sich in den altberühmten »Elefanten«, wo Zitterbein mit einem Mikroskop über Handschriften hockte. Zitterbein sprang dem würdig Eintretenden entgegen, und da er sein Antlitz mit den ihm so wohlvertrauten Zügen flüchtig gemustert hatte, blieb er in Andacht stehen, wie vor einer Erscheinung. »Wahr ist es, der Augenschein bestätigt es – Ihre hehre Urgroßmutter, sie wird durch die Jahrhunderte gehen durch mich – sie hat . . . lesen Sie hier den Brief, den ich aufgefunden habe!« »Nicht hier«, stammelte der Fabrikant, »kommen Sie zu mir nach Hause.« Und er faßte in freudiger Hast das aufgeregte Männchen, preßte es liebevoll an sich, erklomm mit ihm die Stufen des Maier-Goethe-Museums und führte ihn alsogleich vor das Bild der blühenden Ahnfrau. Da zog Zitterbein ein altertümliches, mit mancherlei Flecken verziertes Schreiben hervor und schnaubte in stolzer Erregung wie ein siegreiches Schlachtroß. »Vernehmen Sie, was Goethe seinem mephistophelischen Beichtvater, dem Johann Heinrich Merck, nach Darmstadt geschrieben hat: ›Bruder und trautester Freund! Der Nachtwind harft durch die Eichen, alle Quellen rauschen im beglänzten Tal, und mein 206 Herz will überquellen. Das Mädchen, Bruder, war mein; ihr Kuß war wie das schämige Sich-neigen einer Blüte. – So gab sie sich mir im trauten Hain, in der nächtlichen Stille des fürstlichen Parkes, kennst du den Ort? Ein Holzkreuz ist dort errichtet, ein wilder Rosenstrauch überrankt die Weide. Und . . . Bruder . . ., o süßestes Wunder, Lili hieß mein Mädchen, ach, wie jene Ferne, einst Geliebte. Nun mag sie ihr Meier freien. Sie wird, sie muß, wie sie mir heute bekannte, seine Werbung annehmen – ein gefälliger Betrug, Bruder, so will es das Schicksal.‹« Stumm standen die Männer einander gegenüber. »Ermessen auch Sie die Größe dieses Augenblicks, Herr Maier? Ich grüße Sie als seinen Sprossen! Was wird aber Ihre Frau, Ihre Tochter dazu sagen?« »Herr Professor Zitterbein«, erwiderte Maier in breiter Würde, »Lili weiß, daß es für auserwählte Frauen eine höhere Tugend gibt als die der landläufigen Moral. Sich einem Altmeister, zu Ehren der deutschen Dichtung, zu weihen, ist das nicht eines hehren Weibes höchste Bestimmung? Wo steckt denn das Teufelsmädel?« »Der Wildfang ist nicht zu halten«, erwiderte die rundliche Mama, die den Gast zu begrüßen herbeigekommen war. »Und jetzt gar, wo dieser Student wieder hier ist, immer streift sie mit dem herum, solltest doch aufpassen, Wolfgang.« Aber Wolfgang sah und dachte nichts mehr. Er zählte schon die Kapitalien, die durch Zitterbeins Brief seiner Aktiengesellschaft zuströmen mußten. »Wann werden Sie die Welt mit dieser 207 Nachricht überraschen?« »Morgen!« triumphierte der Doktor, »im großen herzoglichen Schloß, beim gemeinsamen Bankett. Es wird ein Ehrentag für Sie, Herr Maier, der schönste Ihres Lebens.« Und er empfahl sich und suchte, um die Rede für morgen in Ordnung zu bringen, wieder mit freudigen Schritten sein Quartier auf.

Charlotte erfuhr alsbald von ihrem strahlenden Gatten das »Wunderbare«. Sie war nicht ganz so mitgerissen, wie man es eigentlich hätte erwarten sollen. »Wird es unserem Ansehen nicht doch schaden?« fragte sie besorgt. »Schaden! Was vor hundertzwanzig Jahren –.« »Papa, ist es wirklich wahr?« jauchzte jetzt Lili, die in das Allerheiligste hereingestürmt war. »Ich stamme von Goethe ab? Das ist doch kolossal!« Ihre dunklen Augen glühten; ein widerspenstiges Löckchen sprang aus dem lieben gerundeten Kindergesicht, alles an ihr bebte in siebzehnjährigem Übermut. »Jawohl, mein Kind.« Und der entzückte Kommerzienrat nahm sein Töchterchen an der Hand und führte es vor das Porträt ihrer Ahnin. »Betrachte sie genau, die Stammutter unseres Geschlechtes, die uns alle – morgen wird es das Vaterland erfahren – für ewige Zeiten berühmt gemacht hat.« »Solchen Segen also«, erwog Lili bedächtig, »bringt es einem Mädchen, wenn es sich einem großen, großen Dichter, ohne viel nach Eltern und Priester zu fragen, weiht?« »Nun ja, allerdings«, replizierte der Vater, »wenn dieser Dichter ein 208 Goethe ist.« »Aber das kann man doch vorher nicht so genau wissen«, forschte das altkluge Fräulein. »Du hast überhaupt nichts zu wissen«, polterte jetzt die Mama. »Wo hast du dich denn den ganzen Vormittag wieder herumgetrieben?« »Ach«, seufzte Lili offenherzig, »mit Robert; wir waren im Tiefurter Park, es war himmlisch! Er hat mir seine Gedichte vorgelesen. Gott, das war schön!« »So, Gedichte«, knurrte der Vater; »auch ein Beruf! Daß du mir mit diesem Menschen nicht mehr zusammenkommst! Meier heißt er auch noch. Und jetzt an die englische Aufgabe!« Lili verschwand vom Schauplatz, doch warf sie leider noch einen langen verstehenden Blick zu dem Bild hinüber, das ihr freundlich, ja geradezu ermunternd zuzunicken schien.

Die Sitzung der Goethe-Gemeinschaft verlief am nächsten Morgen unter Ansprachen und Reden feierlich wie immer. Dann zog die befrackte Gesellschaft, bejahrtere Tempelritter zumeist, die den heiligen Gral Goethe schirmen, in das Schloß, allwo sie sich um den jungen lebensfrohen Herzog verbreitete. Die Teilnahme, ja Neugierde der erkenntnisdurstigen Herren wendete sich aber diesmal weniger dem Herzog, der auch neben den großen vergangenen Schatten für sich etwas bedeuten will, als Herrn Johann Wolfgang Maier zu, der, umgeben von einer Schar getreuer Trabanten, in einer Ecke des Bankettsaales lehnte. Er hatte den vorangegangenen Abend nicht untätig verbracht, sondern den 209 Fund Dr. Zitterbeins bereits in aller Stille unter die Geschäfts- und Goethe-Freunde zu bringen gewußt. Der Gedanke, dem veritablen, amtlich punzierten Urenkel Goethes die Hand zu drücken, berauschte diese sonst so nüchternen Männer. Wer anders als Maier sollte Direktor der zu gründenden Aktiengesellschaft werden? Wer konnte der immer gefährlicheren Konkurrenz in der Papierbranche überlegener begegnen? Nun hing alles nur noch von Zitterbeins Rede und ihrer Wirkung ab. Und Zitterbein sprach – er sprach, während die Champagnerkelche leise klirrten, die untergehende Nachmittagssonne sich in den Fenstern des weitläufigen Saales spiegelte und die Glatzen der lauschenden Gemeinde zu vergolden schien. Er sprach, während manche Augen hinter scharfen Brillengläsern sich vor Rührung feuchteten, über das große Geheimnis, das ihm, einem unansehnlichen Zitterbein, zu lüften bestimmt war. Er sprach von Lili, der opferwilligen Urgroßmutter, die einen lebendigen, hochwichtigen Nachtrag zur Goethe-Biographie der Wissenschaft hinterlassen habe, gewissermaßen einen Anhang und Kommentar, in dem man jederzeit nachschlagen könne. »Die letzte Stunde, die eine Stunde im Leben des Dichterfürsten, die noch dunkel gewesen, ist nun durchforscht, sein Leben hat für uns keine Geheimnisse mehr!« – Schweigen, dann jubelnde Zurufe: »Johann Wolfgang Maier, der letzte Goethe-Sproß, er lebe, lebe, lebe immerdar!« brauste es durch den klirrenden Saal. Becher hoben sich, 210 man tauschte Schwüre der Freundschaft und des ewigen Gedenkens dieser Stunde. Maier, der Direktor, wurde stürmisch umarmt. Er stand auf der Höhe des Ruhmes, auf dem Weg zu Ehre und Reichtum.

Da . . . drückte sich ein Lakai ganz insgeheim heran. Der sagte ihm nur ein Wort; aber Maier erbleichte und fuhr mit gesträubten Locken hinaus, gegen den Schloßplatz los, auf dem die Schwüle des heißen Augustabends lastete. Dort erwartete ihn – ein Polizist mit gestrenge hinaufgezogener Stirn, ein Münchner, der in die kleine Residenz verschlagen worden war. So sprach er in seiner breiten, gemütlich lustigen, bajuvarischen Art: »Sakra, sakra, des is a G'schicht'!« »Ja, was ist denn passiert? So reden Sie doch!« schnaubte Herr Maier, wobei ihm der Schweiß auf die Stirne trat. Der Polizist vergaß plötzlich seinen mühsam aufrechterhaltenen Ernst, er lachte, bis er puterrot wurde. »A Bußl hat er ihr geb'n, a Mordsbußl, der Musjäh derer Freil'n Tochter, draußen im Park, wo's do verboten is, dort beim Holzkreuz, wo's Rosenbüscherl steht, a poar Schritt vom Monument vom Herrn von Goethe«, zwinkerte das Auge des Gesetzes, »ak'rat da, wo s' Ihrer Frau Urgroßtant' g'wiß a bald a Monumenterl setzen wer'n. Aber des derf amal net sein, das Busserln im Park, es is a Verordnung, mir san hier gar streng. I bitt' Eahner, wann des oaner g'seh'n hätt'!« »Nichts haben Sie gesehen! Verstanden?« »Versteh' schon, Herr 213 Kommerzienrat. Reden S' halt mit mein' Kollegen a ein Wörtl, der is no dort bei di Zwoa und laßt s' net aus.« »Meinen Wagen«, brüllte Herr Maier, und er jagte im Trab dem Park entgegen, durch die Alleen an der Herme des Urgroßvaters vorbei, die heute am Geburts- und Ehrentage ein frisches Lorbeerkränzlein schmückte.

Bei jenem Holzkreuz, nahe dem Rosensträuchlein, standen richtig die beiden ertappten Sünder, argwöhnisch bewacht von einem seitwärts postierten martialischen Schutzmann. Die beiden sahen aber gar nicht zerknirscht drein, sondern blickten einander so glücklich verliebt in die Augen, daß sie die zornigen Schritte des Näherkommenden überhörten. Sie sah allerliebst aus in ihrem Sommerkleidchen, mit ihrem zerzausten Haar, und er – der Denkmalheros, der drüben in marmorner Ruhe stand, hätte an dem hübschen, frischen Gesellen mit den braunen Augen, die vor Mutwillen blitzten, gewiß kein Ärgernis genommen. Aber der Kommerzienrat nahm um so mehr Ärgernis. »Ja, Teufelsmädel, hast du den Verstand verloren?« tobte der gekränkte Vater, der sich eigentlich als Enkel hätte geehrt fühlen müssen. »Aber du hast mir doch erst gestern gesagt«, weinte Lili, »daß wir alle so berühmt geworden sind wegen der Urgroßmama – und mein Robert ist auch ein großer, großer Dichter.« »Dichter! Können Sie denn davon leben?« polterte Maier-Goethe. »Leben«, sagte der junge Mensch halblaut vor sich hin und blickte zu 214 den Rosen. »Wissen Sie denn überhaupt, was das ist? Der hat es verstanden, den ihr heute in der heitern Stadt pedantisch gefeiert habt, während ich ihn hier in seinem Park im Wehen des Windes, im Hauch der Blumen und eines Mädchenmundes erlebte. Später freilich ist auch er vorsichtig und verschwiegen geworden.

. . . »Doch hätte Goethe geschwiegen,
Hätt' er sich nie die Lippen verbrannt,
Er wär' nicht die goldenen Stufen gestiegen,
Mit leuchtenden Spuren herabgestiegen
In unser nüchternes Schulmeisterland.«

»Jetzt spricht er gar in Versen!« klagte Maier verzweifelt. »Sehen Sie, hören Sie nur, da kommt schon der ganze Zug!« rief jetzt der Beklommene ganz außer sich. »Sehen Sie dort die Fräcke und Zylinder, die ganze Goethe-Versammlung pilgert hierher, um das Monument zu bekränzen. Als Enkel werd' ich geehrt, aber als Vater bin ich hier einfach für immer erledigt!« Und ein so ehrlicher Kummer sprach aus seinen jetzt gar nicht mehr Goethe gleichen Zügen, daß der leichtsinnige Poet von wirklichem Mitleid bewegt wurde. »So geben Sie mir das Mädel!« rief er rasch entschlossen. »Aber Sie haben und sind doch nichts!« »Ich werde mein Jus fertig machen«, erwiderte der andere dumpf. »Schließlich ist auch »er« allmählich ein Philister geworden – mein Urgroßpapa.« »Ihr Urgroßpapa? Sie sind wohl –« »Auch ein Meier, aber ein ei-Meier.« Und der Student kramte aus der 215 Tasche ein nicht minder vergilbtes Dokument hervor. »Staunen Sie, Verehrtester. Auch in meinem elterlichen Hause wurde ein Schriftstück, dieses hier, insgeheim verwahrt. Ich habe bisher keinen Gebrauch davon gemacht, weil ich selber wer sein und werden will und weil ich Geheimnisse alter Damen respektiere. Aber nun heraus damit. Dies ist der Antwortbrief, den Johann Heinrich Merck, Goethes spöttischer Freund, auf dessen Selbstanklage gerichtet hat. Lesen Sie diese Stelle: ›Was soll nun mit dem Mädel geschehen? Blind, wie jeder verliebte Bräutigam, wird unser braver Revierförster Meier‹ – »ein Meier mit ei« – ›das Mädel doch heiraten, er wird, wie die Bauern sagen, die Kuh mit dem Kälbchen kaufen.‹ »Und von diesem ei-Meier, mein Verehrtester, bin ich abzustammen so frei gewesen. Nicht Sie, Herr Kommerzienrat, sondern ich darf mich also mit Fug Goethes letzten Urenkel nennen. Ich glaube erwiesen zu haben, daß ich seines mutwilligen Blutes bin.« »Wenn Sie diesen Brief wirklich publizieren, werde ich doppelt zum Gespött!« schrie Herr Maier, während die Klänge des Männergesang- und Turnvereines, der den Festzug zum Goethe-Denkmal begleitete, immer näher heranschmetterten. »Jetzt stimmen sie gar noch das ›Hochzeitslied‹ an! Wenn die das erfahren und uns so finden«, sprach er, »komm' ich in die Witzblätter und nicht in die Stadtverwaltung.« »Schau' Robert«, mischte sich jetzt das Mädchen behutsam in das aufgeregte Gespräch. »Schau', Papa«, 216 und sie blickte auch zum Vater hinüber mit dem schiefen, spitzbübischen Blick, dem er nie hatte widerstehen können. »Tauscht doch die Großmamas miteinander aus! Robert, gönne doch der meinen ihren schlechten Ruf und laß dafür deine tugendhaft bleiben. Ist dir ein lebendiges Bräutchen nicht lieber als dieses vertrocknete Papier?« »Du hast Goethe verstanden, mein Kind«, rief Robert und umschlang sie innig. »Ich zerreiße dieses Schriftstück, behalten Sie Ihre Würde und Ihre tote Ahnfrau und lassen Sie mir das liebe, geliebte, lebendige Mädel. Wie ich ›ihn‹ zu kennen glaube«, er blickte zu Goethes Standbild hinüber, das in der Abendsonne wie rötliches Gold leuchtete, »wird er sich dieses Tausches freuen.« Und da der befrackte, singende Festzug schon um die Ecke sichtbar wurde, schob der mit erneutem Jubel geehrte Enkel und halbversöhnte Vater das Töchterchen in Roberts Arme, die es geschickt zu fassen und festzuhalten wußten. Der gestrenge Polizeimann aber hatte sich inzwischen an einen Weidenstumpf gelehnt und war in der Schwüle des Augustabends sänftiglich eingeschlummert. Als er eben mit einem kräftigen Ruck erwachen wollte, schob ihm Johann Wolfgang, der ai-Maier, eine mächtige Festhavanna so fest zwischen die Zähne, daß ihm das Reden und Ausplaudern sogleich verging. Robert aber horchte zu dem jetzt im Abendwind seltsam flüsternden Rosensträuchlein hinüber, und während er den Atem der Geliebten wohlig 217 an seinen Lippen fühlte, meinte er aus den Rosen die beklommenen Worte seines Ahnherrn aus jenen fernher schimmernden Tagen zu vernehmen, als dieser sich mit seiner Lili verloben sollte: »Es war ein seltsamer Beschluß des Großen, über uns Waltenden, daß ich in dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte, wie es einem Bräutigam zu Mute ist.« 218


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