Paul Wertheimer
Respektlose Geschichten
Paul Wertheimer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der steinerne Gast

Da stand treuherzig ein Pankratius aus grauem, verwittertem Stein, anno Domini 1830, in einer klaren, kalten Silvesternacht und blickte verstohlen durch ein Fenster gegenüber in die trauliche, blaue Biedermeierstube, wo sich eben eine freundliche, wenn auch nicht gerade pedantisch bekleidete Mädchenschar um eine beleibte Dame scharte, die, das Kleid sittig um den ansehnlichen Busen geschlossen, vom Wein – dem Zöbinger oder Nußdorfer – und von der Silvesternachtserregung glänzte. Der Kachelofen, über dessen rechte Flanke ein Hirsch zu rasen schien, strahlte so behagliche Wärme, wie man dies nur von einem Alt-Wiener Ofen erwarten darf. Der venezianische Luster war angezündet und warf seine üppigen Lichter auf ein Bild an der geblümten Tapete. Es war nicht der Landwehrmann, der den Tschako abgestellt hatte, um die junge Frau – das Kind auf dem Arm – zu herzen, nein, es war ein strammer Heidengott, vielleicht Papa Jupiter, der in nicht einwandfreier Stellung eine Nymphe, die nicht ernstlich floh, umschlungen hielt.

Immer neugieriger lugte der arme, stein- und eiskalte Pankratius durch die Fensterspalte. Hatte er denn die ganzen Jahrhunderte her, seitdem er hier in seiner Verwitterung Posten gestanden, seit 172 Leopold dem Glorreichen oder Friedrich dem Streitbaren, gar nicht bemerkt, wie hübsch und gemütlich es eigentlich da drin in dem molligen Häuschen war? Noch dazu heute, in dieser niederträchtig kalten Silvesternacht, wo der Wind mit Hu-Hu dem Steinwächter um die gehöhlten Wangen pfiff. In sein melancholisch niederhangendes Bärtchen hatte sich ein Eiszapfen verfangen, der fast bis zum Boden hinabreichte; in das rechte Auge trat eine Träne, die gleich zu Eis gefror, in dem sich die Lichter von drüben in tausend Farben, wie lauter Lebensverlockungen, spiegelten. Ein Seufzer klang aus seiner durch die gebeugte Haltung so vieler Jahrhunderte eingesunkenen Brust, oder war es nur der Wind, der über das holprige Pflaster wie klagend hinstrich?

Hier war es so kalt und da drin so verlockend gemütlich. »Ja, kreuzsakra Donnerwetter noch einmal!« hätte der Mann aus Stein fast geflucht, wäre ihm das Fluchen nicht durch die Regel verboten gewesen. Und überhaupt, wozu stand er denn eigentlich da, steinern und frierend, bei jedem Wetter? Nicht einmal einen Schirm hat er. Wer hatte ihn eigentlich herpostiert? Aha, jetzt glaubte er sich zu erinnern. Da drüben in dem Haus war einmal ein Kloster gewesen. Wie lang ist das her? Hundert Jahre, zweihundert oder noch länger? Ja, die Zeit vergeht, wenn man so dasteht und auf Ablösung wartet. Das Kloster hatte der Kaiser Josef aufgehoben. Nur ihn muß man vergessen haben.

173 Da steht er noch immer vor dem Haus. »Was ist denn jetzt da drin? Wahrscheinlich etwas, das mehr Steuer trägt. Ein Kloster ist es gewiß nicht mehr, sonst möcht' er öfter beten hören. Es muß eine andere Bestimmung haben, wahrscheinlich eine mehr weltliche. Aber gewiß eine sehr schöne«, räsonierte er treuherzig, »denn die Leute, die herkommen, sehen alle sehr vergnügt aus. Viel vergnügter, wie wenn einer früher im Kloster einen Besuch gemacht hatte, und so viele kommen her – so eine Frequenz –, besonders im Fasching oder um Michaeli, wenn die großen Wallfahrten sind. Und alle, die herkommen, die jungen Herren und die älteren, ja merkwürdig, daß so viel Herren kommen, und alle sind so gut aufg'legt – merkwürdig.« Ja, alle lachen zu ihm herüber, gestern hat einer seine nußbraune Angströhre vom Kopf genommen und ihm auf den Kranz aufgesetzt und alle sind um ihn herumgesprungen, – zum Glück ist noch der Polizeimann gekommen und hat die Gesellschaft weggejagt.

Was ist denn Lächerliches an ihm? Vielleicht, daß er schon so lange vor dem Haus steht und wartet, – ja, auf was denn? Das hat er nicht zu fragen. »Ich hab' nur zu warten«, knurrte er ingrimmig in sich hinein. »In Demut, wie es sich für ein ordentliches Steinmandl gehört. Wenn es nur nicht gar so langweilig hier wäre! In das Haus sieht man nicht recht, weil die Gardinen davor sind. Da haben es die Kollegen besser getroffen.«

174 Er wurde immer ärgerlicher und in sein Raunzen und Grandeln, wie es die älteren Leute an sich haben, mischte sich jetzt auch der Dialekt, den er längst hier in den Vorstadtgründen gelernt, aber bisher in seinen beschaulicheren Selbstgesprächen noch nicht angewendet hatte. »Ja, die Kollegen! So ein Brunnenpatron, der hat's gut. Der Brunnen plauscht ihm den ganzen Tag was vor und am Abend, da kommen die feschen Mädeln und die Burschen, da gibt's eine Unterhaltung, und wenn es zu arg wird, hat er nur mit dem Finger zu drohen. Oder so ein braver Florian auf dem Land. Die gute Luft und die vielen Spenden, lauter gute Sachen.« Das Steinmännchen schnoberte vor Verlangen. »Oder mein Säulennachbar, zu dem man wallfahrten kommt. Oder ein Nepomuk, der sein Standl auf einer Bruckn hat, der sieht, der erlebt doch was. Aber da herg'stellt werden, in die Gassen da, wo's so zieht. Die Latern' da, natürlich, daß man nicht einmal seine Zeitung lesen kann, wenn der Wind schon einmal den »Wiener Beobachter« herweht. Ist das auch eine Anstellung, so steh'n bei jedem Wetter, ohne Regenschirm«, schimpfte er wieder, wie ein alter österreichischer Hofrat. Ganz weh und weich ward ihm zumut, immer weher und weicher. Er berauschte sich gewissermaßen an dem eigenen Lamentieren. Er bekam das weinende Elend, wie man in diesen Gründen zu sagen pflegt. Dicke Tränen rannen ihm jetzt in den schütteren Bart und fielen klirrend auf das Pflaster, 175 und das Haupt sank ihm immer tiefer.

Aber mit einemmal raffte er sich auf und stand ganz starr vor Neugierde. Da war ja etwas Besonderes los dort drüben, etwas sehr Frohes gewiß, denn er vernahm das Lachen bis hierher auf die Gasse, über die jetzt der Sturm in eisigen Stößen fegte. Da war ja plötzlich eine ganze Gesellschaft, eine höchst fidele Kumpanei um den gescheuerten Eichentisch. Grasgrüne, zinnoberrote und zitronengelbe Fräcklein wirbelten um Frauen, man hielt dem über die Dächer hereinflatternden neuen Jahr die Punschgläser entgegen, an das Klavier hatte sich eine Schöne im grasgrünen Gewand gesetzt, und der durch den Raum sanft hinsäuselnde Lanner'sche Walzer steigerte noch den Eindruck, daß man sich inmitten einer friedlich ehrsamen Familienunterhaltung befinde.

Wahrscheinlich hat der Pankratius in der Finsternis gar nicht bemerkt, wie die lustigen Leute in das Haus getreten sind. Oder ist er vielleicht gar ein bißchen eingenickt? »Ein Wunder wär' es wirklich nicht, wenn man schon so lang dasteht«, sagte er in sich hinein, jetzt schon recht ungemütlich – er begann sich bereits zu »giften«.

»Ja, muß ich denn da eigentlich bis in alle Ewigkeit stehn, wie der gemalte Türk' drüben vor der Trafik, und mich vielleicht verkühlen?« polterte er jetzt, der Mann aus Stein, dem noch dazu der Duft einer ganzen Fuhre von Kalbsbraten aus dem Hause drüben in die rotgefrorne Nase gestiegen 176 war. »Und wenn ich auch einmal eine kleine Silvestertour unternehme, werd' ich darum gleich ins Fegefeuer müssen, da wär's wenigstens wärmer. Ja, auf solche Gedanken kommt man, wenn man immer so allein ist. Vielleicht bemerkt es übrigens der Petrus dort oben gar nicht«, und er äugelte ein bißchen ängstlich zum Himmel hinauf, von dem aber nichts zu sehen war, weil ihn der Rauch aus allen Schornsteinen der Hühner bratenden und Punsch brauenden Stadt bedeckte.

»Aber ob ich überhaupt noch gehen kann?« Er gab sich einen Ruck, ein Krachen ging durch die Gelenke, und er marschierte stracks und stramm wie ein Füsilier auf der Parade zum Pförtchen hin. Da zauderte er und zwinkerte noch einmal argwöhnisch zum Himmel hinauf. In diesem Augenblicke begann ein zuerst bedächtiges und dann immer lustigeres Gebimmel von allen Kirchenglocken, die zwölf Uhr zu schlagen begannen. Der Sturm, der sich ärgerte, hatte an dem Fenster gerüttelt, die Gardinen flogen zurück, und nun sah der gute Pankratius, wie die Fräcklein alle auf den Stühlen standen, die Halsbinden flatterten; die Spitzenärmel der Herren mischten sich mit den Halskrausen der Damen, und ein Chor »Hoch soll es leben, das neue Jahr« zog mit dem Duft dicker Zigarren zur Zimmerdecke.

»Da geht es ja fidel zu!« freute sich der alte Herr und versuchte dabei ein kleines, mutwilliges Hopserchen. »Immer ist's Sonntag, es dreht immer 177 am Spieß sich der Herd«, zitierte er in schon beginnender Sinnenumnebelung. So ähnlich hatte er es ja aus einem bedruckten Blättchen im Gedächtnis, das der Wind von drüben aus dem Laden des Käsehändlers Tomaso Marchetti zu ihm gewirbelt hatte. Er klinkte die Tür auf und stand inmitten der wein- und daseinsfreudigen Gesellschaft, die sogleich verstummte und den steinernen Gast mit dem vereisten Strohkränzlein erstaunt betrachtete. Der Madame mère fiel das Spitzgläschen, das sie eben zum breitlachenden Munde führen wollte, zu Boden. Ein jokoser Herr im dunkelblauen Frack mit krebsrotem Kragen und gleichen Ärmelaufschlägen und einer schreiend himmelblauen Weste faßte sich zuerst. »Ja, wer kummerlt denn da?« rief er vergnügt. »Ja, wer iserl denn das?« fragte verwundert und den Eintretenden schon halb erkennend, ein zweiter. »Das is ja –« »Meiner Seel, unser Pankratius gibt uns die Ehr'«, schrie die Gebieterin des Hauses auf. »Das ist ein Besuch, machen Sie sich's nur ein bisserl kommod.« »Wenn Sie erlauben. Gut riacht's da«, und er schnupperte wieder vergnügt. »Und so schön warm is da, und die schönen Damen. Na so was –« und er versuchte einen Kratzefuß. »Schnell Punsch her für den Gast, bevor es ganz zwölfe schlagt«, rief jetzt der muntere Blaubefrackte, und hob ihn, so schwer er war, noch auf den letzten leeren Stuhl. »A Lackerl Kaffee wär' mir eigentlich lieber«, wehrte bescheiden der Pankratius ab. »I hab' schon lang 178 keinen mehr getrunken, eigentlich schon nicht mehr, seitdem der Kolschitzky dem Sultan Soliman, dem heidnischen Türkenhund, die Kaffeebohnen wegstibitzt und nach Wien gebracht hat.« »Erinnern's Ihna später, alter Herr, jetzt her mit dem Punsch«, und schon hatte er eine vergoldete Tasse am Mund.

Der arglose Ankömmling, der seinen Durst bisher nur mit Schnee- und Regenwasser gelöscht hatte, trank in einem Zug erfreut die Tasse aus, und bereits griff er nach einer zweiten, die ihm ein Dämchen in einem rosa Musselinkleidchen zierlich kredenzte. Er betrachtete sie, von dem ungewohnten Anblick entzückt. Um den weißen bloßen Hals war ein violettes Seidenband geschlungen, eine kleine Krause lugte aus dem zarten Busen hervor, das braune Haar war ernsthaft hinaufcoiffiert. »Da kann gewiß nichts Sündhaftes dabei sein«, beruhigte sich der fromme Mann und blickte tiefer in die blauen oder grauen, lustig schwimmenden Augen des Dämchens, das Angelika hieß und das frühzeitig von daheim entlaufene Töchterchen eines Wiener bürgerlichen Lichteranzünders war. Plötzlich begann es in dem steinernen Herzen des Gastes zu rumoren. Wie schön war es hier, was hatte er in seinem zugigen Winkel nicht alles versäumt! »Noch ein Glaserl«, rief, ja schrie er beinahe. »Aber Sie werden sich einen Schwips holen«, wehrte fürsorglich die kleine Anschi ab. »A was, ich hab' ihn ja schon, Gott sei 179 Dank, daß ich noch einmal zu so was kommen bin –« und die Freudentränen rannen ihm aus den Augen, oder war es nur der Schnee, der in der linden Wärme aufgetaut und geschmolzen war? »So gut ist es heut' Nacht noch keinem Kollegen gegangen, nicht dem Florian und nicht dem Nepomuk auf der Brigittabrucken.«

Und er tänzelte in seiner steinernen Hagerkeit vor lauter innerem Vergnügtsein, nahm noch einen Schluck oder zwei und schob, damit er nicht »zu gach hintereinander trinke«, »Bacherei« nach, und als sich dann die Anschi an das Klavier setzte und einen der neumodischen wilden Walzer intonierte, wagte der immer fideler gewordene hagere Mann, der sein Kränzlein abgenommen hatte, ein Schleiferchen, und sieh', es gelang, weil die Heiterkeit doch schon längst aus dem Boden der Stadt, allwo er so viele Jahre postiert gestanden, ihm hinauf in das eingefrorene Blut gestiegen war.

Er setzte sich zu der Anschi an das Klavier, die ihm längst die beschneite Kapuze und den Pilgerstab abgenommen hatte, und die ganze buntfrackige Gesellschaft gruppierte sich jetzt um diese beiden, den sonderbaren Besucher und seine kleine, barmherzige Samariterin. »Verzeihen schon«, wandte sich der aufgetaute Büßer jetzt an das lustige Oberhaupt der ganzen Kumpanei, den geschwinden Mosjö mit dem krebsroten Kragen, »san s' net harb«, – das reinste Lichtentalerisch war ihm jetzt ganz von selbst mit der wachsenden 180 Lebensfreudigkeit aufgeblüht. »Ich kenn' Sie schon lang vom Sehn, Sie san ja da ein fleißiger Gast –.« »Ja, immer, wenn er von der Mehlgruben oder dem Römischen Kaiser kommt, Euer Gnaden, kommt er gleich her vom Ball auf an Plausch, der Edi.« »Oh, verzeihn, daß ich mich noch nicht vorgestellt hab'. Ich bin der Castelli, k. k. Beamter und Dichter dazu, und beim Tierschutzverein bin ich auch. Aber die lieben Katzerln da, die Marchand de mode- und die Stubenmäderln dadrin«, fügte er erläuternd hinzu, »sind mir doch noch viel lieber.« »Ja, ja, da is halt gemütlich. »Wir sind eine Familie«, mischte sich jetzt die Wirtin ein. »Ja, das Familienleben«, nickte der Pankratius, »das hab' ich immer entbehren müssen.« »Und das sind meine Spezi, das ist der Pepi und das ist der Mohrl«, und er wies auf zwei pomadisierte Herrchen, die Modebildern aus der Theaterzeitung glichen, mit langen Manschetten und preziösen Blonden, die Halsbinde aus feinstem Batist – von Girlanden eingefaßt – und Westen von strohgelbem Atlas, mit Blumen und Goldstickereien übersät, den Chapeau bas unter dem Arm.

»Und was haben denn die Herren für einen Beruf?« erkundigte sich hofrätlich wohlwollend der steinerne Gast. »Der Edi wartet auf dem »Wasserglacis, ob das Linnerl, und der Mohrl wartet beim Sperl, ob das Fannerl kommt, und wenn sie umsonst gewartet haben und auch sonst nichts los ist, keine Wallfahrt nach Maria-Brunn, kein 181 Feuerwerk von Stuwer und keine Sonnenfinsternis mit Lanner'schen Walzern, dann kommen sie her zur guten Madame Fischer, wo immer die nettesten Mäderln zu einer Familienjause beisammen sind.« »Ja, die hat ein Herz für die Jugend«, winkte ihr der Castelli zu. »Und auch für das reifere Alter«, schluchzte die rundliche Madame, gerührt über ihre eigene Güte, auf. »Und der Hofrat weiß halt auch, wo man sich von seinem Amtsgeschäft erholt«, und sie tätschelte die schmalen Wangen einer jokosen Hintergrundfigur des Salons, die eben eine Prise in ihre Vogelnase nahm – mit dünner Wade, einem langen spanischen Rohr, einem schwärzlichen Frack, einem sogenannten Corbeau, von dem sich die weißlichen Haare an den Schläfen, zu »Wuckerln« gedreht, ernsthaft abhoben.

»Na, man is da hier auch nicht mehr ungestört mit seine Leut'«, knurrte der Hofrat von der Tabakregie mit einem schiefen Blick auf den Pankratius, der sich an das vierte oder fünfte Punschglas festgesogen hatte. »Ist halt ein kurioser, maliziöser, malkontenter Patron, unser Herr Hofrat Birkenstock«, lärmte jetzt Castelli, in dem die Weinlaune nicht mehr zu dämpfen war. »Was erlauben Sie sich, so ein subalternes Subjekt?« »Zur Strafe«, flötete der Mädchenchor, »soll uns der Castelli sein neues Gedicht vordeklamieren.« Und Castelli deklamierte, die schmachtende Rosa um die Hüfte fassend, eine Strophe des Morgenliedes.

182 »Bravo, Castelli, bravo!« Der Edi und der Mohrl waren aus ihrer blasierten Reserve herausgetreten, sogar der Hofrat Birkenstock applaudierte und Madame mère und die geselligen Mädchen in fast noch kindlichem Mutwillen. Es waren eigentlich arglose Geschöpfchen, wie diese ganze wohllebige Zeit, aus leichtem Sinn, hierher nach des Tages Mühsal zur leichten Zerstreuung geflattert – nicht verderbter im Grunde als manche der behüteten Bürgerstöchter und -frauen, und so mochte es passieren, daß diese, solches erkennend, harmlos mit ihnen beim Römischen Kaiser zusammen an einem Tische saßen.

Immer toller stieg der Mutwille der Gesellschaft, die aber wegen der Nähe des härenen, ob auch versteinerten Gewandes sich noch immer in den Grenzen des Geziemenden hielt.

Dem stillen, arglosen Mann gefiel es hier aber so gut, wie es ihm noch niemals im Leben gefallen hatte. Er war angeräuchert, wie man zu sagen pflegt, die Punschgeister wirbelten lustig um sein Haupt, auf dem allbereits schon Moos gewachsen war; die ganze »Familie« machte vor ihm Reverenz. Weinselig bunkerten ihm die Äugelchen, links hielt er das Annerl, rechts das Antscherl – es hatte ihm um den Kahlkopf ein Rosenkränzlein gewunden. Um den Hofrat kümmerte sich überhaupt keine mehr, und der nahm, eifersüchtig in sich hineinschnaubend, eine Prise nach der andern. »Der is ja gar nicht so aus Stein«, witzelte ein 185 Jüngelchen, das eben eingetreten war. Aber der Aufgetaute merkte das gar nicht, er schlug mit den steinknochigen Fingern den Takt und trällerte vor sich hin: »So fahr' ma halt nach Nußdorf 'naus.«

So saß er da, die Punschterrine vor sich, die Mädchen um sich und dachte nichts Arges. Nur daß es ihm schon seit den Kreuzzügen nicht mehr so himmlisch-behaglich im Gemüte gewesen war. Es schlug Glock eins und Glock zwei, Glock drei, und er saß noch immer. Die Augen fielen ihm zu in seliger Müdigkeit. Er tat ein gelindes Schnarcherchen und dachte nicht daran, sich wieder auf seinen kalten Warteposten zu begeben.

*

Inzwischen hatte sich bei der oberen Behörde des guten Pankratius, wie er die Geister nannte, die über dem irdischen Spektakel in verklärter Reinheit wandeln, mancherlei begeben, das dem in durchaus irdische Händel verstrickten Märtyrer nicht eben freundlich vermeint war.

Meister Petrus hatte nämlich in der braunen Kutte, in Pantoffeln einherschlurfend, in der Silvesternacht die große Himmelsinspektion, damit sich nicht gerade in dieser Nacht, wo die Seelen gern beschwingt in den höheren Revieren lustwandeln, eine unrechte, die gar nicht hierher gehört, sondern in der Hölle schmoren sollte, durch das Pförtchen hineinschwindelt. Auf Wien, wo man zu Silvester und im Fasching gern sein 186 Gewand verkauft, um in den Himmel zu fahren, sollte er besonders scharf aufpassen. Weil er vom vielen Herunterschauen Hunger bekommen hatte, brach er sich vom Mond ein Hörnchen, und weil er durch die von den Rauchwolken des Morgenkaffees eingehüllte Stadt nicht recht hindurchsehen konnte, ein Stück farbiges Glas vom Sirius ab. Er stand hoch über der spitzen Nadel des Stephansturms und blickte zu den heiligen Schutzpatronen hernieder, den braven Schildwachen, die zum Seelenschutz dieser arg sündigen Stadt aufgestellt waren.

Er sah zu der sanften Agnes nach Sievering, zur Höhe von Salmannsdorf hinüber, wo in den Weinbergen die Maria auf der Erdkugel noch immer stand und mit der Ferse die Schlange zertrat. Er blickte auf den Laaerberg, wo im frostigen Nebel die Spinnerin am Kreuz noch immer geduldig stand. Er blickte über die Laimgruben zum Brillantengrund und – konnte seinen alten, steinernen Pankratius nicht entdecken. »Ja, wo ist er denn hin? Was ist da nur geschehen? Was kann da nicht alles passieren in dieser verwünschten Gasse, in diesem verflixten Haus, wenn der Pankratius nicht mehr da ist. Vielleicht seh' ich ihn nur nicht« – und er ließ eine Sternschnuppe herunterfallen, die sprühend in das Pflaster einschlug, aber von dem Pankratius nicht eine Spur zeigte. »Am liebsten möcht' ich selbst wieder hinunterschauen, aber ich hab' halt wieder das Reißen, wahrscheinlich schlägt 187 das Wetter um. Du, Ariel«, und er winkte einen Jüngling herbei, der im grünwehenden Mantel vor dem blauazurenen Himmelssaal stand und den Klängen lauschte, mit denen die heilige Cäcilie das Frühlicht begrüßte.

Unter ihren zarten, weißen Fingern erhob sich ein Lied und schwang sich über die perlmutterfarben schimmernde Wölbung. Es war das Lied, das sie von einem Meister gelernt hatte, der Franz Schubert hieß, als er noch unten durch diese bucklige Welt sein Päcklein Sorge zu tragen hatte, und der erst seit kurzem mit dem Krauskopf und der großen Brille und in rundlich-gemütlicher Leiblichkeit über die Schwelle getreten war. Von ihm hatte sie das Lied gelernt; denn es ist nicht richtig, daß die himmlischen Heerscharen alles aus sich selbst kennen und wissen. Sie brauchen die Menschen, sehnen sich nach ihnen und holen sie herauf, um nicht zu verdämmern unter ihrem kühlen Heiligenschein.

Wie nun die heilige Cäcilie dieses Lied, in dem der ganze Wiener Frühling jubilierte, zu ihrer eigenen Begleitung sang, »Im Bächlein die Forelle«, zog ein leiser Hauch wie ein irdisches Sehnen durch die Brust des blassen Jünglings Ariel, und als ihn Petrus noch einmal fragte, ob er hinunter wolle zu dieser Stadt hin, wo der Schubert Franzi – so hieß er auch dort oben mit gemütlichem Anklang – noch war es nicht lange her, gelebt und so schöne Lieder ersonnen hatte, war der Gabriel 188 sogleich bereit. Er schnallte die seraphischen Flügel an, sie begannen im Frühschimmer leise zu klirren, und schon stand er in dem morgendlich umhellten Gäßchen, blickte sich nach dem Pankratius um und klinkte, da er ihn nirgends fand, die Tür des blauen Häuschens auf.

Dort lagerte in den Stühlen, auf dem wie die Tapete blaugeblümten Teppich die ganze Gesellschaft um den selig hingelehnten, nur manchmal durch einen Schnarcher sein kräftiges Wohlbefinden äußernden Gast. Der Castelli machte Musik, die Mädchen wippten dazu mit den Seidenschühchen, und der Hofrat schlug den Takt geärgert, wenn Angelika, auf den weinrosigen Schläfer blickend, nicht richtig einfiel.

So wirklichkeitsfern war diese Stunde. Alles nur allzu Irdische war – gewiß nur durch die Nähe des steinernen Mannes – bereits so völlig von diesen Seelen geglitten, daß es nach den wunderbaren Ereignissen dieser Nacht niemand mehr verwunderte, als der Jüngling mit den wunderbaren Augen, mit den stahlblauen Flügeln klirrend, wie die Sonne selbst leuchtend, auf der Schwelle erschien. Sie glaubten an eine Künstlermaskerade, oder glaubten, da, von der Erscheinung benommen, niemand mehr ein Wort sprach, ein morgendlicher Traum sei wahr geworden. Oder sie dachten auch gar nichts.

Der Hofrat, der sich zuerst faßte, bot dem Ariel eine Prise an, und Ariel nieste – und es 189 war, als ob er mit diesem Nieser die Erinnerung an seine Sendung aus sich gestoßen hätte. Wie ein Gedenken jener Tage, da er selbst jung und ein in irdischen Nöten und Sehnsüchten wandelnder Mensch gewesen, zog es durch sein wie von einem Erdengefühl fernher bewegtes, kristallhelles Gemüt.

Er gab dem Pankratius, der eben einen heftigen Schnaufer gegen ihn tat, einen gelinden Schubs, kümmerte sich dann nicht weiter um ihn, und als sich ihm ein blondes Nannerl zutraulich in den Arm schmiegte, wußte er diese Gabe zu schätzen wie ein Geschenk des Himmels, von dem er eben auch noch ein Teil gewesen war und von dem ihm selbst in diesem Augenblick nichts anderes mehr in der Erinnerung schwebte als das Lied: »Im Bächlein die Forelle.« Ja, wie der Forelle im Bächlein, so wohlig war auch ihm zu Sinn. Nur um sich zu vergewissern, daß sie ihm nicht wie die Frauengebilde im Äther oben entgleite, drückte er den Arm fester um das Nannerl, dessen Augen in seinem reinen Anhauch immer reiner glänzten. Er fühlte sich erst hier so recht wie im Himmel und dachte nicht daran, so wenig wie der brave Pankratius, den zu holen er gekommen war, und der, von Rosen und Mädchen umschlungen, den behaglichsten Schnarchgesang anstimmte, diese Stätte zu verlassen.

*

Eine Weile wartete der Petrus geduldig, zündete seine kurze Holzpfeife an und arbeitete schon die 190 Predigt aus, die er dem Pankratius zu halten gedachte, wenn er von ihm zum Rapport kommandiert würde. Doch er wartete umsonst. Weder von ihm noch von dem Ariel war in dieser Silvesternacht, nicht im Himmel und nicht auf Erden, die leiseste leuchtende Spur zu entdecken. Das war denn doch zu arg – und der Petrus knarrte mit den Schlüsseln, die schon so rostig geworden waren »wie Moral und Zucht selbst da oben«, knurrte der Petrus unwirsch. »Auf die Jungen ist halt gar kein Verlaß mehr« – und er winkte einem Mann, dessen Blick düster loderte, während die Haare sich aufwärts wie Flammen bäumten. »Ezechiel, fahr' du einmal nach Wien herunter und hol' den Ariel wieder herauf.« Aber Ezechiel, der auch dort oben im Himmelsfrieden immer zürnende Prophet, war mit dem linken Fuß aufgestanden, übel gelaunt, und dachte nicht daran, eine so beschwerliche Reise anzutreten, noch dazu, da er mit dem sanften Samuel und dem auch hier immer unzufriedenen Jeremias einen Vormittagstarock verabredet hatte. Petrus ging mit dem gleichen Ersuchen auf den heiligen Jonas zu, weil der im Verschluckt- und wieder Ausgespienwerden eine gewisse Übung besitze. Aber dieser erklärte, er habe an dem Abenteuer im Bauche des Walfisches genug und wolle nicht von dem blauen Häuschen dauernd eingeschluckt werden. Wirkliche Hilfe war nur von den jungen Engelsherrschaften zu erwarten.

Raphael, der träumerisch in einer Ecke lehnte, 191 war sogleich bereit. Sanft blickend, das braune Samtbarettchen auf die braunen Locken gestülpt, schien er freilich kein gefeiter Überwinder der Gefahren, die unten seiner warten mochten. In einer lichten Sternenbahn ging sein Flug nach abwärts. Aber es war, je näher er der lockenden Erde kam, als sei die Erinnerung an den irdischen Maler, dem er einst Namen und Gestalt geliehen, in ihm erwacht. Wie der Schein roten Blutes flog es über die zarten Wangen hin.

Auch dem Raphael hatte sich alsbald ein schwarzes Hannerl beigesellt, und so saß auch er wie seine Gefährten da: vor sich die Terrine, um sich die zarten Arme des Hannerl. Es war schon allgemach da wirklich ein Konzil versammelt, wenn auch nicht eben ein tridentinisches. Aber es schien nicht minder lang währen zu wollen, denn auch Raphael dachte, von Sehnsucht nach irdischer Lustbarkeit erfüllt, nicht an die Heimkehr in die stilleren elysischen Gefilde.

Und nicht besser ging es mit den anderen, die in schimmernder Reihe durch den Azur auf den Ruf des Petrus hin jetzt geflogen kamen, dem frommen Tobias, dem Zacharias, dem Uriel sogar, dessen Schwert zuerst ingrimmig flammte, um bald von Schneeflocken eingehüllt zu werden, die in der blauen Stube des blauen Häuschens wie seine Vorsätze zerflossen. In Sternenbogen flogen sie alle nach abwärts – zuletzt ein kleines putziges Engelslehrbübchen, das sich diensteifrig zu einer Meldung 192 angeboten hatte. So viele Sterne wie in dieser Nacht, meldete am nächsten Morgen der Turmwächter von Sankt Stephan, seien noch nie zur Erde geglitten. Aber die Sterne blitzten nicht zurück – sie blieben in der Gestalt weltverliebter Jünglinge vor dem sauber gebohnten Tisch. So saßen sie alle, die aus der himmlischen Sphäre heruntergefunkelt waren, den Pankratius zu holen, die Punschterrine vor sich, die wie von geheimnisvollen Kräften sich immer von neuem füllte, neben sich eine der Schönen des gastlichen Hauses, die, wie von innerem Licht durchleuchtet, noch seelenreiner blühen.

Immer leerer wurde der Himmel. Die jüngeren Herrschaften waren fort, und Petrus wußte sich gar nicht mehr zu fassen. »Da hab' ich was Schönes angestellt. Der ganze Himmel ist leer, und gerade heute, wo doch die große Engelsparade ist und alle gratulieren sollten. Na, ich werde einen schönen Putzer kriegen.« Seitdem er sich mit Wien so beschäftigte, sprach er schon im Dialekt, der Petrus. »Was ist da zu tun?« Er borgte sich den großen Himmelsdonnerkeil aus und machte einen tüchtigen Spektakel gegen die Donaustadt zu.

Und richtig flog aufgeschreckt das Engelslehrbübchen herbei, erzählte die ganze Geschichte und brachte eine Botschaft, aber eine solche, über die der Pförtner fast vom Stuhl gefallen wäre. Die an durchaus nicht geziemender Stelle tagende Genossenschaft dort unten hatte erklärt, sie werde nicht mehr allein zurückkehren, die Mädchen 193 müßten mit, es seien artige, manierliche Geschöpfe, die durch ein wenig Wasser aus dem Paradiesesbrünnlein reinzuwaschen wären. Ohne sie wäre im Himmel kein Leben mehr. Da sei es viel lustiger in dem Häuschen unten, auf der buckligen Straße, über dem buckligen Berg. Nein, ohne diese lieben Kinder keinen Schritt mehr hinauf in den blaßblauen Azur.

Über solcher Botschaft wäre der gute Himmelspförtner beinahe selbst zu Stein erstarrt.

Was war in diesem wirklich noch nie dagewesenen Fall zu beginnen? Wer gab ihm einen Rat? Sollte er am Ende gar die Trinität selbst bemühen? Schon bei dem Gedanken wurde seine Nase, die sonst rötlich schimmerte, bleich.

Da promenierten zwei ältere Herren vorüber, die hier, so schien es, eines wohlbegründeten Ansehens genossen. Der eine trug einen Spitzbart in der Weise eines englischen Landedelmannes und wurde von seinem Begleiter, der stattlich in schwarzem Surtout voller Gravität einher schritt, einen Ordensstern auf der Brust, »William« angesprochen. Er nannte ihn »Stern der höchsten Höhe«, während sein Begleiter, bescheiden wie noch die vogelfreien Komödianten des sechzehnten Säkulums waren, ihn nur »Herr Geheimrat und Exzellenz« und nur zuletzt brüderlich-kameradschaftlich »Johann Wolfgang« apostrophierte. So war doch auch dieser Heide hier aufgenommen worden, wo er sich wie hienieden seines Daseins freute, 194 besonders weil er gleich das Sonnenspektrum in der Nähe hatte und auf den himmlischen Wiesen ungestört botanisieren durfte.

Petrus dienerte vor den Herren und bat, den noch nie dagewesenen Fall vortragen zu dürfen. Johann Wolfgang nickte mit den noch immer olympischen Brauen, und Petrus begann zu erzählen, immer verlegener mit dem Fuß scharrend. Da lächelte William und sagte nur: »Wird hier also noch immer so viel Buhlschaft getrieben in dem guten lottrigen Wien?« »Wie Ihr es, Meister, beschrieben in Eurem tiefsinnigen Spiel«, bemerkte jetzt ein dazutretender Dritter, ein behaglicher Mann mit schelmischem Mund, hohem Toupet, mit einem kleinen, zierlichen Köpfchen. »Das Ihr bedeutend überschätzt habt, Gevatter Wieland«, fügte Johann Wolfgang weltmännisch hinzu, und Petrus rekapitulierte auch vor Christoph Martin den Fall, weil dieser in den Registraturen des Himmels den Vermerk: »gutherzig, aber leichtfertiges Vorleben« erhalten hatte. »Ihr habt ja den Fall selbst, lieber Bruder« – sie waren einmal Logenbrüder gewesen –, replizierte Christoph Martin, während das Zöpfchen im Eifer baumelte, »Ihr habt ja selbst in Eurem herrlichen Gedicht die Antwort gefunden:

»Es freuet der Herr sich geretteter Sünder,
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.«

»Ja, wenn das möglich wäre«, atmete Petrus 195 erleichtert auf, und von dem Plan bereits gewonnen, fügte er schmunzelnd hinzu: »Wir könnten wirklich ein bißchen Verjüngung brauchen hier heroben, die heilige Brigitta schafft's wirklich nicht mehr, besonders wenn Waschtag ist, allein, weil sie doch auch Hausbesorgerin ist und immer herumgreint, daß sie so wenig Sperrgeld bekommt, weil alles hier so solid ist.«

»Man schaffe die artigen Kinder her«, unterbrach Johann Wolfgang seine Redseligkeit, »damit das Auge auch hier Liebliches genieße.«

»Und was soll mit dem Pankratius geschehen? Der sollte doch auch mit herauf«, suchte Christoph Martin gutmütig zu vermitteln. »Nein«, erklärte Petrus unwirsch, »er soll nur unten bleiben, ihm haben wir die ganze Wirtschaft zu verdanken.« »Und die Madame mère?« »Na, hab'n ma denn hier eine Altweiberversorgung?« schnaubte der Petrus. »Und die andere leichtlebige Gesellschaft?« replizierte abermals Christoph Martin. »Der Herr von Castelli«, und sein Zöpfchen bewegte sich freundlich hin und her. »Keine Dichter mehr, bitte«, wehrte Johann Wolfgang ab. »Aber der ist ja beim Tierschutzverein«, fiel der kleine Engelslehrbub ein wenig vorlaut ein. »Der soll nur unten bleiben bei seine Viecher«, wetterte der Petrus.

»Aber die Sünderinnen sollen herauf«, schloß die Exzellenz ab. »Reine Geister waren in ihrer Nähe, so sind sie schon rein geworden vor Ihm.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so klang 196 wie beistimmend aus dem oberen goldenen Wolkentempel herab Musik, immer süßer, schwellender und senkte sich immer tiefer auf Wien nieder über die erwachende Stadt. Sie wob sich in die Morgenträume der Menschen, und sie glaubten, noch niemals so Herrliches vernommen zu haben. Es war, als hätten sich alle Sinfonien des göttlichen Beethoven zu einer Sinfonie der Freude ineinandergeschlungen. Dazwischen aber sprang es mutwillig wie eine tönende Plauderquelle – die Schubertweise, die das kleine Engelsbübchen in das große Gebrause hinein zwitscherte.

Auf den Flügeln dieser überirdischen Musik aber wirbelten, wie mit dem heranwehenden Morgenwind, die zierlichen Frauenwesen gegen die Wolken zu. Klingend wuchsen ihnen selbst Flügel an. So glitten sie auf weißem Gewölk durch die erbleichende, rötlich überschimmerte Sternennacht, hinter ihnen aber die Engel und Heiligen alle, stolz mit den Flügeln rauschend, weil sie ihren Willen durchgesetzt hatten. Und das Engelsbübchen zuletzt schlug vor lauter Mutwillen in die Luft einen Purzelbaum. Kaum waren die Mädchen, denen die Sinne im Flug schwanden, so daß sie sich an nichts, was einmal gewesen, mehr zu erinnern vermochten, sie an das weit offene Himmelstor gelangt, stand schon die heilige Brigitta mit weißem Linnen und Spezereien bereit, die Ankömmlinge zu empfangen. Maß und Gewicht wurde auch ihnen abgenommen, nicht das wirkliche, versteht sich, sie waren ja 197 schon gewichtlose Geister, sondern das Maß ihrer Sünden von einst. Und da ergab es sich, daß die Füße ihrer Seelen sozusagen, durch so viel Staub sie auch gewandert, reiner geblieben waren, als die so mancher sich fleckenlos dünkenden Erdenwallerin. Die Seelchen wurden ihnen blank gewaschen, daß sie nur so glänzten, blitzblanke Schürzchen wurden ihnen umgetan, und sie begannen sogleich mit ihren Flederwischen, die niedlichsten Stubenmädchen des Himmels, die Wolken zu putzen.

Es war ein traulicher Anblick, und Johann Wolfgang griff den artigen Kindern anerkennend unter das Kinn, eine alte Erdenschwäche, die man bei ihm, seiner sonstigen Würdigkeit wegen, lächelnd übersah.

Dann fegte jäh nach dem linden Gesäusel ein Sturm über die Stadt, und mit einem Ruck, wie wenn einem ein Zahn gerissen wird, stand der steinerne Mann wieder auf seinem Warteposten vor dem Häuschen, sichtlich verdutzt, nicht klüger dreinblickend als vorher.

*

Als Madame mère sich erwachend die Augen rieb, stieß sie, noch immer schlaftrunken, an den Herrn von Birkenstock, der sich eben ermunterte und ihr – zum Zeichen, daß er wieder unter den Lebenden war – sogleich eine Prise bot. Sie tat einen kräftigen Nieser, war wieder auf der Welt und fand dort ihre Schutzbefohlenen nicht mehr. 198 »Ja, wo sind sie denn alle? Das Annerl, das Hannerl, die Angelika?« Sie suchte in allen Zimmern, lief auf die Straße, den ganzen Brillantengrund herum. Sie lief endlich auf die Polizei. Aber dort fand man sie so wenig wie andere verlorene Gegenstände. Man hätte dort nie die Ausreißerinnen eruiert, auch wenn sie nicht in den Himmel verzogen wären.

Inzwischen war doch ein dunkles Gerücht von den seltsamen Vorgängen unter die Leute gekommen. Vielleicht hat es der Pankratius ausgeplaudert, denn er war durch die Erschütterungen dieser Nacht, der alte Einsiedel, im Kopf doch ein wenig wirbelig geworden. Überdies hielt er, man kann es nicht verhehlen, nicht mehr so viel auf sich wie vorher. Er hatte sich vom Hofrat das Schnupfen angewöhnt, und da er manchmal eine Prise Ruß von den Dächern ergattern konnte, sah er zuweilen nicht sehr appetitlich aus. Auch sprach er gern, besonders wenn der Wind wie damals durch die Straßen pfiff, zu sich selbst. Er räsonierte und grandelte dann mit der ganzen Welt. Es war halt schon ein rechtes Kreuz mit dem Alten.

Das hatte er nun davon, daß er noch einmal hatte jung sein wollen und mit seinen Frostbeulen und Rheumatismen ein Tänzchen gewagt hatte.

Jedenfalls also war die Geschichte unter die Leute gekommen, und als man gar keine Erklärung für das Verschwinden der sieben seligen Fräulein fand, kam man der Wahrheit, daß ein Wunder 199 geschehen, immer näher. Wo ein Wunder vermutet wird, kommen – und gar in Wien – alsbald viele neugierige Leute herangepilgert, und so konnte es nicht fehlen, daß die freundliche, ach jetzt so vereinsamte Madame mère von den vielen hermarschierenden Neugierigen um ein aufklärendes Plauscherl und Tratscherl gebeten wurde. Aber sie wußte sich an nichts mehr zu erinnern.

Wo aber Menschen sind, die solche Sorge haben, ist auch Likör und wo Likör ist, sind auch bald wieder gefällige Mädchen da, ihn zu kredenzen. Und da des Menschen Sinnen, zumal in dieser Stadt, leichtfertig ist von Jugend auf, geschah, was im Kreislauf der Dinge geschehen mußte: sie blieb nicht allzulang einsam, diese Freundin der Jugend. Bald fuhren wieder Fiaker an dem blauen Häuschen vor und der Hofrat und der Herr v. Castelli, der jetzt auch schon ein Regierungsrat war, saßen darin. Und man konnte bald wieder die roten und rosa Bänder und Maschen von blonden und braunen Coiffuren und die gelben und blauen Fräcke hinter den Gardinen blitzen sehen.

Der gute Pankratius aber stand wie ehedem mit dem Strohkränzlein und dem sanft gesenkten Gesicht vor dem Tor des blauen Häuschens auf Posten. In das Haus selbst hat er sich nicht mehr hineingetraut, auch ist er mit der Zeit – es ist ja schon fast ein Jahrhundert seitdem dahingegangen – nachdem er in wienerischer Art genug geraunzt hatte, wieder steinern-schweigsam geworden.

200 Nur wenn es drinnen wieder einmal besonders hoch hergeht, zwinkert er, zumal in mondhellen Winternächten, lustig mit den Augen. Zuerst mit dem linken und dann mit dem rechten und zuletzt mit allen beiden. 201


 << zurück weiter >>