Elisabeth Werner
Adlerflug
Elisabeth Werner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.

Es war am Vormittag des nächsten Tages. Herr Bürgermeister Eggert ging in seinem Zimmer mit großen Schritten und großer Entrüstung auf und nieder und machte seinen Gefühlen seiner Frau und Fränzchen gegenüber, die noch beim Frühstück saßen, Luft.

»Das geht zu weit! Ich nehme gewiß die höchste Rücksicht auf die Berühmtheit und die Stellung eines Meisters wie Bertold, aber das geht wirklich zu weit. Er scheint Siegbert als sein ausschließliches Eigentum zu betrachten, über das er nach Belieben verfügt. Vorgestern nimmt er ihn mit auf die Egidienwand, trotzdem ich von Anfang an dagegen war. Es passieren da schreckliche Dinge: der Wagehals, der Adrian Tuchner, stürzt vom Fels, Siegbert klettert ihm nach in die Schlucht.«

»Er hätte sich dabei das Genick brechen können«, schaltete Frau Eggert ein.

»Oder den Arm!« rief ihr Gatte, für den diese Alternative die schlimmere zu sein schien. »Den rechten Arm, und dann wäre es mit dem Malen vorbei gewesen! In meiner Gegenwart passieren solche Dinge nicht, und ich nehme mir nun auch vor, Siegbert nicht aus den Augen zu lassen. Statt dessen nimmt ihn der Professor so vollständig in Beschlag, als ob wir überhaupt gar nicht da wären. Gestern hat er ihn kaum von seiner Seite gelassen; bis gegen Mitternacht waren sie zusammen, und als ich heute früh in Siegberts Zimmer trete, um ihn ernstlich darüber zur Rede zu stellen, tritt wieder der Herr Professor ein und sagt im unhöflichsten Tone: »Lassen Sie den Jungen in Ruhe! Quälen Sie ihn nicht mit Ihren Redensarten. Wir haben ganz andere Dinge im Kopfe, und übrigens brauche ich den Siegbert jetzt notwendig. Wir empfehlen uns Ihnen, Herr Bürgermeister. Damit nimmt er meinen Sohn am Arm, geht mit ihm davon, und ich bleibe stehen.«

»Ja, dieser große Künstler hat bisweilen etwas recht Gewaltsames an sich«, meinte Frau Eggert, die schon Zeugin davon gewesen war, wie der »große« Künstler ihren Gemahl zuerst grob behandelte und dann stehen ließ. Der letztere aber schien sich noch immer nicht an diese Methode gewöhnt zu haben, denn er fuhr in wachsender Empörung fort:

»Das soll und muß ein Ende nehmen! Wir wollten zwar noch acht Tage hier bleiben, aber unter diesen Umständen halte ich es doch für besser, wenn wir den Aufenthalt abkürzen. Siegbert findet sonst noch Geschmack an dem Ungehorsam, der ihm täglich und stündlich gepredigt wird. Wir reisen morgen ab.«

»Ach ja, Papa, wir wollen abreisen!« fiel Fränzchen beinahe stürmisch ein. »Ich sehne mich so nach Hause!«

Der Bürgermeister war sehr gerührt über dies Heimatsgefühl seiner Tochter. Er wußte nicht, daß diese wahrhaft erschütternde Sehnsucht in engster Wechselwirkung stand mit jenem rührenden Dichterschmerz im »Wiesenheimer Tagesboten«, der noch immer auf dem Grunde des Koffers ruhte. Aber auch Eggert selbst begann sich fortzusehnen aus der ewigen Bergwelt, in der man ihn so schnöde behandelte, nach dem gemütlichen Wiesenheim, wo der erste Würdenträger und reichste Mann der Stadt sicher war, einen unbedingten Respekt zu finden. Die Abreise wurde also unter allseitiger Zustimmung beschlossen.

Während die bürgermeisterliche Familie mit ihren Reiseplänen und Reisevorbereitungen beschäftigt war, kamen Siegbert und der Professor aus dem Walde und näherten sich langsam dem Hause. Der Himmel schien in der Tat das nötige Einsehen gehabt zu haben, denn der junge Mann war unverletzt, und das vergnügte Aussehen Bertolds verriet, daß das Duell auch andererseits ohne schwere Folgen verlaufen war.

»Das wäre abgemacht!" sagte er. "Ich mache dir mein Kompliment, Siegbert. Da hast gestanden wie eine Mauer und kaum mit der Wimper gezuckt, als die Kugel an dir vorbeisauste. Für einen Anfänger hast du auch gar nicht so übel geschossen. Dem Sir Conway kostet die Geschichte aber einen neuen Hut; deine Kugel ging gerade mitten durch."

»Es war ein Glück, daß ich ihn nicht traf", sagte Siegbert leise und wie beschämt. "Ich würde mir später doch einen Vorwurf daraus gemacht haben, denn er hat – in die Luft geschossen."

»Meinst du?« fragte Bertold betroffen.

»Ich bin davon überzeugt. Ein so vortrefflicher Schütze, wie er, fehlt nicht, wenn er nicht fehlen will. Die Art, wie er mir später die Hand reichte, verriet mir, daß es seine Absicht gewesen war, mich zu schonen.«

»Ja, du hast ihm Respekt beigebracht, das zeigte sein ganzes Auftreten heute, und ich glaube sogar, daß ihm die Geschichte mit dem Adrian Tuchner näher geht, als er für gut findet, zu zeigen. Doch, da sind wir schon am Hause! Für heute mußt du dich noch ausruhen nach all der Erregung, aber morgen unternehmen wir gemeinschaftlich den Sturm auf Wiesenheim. Es bleibt doch dabei, daß du offen und rückhaltlos mit deinem Pflegevater sprichst?«

»Das tue ich noch heute,« erklärte Siegbert entschlossen, »aber ich bitte Sie, es mir allein zu überlassen. Ich muß mich selbst aus den Banden lösen und werde es tun.«

Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf. »Wenn du nur fest bleibst! Der Kugel hast du vorhin standgehalten wie ein Held, ob du aber den Bitten und Vorwürfen deiner Pflegeeltern standhältst, ist noch die Frage. Für eine Natur wie die deinige ist dies Feuer jedenfalls das schlimmere, und sie werden Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dich zu halten.«

Über das Gesicht des jungen Mannes flog ein helles Aufleuchten, während seine Augen halb unbewußt ein gewisses Balkonfenster des Hauses suchten und fanden.

»Fürchten Sie nichts! Jetzt gehe ich vorwärts, ohne zu schwanken und zu zögern. Ich will nur erst in meinem Zimmer die Briefe vernichten, die ich für den Fall eines unglücklichen Ausganges schrieb, dann suche ich sofort meinen Pflegevater auf. Es wird ein schwerer Gang, ich weiß es, aber ich weiß auch, was für mich auf dem Spiele steht. Sie sollen mit mir zufrieden sein.«

Er reichte seinem Lehrer herzlich die Hand und trat in das Haus. Bertold sah ihm erstaunt, aber mit höchster Befriedigung nach.

»Der Junge ist ja ganz außer Rand und Band!« brummte er vor sich hin. »Wie lange ist es denn her, daß ich ihn hier abkanzelte als einen unverbesserlichen Träumer, der keinen Funken von Kraft und Energie in sich hatte? Ich sage ja, solch eine unglückliche Liebe ist Goldes wert bei einem Künstler. Jetzt gilt es aber noch, ihm über die erste Zeit der Verzweiflung hinwegzuhelfen, denn seine augenblickliche Ruhe täuscht mich ganz und gar nicht. Ich werde mein möglichstes tun, ihm die Sache aus dem Kopfe zu bringen.«

Mit diesem Vorsatze schwenkte der Professor seitwärts nach den Waldanlagen, wo er den Präsidenten von Landeck erblickte. Zufällig hatte aber auch Siegbert denselben bemerkt und deshalb vorgezogen, nicht direkt nach seinem Zimmer zu gehen, sondern sich bei Fräulein von Landeck melden zu lassen, die er jetzt allein wußte. Die beiden alten Herren, die so harmlos in den Anlagen promenierten und und plauderten, hatten keine Ahnung von diesem Besuch und noch weniger von dem, was dabei verhandelt wurde. Als aber Siegbert die junge Dame verließ, strahlte sein Antlitz von einer so unverkennbaren Glückseligkeit, daß der Vorsatz seines Lehrers, ihn der Verzweiflung zu entreißen, einigermaßen überflüssig erschien.


 << zurück weiter >>