Elisabeth Werner
Adlerflug
Elisabeth Werner

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Zehntes Kapitel.

In den schattigen Waldanlagen, die sich hinter dem Hotel ausdehnten, saß Herr Bürgermeister Eggert, umgeben von seiner ganzen Familie. Auch die Musen von Wiesenheim waren in diesem Kreise vertreten, und zwar in Gestalt des »Tagesboten«, der regelmäßig nachgesandt wurde. Der Bürgermeister mußte selbstverständlich genau darüber unterrichtet sein, was in seiner verwaisten Stadt vorging, die nun schon drei volle Wochen ihr Oberhaupt entbehrte und noch auf weitere acht Tage zu dieser Entbehrung verurteilt war.

Er hatte soeben mit Genugtuung davon Kenntnis genommen, daß der alte Marktbrunnen, den man einer Reparatur unterworfen, sich wieder in Tätigkeit befand, daß der Hund, der dem Herrn Kreisrichter entlaufen war, sich wieder eingefunden hatte, und daß der Dieb des dem Gemeindeboten entwendeten Huhns entdeckt und gebührendermaßen in das neue Stadtgefängnis abgeliefert morden war. Nach all diesen erfreulichen Tatsachen, die aber doch mehr das praktische Leben berührten, kamen auch die Musen an die Reihe, die diesmal besonders stark am »Tagesboten« beteiligt waren.

Eggert las soeben ein längeres Gedicht vor, das den geheimnisvollen Titel »An Sie« führte und aus der Feder des gegenwärtigen Redakteurs und künftigen Heroen der Dichtkunst stammte, der Sonntags im bürgermeisterlichen Hause zu Mittag aß. Wahrscheinlich hatte die jetzige Unterbrechung dieser freundlichen Gewohnheit die Stimmung des jungen Dichters beeinflußt, denn das Gedicht war ungemein schmerzvoll und wehmutserfüllt und machte auch einen entsprechenden Eindruck. Die Stimme des Lesenden bebte wiederholt vor Rührung, die Frau Bürgermeisterin sah mit gefalteten Händen und feuchten Augen da, und Fränzchen sah ganz elegisch verklärt aus. Nur Siegbert verriet eine sträfliche Gleichgültigkeit und ließ nicht das mindeste Zeichen von Rührung blicken.

»Ja, er ist wirklich ein Genie, unser Ellbach!« sagte der Bürgermeister, indem er das Blatt niederlegte. »Wir werden noch etwas Großes an diesem jungen Manne erleben! Er hat mir selbst beim Ab- schiede diese Überzeugung ausgesprochen, und ich bin ganz seiner Meinung!«

»Wenn der Arme nur nicht diese unglückliche Liebe so tief im Herzen trüge!« sagte Frau Eggert mitleidig. »Wie oft hat der »Tagesbote« nun schon seinen Liebeskummer gebracht und ist noch immer nicht damit fertig. Es muß eine Bekanntschaft aus der Residenz sein, wo er früher lebte, denn in Wiesenheim wüßte ich doch niemand, der der Gegenstand solcher Gefühle sein könnte. Was meinst du, Fränzchen?«

Fränzchen meinte gegen ihre sonstige Gewohnheit gar nichts, sie beugte den Kopf auf ihre Handarbeit nieder, so tief, daß die Mutter nicht sehen konnte, wie feuerrot ihr Gesicht war. Zum Glück überhob der Vater sie der Antwort, indem er wieder das Wort nahm: »Ich werde ihn einmal auf das Gewissen fragen. Das ist ja ein wahrhaft erschütternder Schmerz, den er heute wieder ausströmt. Hört nur diese Stelle: Tag für Tag mit heißen Tränen – mit verzweiflungsvollem Grämen – denk ich dein!«

»Das ist aber kein Reim,« warf Siegbert ein. »Tränen und Grämen paßt nicht.«

»Mein lieber Siegbert, diese nüchterne Bemerkung hättest du dir ersparen können,« sagte der Bürgermeister in hohem Tone. »Was liegt an dem Vers, wenn der Inhalt nur schön und rührend ist. Rührung ist die Hauptsache in der Poesie, in der Kunst überhaupt. Du solltest das gleichfalls beherzigen und mehr Rührung in deine Bilder bringen, aber freilich, das will empfunden sein, und du sitzest niemals mit heißen Tränen an deiner Staffelei, wie dieser arme Mann in seinem Redaktionszimmer.«

»Siegbert sucht förmlich etwas darin, Herrn Ellbach herabzusetzen,« ließ sich jetzt Fränzchen mit kaum unterdrückter Heftigkeit vernehmen. »Er will sich dafür rächen, daß der »Tagesbote« sein letztes Bild weder erwähnt noch besprochen hat.«

Siegbert zuckte die Achseln. »Da bist du im Irrtum, Fränzchen. Ich versichere dir, es ist mir sehr gleichgültig, wie Herr Ellbach meine Bilder beurteilt, und ob er sie überhaupt beurteilt.«

»Künstlereifersucht!« sagte der Bürgermeister mit überlegenem Lächeln. »Einer gönnt dem anderen seinen Ruhm nicht, und doch wirken sie beide auf verschiedenen Gebieten. Aber es ist wahr, auch ich habe mit Befremden das Schweigen des »Tagesboten« bemerkt. Ich fürchte, man hat Siegbert absichtlich ignoriert, und man würde ihn vielleicht sogar angreifen, wenn nicht –« er brach ab, denn die sehr natürliche Folgerung, daß es nur gastronomische Rücksichten waren, die seinen Pflegesohn vor den Angriffen des »Tagesboten« schützten, erschien ihm doch zu unpoetisch, wenn sie auch die richtige war.

»Dergleichen Eifersüchteleien und Feindschaften dürfen aber in unserem Wiesenheim nicht Platz greifen,« begann er wieder. »Nach unserer Rückkehr werde ich eine Versöhnung anbahnen – mit einer Ananasbowle, die pflegt unseren Dichter immer sehr freundlich und versöhnlich zu stimmen, ich habe das schon einigemal erprobt. Und was dich betrifft, Siegbert, so bitte ich mir aus, daß du keine Hartnäckigkeit zeigst. Ich wollte, du hättest nur etwas von dem Selbstgefühl und dem Künstlerstolz dieses jungen Mannes. Er erklärt jede seiner Arbeiten von vornherein für ein Meisterwerk.«

»Ja wohl, und er glaubt sogar daran,« sagte Siegbert mit aufquellender Bitterkeit. »Ich habe das nie vermocht.«

Fränzchen warf ihm einen sehr unholden Blick zu und war im Begriff, sich energisch auf die Seite der Poesie zu schlagen, als ihr Vater sich plötzlich erhob. Er sah drüben auf der anderen Seite der Anlagen den Professor Bertolt» erscheinen und bekam auf einmal Lust, gerade dort einen Spaziergang zu machen. Er überließ daher seine Familie sich selbst und dem »Tagesboten« und wandte sich nach jener Richtung.


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