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Die Verbrennung des Karnevals
Die Glocken des Campanile warfen der eben vollendeten Vormittagsmesse noch einige golden-berstende Klangkugeln nach, als der Kapellmeister von Sankt Markus, Nachfolger des göttlichen Gabrieli im Amte, durch die Seitentür des Choraufganges auf die Piazza trat. Claudio Monteverdi, dessen Greisenaugen noch umschmeichelt vom honigfarbenen Dunkel des Tempels waren, zwinkert jetzt, purpurn erblindend, in den vorlauten Frühlings-Sonnenschwall des Karnevaldienstags von sechzehnhundertdreiundvierzig. Er schwankt an seinem langen Stock einige Schritte vorwärts wie ein Trunkener, der aus der Schenke tritt, dann bleibt er stehen und geduldet sich, bis seine Augen dem gellenden Licht sich angepaßt haben. Diese Strahlen, diese Wärme, diese Wonne, die sich durch alle Leiber ergießt, ihn freut sie nicht mehr. Widerwillig fühlt er, wie auch die dürre, trockene Blüte seines Körpers sich diesem Zauber entgegendreht und unter Phöbus' Machtgeheiß sich aufrichtet. Warum hält die Gottheit durch solche Erquickung den Verfall auf? Er ist sechsundsiebzig Jahre alt und fällt der Welt gewiß nur zur Last.
Der Alte sieht zum Uhrturm empor. Es ist noch nicht zehn Uhr. Zwei lange Stunden Müßiggangs stehen ihm bevor, denn die Hauptprobe zur morgigen Repräsentation seiner ›Incoronazione di Poppea‹, welche die Gesellschaft von San Giovanni e San Paolo wie im Vorjahre so auch heuer veranstaltet, findet erst zur Mittagsstunde statt.
Monteverdi spürt schweratmend die stetige Müdigkeit seines Herzens, die Beklemmung der Lungen. Soll er denn überhaupt zu der Probe gehen? Soll er sich nicht lieber krank melden, hinlegen, liegenbleiben, sterben? Was gehen ihn all diese dummen Theater an, die in den letzten Jahren in Venedig wie Giftkraut gewachsen sind?
So war es nicht gemeint gewesen, als der edle Peri, als er selbst vor fast fünfzig Jahren seinen ›Orfeo‹ schrieb. Das alte Schicksal aller Reformierer, Novatoren, Revolteure, ob in freien Künsten oder Gemeinwesen, grinst ihn an: So wars nicht gemeint.
Er hatte die Gedanken der Florentiner Camerata vollstreckt. Der Kontrapunkt, die poesiezerfleischende Imitation der Stimmen, war beseitigt, die Seele des Einzelmenschen durfte ertönen. Einige Jahre lang hatte er wirklich geglaubt, unter seinem Anhauch sei die Tragödie der Alten wiedererstanden, Eurydice dem neuen Orpheus zum Lichte des Tages gefolgt. Die Musik war auf ihren Platz gewiesen, die Poesie in ihre höchsten Rechte eingesetzt. Nicht war es mehr den Tönen gestattet, der Worte spottend, eigenwillige Bindungen einzugehen, sie waren nur Höchststeigerung der Rede; das sangestrunkene, unendliche Recitativo wölbte sich nun über dem erdenfesten Grundstein des Basses und hob den klagenden oder jauchzenden Vers zum Himmel. Nicht anders konnten Aeschylus und Seneca ihr Werk geschaffen haben.
Aber rüttle, solange du willst, Öl mit Wasser zusammen, schließlich wird es doch oben schwimmen. Versuche, so weise du auch bist, Tonkunst und Dichtung zu vermählen, immer wird die Musik, die einem leichteren Reiche entstammt, nach ihrem Sinn herrschen. Er, Peri und der Sänger Caccini hatten aus einem Irrtum die Oper erfunden.
Der Mensch, das dumme Tier, hat seine hohen Einbildungen, mit denen die Moira das Wirkliche und Gemeine vollbringt.
Nun war die strenge, alte Kunst tot. Der Seelengesang, die herrlich-freie Rede des klassischen Dramas sollte die regelstolze Vielstimmigkeit ablösen. Aber was war in der Tat geschehen? Nach einem kurzen Traum kam das Mißverständnis und mit dem Mißverständnis der riesige Erfolg der neuen Kunstrichtung. ›So war es nicht gemeint.‹ Wie ein von Zwangsherrschaft erlöstes Volk hatte die Musik einen Augenblick lang im Umsturz sich der Befreiung gefreut, aber schon im nächsten Augenblick suchte sie nach neuen Formen, nach neuen Bindungen. Die überlieferten, die königlichen Tafeln waren zerbrochen, und so fiel sie denn der Plebs, der Straße, den bänkelsängerisch-platten Naturen anheim.
›Marsyas schindet Apollon‹, dachte der Alte und machte sich klar, daß er nicht nur an der Befreiung der Muse, sondern auch an der Lockerung der Lüste mitgewirkt habe.
Nicht das Drama, nicht die heroische Erschütterung, die Aristoteles kündet, hatte eingeschlagen, sondern der dramatische Gesang, der neue Einzel- und Chorgesang, dessen ungeahnt sinnliche Entzückungen die Menge bezwangen. Er selbst, vom Strom mitgerissen, mußte Schritt für Schritt nachgeben. Immermehr, auch in seinen eigenen Werken, zerfiel die Einheit des dramatischen Vorgangs in Rezitativ und Arie, er sah sich gezwungen, die dichterische Wahrheit verachtend, den Formen der Straße Raum zu geben. Es wurde so gefordert. Nun schrieb er Dacapo-Arien, fügte leichtsinnige Canzonetten der Szene an, komponierte wirre Texte wie diese ›Poppea‹, die ihm der Stümper und hohle Versifax von Busenolli geschrieben hatte. Ach, nicht mehr galt es, Dichterwerke durch Musik zu steigern, erhabene Tragödien, wie sie Rimuccini und Strigio ersonnen haben. Das Theater allein herrschte unter der Leitung schlauer Sklavenhändler mit dem Gefolge einer immer unmusikalischeren, immer eitleren, immer verbuhlteren Sängerschaft auf der Bühne und dem Troß lüsterner Ohrenvöllerei im Zuschauersaal.
Der Alte wie manch anderer Umstürzler hatte den Weg der Enttäuschung, der zur Reaktion führt, gründlich durchmessen. Aber obwohl er der dramatischen Komposition immer wieder abschwor, obwohl er vor kurzem zum geistlichen Madrigal seiner Jugend zurückgekehrt war, im innersten Herzen liebte er die Oper mehr als alles andere. Wenn er sich mit letzter Aufrichtigkeit geprüft hätte, wäre er zur Erkenntnis gekommen, daß er sie nicht minder liebe, wenngleich sie diesen Weg vom sinnvollen Musikdrama zum unsinnigen Melodram ging. Sein gelehrtes Herz litt wohl, aber sein ganz begrabenes Lebens- und Musikherz freute sich im dunkelsten Winkel.
Die Eifersucht des alten Künstlers, der erleben muß, daß der Nachwuchs ihm den Rang abläuft, war die Hauptquelle, aus der seine Philippika gegen die Erniedrigung der wiedergeborenen Tragödie floß. Er ertrug die aufstrebenden Namen der Cavalli, Ferrari, Sartorio, Legrenzi, Sacrati schwer. Besonders Francesco Cavalli, um dreiunddreißig Jahre jünger als er, hatte rasch hintereinander einige große Erfolge mit den Opern ›Appollon‹, ›Daphne‹, ›Narcisso‹ gehabt. Die Theater rissen sich um diese Ware. Cavalli war nicht nur hauptschuldig an der Verflachung der Kunst, sondern hatte es sogar in überheblicher Ignoranz versäumt, ihm, seinem alten Vorgänger, Landsmann und ruhmwürdigen Kapellmeister von Sankt Markus, die gebührende Aufwartung zu machen.
Claudio Monteverdi nimmt den großen Hut ab, läßt sein graues Schwedenhaar im Winde flattern und öffnet den weiten kapuzenartigen Mantel, so daß man sein schwarzes Weltpriester- und Gelehrtenwams sehen kann. Langsam, den Stock hell auf das Pflaster stoßend, schreitet er die Piazza hinan.
Sie ist von Müßiggängern, Neugierigen, Geschäftsleuten, Schacherern, Arbeitern überfüllt. Längs der Säulenhallen werden große Kandelaber errichtet, die von Pechpfannen gekrönt sind. Girlanden beginnen schon in hübschen Halbbögen zu schwanken, Fähnchen wehen auf, Teppiche werden nach und nach aus den Fenstern gehängt, langsam kriechen die drei Riesenflaggen auf den Stangen der Republik empor.
Mit jeder Minute wächst die Menge, wächst der Lärm, diese vielstimmigste aller Musiken, aus Kaufs- und Verkaufsgeschrei, Empörungs- und Zustimmungsruf, tausend Liedteilchen, aus Liebesgeflüster und Alltagsschwatz aufstäubend zusammengekehrt.
Wieder wie alltäglich und doppelt heute rüstet die Herrscherin ein Fest. Ringsum werden Estraden und Tribünen aufgebaut, für die Honoratioren und Staatsfunktionäre, für den Adel, für die Musikanten. Zwischen den beiden Säulen auf der Piazzetta erhebt sich schon der Scheiterhaufen des närrischen Königs.
Der alte Musiker, der Wiedererwecker der antiken Tragödie, bleibt stehn, blickt umher und sieht das freche überlaute unheilige Volk von Venedig. Galle dringt in seinen Mund. Mit dem unvernünftigen und eigensinnigen Haß alter Leute macht er die Stadt für all seine wirklichen und eingebildeten Leiden verantwortlich, für seine Enttäuschungen, für das Heraufkommen eines andern Geschlechts, für sein Alter, für die Verlotterung der schönen Künste, die noch von jedem Zeitalter beklagt worden ist. »O urbs vilis«, zitiert er Jugurthas Worte aus dem Sallust. Selbst in der Leidenschaft bleibt er Ästhet und Humanist, dem eigenen Wissen schmeichelnd. »Oh du feile Stadt!«
Aber ausspuckend, setzt er hinzu: »Du Hure mit deinen elf Theatern, ich hasse dich und deinen geilen Pöbel!«
Nachdem er sich also Luft gemacht hat, beginnt er, wie allstündlich, sich aus dieser umverschämten, liederlichen Stadt wegzusehnen. Immer muß er an die Heimat, an das Kindheitsnest, an Cremona denken, die Stadt, wo er einzig sterben möchte.
Sein Cremona hat allerdings wenig gemeinsam mit dieser Stadt gleichen Namens. Es ist ein phantastischer Ort, in den der Alte all seine sehnsüchtigen Empfindsamkeiten tut, eine Traum-Stadt mit wunderbaren Plätzen, Palästen und einem beseligenden Himmel, der unverwandelt über einer verschollenen Kindheit steht.
In diesem Augenblick, als hätte seine Sehnsucht die Stadt hergezaubert, hört er sich angerufen:
»Sior! Sior!«
Ein jüngerer Mensch, der ihn durch die Fenster des Kaffeehauses erkannt haben mochte, rennt mit rudernden Armen heran.
»Ah, mein Gasparo?! Du hier!?«
Gasparo zeigt sich als kleine, wirrhaarige Erscheinung:
»Ehrwürdiger Herr! Euer Freund und mein hochberühmter Meister Nicola hat mich beauftragt, Euch während meiner hiesigen Geschäfte aufzusuchen.«
»Sehr erwünscht! Hocherfreut! Wie geht es daheim in Cremona?«
Der Alte, der kaum ein Viertel seiner Vaterstadt mehr wiedererkennen würde, sagt noch immer »daheim«. Er verwechselt das Traum-Cremona seiner Nächte mit dem Cremona Gasparos. Der Kleine blinzelt angestrengt, um einen Bericht geben zu können:
»So ziemlich beim Alten. Das heißt, Pomfilia Bertulli ist gestorben, des Apothekers Frau. Ihr kanntet sie doch? Sie starb mit dreiundzwanzig.«
»Was? Schon möglich! Wie denn nicht? Natürlich! Aber Meister Nicola Amati, der dich, Gasparo, zu mir schickt?«
»Ist auf Reisen! In Tirol, in Carnuntum, in der Wildnis, oder wie der Dichter sagt: In Pannonias Gauen!«
»So! So! Und was bezweckt diese mühevolle und gefährliche Reise?«
»Er jagt nach gutem Ahornholz, der Herr, nach besonderem Ahornholz, wie wir es in der Werkstatt brauchen.«
Bei dem Worte »Werkstatt« verschwindet der etwas abwesende Gesichtsausdruck Monteverdis plötzlich und weicht einer unverhohlen nervösen Gier:
»Ah, mein Gasparo! Ich fühle, du hast mir etwas mitgebracht, ein Präsent deines Meisters!«
»Erraten, Ehrwürdigster! Nicola Amati sendet Euch zwei seiner neuesten Veilchen zur Auswahl. Ihr werdet staunen.«
»Laß uns gehn! Schnell! Wo hast du Quartier genommen, Gasparo?«
»Nicht weit von hier, Sior! Bei einer Witwe, deren Domizil ich einem Ehrenmanne nicht weiter empfehlen würde.«
»Gleichgültig! Komm! Komm! Zwei seiner göttlichen Veilchen sendet mir zur Auswahl der bewunderungswürdige, der einzige Amati. Gehn wir schneller!«
Der alte Monteverdi ist ganz verwandelt. Er folgt nicht mehr dem gravitätischen Vorantritt seines Stockes, sondern hält ihn jetzt hoch über den Boden, um ungehindert weiterzukommen. Seine dünnen sechsundsiebzigjährigen Beine stechen ungeduldig vorwärts.
Wie so viele Menschen, die während des Lebens ihre Liebesmöglichkeiten nicht völlig ausgeschöpft haben, beherrscht ihn im Alter eine Besessenheit. Er ist Cremonenser. Wie ein anderer in Bilder vernarrt ist, so liebt er diese neuen Geigen, welche die großen Geigenbauer seiner Stadt mit unendlicher Kunst, unendlichem Zartsinn und, wie man weiß, mit siebenmal versiegeltem Wissen um heilige rosenkreuzerische Geheimnisse in ihren reinlichen, wohlduftenden Werkstätten schaffen.
Er liebt die Geigen nicht nur als Musikinstrumente, sondern als Formen, als vollkommene Geschöpfe, unerreichbarer und unerschöpflicher als Frauen.
Nicola Amati, der Letzte der großen Dynastie, Enkel von Andrea Amati, hat dem verehrten Autor des ›Orfeo‹, der ›Ariana‹, des ›Ulysse‹ schon drei seiner schönsten Stücke verehrt, die wie Monstranzen heilig gehalten werden.
Ähnlich wie Monteverdi und seine beiden Vorgänger Peri und Caccini die menschliche, die dramatische Einzelstimme aus dem imitierenden Stimmengeflecht der alten Musik befreiten, so haben die Schöpfer der modernen Geige, die plumpen Formen der Viola da gamba und Viola da braccio überwindend, die Stimme des Instruments vermenschlicht und erlöst. Die gleiche Sendung und Bestimmung zur Melodie erschuf in der Violine, in ihrer unbegreiflich schönen, alle Künste übertreffenden Form die reinste Ruhmestat Italiens.
Monteverdi und sein Begleiter sind in der Behausung der zweifelhaften Witwe angelangt. Der Alte, der durch nichts gestört sein will, riegelt das Zimmer hinter sich ab. Wie Schönheiten des Ostens wickelt Gasparo die Geigen aus vielen Floren, Seidentüchern und Brokaten.
Mit zitternden Händen ergreift der Komponist eine nach der andern und legt sie wieder hin, als könnte er das übermenschliche Glück ihrer astralen Last nicht ertragen. Sind sie nicht wie zwei kindliche Geliebte von Sternenwelten niedergestiegen, zwei verklärte Beatricen? Man möchte sie ganz an sich pressen, damit das Herz sie ausschöpfen kann. Aber unterm blinden Druck der Sterblichkeit müßten sie ja zerbrechen. Claudio Monteverdi sieht die holden Schwestern mit zuckenden Mienen an, sein Atem keucht und plötzlich wirft er sich vor den Geigen nieder, aufweinend, aufwimmernd in unerträglichem Glück, unerträglicher Qual.
Er weint, weil die Schönheit ihn furchtbarer rührt als der gekreuzigte Gott.
Gasparo, um den Alten zu beruhigen, schwatzt drauflos: »Ehrwürden! Wir wollen sie ausprobieren. Ich habe ein ganz modernes Stück eigens für Euch eingeübt. Mein Meister hat es so gewünscht. Eine Sonata mit Doppelgriffen.«
Monteverdi winkt dem Menschen, er möge schweigen. Dann betrachtet er mit tiefen, wirr hinziehenden Gedanken die Instrumente Amatis. Sie sind nicht sehr groß, zärtlich geschwungen, schmal, die eine hell-gelb lackiert, die andere rötlich. Der Lack bildet wunderschöne, ätherisch-übersinnliche Landschaften auf ihren Flächen, als wären die unsichtbaren Landschaften der Musik durch die Schwingung der Geigenmoleküle in einem Zauber-Augenblick gebannt und zu Bildern geworden: Wolken, Wälder, Sonnenuntergänge. Er denkt an das Mysterium des Geigenkörpers. So vollkommen, oder kaum so vollkommen, hat Gott allein die Kreatur geschaffen. Große Geheimnisse mußte der Mensch erst kennen, mantische und theurgische Künste zu üben verstehn, in vollkommener Enthaltsamkeit vom Weibe gelebt haben, um die Gestalt der Geige zu ersinnen.
Aus wieviel Elementen besteht das menschliche Wesen? Keine Wissenschaft kann dies unwiderleglich beantworten. Aus dreiundachtzig Elementen besteht der kleine Leib der Violine, von denen ein jedes wie das Wort der heiligen Schrift in dieser und in jenen Welten seine Bedeutung hat. Ist der aufgeopferte, in dreiundachtzig Stücke zerrissene Orpheus hier wieder zusammengesetzt?
Woher denn wirkte so übermenschlich reizend diese Anmut und doch so menschlich? Breite Brust, schmale Hüften, ein langer Hals. Die Entzückung der Schallöcher, dieser Hieroglyphen hoher Wissenschaft, die dünne Feinheit der Zargen, der Schwung des Bodens, der Decke und die unfleischlichsten, reinlichsten aller Eingeweide, Stimmholz und Querstab! Wie im äußeren und inneren Ohr des Menschen herrscht auch hier bedeutsam die Schneckenlinie vor.
Gasparo nimmt eine der Geigen und streicht voll den Akkord Sol-Re-Si-Sol an, indem er den Zusammenhang der tiefen Quinte mit dem oberen Zweiklang verschmilzt. Alles Holz und Metall im Zimmer schwingt. Die kleinsten Teilchen der Materie, jedes einzelne doch ein unendliches Universum mit Sternen, Ätherraum und Geschöpfen, beben von der heiligen Stimme angerufen.
Diese Erschütterung ist für den alten Mann zuviel:
»Bringe mir, mein Gasparo, heute abends diese geliebten Geister ins Haus. Wir werden zusammen speisen und dann magst du mir deine Doppelgriff-Sonata vorspielen.«
Er kann sich vom Anblick der schönen Geschöpfe nicht losreißen:
»Mit Recht haben die Alten für sie das Gleichnis der Veilchen herangezogen. Veilchenblau, wie dunkle Veilchen blau tönen sie. Auf Abend! Ich erwarte dich, mein Gasparo!«
Das Mißgeschick will es, daß Claudio Monteverdi, als er auf die Gasse tritt, einem Priester begegnet, der mit dem Mesner einen Versehgang tut. Sogleich deutet er es als böses Zeichen. Kalt durchgruselt ihn Schreck. Schweiß tritt auf seine Stirne. Er ahnt in diesem abergläubischen Augenblick, daß er noch im Laufe desselbigen Jahres sterben muß. Er schwankt, ob er in der Stunde, die ihm noch vor der Theaterprobe bleibt, beichten oder seinen Arzt aufsuchen soll. Nach der furchtbaren Pest von 1630 hat er in tiefer Zerknirschung die niederen Weihen genommen. Dennoch ist er Freigeist geblieben. Er entscheidet sich also für die Wissenschaft.
Sein Arzt und Freund, ein nicht unberühmter Medicus, Gianbattista Carvagno, wohnt und ordiniert im Ärzteviertel jenseits der Rialtobrücke. Der Gelehrte, des Meisters Altersgenosse, hat seinerzeit am Hof Rudolfs des Zweiten zu Prag die höhere Initiation in den geheimen Wissenschaften erhalten. Von denen allerdings wandte er sich später mit Zorn ab und schmähte sie nun, als ein echter Renegat, über die Maßen. Aus der alchimistischen Zeit hatte er nichts anderes behalten als den langen weißen Sterndeuterspitzbart. Ansonsten war aus dem Adepten verborgener Künste ein Rationalist und Schüler der griechischen Ärzte geworden.
Monteverdi findet den Freund über eine uralte Ausgabe gebeugt. Gianbattista Carvagno, der es liebt, die Leute mit abseitigen Entdeckungen zu überraschen, doziert sogleich:
»So ist es immer. Die unwichtigen Geister haben den Erfolg, die wahrhaft Großen bleiben im Schatten. Dieser Paulus von Nizäa hier ist ein zehnmal größerer Arzt und Forscher als Hippokrates. Er lehrt, daß die Luftbewegung, der Wind, vor allen anderen Einflüssen die Krankheiten erregt ...«
Der Musiker, der nicht gestimmt ist, einen medizinischen Vortrag über sich ergehen zu lassen, unterbricht den Gelehrten:
»Ich fühle mich sehr, sehr krank. Du sollst mir die reine Wahrheit sagen, Freund! Werde ich die nächsten Monate überleben?«
»Oh, mein Orpheus, du bist der ausgesuchteste Hypochonder, der mir im Leben begegnet ist. Aber um deine strenge Prüfungsfrage sachgemäß und ohne Ansehung der Person zu erledigen, laß uns die vortrefflichen Auskultationsmaximen dieses spitzbübisch-klugen Kollegen aus Nizäa anwenden!«
Der alte Musiker muß sich der Oberkleider entledigen, wird abgeklopft, abgehorcht, ausgefragt. Nach der Untersuchung hilft Gianbattista dem Freund beim Ankleiden:
»Ich sehe keinen Grund, mein Monteverdi, wessentwegen du nicht hundert Jahre alt werden solltest!«
»Aber ich leide, ich leide. Mein Herz will nicht mehr und der Atem erst recht nicht.«
»Eine Krankheit hast du nicht. Alle inneren Übel kommen von der Galle, als da sind: Fieber, Geschwüre, Rheumatismus, Gicht. Deine Galle ist in Ordnung.«
»Was also ist es dann?«
»Du leidest an der Natur.«
»Mit der Zeit – wie das ein Gewährsmann gut ausdrückt – mineralisieren wir alle. Die Lebenskraft will sich diesem Versteinerungsprozeß anpassen. Das schafft Beschwerden.«
Kaum ist der Meister aus dem Zimmer, zieht der Arzt einen Folianten hervor und macht in sein Patientenprotokoll unter dem Buchstaben M eine Eintragung. Zuletzt zögert er eine Weile und dann schreibt er in die Rubrik ›Kalkül des letalen Ausgangs‹ mit großen Lettern das lateinische Wort:
»Autumno.«
In der freien Luft erfaßt Monteverdi eine seltsame lichte Wehmut. Ihm ist der Sinn urplötzlich so jugendlich, so liebevoll, daß er sich des peinigenden, jahrzehntealten Mißmuts nicht mehr erinnern kann. Hat der Anblick der Geigen, dieser mystischen Engelwesen, ihn also erheitert? Oder ist es der bestimmte Eindruck, daß der Arzt ihn für verloren hält?
Pläne, von denen er sicher weiß, daß er sie nicht mehr wird ausführen können, durchzucken seinen Geist. Er träumt von einem singenden, aufschwebenden Chor von hundert dieser verklärten Geigen. Die Menschenstimme auf der Bühne, die Stimme des zerrissenen und wiedergeborenen Orpheus, die veilchendunkle, die violette Stimme der Geigen umarmen einander.
In seiner paradiesischen Rührung lehnt sich der Alte an die Steinbalustrade der Brücke. Er hört unter sich den ungeheuren Lärm des durch den Karnevalstag aufgepeitschten Lebens. Aber sein tränender Blick sieht noch nichts. Woher doch kommt nach den greisenhaften Verdrießlichkeiten des Morgens diese herrliche Erschütterung? Wer senkt sich auf ihn herab, wer durchdringt ihn? Kaum faßbare Gedanken, denen er einen Augenblick lang Heimstätte sein darf, sendet hell sein Herz empor:
›Alles ist ein überwältigender Synergismus. Die Welten und die Götter spielen einander in die Hand. Es gibt keine Einsamkeit. Auf den einzelnen kommt es nicht an. Das Individuum ist ein Irrtum. Aber die höhere Absicht vollbringt mittels dieses Irrtums die Wahrheit, die sie will. Nichts kommt aus uns. Und das ist der Sinn des Wortes: Herr, dein Wille geschehe. Aber wir sind verantwortlich dafür, daß, Herr, dein Wille geschehe! Alle Kunst ist nur Einflüsterung, die wir weitergeben. Wessen Ohr am reinsten hört, dessen Mund wird am reinsten tönen! Oh, Geige sein ...‹
Claudio Monteverdi breitet seine Arme weit. In diesem Augenblick wächst der Stimmenschall dort unten auf den Wassern des großen Kanals zum Hörnerbraus, zum Kartaunenhall einer Seeschlacht. Und der Alte sieht:
Eine Suite von goldüberladenen, scharlachroten, rosafarbenen, weißen, silbernen, silbergrauen, schwefelgelben, safrangelben, kornblumenblauen, schilfgrünen, prälatenfarbenen Staatsschiffen folgt mit hundert Ruderern in den gleichen Farben dem großen voranschäumend-hochbordigen Bucintoro, der in seiner schlangensäuligen Prachtkajüte Serenissimum, das Oberhaupt des Staates, führt. Lange Sammet- und Brokatschleppen schleifen die farbengellenden Barken im grünlich aufgepflügten Wasser nach. Der Pomp blitzt vorbei. Die Menge auf beiden Ufern rauscht auf, trunken vom jubelnden Tempo des Zuges.
Und jetzt, die lustigen Nachzügler einer stürmischen Heldentat, schaukeln hundert andere Gondeln, Boote, Barken, bekränzt, bewimpelt, fähnchengeschmückt, auf dem wild zersplitterten Spiegel. In all diesen Schiffen sitzen maskierte Menschen, die heute, gestern, vorgestern, seit Wochen schon im Mummenschanz Tage und Nächte durchtrubeln. Tausend Theorben, Gitarren, Mandoren, Lauten und rohe Klampfen, tausend heisere, übernächtig verschrieene, grelle, schöne Stimmen zupfen und heulen höllisch gegen die Schallwand der Paläste. Aber auf einmal ist es, als ob die wüste Tausendfalt der Klänge eins würde, zusammenschlüge zu wildem, zu großem Volksgesang. Die aufdampfende Musik überwältigt den Greis:
›Hier unten! Hier unten! Ach, wir waren Gelehrte, wir haben geirrt. Das Leben allein korrigiert. Nicht ich habe recht, sondern hier unten diese vielen, dieses Volk. Synergismus! Dies ist die Entwicklung! Sechs Jahrzehnte lang habe ich geglaubt, daß es in den Künsten auf die Zustimmung der Auserlesenen, der Superklugen ankomme. Aber weit gefehlt! In meinem sechsundsiebzigsten Jahre, heute, habe ich gelernt, daß die Mehrheit, die Gesamtheit das Heil ist. Sie ist eine tiefere, eine magischere Größe als das Individuum, das immer nur Eitelkeit bleibt, als die Minorität, die sich zum Refugium der einzelnen Eitelkeiten bestellt. Sie wollen ihre Theater und lyrischen Opern haben. Das erhabene Recitativo ist ihnen langweilig. Mußten wir nicht von Anfang an Konzessionen machen, unsere Stücke anders enden lassen als die Griechen ihre Tragödien? Sie sind nicht die Griechen unserer Einbildung! Ihr durch keinerlei Spekulation verdorbenes Herz will Dacapo-Arien und Canzonetten. Entweder schreibe geistliche Musik oder schreibe fürs Volk! Wenn du aber fürs Volk schreibst, lüge nicht! Die Entwicklung der Dinge ist ihre Wahrheit. Unsere Kritik ist nur der Schmerzruf, den diese Entwicklung unserer langsamen Person, die zurückbleiben muß, entlockt.‹
Mit der flachen Hand schlägt er mehrmals auf den Stein, um seine Mörder zu ermuntern:
›Vorwärts, mein Francesco Cavalli!‹
Frauenkleider streifen ihn, Gelächter streichelt kühl seinen Nacken. Er spürt nichts.
›Ich werde aus diesen Erkenntnissen keinen Nutzen mehr ziehen. Damit aber die hochnäsigen Erz-Musici mich für keinen Abtrünnigen und Häretiker halten, will ich davon schweigen. In diesem Volk dort unten ist Gottes Wille mehr als in allen Persönlichkeiten, Theorien und Philosophemen. Welcher Gott es auch sei, ein Sterblicher, ein Sterbender muß sagen: Herr, dein Wille geschehe! Sie ziehen mächtig am Seil, mächtig ...‹
Die farbig-schaukelnde, schallende Welt schwankt vor des Alten Augen, der sie schließt, um dem Schwindel nicht zu erliegen.
Eine halbe Stunde später stand Claudio Monteverdi auf der schmalen und sehr tiefen Bühne des Bezirkstheaters von San Giovanni e San Paolo, wo die Arbeiter schon seit mehreren Tagen an der außerordentlich überladenen Dekoration seiner ›Poppea‹ bauten. Ein stutzerhafter Herr mit hohen roten Absätzen, der Sänger Tiburzio Califano, trat mit exquisiter Verbeugung auf den Alten zu. Die Schnurrbartenden, fettgezwirbelt, stachen zum Auge, kreisrund öffnete sich ein Mündchen:
»Allverehrter! Darf ich Euch mit einem Bittgesuch nahen?«
»Zu Euren Diensten!«
»Ihr werdet bei dero erhabener Einsicht in die Dinge der Kunst mir sicherlich nicht zürnen. Aber die Rolle des Lucianus, die Ihr mir zugedacht habt, ist ein wenig mager, nicht recht ausgeführt, sollte man denken.«
»Ah? Scheint es Euch so?«
»Dieserhalb und weil mir, ohne mich im entferntesten mit dem strahlenden Ruhm Italiens messen zu wollen, weil mir die Musen auch ein wenig lächeln ... Je nun, ich habe als Kompositeur einige nicht unschickliche Versuche gemacht. Der weltberühmte Francesco Cavalli hat mir seine uneingeschränkte Anerkennung ausgesprochen. Zufällig trage ich heute seinen Brief bei mir. Es ist ein Zufall, wie gesagt. Wollt Ihr vielleicht geruhen, Einblick in seinen ehrenvollen Brief zu nehmen?«
»Danke, danke! Glaube Euch aufs Wort! Doch was beliebt?«
»Ich habe zur Partie des Lucianus ein kleines Gesangstück hinzugesetzt, ein angenehmes und erheiterndes Ding, solch ein pezzo staccato, wie man es zu nennen liebt. Bei aller Bescheidenheit allerliebst. So urteilen auch andre. Ich versichere Euch, Ehrwürdigster, es wird dem Werke nur zum Heil gereichen, als Gegenmittel gegen die Monotonie, die sich sonst leicht einstellen könnte. Diese Gefahr ist Euch gewiß nicht unbekannt. Ich bitte um Eure gnädige Erlaubnis. Die Kollegen sind schon verständigt und die Musiker des Accompagnements unterrichtet. Ihr könnt ruhig sein!«
Der Greis lächelte angestrengt, als könne er sich im Sinn des Gesagten nicht zurechtfinden. Dann machte er gegen Tiburzio Califano, den Tenor, eine sehr artige Verbeugung:
»Bitte! Wenn es Euch erfreuen kann! Gerne gewährt! Es mag passieren! Tut, was Ihr wollt! Aber höret, junger Herr, es kommt auf den Einzelnen nicht an, es kommt auf den Einzelnen nicht an. Nur seine irrtümliche Pflicht muß man tun! Jeder! Unnachgiebig! Basta!«
Auf diese Worte hin eilte mit dem ganzen Eifer des Theaterklatsches Tiburzio Califano zu den übrigen Sängern und erzählte, daß es mit dem »Vecchio« nun endgültig aus sei, da die Altersschwäche sein Gehirn schon vollkommen verwirrt habe. Bei der zehnten Wiederholung der Worte Monteverdis hatte sie der Sänger bereits so komödiantenhaft verdreht, daß man den Eindruck haben mußte, sie seien das Gestammel eines Blödsinnigen.
Die anderen empfingen die Neuigkeit, die sie nicht selbst bringen durften, mit gleichgültiger Nichtachtung. Girolamo Squarciabeve, der Vertreter der Baßpartien, spie mitten auf die Bühne:
»Nun werden wir und die verehrlichen Auditoria wenigstens bald von dem langweiligen Zeug erlöset sein.«
Ein wenig später aber erstaunte derselbe Squarciabeve samt den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft zu ihrem Verdruß nicht wenig, als Claudio Monteverdi die Hauptprobe seiner ›Incoronazione di Poppea‹ mit klarsten Sinnen und unnachsichtlichem Gehör vom Cembalo aus leitete.
Ein Operntext ist dann gut, wenn er keinen rechten Sinn hat.
Ausspruch Vincenzo Bellinis, zitiert von Colombani
In seiner Erkenntnisstunde, da er von der Rialtobrücke niedersah auf das schreiende Leben, hatte Monteverdi die Wahrheit vorausgeschaut. Das rezitativische Drama, die Florentiner Camerata war der gelehrsam ausgeheckte Irrtum seiner Geister gewesen. Und dieser Irrtum trat zu Tage, als die Zeit reif war. Das Leben, in diesem Fall Venedig, riß an sich, was von dem Irrtum zu brauchen war, und warf mit der sicheren Lässigkeit einer wissenden Schönheit das Unbrauchbare fort, die hochtrabende Konstruktion, den erklügelten Stil, das Volksfremde. Das Musikdrama der Florentiner Ästheten ward ad acta gelegt, die Oper geboren.
Und Schritt für Schritt entfernte sich die Oper vom poetischen Drama, das in logischen Fesseln vor sich geht, die niemals die Musik binden können. Immer mehr Oper wurde die Oper und eroberte, wie keine andere Kunstform je vorher, die Städte, Länder und Völker.
Allein in der Kraft eines Vorgangs hegt die Wahrheit und nicht in dem Gezeter der Tiefsinnigen, der Geistigen, der Zöpfe, deren zu kurz gekommene Nerven unter der unproblematischen Gewalt des Lebens leiden. Sie alle, und zwar allerorten, haben die Macht der Oper gehaßt. Aber zu allen Zeiten konnte der Triumph der gesungenen Melodie auf die Moralisten pfeifen.
Ganze tote Meere von Tinte wurden von ihnen verbraucht, damit die Binsenwahrheit herauskomme, daß die Form der Oper ein Unsinn sei. Von diesen Leuten hat keiner den nötigen Respekt vor dem Leben, um zu erkennen, daß alles Seiende und Wirkende höher begründet ist, als unsere Logik, unsere Schönheitsbegriffe, unsere Kulturentlarvungen sich träumen lassen.
Wer sah den Sinn? Sehr wenige! Henri Beyle vielleicht, der täglich die Scala besuchte.
Die venezianische Oper des siebzehnten Jahrhunderts nach Monteverdi, für die, um nur die Weltberühmtheiten zu nennen, Cavalli, Carissimi, Cesti wirkten, wurde von dem großen Alessandro Scarlatti nach Neapel verpflanzt. Hier erlebte sie, wie die einen preisen, ihre große Blüte, wie die anderen schmähen, ihren schweren Niedergang bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Dennoch konnte ein deutscher Romantiker, E.T.A. Hoffmann, von der Arie »Ombre adorata« des Neapolitaners Zingarelli als von der höchsten Verkörperung der reinen Melodie schwärmen.
Heute, am sechsten Februar, am Karnevaldienstag des Jahres 1883, genau zweihundertundvierzig Jahre nach jener erschütterten Stunde, da Claudio Monteverdi weinend vor den Geigen Nicola Amatis zusammengesunken war, beriet sich Richard Wagner mit seinen Freunden, ob man das nächtliche Fest auf der Piazza besuchen solle. Ein neu eintretender Freund entschied diese Frage dadurch, daß er schon seit Tagen ein Zimmer im Cappello Nero gemietet hatte, von dem aus der Zug besichtigt werden konnte.
Zweihundertundvierzig Jahre, nachdem sie den Leib Monteverdis verschlungen, beherbergte die lauernde Stadt der Oper Richard Wagner. Er, der Rächer Monteverdis, hatte das Prinzip des rezitativischen, des Musikdramas in ungeahnter Weise gegen die Oper wiederhergestellt und zum Siege geführt. Nun ging dieser selbstberauschte Sieger mit lautausstrahlendem Leben durch die trubelnden Gassen, fuhr über die tagesbunten oder schwarzschweigenden Kanäle der musik- und flutgewiegten Stadt. Leise kicherte die Feindin unter den zärtlichen Schlägen seines Lieblingsruderers Ganazetto.
Und noch ein anderer hörte an die Fenster seines Hotelzimmers von der Riva degli Schiavoni her das faschingswirre Dröhnen des venezianischen Volkes hallen. Wieder, wie so oft schon, saß er ratlos und ohne Hoffnung vor seiner Arbeit, unseliger als die beiden andern.
Welch eine sonderbare Erscheinung der Geschichte! Die Oper, dieses Kunstgeschöpf, das höchste Verzückung schafft, stürzt so oft ihre starken Schöpfer ins Unglück.
Mozart wurde im Massengrab verscharrt. Spontini starb im Verfolgungswahn, Donizetti in der Paralyse, Bellini mit dreißig Jahren. Rossini lebte die letzten vierzig Jahre seines Lebens, ohne eine Note mehr zu schreiben. Ein tragischer Zustand, mochte er sich auch noch so heiter bemänteln. Der brillante Gesellschafter, der Meisterkoch in der weißen Kappe, fiel, wenn die Horde der Pariser Schmeichler, Streber und Sykophanten entlassen war, grau und verstört ins Bett, oder prügelte sich mit seiner Olimpia in wüstem Geiz und kranker Angst um jeden Sou.
Gluck, wie die Legende erzählt, soll an einer Alkoholvergiftung gestorben sein. Bizet erlag vor dem Erfolg der ›Carmen‹ dem frühen Fatum.
Oper ist Entfesselung, Rausch der Selbstflucht. Ihr gefährlicher Gott schlägt seine Priester oft mit dem tödlichen Thyrsosstab.
Maestro Giuseppe Verdi war aber nach Venedig gekommen, sich selber ins Auge zu sehn.
Gegen fünf Uhr nachmittags holte der Senator den Maestro in seinem Hotel ab. Jedes Kind Venedigs war auf den Beinen. Der alte Freund hoffte durch die Zerstreuungen des heutigen Festes für einige Stunden den ernsten Mut des Maestro zu bannen.
Von Kindheit an liebte der Einsamkeitsnarr Verdi das Gedränge, die aufruhrträchtige Musik der Menge. Er war gewohnt, stundenlang sich in Paris an Orten umherzutreiben, wo das Volk sich schob, auf den belebtesten Boulevards, vor den Theatern, den Warenhäusern, den Hallen. Ohne Gedanken ging er da im Strom unter, der irgendwelche tiefinnere Lust in ihm befriedigte. Eine fast ichlose Stimme im Chor zu sein, war Glück.
Bereitwillig überließ er sich dem Senator.
Waren die letzten Tage des Januar voll Nebel und Trübsinn gewesen, so zeigten die Endtage des Karnevals ein gefährlich verfrühtes Frühlingsgesicht. Hinterm Rücken der volksüberschwemmten Riva, der bunt-aufgestachelten Stadt stand die tiefgeneigte Sonne, voll und rötlich nackt über der terra ferma, überm eisigen Alpenstock. Die purpurn übertanzte Lagune dehnte ihr glückseliges Blau wie sonst nur im April. Scharf, theatralisch, wie vom Rampenlicht profiliert, starrte San Giorgios goldgebadete Fassade. Die Häuserregimenter der Giudecca jenseits des Kanals und der Lagune San Marco, lieferten die Sonnenschlacht mit knatternden Salven von tausend Fensterblitzen.
Vor dem Hotel, aus dem die beiden Herren traten, war durch ein umlaufendes Geländer ein mäßig großer Platz abgesperrt. Mittendrin stand ein Verschlag, in dem das Komitee des Karnevalumzuges seines Amtes waltete. Graf Balbi, erregt und von der Größe seiner heutigen Aufgabe vollkommen überzeugt, war schon an Ort und Stelle, obgleich der Zug sich nicht vor zehn Uhr nachts formieren sollte. Ein paar durch weiße Bänder gekennzeichnete Jünglinge, die üblichen Generalstäbler der Ballfeste, belebten wichtigtuerisch dieses Hauptquartier. Der Senator verzog den Mund:
»Dummköpfe! Jetzt setzen sie sogar noch ›Volk‹ in Szene, diese Schöngeister.«
Und als der Maestro nicht antwortete, knurrte er:
»Selbstverständlich ist mein Sohn Italo obenan.«
Über die ganze Breite der Riva mit allen gegensätzlichen Flußrichtungen, Wirbeln, Strudeln, Schnellen des echten Stromes rauschte die Menge. Auf den beiden Brücken, der überm Kanal der Gefängnisse, der überm Kanal des Palastes, bäumte sie sich so beängstigend auf, daß es, von unten gesehen, unverständlich erschien, wie sich die Stauung immer wieder entwirren konnte. In diesen Tagen war Venedig keine Fremdenstadt. Die reisenden Engländer und Deutschen fehlten fast vollkommen. Dafür lagen im Hafen einige Dampfer, von denen einer aus Konstantinopel, einer vom Piräus und zwei sogar aus Ostasien kamen. Daher war das Gedränge von sehr viel Matrosen und einer Anzahl von Farbigen durchsetzt. Da aber schon seit den frühen Morgenstunden einige allzu karnevaleifrige Menschen verkleidet durch die Stadt liefen, konnte man oft einen echten Malaien von einem kostümierten Chinesen nicht unterscheiden. Ebenso ging es einem naiven Auge mit den echten und unechten Mönchen, denn auch der Klerus hatte heute jeden Abstand fallenlassen und stieß und drängte sich mit den anderen. Wunderschön war es, daß im Riesengetöse der sich quetschenden Massen kein Schimpflaut, keine rohe Bemerkung, kein wütendes Wort fiel.
(Oh ihr harmoniesüchtigen Mittelmeervölker, die ihr nicht in jeder Minute einen aufklaffenden Mißklang zu eurer Gesundheit braucht!)
Auch die beiden ehrwürdigen Italiener lächelten freundlich im freundlichen Gewoge, das, so gut es ging, in seinem Taktsinn für Rang und Wert ihnen Platz machte. Auf der Piazzetta wurde der Strom dünner und seichter. Die Freunde konnten sich von ihm lösen. Großartig, wie ein Sieggesang triumphierten die drei schweren Banner des Staates und der Stadt in blutbestrahlten Entfaltungen hoch oben vor der Kathedrale.
Einige klassische Schlapphüte wurden dem Senator entgegengeschwenkt. Der wollte den Maestro nicht einem Erkanntwerden aussetzen, stieß ihn an und bat leise, voranzugehen!
»Ich komme zur Musik, mein Alter!«
Verdi, den jedes lange Zusammensein auch mit dem besten Freunde ermüdete, war froh, ein wenig allein bleiben zu können.
Unüberwunden von der Menge lag der riesige Platz vor ihm. Hier war das Getriebe auf eine große Anzahl bewegter Gruppen zusammengeschmolzen, die niemanden behinderten. Obgleich die rötlich-letzte Steigerung des Tages mit stärkstem Sonnenschall über der Piazza lag, waren schon die dreihundertundfünfzig Gasarme der Festesnacht angezündet, wodurch ein sonderbar aufregendes Zwielicht entstand, das alles übertrieb und deutlicher machte, als es war. In der Mitte dieses gewaltigsten aller Säle war das zweistöckige Halbkreispodium der Musik aufgebaut. Die Banda municipale, San Marcos großes Blasorchester, konzertierte schon.
Ehe unten bei der Kirche der Maestro noch mehr vernehmen konnte als einen kurzen vom Stimmbraus der Menge sogleich verschlungenen Akkordschwall oder den scharfen Luftstoß eines Pistons, sah er, schon hoch über den Menschen, die von der eigenen Wonne hin und her gewiegten Messinginstrumente im Abendlicht selig aufleuchten, goldenbraun, glanzübersprenkelt wie die glücksbewegten Körper von Badenden. Als er näherkam, erkannte er die Schlußfloskel der Sinfonia zu Rossinis ›Gazza ladra‹. Der Maestro war nicht einer von jenen aufgeblasenen und nie zu befriedigenden Musikern, die sich die Ohren zuhalten, wenn nicht gerade ein wunderbringendes Orchester unter einem Gott von Kapellmeister spielt. Bei der Dorfbande hatte er seine Laufbahn begonnen. Wenn er aufrichtig war, fühlte er sich durch primitive Klänge nicht verletzt.
Selbstverständlich war er empfindlicher, wenn es sich um seine eigene Musik handelte. Eine verbreitete Anekdote erzählt, daß er einmal im Badeorte Montecatini dreißig Werkelmännern ihre Leierkästen abgemietet habe. Aber das kam daher, daß er zu einer gewissen Zeit die Melodien des ›Rigoletto‹, des ›Trovatore‹, der ›Traviata‹ nicht mehr ertragen konnte. Wer weiß, ob er die Leiermänner nicht hätte gewähren lassen, wenn die Stücke aus ›La battaglia di Legnano‹, ›Macbeth‹ oder ›Simone Boccanegra‹ gespielt hätten, Opern, die er selbst für gut hielt, die aber niemand kannte.
Um das große Halbrund des Orchesteraufbaues, das in der Bogensehne wie eine Bühne durch eine rote Schnur abgeschnitten war, standen die Hörer in einigen dichten Reihen. Das Stück war zu Ende. Der Kapellmeister, ein kleiner weißhaariger Mann in marineartiger Uniform, lehnte am Geländer seiner Kommandobrücke und unterhielt sich mit dem breitschultrigen Schnauzbart von Paukenschläger, der wie ein Oberkanonier an seinen beiden Instrumenten hantierte. Die Posaunen, Tuben, Baßklarinetten, Bombardons und Kontrafagotte der Musikanten ruhten an den Eisengeländern. Sie selbst unterhielten sich wie einfache Leute, die angesichts ihrer öffentlichen Stellung und der Betrachtung durch die Menge verlegen werden, sehr schwerfällig und streiften das Publikum mit gemacht gleichgültigem oder gar spöttischem Blick.
Dieses Publikum bestand zumeist aus Frauen, die kleine Kinder im Arm trugen, aus Matrosen und Soldaten, aus zerlumpten musikhungrigen Faulenzern, aus Halbwüchsigen und aus ein paar ganz abgestorbenen Greisen, die ihre stieren Augen noch immer auf eine fremdartig schöne Vision gerichtet hielten. Über der ganzen Schar, die sich nicht vom Platze rührte, lag, deutlich wahrnehmbar, Melodienbann, Klangschatten, Bewußtseinsschleier. Der Maestro kannte diesen stumpfsinnig seligen Gesichtsausdruck der Menge sehr wohl: Venezianische Musikverzauberung!
In allen anderen Ländern lag ursprünglich der Musik ein außermusikalischer Zweck zugrunde. Aus dem heiligen Text entsprang der nordische Choral, aus poetischer Liebeständelei die Chansons der Franzosen, vom Tanzboden her die Suite der Deutschen. Einzig und allein das Arioso, das italische Melisma, der schöne Gesang, kam aus keiner religiösen, keiner galanten, keiner tänzerischen Erregung, sondern aus der Unfaßlichkeit des tönenden Triebes selbst. Allzu deutlich zeigten es diese Gesichter.
Der Maestro wollte gerade den Namen denken, und im gleichen Augenblick sah er den Mann: Mario. Der Krüppel hockte ernst im Orchester auf einem Stuhl neben dem Musikanten, der das kleinere Schlagwerk bediente. Sein armer Körper schien durch das elektrische Bad der Klangschwingung mitten im großen Bläserchor glücklich ermüdet zu sein. Mit geneigtem Haupt starrte der Improvisator vor sich hin. Diese Teilnahme am Konzert mochte eine erste Form des musikalischen Unterrichtes sein, den er durch die Unterstützung Verdis zu genießen begann.
Als der Maestro nun auch den alten Theaterdiener sah, wie er in einer Gruppe von Lauschenden bramarbasierte, entfernte er sich schnell von der Kapelle und machte einige Schritte auf die Procuratien zu. Hier standen, dichtbesetzt, die Tische des Cafés, denn die Wirte hatten den warmen Tag genützt, wo man gut im Freien sitzen konnte.
Da lösten sich von einem der Tische, an dem eine größere Gesellschaft saß, ein paar Menschen los. Drei Erwachsene und drei Kinder. Die Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, liefen voraus.
Von zwei Herren flankiert, einem Riesen und einem ergebenkleinen Mann, folgte die feine und zugleich behäbige Gestalt Richard Wagners. Wie immer, redete er eifrigst. Wie immer zuckte der ungenügende Körper, der allzuviel Gedankenströme täglich und stündlich aussenden mußte. Den Kindern nach bewegten sich die drei Herren auf die Musiktribüne zu.
Erstarrt blieb der Maestro stehen. Ein Nervenriß durchblitzte ihn vom Kopf zu Füßen: Wagner!
Zum zweitenmal kam er, laut seinen Begleitern predigend, ihm entgegen. Zum zweitenmal, ehern auf seinem Platz wurzelnd, erwartete Giuseppe Verdi den furchtbaren Gegner, der seinen Stolz so sehr gebeugt hatte, daß er alles und sich selbst nur mehr an ihm messen mußte. Sollte dieser Mensch sich ewig überheben? Durfte er, Verdi, dulden, daß ein höherer Mensch als er lebe und herrsche? Seinem Königsmut war das unerträglich. Darum war er ja nach Venedig gekommen, um ihm entgegenzutreten, ihn zu besuchen, zu sprechen, zu hören, zu erkennen, zu überzeugen. Aber der männlich-edle Besuch war nicht zustande gekommen. Allzugroß war der eigene Hochmut, die eigene Scham. Doch jetzt, im entscheidendsten Augenblick, bot noch einmal das Schicksal sich an.
Wagner hatte die beiden Herren, den Maler Joukowsky und den Kapellmeister Levy, zurück zu seiner Frau gesandt und ging jetzt allein voran und geradewegs auf den Maestro zu.
Verdi fühlte in der laut aufrufenden Seele:
›Ihm entgegentreten, mich vorstellen! Die Begegnung ist da! Jetzt oder nie!‹
Immer schärfer, immer wirklicher nahte das Antlitz, der zusammengekniffene Mund, die Eroberernase, das helle Auge enträtselte sich. Er wollte, er wollte ... Aber noch war der Maestro nicht frei. Herzaufwärts stieg die Verfinsterung kalt ins Auge. Und zum zweitenmal, ähnlich wie im Foyer des Theaters La Fenice, begab sich das rasche, heimliche Drama der sich kreuzenden Blicke, die beide mehr sprachen und wußten, als sie sprachen und wußten. Tief erstaunt und mühsam, als ob er sich ganz vergangener Dinge entsinnen wolle, haftete Wagners Auge am stolz abweisenden Gesichte des Italieners. Hatte er dieses Gesicht, diese abgeschlossene, ins Weite zielende Kraft schon einmal gesehen, eine Abbildung, eine Photographie? ... Wiederum endete die Berührung der Blicke damit, daß in Wagners Auge die Weiblichkeit zu locken begann: ›Warum hassest du mich, warum beugst du dich nicht der einzigen Wahrheit, die ich bin, warum stimmst du nicht ein in den Lobgesang wie alle andern?‹
Noch immer – es war geradezu unnatürlich – regte sich der Maestro nicht. Dadurch geschah es, daß Wagner, der sonderbar gebannt auf den breit wurzelnden Mann zuschritt, zu spät auswich und den Fremden ein wenig anstieß. Überaus höflich aber kehrte er sich um, zog den Hut und sagte italienisch:
»Entschuldigen Sie!«
Auch der Maestro zog nun mit einer kleinen Verbeugung seinen Hut und antwortete mit der kaum hörbaren Stimme eines aufgestörten Träumers:
»Bitte! Bitte!«
Im selben Augenblick, als hätten infernalische Mächte diese höhnische Wirkung abgekartet, setzte die Banda mit dem dröhnenden Königsmarsch einer ›Aida‹-Phantasie ein. Anfangs wollte der Maestro die Fassung verlieren, so peinlich, so schrecklich war es ihm, daß vor diesem Richter seine Musik anhub. Aber wie ein Schwerhöriger, dessen Ohren plötzlich auftauen, erkannte er nach den ersten Takten die Herrlichkeit seiner Gesänge.
Er sah zu Wagner hin, zu dem die beiden Herren zurückgekehrt waren. Auch der Feind mußte ja trotz Blechklang und Verballhornung die Melodie, die mächtige Melodie erkennen. Er, von allen Menschen einzig er. Unablässig sah der Maestro zu der kleinen Gruppe hin, die gar nicht weit von ihm entfernt stand.
Aber Richard Wagner schien die Musik nicht zu hören, sondern den lauschenden Verehrern mit weiten Gebärden eine philosophische Gedankenfolge vorzutragen. Seine Stimme war dabei so laut, daß sie im Schall der Posaunen und Trompeten nicht unterging.
Aidas Gebet, das Duett mit Amneris, das große Heimkehrfinale zogen vorbei, ohne daß der Deutsche aufgehorcht und seine Rede unterbrochen hätte.
All seine Köstlichkeiten sah der Maestro verworfen. Der Stolze, dessen Ruhm in jedem Winkel der Erde daheim war, jetzt blickte er mit schwindender Hoffnung zu dem Manne hin, der diesen Sängen sein Ohr nicht lieh.
Die Nilszene kam. Wagner sprach. Aidas Heimwehlied, ihr Duett mit Amonasro. Wagner sprach. Aida, Radames! Wagner sprach und sprach.
Mit solcher Enttäuschung und Bitterkeit hatte der Maestro niemals, auch bei seinen unglücklichsten Werken nicht, den wirkungslosen Ablauf verfolgt wie hier auf der Piazza San Marco des Karnevaldienstags dieses Jahres, da die plärrende Blechkapelle seine Aida unnahbaren Ohren preisgab.
Und jetzt kam der größte Herzensaugenblick der Musik:
Die unglücklich liebende Amneris versucht den Helden. Er aber entsagt nicht, er ist zum Tod bereit. Doch sie wirft sich ihm noch einmal entgegen, und die begeistertste Melodie, die je eine Todesqual durchbrochen hat, schwingt sich auf:
»Du? Sterben?
Nein! Du sollst leben!
Leben! Und mit mir vereinigt.«
Ist das noch Cabaletta? Ist das noch dünnflüssige Cantilene? Ist das noch Oper? Ist das noch Konvention? Hört er noch immer nicht?
Richard Wagner bricht deutlich mitten im Gespräch ab und wendet sein Auge langsam dem Orchester zu, dessen Kapellmeister über diesen Gesang in Raserei geraten ist:
»Vaterland und Ehre,
Alles, alles gab ich hin für dich!«
Wagner scheint den anderen, die das Gespräch wieder aufnehmen wollen, abzuwinken. Genießend lehnt er ein wenig den Kopf zurück. Gewiß, gewiß! Er horcht! Er versteht:
»Auch ich hab alles, alles für sie hingegeben.«
Ein Glück durchglüht den Maestro. Krampfhaft pressen sich die Fäuste in den Taschen des Überrocks zusammen. Jetzt kann er es tun. Jetzt kann er sprechen. Er macht einige Schritte. Es ist gleichgültig, welche untergeordneten Geschöpfe Zeugen der Begegnung sein werden.
Die Melodie der Amneris stürzt den Felsen ihrer Kadenz hinab.
Wagner – dem Maestro entgeht jetzt nichts mehr – wendet sich fragend an Levy. Verdi hört deutlich das Wort: ›Aida‹. Unwillkürlich hebt er die Arme. Wagner aber, so scheint es dem Erregten, macht ein verdrossenes Gesicht und eine sehr abfällige Handbewegung ...
Die Musik spielt den kanonischen Marsch der Priester, die zum Gericht schreiten.
Wie von einem Stockschlag gellt das Hirn des Maestro. Eine ungeheure, lebenermattende Schmach, ein graues Gefühl des Besiegtseins durchkriecht ihn tödlich. Er hört nicht mehr sein Lied, nicht mehr den süßen Abschied der Liebenden, der Priester Todessequenzen, den Friedensruf der Amneris über den zugemauerten Abgrund der Liebe hinweg. Er sieht nur, daß der Deutsche wieder spricht, auf einmal unruhig wird und mit den Augen seinen Sohn sucht, der sich in der Menge verlaufen hat.
›Er hat Kinder.‹
Dies muß er denken, während vor seinen Blicken Wagner und die Begleiter, die mit der übertriebenen Besorgnis von Höflingen immer wieder »Siegfried« rufen, in den dichten Menschenhaufen untertauchen.
Der Senator kam ganz atemlos:
»Endlich finde ich dich, Verdi! Dreimal bin ich um die Tribüne gelaufen, ohne dich zu sehen. Ich habe schon geglaubt, du seist nach Hause gegangen.«
Der Meister in der Beherrschung anderer und seiner selbst lächelte den Freund an:
»Ich habe einer vorzüglichen Aufführung der ›Aida‹ beigewohnt. – Was aber steht jetzt auf deinem Programm, Lieber?«
»Ich habe in der gewissen Taverne ein Zimmer für uns reservieren lassen. Wir kehren dann zum Maskenumzug zurück.«
»Gut! Ich bin recht müde! Gehn wir!«
Bis Dienstag morgens war Bianca in vollständiger Apathie dagelegen. Die notwendigsten Mahlzeiten nahm sie ganz mechanisch. Das einzige, zu dem sie Kraft fand, war, daß sie, wenn Carvagno zu ihr trat, sich schlafend stellte. Sie dachte nicht, sie fühlte nicht, sie litt nicht. Obwohl sie vollkommen wach war und hätte auf alle Fragen Rede stehen können, schien doch ihr ganzes Wesen, Erinnerung und Selbsterlebnis aufgehoben und fortgesandt zu sein. Wo in der Welt mochte es suchen und irren?
Am Dienstag gegen Mittag kehrte ihre Seele zurück. Sie erwachte. Jemand hielt ihre Hand: Carvagno.
Mit der ersten Fassung war die Fähigkeit des Weibes zur Lüge da. Sie bat sogleich den Arzt inständigst, an seine Arbeit zu gehen, da sie sich überaus wohl fühle, gesund, und die vorige Schwäche nur aus ihrem Zustand zu erklären sei.
Carvagno gehorchte ihr. Es war notwendig. Er durfte ja sein Krankenhaus, wo schon alles drunter und drübergehn mochte, länger nicht im Stich lassen.
Der überwundene Anfall klang in Biancas Körper mit erquickender Müdigkeit nach. Die rasende Gedankenflucht, die sich auf dem Grunde jedes Ohnmachtszustands abspielt, wurde immer langsamer, feste Vorstellungen tauchten auf, bekamen Gestalt und Gesicht: Italo!
Sie wußte alles wieder.
Nun aber fühlte sie mit tröstender Gewißheit, daß nichts erwiesen, daß Italo in Rom sei, daß der kurzsichtige Carvagno falsch gesehen habe und aus Abneigung gegen Italo sie habe kränken wollen. Sie versuchte zu lachen und sandte ein Dankgebet zur Jungfrau.
Allzu große Last mußte sie schleppen und deshalb war sie beim ersten Stoß zusammengebrochen. Die schmerzhafte Finsternis in ihr, die durch jeden Alltagsgedanken kroch, hatte sich in Gestalt einer Ohnmacht über sie geworfen und alles ausgelöscht.
Nichts war erwiesen. Italo liebte sie. Sie hatte durch ihn nichts erlebt, was diesen Glauben erschüttern konnte.
Sie öffnete die Augen, die des Sehens noch immer ungewohnt waren. Auf der ein wenig rissigen Tapetenwand ihrem Bett gegenüber lag die laute Sonne. Das Licht belebte ihren Blick. Als hätte sie es diese zehn Jahre noch niemals gesehen, erschien plötzlich ein Bild im Rahmen auf der hellen Wand. Fremd war das Gewohnte. Dieser alte Stich nach einem Gemälde von Pietro Longhi stellte mit Blumenstab und Bänderhut in Schäferinnentracht die Sängerin Hasse dar, wie sie die Huldigungen ihrer Kavaliere entgegennimmt.
Ohne sie recht zu unterscheiden, starrte Bianca auf die Gestalten des Bildes.
Da, in dem Augenblick gerade, als die Sonnenform den Stich verließ und an der Tapete weiterrückte, unvermittelt, mit einem Schlage wußte sie die Wahrheit. Ihr Starrkrampf, die innere Nacht war ja nur die letzte Selbstverteidigung gegen die wachsende Ahnung gewesen, die mit einem Male, unaufhaltsam wie die Stunde schlägt, jetzt, Gewißheit hieß.
Sie sah Italo mit der Sängerin.
Sie sah Italo mit der Dezorzi – obgleich sie dieses Mädchen nicht kannte, sah sie die beiden. Es war dies eine tiefe Vision, nicht des Auges, aber die weit deutlichere Vision eines unwiderleglichen Sinnes. Sie zweifelte nicht länger. Zwischen dem Geliebten und ihr war der Name Margherita Dezorzi nur zwei- oder dreimal im gleichgültigsten Ton gefallen. Dennoch zweifelte sie nicht. Das sicherste Wissen in ihr hatte die Wahrheit erblickt, die sie jetzt nicht einmal in Erstaunen setzte, als wäre diese Wahrheit tausendmal schon durchdacht, erläutert, entschieden und seit je vorherbestimmt gewesen.
Wie nun im grellsten Lichte alles vor ihr lag, wich von Bianca der Erschöpfungszustand vollends und eine tiefe Ruhe ergriff sie.
Sie kleidete sich an. Wohl wußte sie nicht, was sie tun werde, was geschehen sollte, aber den Geboten, die in ihr wirkten, durfte nicht widerstanden werden. Nicht denken! Nachtwandlerisch folgen! Sie überließ sich dem erhellteren Menschen in ihr selbst.
Mit üblicher Sorgfalt kleidete sie sich an, ohne dabei recht in den Spiegel zu schauen. Bei einbrechender Dämmerung verließ sie das Haus. Sie gehorchte ihren Füßen, die alles besser wissen mußten und sie vorerst in die kleine Kirche führten, die ihr lieb war. Sie stand irgendwo in tiefer Dunkelheit. Sie betete nicht. Sie ließ im geweihten Raum dem unabhängigen Teil ihres Wesens Zeit, Klarheit zu sammeln, damit es den richtigen Weg finde.
Fünf Minuten, nachdem Bianca fortgegangen war, kam Carvagno nach Hause. Gewissensbisse ihretwegen hatten ihn bei der Arbeit so sehr geplagt, daß er heute ein schlechter Arzt gewesen war.
Als er seine Frau nicht fand, erschrak er heftig und stürzte auf die Gasse. Niemand konnte ihm Auskunft geben.
Er fühlte im Zwerchfell ein merkwürdiges Prickeln und Brennen, das scheußliche Lustgefühl, das unsere furchtbarsten Ängste begleitet.
Es war Nacht geworden. Carvagno stellte den Kragen seines Mantels auf.
Der Maestro und der Senator hatten in einem abgeschlossenen Zimmer der Alten Taverne gespeist. Nun schritten sie durch die ausgestorbenen Gassen langsam der Piazza zu. Der Senator, leicht berauscht durch einen starken Wein und das Urwaldsaroma seiner Havanna, verfiel wiederum auf sein Lieblingsthema der Lebensenttäuschung. Trotz aller Gleichgestimmtheit der Erfahrung forderte die Art des Senators immer Verdis Widerspruch heraus. Unzufrieden schüttelte der Maestro den Kopf:
»Ich verstehe nicht, was du willst. Hat sich nicht alles gebessert? Nimm nur dieses Venedig! Gab es in den fünfziger, ja noch in den sechziger Jahren etwas Verlotterteres als diese Bettlerstadt? Ich erinnere mich noch an den Bericht des früheren Bürgermeisters Conte Luigi, der durch die Zeitungen ging: Ein Drittel der Einwohnerschaft stand auf der Armenliste, tatsächlich und nicht nur angenommen, ein Drittel! So an die dreißigtausend ausgehaltene Bettler lungerten herum, die zwei Drittel der Steuergelder fraßen, an denen die übrige Bevölkerung zugrunde ging. Dann denk an diese verfluchten Stadtzölle, die überall eingehoben wurden, denk an die grauenhaften Gesundheitsverhältnisse, an die jährlichen Epidemien. Vigna hat mich zur Zeit des ›Rigoletto‹ durch das hiesige Irrenhaus von San Clemente geführt. Es war so scheußlich überfüllt wie kein Narrenturm des Mittelalters. Unterernährung, Hungerkrankheit, die lombardische Rose stürzten Hunderte in den Irrsinn. Es war alles so sehr traurig. Und jetzt nach wenig Jahren scheint es mir, als wäre auf diesem kranken Boden eine neue heiter-ordentliche Menschheit erstanden. Welch ein Erfolg!«
»Ja, ein materieller Erfolg!«
»Und nicht nur in Venedig, im ganzen Land, selbst in dem durch anderthalb Jahrtausende Kirchenstaats entmannten Rom.«
»Richtig! Aber die originelle Kraft der Provinzen ist erloschen und ein braver Durchschnittsmensch, geschäftstüchtig und nüchtern, kommt herauf. Wir teilen das Schicksal des geeinigten Deutschlands. Wie dort das preußische Menschenschema, herrscht bei uns das piemontesisch-lombardische. Das ist die Erfüllung aller Träume.«
»Mehr, als das Leben geben kann, zu fordern, ist Unzucht.«
»Ja, du bist stark, Anhänger Cavours! Du forderst das Mögliche! Du hängst nicht zu sehr am Gestern. Das ist das Bewunderungswürdige an dir. Sieh, mein Verdi! Jetzt versteh ich auch deine ›Lear‹-Musik. Immer findet dich die Stunde neugeboren!«
Aus der Finsternis traten die Herren auf den Platz in den scharf umzirkten Lichtschwall, der dem Auge wehe tat. Nicht nur brannten zu Ehren des Festes die Gasflammen in verzwanzigfachter Zahl auf den bekränzten Kandelabern; wie in alter Zeit waren überall längs der Säulen Pechpfannen auf hohen Dreifüßen aufgestellt, aus denen orangefarbene Flammen mit ungesundem Flackerschein und dichtwirbelnden Qualmwolken stiegen. Dazu kam, daß in den tausend Fenstern der Bibliothek und Procuratien, von denen die golddurchwirkten Zungen der Festteppiche herabhingen, ebensoviele Kerzen brannten. In jeder Zelle der mächtigen Steinwaben zuckte ein feuriger Lebenskern.
Die aufgeregte Beleuchtung eines Brandes oder einer asiatisch-traumhaften Tempelfeier lag über der Menge und verzerrte mit wilden Schatten und Scheinen die Gesichter und nicht nur die Gesichter. Die Leute waren wie außer sich, sprangen durcheinander, drehten und drängten sich. Viele fühlten den Bann von Traumgesetzen, lachten unnatürlich, taumelten und hatten die Empfindung des Fliegens, Schwebens, der übernatürlichen Raumüberwindung in den Gliedern.
Die Masse war unter Wirkung dieses wallenden, dampfenden Lichts, das die Piazza in einen Kultraum oder in einen Bühnensaal verwandelte, zu einem neuen Wesen zusammengeschmolzen. Wer einmal unter der Komparserie eines großen Opernaufzuges auf der Bühne stand, kennt wohl das Zaubergefühl dieses Selbstverlustes.
Venezia, die Mächtige, herrschte und band ihr Volk mit den Fesseln ihrer eigensten Trunkenheit. In den wirr aufgerissenen Augen der Menschen lebte eine Bereitschaft, die ihre Hirne nicht kannten, eine Bereitschaft zu Ausbrüchen der Lüsternheit, der Brandstiftung, des Gebets oder Gesanges. Diese Erregung aller, diese Vorerregung dessen, was kommen sollte, lag über dem Platz.
Noch promenierte alles ohne Zwang und Ordnung durcheinander, obgleich die Arbeiter schon den Orchesterbau abtrugen, um Raum für den Zug zu schaffen, und die Carabinieri mit federgeschmücktem Dreispitz einander fragende Blicke zuwarfen.
Die Brandung der Stimmen, die sich nach dem Schauspiel sehnten, schwoll von Minute zu Minute.
Kühl und wissend, ein Kenner und echter Erzeuger von Massenerregungen, schritt der Maestro an des Freundes Seite vorwärts. Das Kraftgefühl eines erfahrenen Siegers spielte in seiner Seele. Er dachte nicht mehr an Richard Wagner, der im gleichen Augenblick sich mit seiner Gesellschaft an den Fenstern des gemieteten Raumes im Cappello Nero niederließ und mit ähnlichem Kraftgefühl auf die lenkbare Erregung hinabsah.
So auf seine Weise an der außerordentlichen Stimmung teilnehmend, drang der Maestro durch die sich stauende und lösende, vom Brandlicht überflutete Menge.
Er erkannte Mathias Fischböck, der sich ganz verloren und verlassen unter der fremden Bevölkerung drängte. Die zerrissenen, unjugendlichen Züge des Sechsundzwanzigjährigen kämpften. Er schien angestrengt und ermüdet, sah böse drein, sein Gesicht schickte Widerstände aus gegen den Massenrausch ringsum. Wie ein erschöpfter Schwimmer rang er mit dem großartigen Element eines Volkes, das hier Einheit geworden war.
Wieder spürte der Maestro erstaunt die Wärme in sich, die er für diesen so unbeschreiblich Fremden hegte. Einen Augenblick lang, in plötzlicher Besorgnis, wollte er auf Fischböck zugehen und den Fieberkranken vor der gefährlichen Februarnacht warnen, denn er trug keinen Hut auf seinem blonden Kopf.
Der Maestro aber entschloß sich anders. Es wäre zu schwierig gewesen, dem eifersüchtigen Senator diese neue Freundschaft zu erklären. In weitem Kreis ging er an Fischböck vorbei.
Die beiden Freunde standen nun vor der Basilika. Auf der großen Dachterrasse über den Bogen des Vorraumes bot sich der beste Rundblick über Piazza und Piazzetta bis auf die Lagune hinaus. Beim Festzug am einundzwanzigsten Januar, wobei zwanzigtausend Menschen den Platz bevölkert und hier oben etwa dreihundert Zuschauer sich gedrängt hatten, war die uralte Balustrade der Plattform beschädigt worden. Daraufhin hatte die Stadtobrigkeit den Beschluß gefaßt, am Karnevaldienstag den Aufgang zur Galerie, wenn nicht ganz zu verwehren, so doch sehr zu beschränken. Kirchendiener waren an dem betreffenden Tor postiert und gaben nur einigen wenigen, meist mit Eintrittskarten versehenen Vornehmen den Weg frei.
Als der Maestro und der Senator eintraten, wichen die Wächter mit respektvollem Gruß zur Seite und ließen auch eine Dame unbehelligt, die dicht hinter den beiden Herren hereinkam. Leichtfüßig stiegen die beiden Alten über die finstere Treppe des Choraufganges. Mühsam folgte die Frau. Während die Stiefel der Männer knarrten und scharrten, widerhallte der knappe Frauentritt scharf im Turmrund. Nach einem kurzen Irrgang auf der schmalen Steinbrücke, die unter den Kuppeln des Doms sich endlos spannt, tauchten die Freunde und nach ihnen wie ein gehorsamer Schatten die Dame in die freie dunkle Luft.
Hier in mäßiger Höhe über dem lichttollen Platz war der Raum seltsam finster, als hätte alle festliche Flamme nicht die Kraft, ein wenig über sich hinaus und nach oben zu langen.
Nur wenige Menschen betrachteten vom Geländer der Galerie die stürmische Welt dort unten, die klar und überdeutlich wie auf einer Bühne sich bewegte.
Auch die beiden Herren beugten sich vom dunklen Ort zum Licht hinab. Ein Diener brachte ihnen zwei Stühle. Der Senator sah, daß der Dame noch kein Sessel angeboten worden war. Er stellte ihr den seinen hin und winkte dem Diener, einen neuen zu bringen. Die Dame schien sich nicht einmal zu bedanken, rückte ihren Stuhl seitab und setzte sich steif.
Unterdessen begann das Schauspiel unten sich zu verwandeln. Die Carabinieri drängten die Menge auseinander und zu den Säulengängen hin, um Platz für den Zug zu schaffen. Aus dem einheitlichen Körper des Volkes entstanden plötzlich zwei lange gewundene Glieder. Die Erregung bekam nun etwas Gepreßtes, viel Häßlicheres als vorhin. Die beiden langen Glieder litten leiblichen und moralischen Schmerz. Nur in der leeren Straße zwischen ihnen herrschte ungebrochen im flutenden Licht der leidenschaftlich harrende Geist.
Der Maestro übersah den menschenleeren und flackernden rechten Winkel dieser Straße von den Säulen der Piazzetta bis zum oberen Palast.
Er sah den unaufhörlichen Tanz der Menschenköpfe, der tausend Fähnchen, der Gasflammen, der Kerzenpünktchen in den Fenstern, ja weit dahinter noch den Tanz der Gondeln an der Piazzetta, den Tanz der Wellchen, auf denen sie sich wiegten und die, einige Meter weit in der Grelle des Festlichtes spielend, aus dem Nichts der übrigen Lagune herausgehoben waren. In der Mitte zwischen den beiden wachthabenden Säulen, den Schildposten Venedigs, war der Scheiterhaufen hoch aufgeschichtet, der dem taumelnden Souverän dieses Tages bald den Garaus machen sollte. Denn in Aufruhr war das Volk und wollte eines Königs Hinrichtung sehn. Fest und Aufruhr sind ähnlichen Ursprungs, und im prasselnden Sinnbild dieses Scheiterhaufens werden sie sich umarmen.
Auf dem Holzstoß turnten einige Henkersknechte, die von der Menge gehänselt wurden. Berauscht von der Größe ihrer Sendung nahmen sie aber keine Notiz davon, sondern strichen mit tiefem Ernst ununterbrochen bengalische Zündhölzchen an, mit deren stinkendem Rot sie sich immer selbst beleuchteten im erhabenen Ich-Genuß aller Urteilsvollstrecker.
Plötzlich fuhr der Maestro zusammen. Dicht hinter seinem Rücken ging ein Trompeten- und Hörnergeratter los. Von der Galerie der Basilika wurde das Zeichen des Beginnes gegeben.
Der wüste Lärm unten sank langsam zusammen. Hier und dort noch einige Knäuel von Stimmen und Schreien.
Der Zug der Masken hatte sich längst schon auf der Riva versammelt und verging vor Ungeduld. Jetzt setzte sich die Marschordnung genau nach dem Schlachtplan des Komiteepräsidenten in Bewegung. Balbi selbst konnte sich nun ruhig seiner Rolle als Claudio Monteverdi widmen, nachdem seine Aufgabe als Feldherr gelöst war und fünfzig Ordner und Untergeneräle für die Ausführung des Umzuges Sorge trugen.
Voran marschierte eine Musikkapelle im Kostüm dalmatinischer Seeleute des sechzehnten Jahrhunderts und nahm mit Pauken- und Tschinellenkrach Stellung in der Mitte der Piazza. In Abständen folgten recht gleichgültige Gruppen. Eine Kohorte von römischen Legionären, eine Abteilung junger Athleten, die nach alter Sitte einige allegorische Turnerstücke ausführte, Pyramiden und andere Formen stellte, die zum Beispiel das »Spiel der Kräfte« bedeuten sollten. Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, wie Präsident de Brosses und Saint Didier, erzählen in ihren Beschreibungen des venezianischen Karnevals von diesen allegorischen Turnern. Hatte sich der Brauch erhalten, war es ein Einfall Balbis, ihn wieder zu beleben? Von der Allegorie war allerdings nicht viel zu merken. Viel deutlicher zeigte sich, daß die englische Sportbegeisterung sich langsam auch des jungen Italiens bemächtigte. – Nach diesen Turnern kamen einige Maskenhaufen, deren Sinn niemand enträtseln konnte, die sich aber gerade deshalb sehr lebhaft gebärdeten und wie alles andere heftig beklatscht wurden. Die Musik stampfte ihre dunklen Schläge. Das gelbe und rote Licht wogte über die zehntausend träumenden Gesichter, die jetzt, still geworden, die Bilder der Schauspiele verschlangen. Nur das gleichmäßige regenartige Geräusch des Applauses, manchmal steigend, manchmal fallend, setzte nicht aus.
Zwischen den einzelnen Kompagnien der Festarmee tummelten sich verkleidete Spaßvögel, die Witz genug hatten, auf eigene Faust eine Rolle zu spielen: Clowns, zerlumpte Taugenichtse, auffällige Würdefiguren der Stadt, Karikaturen berühmter Politiker. Diese Solisten sprachen das Spalier an, hielten Reden, parodierten, rissen Zoten, sangen und ernteten ihr Gelächter.
Immer neue Gruppen zogen vorüber, darunter schon einige, die Balbi selbst erfunden hatte, historische Aufzüge, Gesellschaften des achtzehnten Jahrhunderts in den charakteristischen venezianischen Gesichtslarven. Den Dogenpalast entlang, an der Kirche vorbei, die Procuratien weiter, die Bibliothek zurück bewegte sich die Buntheit, um sich endlich beim Scheiterhaufen wieder zu versammeln.
Um die Wirkung seines eigenen Aufzuges zu erhöhen, ließ Graf Balbi eine gewisse Zeit verstreichen, ehe er sich mit seiner Gruppe dem allgemeinen Zuge anschloß. Tatsächlich hatte er mit dem Arrangement des Orfeo, obwohl es ja nichts anderes als ein lebendes Bild war, ein Meisterwerk des Geschmacks vollbracht. Die Menge selbst zeichnete es nicht mehr aus als alles andere, wenn auch manches Auge in den ersten Reihen des Spaliers durch die Schönheit der Frau und des Jünglings betroffen war.
Die Idee, den hohen antiken Wagen von einem Chor fackeltragender Mänaden, Erinnyen, Tiermasken ziehen und begleiten zu lassen, war besonders glücklich, weil dadurch nicht nur die Gestalten grell hervorgehoben wurden, sondern auch der herrliche Brokatstoff von Margheritas Kostüm mit seinen Flittersternen und Goldornamenten immer neu aufglitzerte.
Der Maestro beugte sich vor, der Senator sagte gutmütig: »Aha.«
Die Erinnyen und Mänaden schwenkten ihre Fackeln oder hielten sie vor die goldenen Gesichtsmasken, die sie trugen. Einige machten mit Kastagnetten, Glöckchen, Pfeifen durchdringenden Lärm.
Der breite, große Wagen mit den goldenen Rädern, dem die Tiermasken vorgespannt waren, erreichte jetzt gerade die Front der Kathedrale. (Die Darsteller hatten ihn natürlich erst jenseits der Brücke des Dogenpalastes besteigen können.) Sollte dieser Wagen eine Art Thespiskarren vorstellen? Dafür war der alte dunkle Sammet zu prächtig, der von den Seiten niederhing. In dem tanzenden Fackellicht hoben sich die Gestalten übernatürlich empor. Claudio Monteverdi mit grauem Schwedenkopf und im Gelehrtenwams lehnte gegen die aufgebogene Rückwand des Gefährts. Orpheus, im stilisierten Römerkostüm des siebzehnten Jahrhunderts, stand ganz vorne und stützte, ohne sich umzusehen, die Lyra auf das Geländer des Wagens, während seine Rechte die Hand der abgewandten Eurydice hielt. Das Gesicht Italos war ganz unverändert, keine Perücke verwandelte es. Er spielte nichts. Er war nur ganz in die Wonne verloren, so lange Zeit die Hand der Geliebten halten zu dürfen. Margherita Dezorzi hingegen spielte, war auf der Bühne, war ganz in eine künstlerische Aufgabe versenkt. Sie litt mit ihrem Körper, der höher, sichtbarer als die beiden Männer den Raum ausfüllte, mit ihrer Gestalt litt sie das Todesleid der Heldin. In jener Mischung von wirklichem Schmerz, Zwangsschlaf und eitler Erregung, die den begabten Schauspieler kennzeichnet, erzeugte sie aus ihrem angespannten Innern unaufhörlich eine rührende und schmachtende Linie, die ihr geneigtes Haupt in vollkommener Harmonie mit jeder Falte des Brokats bildete. Wie sie (so lange Zeit doch) in ihrem schmerzlichen Traum zwischen wachem Schlaf und halbwacher Liebe dastand, das war eine schauspielerische Leistung, die auf dem weiten Platz, der das Bild ja allzusehr verkleinert, nur sehr wenige verstehen konnten.
Der Maestro verstand sie. Wie immer, und so oft wider Willen, zog ihn das darstellende Talent einer Frau an:
»Ist das diese Dezorzi, von der du mir erzählt hast, daß sie die Leonore in ›Forza del destino‹ singen wird?«
»Das ist sie!«
»Sieh sie nur an! Wie sie die anderen überragt! Ist es nicht so, als würde man trotz der Entfernung jeden Zug ihres Gesichts sehen?! Die Rolle, die sie heute spielt, genügt, um zu wissen, daß diese Person eine Künstlerin ist.«
Die Freunde hörten ein ganz merkwürdiges leises Frauenlachen. Sie blickten zur Seite. Der Sessel, auf dem die Dame gesessen hatte, war leer.
Der Wagen Monteverdis bog um den rechten Winkel. Der Senator konnte länger seine Spottlust nicht bemeistern:
»Hast du meinen Sprößling beobachtet? Ein Schauspieler ist er nicht. Aber der geborene Tenor.«
Und da Verdi schwieg ...
»Er gleicht den Verführern, diesen reizenden und im Grunde mörderischen Jungen, die du in mancher Oper schilderst. Dem Herzog von Mantua zum Beispiel: Ich weiß nicht warum, doch seit jeher erinnert mich Italo an diese Figur. Ich kümmere mich niemals um die Privatangelegenheiten meiner Kinder. Aber seit Wochen schon macht mein Italo einen bedenklich kopflosen Eindruck. Täglich liegt er mir übrigens in den Ohren, ich soll, ich möchte ...«
Glücklicherweise brach der Senator zur rechten Zeit ab. Er war nahe daran gewesen, Margherita-Italos Bitte dem Maestro geradeaus ins Gesicht zu sagen und damit einzugestehen, daß er den Schwur, Verdis Anwesenheit geheimzuhalten, gebrochen habe. Der Maestro aber hatte nichts bemerkt. Er fühlte die schöne Haltung der Sängerin in sich nachklingen.
Noch immer pochte der Rhythmus der Blechmusik. Und nun knatterte anwachsend, vom Wasser her, der Jubelapplaus des Volkes heran. Alles andere war nur buntes, halbverstandenes Vorspiel gewesen. Aber jetzt nahte, in wilder Fahrt, das Wesentliche, der uralte Sinn, das Hauptstück des Festes. Auf dem Henkerskarren thronte der König. Die rohe geflickte Puppe mit Goldpapierkrone und Hermelinmantel wackelte und wankte auf ihrem Herrschersitz. Der König war schon so müde und schlapp, daß Tod und Leben ihm gleichgültig schien. Hundert Kerle tanzten um den Karren, Sbirren, Polichinelles, Henker und Zivilisten. Wildauffahrende Gelächterschwärme erschütterten die Luft. Die beiden Glieder des Spaliers krampften sich zusammen wie gepeinigte Tiere. Die Kette der Carabinieri wurde an manchen Stellen fast durchstoßen. Wie Staub legte sich ein ununterbrochener Schrei auf alle Dinge.
Der arme König defilierte in rasender, gehetzter Fahrt an seinem Volk vorbei. In sieben Minuten war das große Geviert umjagt. Mitgerissen lachte nun auch der Senator, der Kämpfer von Achtundvierzig, der sah, wie einen verhaßten Popanz das Schicksal ereilte.
Der Lauf des Königs war vollendet. Das Karree der Masken umstand den Scheiterhaufen. Die Puppe wurde vom Wagen gehoben und an den Pfahl gebunden. Sogleich sank der plumpnasige Kopf mit der Todesgebärde des gekreuzigten Heilands auf die bunte Brust. Das Stroh zischte auf.
Der Schrei der Menge wurde zum Tollheitsausbruch. Der Senator lachte. Mit Grauen sah der Maestro hinab. Der Theaterskandal fiel ihm ein, den er selbst erlebt hatte. Er dachte an seine unglücklich komische Oper, an die er immer denken mußte, wenn er das Aufruhrgeschrei der Straße hörte.
Das Stampfen der Musik war längst untergegangen. In hundert kleinen Gefechten machte sich der natürliche Haß des Volkes gegen die Polizei Luft. Die Gendarmenkette wurde mit einem langgezogenen Huuhruf durchbrochen und in todbringendem Ansturm warfen sich zwanzigtausend Menschen gegen den Ort des Gerichts. Nichts deutete darauf hin, daß es sich um ein Fest, um ein Spiel handle, und daß kein anderes Staatsoberhaupt hingerichtet werde, als der König des Karnevals. In diesen Tagen war der irredentistische Patriot und Attentäter Oberdank in Österreich gehenkt worden. »Rache für Oberdank« bewegte das Blut eines jeden Italieners. Die Myriaden Gestalten, die aufgelösten Gesichter tollten und zuckten durcheinander, als gelte es, einen Tyrannen zu zerreißen, die Bastille zu stürmen, nicht aber die letzte Stunde der Sündenzeit zu begehen.
Hoch über die Menschen hinaus griff die Flamme des Scheiterhaufens. Mit der unvergleichlichen Indolenz eines erledigten Genießers hatte sich der König dem Feuer anheimgegeben. Um den Pfahl hüpften nur noch ein paar flammende Lumpen.
Der Todesaugenblick aber lockte ein neues wildes Ereignis hervor. Die Tauben der Piazza hatten sich in betäubter Angst vor dem roten furchtbaren Tag in ihren Winkeln versteckt gehalten. Jetzt aber schwärmten sie auf. Die bürgerlichen vollgepampften Vögel des heiligen Markus waren in Raben, Aasgeier, geflügelte Leichenfledderer verwandelt. Sie tanzten über der Stätte des Autodafés und wehten wie schwarze Trauerfahnen. Immer höher wuchs der Brand, schlug nun an den beiden Säulen empor. Löwe, Krokodil und St. Georg posierten im Schein des Weltunterganges. Da die Pechpfannen überall schon niederzubrennen begannen, herrschte die Spiegelung des Scheiterhaufens allein.
Die Menge, die gesiegt hatte, war leiser geworden. Das Opfer war gefallen, der Blutdurst befriedigt, das Bedürfnis nach Ritus, nach Auflösung der Leidenschaften wuchs. Und in dieser Minute, heute wie alljährlich nach Verbrennung des königlichen Sündenbocks, der die Schuld der Ausschweifungen auf sich genommen hatte, ertönte vom Munde des Riesenchors der uralte Gesang des verlöschenden Karnevals. Keiner von all den Tausenden sang zu anderer Stunde des Jahres dieses Lied. Es schien fast, als ob kein einzelner es kenne und nur die höhere Persönlichkeit, die größere Einheit des Volkes mit ihrem hundert Menschenalter umfassenden Gedächtnis, zur gegebenen Stunde sich seiner erinnere. Es war dies kein heiterer, kein trauriger, aber ein unendlich fremdartiger Gesang, eine choralmäßige Weise im Stil entlegener Zeiten, die das Ende der Festtage beklagte. Mit dem Schall, mit dem ungewollt-kanonischen Durcheinander von zwanzigtausend Stimmen stieg sie hoch empor, dorthin, wohin das schnellere Licht der Brunst, Pechbrände und Gasflammen nicht vorgedrungen war.
Erschüttert vom Übermaß dieses Gesanges, wurde der Maestro von seinem Sitz gehoben. Alles zitterte in ihm. Hatte er an Marios Gesang erfahren, daß Italiens Volksseele die Geburtsstätte der Arie war, jetzt an diesem Machtgesang der Myriaden hätte er erleben können, daß auch das Chor- und Ensemble-Finale der Oper ihm ureigen, kein unwahrer und künstlicher Effekt, sondern der tiefe Ausdruck seines Volkes war. Aber der Maestro dachte nicht. Er hörte nur, hörte besinnungslos.
Auch Richard Wagner, der am offenen Fenster des Cappello Nero saß, hatte sich unter dem gewaltigen Ansturm des Karnevalssanges erhoben. Krampfhafte Laute der Hingerissenheit drangen aus seiner Brust. Er lauschte mit geschlossenen Augen. Sein ewig begehrender Wille erlosch in der Größe des Augenblicks.
Wagners gewissenhaftester Biograph berichtet von der Wucht des Eindruckes, den dieses Lied auf den Meister ausübte. Er konnte sich trüber Anfechtungen, während es noch erklang, nicht erwehren.
Doch er war eine ganz andere Natur als der Maestro. Trunken von seinen Taten und ihnen dankbar, konnte ihm kein Zweifel etwas anhaben.
Ein Kanonenschuß zerriß das Lied und beendete es.
Noch fraß die Flamme des Scheiterhaufens. Aber auf der Lagune, vor San Giorgio, bei der Dogana, mit schrillem Fauchen, unzähligen Schlägen, Explosionen, platzenden Bomben in allen Farben, wurde das große Feuerwerk abgebrannt. Das Wasser ging in Flammen auf, die Luft in krachenden Stürmen. Die italienische Art, alle Raketen und pyrotechnischen Körper auf einmal zu zünden, hakte Himmel und Erde zusammen.
Betäubt kehrte der Maestro diesem Jüngsten Gericht den Rücken. Da sah er, wie eine bizarre Gestalt aus der Tiefe der Kirche ins Freie stieg. Es war dies ein Hüne von Sakristan in schmutzig violetter Soutane. Ein Komikergesicht, das zugleich auch ein Fanatikergesicht war mit seinen Blatternarben. Diesem Mann konnte man alle Laster des Lebens wohl zuschreiben. Im Vollgefühl seiner Sendung grinste er jetzt verächtlich, während er ein dumpfhallendes Baßorgan inbrünstig räusperte. Der Mensch blieb stehen, stützte sich auf einen riesigen Trichter, den er mit sich trug, und sah gleichmütig, mit der Zunge zwischen den Zähnen schmatzend, zum Himmel, wie ein schlechter Sänger, der das Zeichen des Einsatzes erwartet.
In einem letzten vielfältigen Knall zerstob die Kanonade. Die Menschen, die dicht um den Scheiterhaufen standen, rissen die Scheite aus dem niederbrennenden Feuer. Ringsum wurde es schreckhaft still.
Da atmete rostig und aus heiserer Tiefe der Campanile auf, und die zwölf ausgeworfenen Boten der Mitternacht rollten über die Stadt. Zur Frist sperrten die Gaswerke die Zufuhr. Die dreihundertundfünfzig Kandelaberarme erloschen, nur einige überlebende Kerzenstümpfe, der zerstörte Rest des Scheiterhaufens und ein paar Notlichter wimmerten unter der Finsternis.
Der schmutzige, lasterhafte Kerl von einem violetten Sakristan trat an die Balustrade und heulte in sein Schallrohr:
»Il carnevale se n'è andato.«
Dieser grausige Vorgang, den die abgebrühteste Seele nicht hätte theatralisch nennen können, diese furchtbare Erscheinung des Aschermittwochs lähmte alle. So tief war in der plötzlichen Finsternis die Stille, daß man das Aufschluchzen vieler Weiber hören konnte.
Als das normale allnächtliche Gaslicht wieder aufflammte, drängten sich Tausende in die Kirchen der Stadt, wo mit dem zwölften Schlag die langen Litaneien der Fastenzeit begannen.
Der Maestro nahm den Arm seines Freundes. Wortlos stiegen beide die Wendeltreppe der Galerie hinab.
Carvagno, der nach mehrstündigem Suchen seine Frau endlich vor der Markuskirche entdeckt hatte, fühlte eine Scheu, sie anzurufen.
So fremd war er in den letzten Jahren Bianca geworden, daß jetzt ihre Erscheinung, wie sie nachtwandlerisch und verschleiert über die Eingangsstufen trat, ihn mit einer unverständlichen Schüchternheit erfüllte.
Er sah, wie Bianca zwei Herren folgte, die gerade im Galerieaufgang verschwanden. Er wollte nach. Da er aber keine Eintrittskarte besaß, ferner mit seinem aufgestellten Rockkragen keinen besonders würdigen Eindruck machte, verwehrten ihm die Kirchendiener den Einlaß zur Terrasse. Er versuchte auch weiter nicht, den Eintritt zu erzwingen, und beschloß, hier unten auf Bianca zu warten.
Draußen tobte immer lauter der Karneval. Der Arzt fühlte es gar nicht. Eine vergessene Tür des Lebens war aufgesprungen. Er erbebte unterm Andrang der Erkenntnisse, die er noch nicht verstehen konnte.
Vor zehn Jahren hatte er dieses starke schöne Mädchen aus Gemona gefunden und genommen. Seine große, sehr eigensüchtige Verliebtheit sänftigte sich bald im Besitz. Die Aufmischung des Blutes hatte seine Kraft gefördert. Alles in ihm war zu Taten frei.
Er begann mit der Umgestaltung des Hospitals, mit diesem Werk, das ihn vollkommen verzehrte. Aber da half nichts. Er wäre erstickt. Er mußte die Arme regen. Ein Mensch für Frauen war er nicht.
Bianca lebte. Sie war da, und das genügte. Aber sie war für ihn nicht als Eigenwesen da, dazu hatte er keine Zeit, sondern nur in der armseligen Beziehung zu seinem gehetzten Leben. Wohl fühlte er manchmal so etwas wie Schuld, aber der Trubel verjagte diese Gedanken schnell.
Trotzdem konnte manche Stunde unheimlich sein, wenn dieses große Frauenwesen in ihrer vollen und schönen Einsamkeit neben ihm saß und er empfinden mußte, daß er mit seinem eigenen Wesen nicht mehr hinüberlange zu ihr. Dann bekamen die Zärtlichkeiten etwas Erstauntes und Peinliches, und Scham stieg ihm nachher zu Kopf.
Doch er hatte ja keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Alles, was seine Arbeit hemmte, mußte ausgeschaltet werden. Diese Lehre bekam Bianca sehr oft zu hören. Und als ob ihr irgendwelche Entschuldigung seinerseits zuwider wäre, stimmte sie vollkommen der Auffassung zu, daß ein Arzt von seinem Rang und seiner Pflichtenfülle kein Privatleben haben dürfe.
Aber die Logik des Schicksals duldet keine Beschönigungen. Carvagno fühlte, daß ein mächtiger Charakter neben ihm lebe, der sich nicht unterdrücken und seinem Arbeitsbedürfnis anpassen ließ. Immer schwerer wurde die Frau. Und aus Feigheit, aus Angst vor dieser Last, mied er sie.
Seine ärztliche Leidenschaft, sein wilder Kampf mit den lebensverneinenden Trieben seiner Patienten, die administrative Überbürdung ließ ihm keine Kraft zu einer menschlichen Beziehung mehr übrig. So begann er vor zwei Jahren die Blicke Biancas, in denen so viele Unausgesprochenheiten aufgestapelt waren, zu fliehen. Er hatte nicht den Mut, den schlafenden Konflikt zu wecken und damit alles zu erneuern.
Alle Strahlen der ersten Jahre, die Bianca zu ihm hinübergesandt hatte, waren in sie zurückgeschnellt. Nun war sie ganz dunkel, ganz fremd, ganz unabhängig geworden. Er wußte nichts mehr von ihr. Er fürchtete sich, etwas von ihr zu wissen.
In den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft hatte er wohl manchmal den Versuch gemacht, ihr näherzukommen, aber jetzt gerade war sie für ihn doppelt verschlossen und unheimlich.
Er forschte ihr nicht nach. Eifersucht kannte er nicht, da sie doch nur dort sein kann, wo noch eine Verbindung ist. Dieses Weib mit dem römischen Schwermutsgesicht, höher gewachsen als er selbst, bedrückte ihn. Wodurch, wußte er selber nicht. Er kannte nicht mehr ihre Regungen, ihre Gedanken, ihre Wünsche.
Niemals sprach sie über das Kind.
Er hatte keine Ahnung, womit er ihr eine Freude hätte machen können. Dabei war sie das einzige Wesen, das über ihn eine ihr scheinbar selbst unbekannte Macht besaß. Sie wirkte auf ihn wie eine dunkle Priesterin, eine Vestalin, die ein Geheimnis hütet, das sie auch im Tode nicht verrät. All dies zu verstehen, besaß er, wie gesagt, weder Mut noch Muße.
Er war froh, daß Bianca ein paar junge Leute zu Freunden hatte. Vielleicht freute ihn dieser Umstand deshalb, weil er die Frau in eine Art Unrecht setzte.
Er selbst jedoch schüttelte alles ab, entfloh und richtete sich im Krankenhaus ein Zimmer ein, wo er nun auch die Nächte verbrachte.
Durch Biancas Ohnmachtsanfall kam die Wendung. Wie er sie im Bett mit bleich herabhängendem Haupt daliegen sah, erwachte in ihm das verschüttete Bild der Geliebten.
Unwiderruflich wirkt die echte Durchdringung von Mann und Weib, wann immer sie auch stattgefunden hat. Nicht nur die sichtbaren, auch die unsichtbaren Körper bleiben einander verhaftet. Zwei Menschen, die sich einmal bis auf den Grund genossen haben – mag sie das Schicksal auch auseinandertreiben, zu gehässigsten Feinden machen –, das starke Stichwort muß nur fallen, und sie gehören einander wieder. Es gibt erfüllte Minuten, die sich vom übrigen Zeitablauf unseres Lebens frei machen und fast unabhängig von uns ihre eigene Geschichte antreten.
Im Augenblick ihrer Ohnmacht hatte Carvagno die Geliebte, das vergessene Mädchen wiedererkannt. Ihr Antlitz bekam die alte Bedeutung wieder, ja, es war so, als sei es jahrelang nicht dagewesen und in dieser Minute erst zurückgekehrt.
Während er ungeschickt und beschämt das Zimmer der Erschöpften verließ, zerfetzte ihn Mitleid und das wiedergeborene Gefühl der früheren, so kurzen Liebeseinheit. Von Stund an schlief er nicht mehr.
Die Menge stand festgekeilt auf den Stufen vor der Basilika. Der Vorraum mit seinen im unnatürlichen Licht schimmernden Mosaikwölbungen war frei. In diesem freien Raum lief der Arzt hin und her. Das erstemal im Leben überfielen ihn die Wallungen jenes schrecklichen seelisch-körperlichen Zustandes, den wir Reue nennen. Reue? Weshalb? Noch war sein Wissen dumpf. Doch Schweiß stand auf seiner Stirn, die Poren seiner Haut öffneten sich weit in der Erstarrung, er spürte jedes Haar seines Körpers.
Da geschah es, daß der Karren mit dem König Karneval über den Platz dahergejagt kam und die brüllende Menschenmasse, die schwache Kette der Polizei durchbrechend, sich in den leeren Raum des Platzes stürzte. In diesem Augenblick trat Bianca aus dem Tor. Wiederum würgte den Arzt neue Schüchternheit. Er vermochte es nicht, seine Frau anzurufen. Sie ging mit schwerem, etwas steifem, gleichmäßigem Schritt. Das erstemal, so schien es Carvagno, war in ihrem Gang die Schwangerschaft zu merken. Bianca ging vorwärts und durch die locker gewordene Menge, als wäre keine Menge und kein Widerstand da, den sie hätte überwinden müssen. Carvagno hingegen konnte ihr nur mit der größten Schwierigkeit folgen, wollte er sie nicht aus dem Auge verlieren. Sie verließ den Platz, ging durch die finsteren Gäßchen, ohne daß der Mann ihr Ziel erkennen konnte. Sie schien sich nicht verfolgt zu fühlen, mäßigte und beschleunigte keineswegs ihren Schritt, sondern strebte im gleichmäßigen Tempo weiter, welche Gleichmäßigkeit den Arzt tief beunruhigte. Der Gang durch die Nacht wurde immer labyrinthischer. Carvagno, der nichts sah als die Erscheinung der schreitenden Frau, hatte mehrmals das Gefühl, daß sie zum gleichen Orte zurückkehre.
Über Plätze und Brücken gings, durch unbelebte Räume ohnegleichen, die nichts von dem ahnen ließen, was sich zur Stunde auf der Piazza begab. Die Jahrhunderte waren vorbei, da der Karneval noch durch alle Gassen sprühte und kein Durchgang zu finden war, in dessen Torbild nicht ein schmachtend-verschlungenes Paar stand, saß oder lag, kein helles Palaisfenster, hinter dem das Zechinengold nicht über die Pharaotische sprang.
Schwere und vollkommen wirre Gefühle trugen die Wanderer dieses späten Jahres, das alles so schwer nahm, durch die tote Nacht.
Eine breite Calle öffnete sich zum großen Kanal. Bianca ging auf den Strom zu und blieb auf der Landungsbrücke für die Vaporetti stehn. Die Nachtflut des Meeres war hochgestiegen und wiegte das Holz im uralten Wellentakt der Stadt.
Die Frau schlug den Schleier zurück und atmete lange und ruhig wie eine Schläferin. In unbeweglicher Stille stand ihre Gestalt auf der schaukelnden Brücke. Es schien, als genieße sie die einlullende Güte des mütterlichen Wassers. Sie stand und schrak nicht zusammen, als plötzlich das Feuerwerk weit weg, unsichtbar über der Asche des Königs aufknatterte. Das wütende Geschützfeuer eines fernen Krieges, das Wetterleuchten eines gefährlichen Gewitters berührte sie nicht. Sie hatte keine andere Absicht, als hier auszuharren, zu erproben, ob diese Nacht ihren Morgen finden werde.
Vor den Augen des Arztes schwankte auf dem schwankenden Boden die Frau auf und nieder. Und in diesem Bilde, mehr als in allem andern, lag so viel Erschütterndes, daß ein wütendes Erbarmen den Mann umriß.
Dieser gebärdenscheue Mensch, schwer, mit sich selber unbekannt, trat heran, beugte sich tief über Biancas Hände, als schäme er sich, sein Gesicht zu zeigen. Worte, die er nicht wog, die wie aus einem fremden Bewußtsein kamen, begann er mit einer Stimme zu sprechen, die im gehetzten Tonfall das Schluchzen verbarg. Der betrogene Ehemann klagte sich selbst an:
»Meine Bianca! ... Das Leben ist grauenvoll ... Was aber auch geschehen ist, ich trage die Schuld! ... Ich war ein kalter, feiger Flüchtling! ... Ich habe dich nicht genug geliebt ... Ich bin schuld an allem, was geschehen sein mag ... Schweige nicht mehr länger, schweige nicht so furchtbar, wie du seit Sonntag schweigst ... Sprich mit mir, denn ich bin schuldig! ... Sprich mit mir, denn ich liebe dich! ... Ich sehe dich!«
Auf dem Gesicht Biancas war kein Schreck, kein Erstaunen, keine Bewegung zu sehen. Mit einer tönenden Stimme, ganz gleichmütig, sagte sie nichts als:
»Komm!«
Eine Gondel brachte die Gatten nach Hause.
Einige Minuten nach Mitternacht dieses Karnevalstages ereignete sich der Unglücksfall, der einen Teil der Grittischen Sammlung einäscherte. Der Hundertjährige war mit François vom Opernbesuch heimgekehrt. Wie allnächtlich, so auch heute, machte er einen Gang durch die Galerie seiner Schätze. Ein junger Bursche, derselbe, der sein Schlafzimmer teilen mußte, ging mit der Lichtstange voran, um in den einzelnen Räumen die Kerzen anzuzünden! Im Saal der Theaterzettel hantierte er so ungeschickt mit der Flamme, daß eine der entzündeten Kerzen auf einen Rahmen fiel. Der Junge wollte sie mit seiner Stange herunterwerfen. Bei diesem Versuch geriet das alte dünne Rahmenholz in Brand und ergriff den Theaterzettel darunter.
Der Ungeschickte riß nun mit solchem Ungestüm das aufflammende Papier herab, daß die brennenden Fetzen nach allen Seiten flogen und zwei andere Plakate, die nicht unter Glas waren, in Brand steckten. Innerhalb weniger Sekunden war die Vision, die am Weihnachtsabend den Maestro aus diesem Raum getrieben hatte, Wirklichkeit geworden.
Der Saal stand in Flammen, schwarzer stinkender Rauch, Höllenhitze qualmte auf, die Fenster barsten. Geisterhaft und blitzschnell, ein todeslüsterner Ahasver, stürzte sich all die lebensüberdrüssige Makulatur in den Untergang.
Starr und verloren, als ob der uralte Körper nichts von der Gefahr, von wilder Hitze, stickichtem Dampf spüre, blieb der Marchese im wogenden Saal stehen. Die Diener rissen ihn weg. Er stierte vom Nebenzimmer stumpf in die Vernichtung.
Prahlerisch mit wichtigtuendem Lärm kämpfte das Hausgesinde und Nachbarn, die auf den Flammenschein herbeigeeilt waren, gegen das Feuer. Die Eimer voll schmutzigen Wassers zischten mit kalten Güssen höhnischer Wirklichkeit in das Prasseln abgelebter Begeisterungen. Im Brodeln, Knistern, Krachen, Singen, Seufzen des Brandes erscholl ein leichter Nachhall von Applaus.
Die Löschversuche waren ganz unsinnig. Denn da nur Papier und dünne Holzstäbe brannten, war weiter nichts zu retten, noch auch bestand eine ernstliche Gefahr, denn der Saal hatte keine Vorhänge, eine steinerne Wölbung und Terrazzofußboden. In einer Viertelstunde waren die tausend Angedenken von tausend blendenden Opernabenden aufgezehrt. In einem scheußlich geschwärzten Raum voll Zunder, Gestank und Schmutzflüssen stand betreten die Dienerschaft des Hauses.
Der Hundertjährige hatte hochaufgerichtet und durchaus ruhig, als fasse er den Vorgang nicht, dem Flammentode seines Schatzes zugesehen. Nur das sonst immer irrende Vogelauge und der auf und nieder tanzende Kehlkopf bewegten sich in diesen Minuten nicht. Als aber die letzte Flamme erloschen war und der graue Qualm unter der Deckenwölbung sich ballte, erfaßte ihn – was seit Jahrzehnten nicht geschehen war – ein Wutanfall sondergleichen.
Unter der Erkenntnis seines Verlustes wurde der unübertrefflich behandelte Mechanismus für einige Minuten Mensch, ohne es hindern zu können. Er keifte mit seiner schwingungslosen Stimme gräßlich auf, schrie Flüche in allen Sprachen Europas, stelzte auf den unglücklichen Brandstifter zu und bearbeitete ihn mit seinem Ebenholzstock. Unerwartete Kräfte zeigte dieser Weltmeister des Alterns. Er jagte die Bande vor sich her, kam dabei nicht außer Atem, seine Muskeln wurden nicht schlaff.
Nichts besaß er mehr auf der Welt als seine Sammlung. Und in dieser Manie hatte ihn das Schicksal grausam getroffen. Das brachte ihn von Sinnen. Leiden und Leidenschaft waren plötzlich in diesem verkarsteten Körper da, der doch nur dadurch zu leben schien, daß jene Folgen des Lebens ihn längst vergessen hatten. Aber da nun das Leben heimtückisch zu voller Kraft erwacht war, wollte es die Gelegenheit benützen, aus dieser wunderbar gedichteten Maschine, die es regelwidrig gefangen hielt, zu entschlüpfen.
Der Tobsuchtsanfall Andrea Grittis ließ nicht nach. Der Hundertjährige zerschlug seinen Stock an der Wand, würgte mit seinen vermoderten und doch unentrinnbaren Fäusten den Knaben, der zu Boden fiel. Dann begann er, als hätte er die Ursache bereits vergessen, ins Leere zu rasen:
»Krapüle! Kanaille! Jakobiner! Verräterpack! Kartätschen in die Rebellen!!«
Er stampfte den Boden, sein Mund stieß immer wieder Schimpfworte aus den verschollenen Tagen der Restauration hervor. Doch ein Wort von François bändigte den Marchese. Der alte wacklige Diener trat dicht an ihn heran, sah ihm totenbleich ins Auge und sagte nichts als:
»Erlaucht!?!«
Der Greis verwandelte sich sofort, fuhr an seinen Puls, zählte und ließ sich auf einen Sessel nieder.
Aha?! In diesem Ausbruch hatte ihm der niederträchtige Tod eine Falle gelegt. Unersetzliche Lebenskraft war vergeudet. Herzschlag und Atem für drei Jahre. Plötzlicher Schwindel, Kälte, Todesschwäche beschlich den Hundertjährigen!
Er schloß die Augen und erzeugte in seinem Geiste einen mächtigen Willensstrom, der ihn über die Sterbensanwandlung der Minute hinüberhob. Eine Viertelstunde später wußte er, daß der Kampf gewonnen war. Dennoch hatte seine Natur eine große Schädigung und Abnützung erlitten. Vieler Tage wird es bedürfen, mit Weisheit das unüberwindliche Gleichgewicht wiederherzustellen. An den Verlust durfte nicht mehr gedacht werden. Die allergewaltigste Wette, die je ein Mensch mit Leben, Gott, Teufel abgeschlossen hatte, war zu gewinnen. Liebhaberei mußte daneben verblassen. Alle Menschen müssen sterben. Nun, er war noch nicht gestorben.
Marchese Gritti befahl mit seiner hellen, unmenschlichen Stimme, den ausgebrannten Saal, wie er war, abzusperren und ihm den Schlüssel zu übergeben. Dann ließ er von François seinen Körper mit einer alkoholischen Mischung abreiben. Eine Stunde später fühlte er, daß nun selbst aus dem letzten Winkel der letzte gierige Schatten sich davongemacht habe.
So zahlte auch dieser Hundertjährige den Geheimnissen des Karnevals seinen Tribut.
Aber weh mir! Arm geboren, im ärmlichsten Dörfchen, hatte ich nicht die Mittel, mich im geringsten ausbilden zu lassen. Man hat mir unter die Hände ein lächerliches Spinett gestellt, und kurze Zeit darauf habe ich mich hingesetzt, um zu schreiben. Note über Note und nichts anderes als Noten. Dies ist alles! Traurig aber ist es, daß ich jetzt in meinem Alter gewaltig an dem Werte all dieser Noten zweifeln muß.
Welch eine Reue für mich, welch eine Verzweiflung! Glücklicherweise aber habe ich in meinen Jahren nicht mehr viel Zeit zum Verzweifeln.
Aus einem Briefe Verdis an eine Freundin, zitiert von E. Bragagnolo
Langsam durch das noch immer nicht verebbte Gedränge schritten die Freunde die Riva entlang. Viele Masken waren nun unter die Menge gemischt, aber sie schienen zu frösteln, verdrossen zu sein und sich in ihren Rollen, zumindest auf offener Straße, nicht wohlzufühlen. Nachdem mit dem Feuerwerk auch das letzte Pulver des Witzes verschossen war, suchte alles so schnell wie möglich von den ernüchterten Plätzen fortzukommen.
Ein Schiff ging noch von San Zaccaria den Kanal hinab. Der Maestro begleitete den Senator, der den Dampfer benützen wollte, zur überfüllten Landungsbrücke. Mit Schrei und Stoß zwängte sich die Flut der Passagiere an Bord. Der Senator verschwand unter den Menschen. Das Rad schäumte auf, der Dampfer löste sich vom Ponton, funkende Atemwirbel stieß der Rauchfang aus. Unter den bunten Laternen hoben sich die Masken von der dicht-farblosen Zahl ab, als ein gequälter Anachronismus auf diesem unfroh dampfenden und pfeifenden Nachtboot.
Beppo, der den Maestro erwartete, hatte das Feuer im Kamin wie allabendlich unterhalten. Sein Herr schickte ihn schlafen.
Als Verdi allein war, atmete er erschöpft auf, wie einer, der sich stundenlang hat verstellen müssen. Die Episode mit Wagner während des ›Aida‹-Potpourris tauchte quälend empor. Der Maestro erbebte vor Unbehagen. Es schien ihm, als hätte er niemals seinen Stolz so sehr erniedrigt wie in jener Minute, da sein Gemüt so heiß um die Anerkennung des Fremden warb. Wagner hatte ohne jedes Federlesen mit einer kurzen Gebärde des Maestro schönstes Werk abgetan. Der aber empfand jetzt kein Mitleid mit seinem Werk, keine Empörung über den Feind. Das unerbittliche, unablenkbare Gericht in ihm entschied:
›Das Urteil war hart. Aber der Deutsche hat recht: die Zeit ist vorbei. Es ist genug!‹
In sich versunken stand Verdi in der Mitte des Zimmers. Niemand wußte die Wahrheit über ihn. Seit vierzig Jahren kämpfte er mit Riesenanspannung für eine verlorene Sache. Denn die Oper, die er in seinem Blute geerbt hatte, war eine verlorene Sache. Wer ahnte die Erschöpfung seiner Nerven durch diesen hoffnungslosen Kampf, wer ahnte seine Müdigkeit nach solchem vernichtenden Dienst? Sooft er sich auch siegreich geschlagen, hatte er doch nur die Frist gewonnen, seinen Rückzug zu decken. Ein Rückzug von Stellung zu Stellung: ›Nabucco‹ und ›Lombardi‹, kaum daß sie in ihrer Neuheit, ihrem unbekannten Furor erklungen waren, hatte sie schon die ungeduldige Zeit verbraucht.
Einen ganz anderen Stil ersann er: ›Ernani‹. Diese Oper herrschte, aber noch während sie herrschte, wurde sie von naserümpfenden Kennern verlacht.
Wie ein Hund verbiß er sich. Zwei Opern im Jahr, um den richtigen Weg zu finden. ›Macbeth‹ kam. Das italienische Publikum verwarf ihn als revolutionär und unverständlich, nach einigen Jahren verwarfen ihn die Pariser Kritiker als veralteten Schund.
Er holte zur ›Schlacht von Legnano‹ aus. Das Nie-Versuchte sollte sie bringen. Den Sturmpuls des Freiheitskrieges. Sie versank im Jubel der Premiere. Ihr Gegensatz, die intime, die traurig-süße Melodie: ›Luisa Miller‹. Sie modert jetzt alljährlich auf ein paar Schmierenbühnen.
Ohne Erholung weiter! Der rasend sich verwandelnden Wahrheit gerecht zu werden! ›Rigoletto‹, ›Trovatore‹, ›Traviata‹, in zwei oder drei Jahren komponiert! Hoffnung, das Endgültige gefaßt zu haben. Sie sind die lebendigen Überreste dessen geworden, was nicht mehr ist.
Wieder galt es, einen neuen Anlauf zu nehmen: ›Die Vespern‹, ›Boccanegra‹, ›Maskenball‹. Die eine oder die andere steht noch, aber auf dem Trümmerfeld eines erloschenen Stils.
Noch einmal vorwärts: ›Don Carlos‹! Mit Pein und Unerbittlichkeit wurden hundert Tongedanken dem neuen Willen unterworfen. Eine Riesenpartitur, in der kein leerer Takt, keine Ermüdung stehenbleiben durfte. Hundert Nächte hatte sie gekostet, vom Sonnenuntergang bis zum blinzelnd-aufdämmernden Pariser Morgen.
Das Resultat? Zum erstenmal begann es aus den Zeitungen und Foyergesprächen zu zischeln, zu lästern: Wagnerepigone! Jede Form-Freiheit, jede harmonische Verfeinerung wurde damals »Wagner« genannt, und er kannte doch noch keine einzige Note des Deutschen.
Und endlich ›Aida‹! Dieser letzte ungestüme Ausfall aus der belagerten Festung. Wagner hatte sie verhöhnt. Er hatte es leicht. Unabhängig von jeder Bindung diente er der Zeit, die nun gekommen war. In einem Land geboren, das keinen Karneval, kein Fest, somit auch nicht die wahre Seele der Opernform kannte, konnte er ja leicht verachten und umstürzen, was nicht sein war. Hatte er nicht selbst in einer seiner Schriften, wie Boito dem Maestro verraten, behauptet, das Tempo der deutschen Musik sei das Andante, das Maß der ruhigen Bewegung? Aber dieses Andante ist ja geradezu das der Oper entgegengesetzte Zeitmaß, die von der Unruhe, der Beschleunigung lebt.
Nun, das Andante sollte recht behalten. Die italische Jugend selbst wollte es so. Aus dem Boden der Lyzeen und Konservatorien schossen neue Komponisten auf, die keine Opern mehr, dafür aber deutsche Kammer- und Klaviermusik schrieben. Manche von ihnen schickten ihm aus einem Rest von Respekt ihre Noten. Darunter ganz begabte Leute, wie Sgambati und Bossi. Aber wozu belästigten sie ihn mit ihren verräterischen Sachen? Wozu? Sie hatten ja keine Ahnung, wer er war. Der letzte Italiener. Er begann den pessimistischen Senator zu verstehen. Seine Generation hatte in den Thermopylen gekämpft. Nun verspeiste das menschenfresserische Jahrhundert auch ihn.
Er warf einen Blick auf seine Opern, die von der unverständigen Liebe seines Freundes ihm ins Zimmer gebracht worden waren. Ungleichen Formats, dicht gedrängt, widerlich standen sie auf dem Bücherbord. Er erinnerte sich, daß ein müßiger Statistiker berechnet hatte, daß in den ersten dreizehn Jahren seiner Laufbahn in Italien fünfhundertundvierunddreißig neue Opern aufgeführt worden sind, von welchem Halbtausend nur mehr zwanzig leben. Zwölf davon entfallen nach dieser Berechnung auf ihn, also zwei Drittel. Ist das aber wahr? Lebt ›Nabucco‹ noch? Nein! Nein! Er hatte wahrlich für eine verlorene Sache gekämpft.
Wer wußte es denn, daß er Italiens eigenste Kunstform so oft durch Mut, Feuer, List in schweren Gefechten retten mußte? Und das gegen eine todfeindliche Zeit, wo die Menschen, in sich zerfallen, ihren eigenen Freuden nicht mehr trauten und ihre Entzückungen bezweifelten. Zehnmal war es gelungen. Das elfte Mal nicht mehr. Der alte Soldat war invalid. Der Untergang ist endgültig besiegelt.
Ohne recht zu wissen, was er will, geht der Maestro zum Kasten, in dem der Wagnersche Klavierauszug verwahrt ist. Er zieht den Schlüssel hervor und sperrt die Schranktür auf, als wolle er damit andeuten: Auch ich gebe dich frei. Aber er greift nicht zum ›Tristan‹, sondern kehrt zu seinem Tisch zurück, auf dem die große Mappe der ›Lear‹-Musik liegt. Er denkt:
›Ich bin hierher in dieses unheimliche Venedig gekommen wie in die Wüste, um einsam die letzte Versuchung zu bestehen!‹
Mit einer unwillkürlichen Bewegung blättert er den Notenstoß auf. Da fällt ihm einer von jenen Zetteln in die Hand, auf die er hie und da Lesefrüchte und eigene Gedanken notiert. Er liest:
»Wenn mein Haus brennt und ich, starr vor Schreck, erkenne, daß in einem der Zimmer das mir auf der Welt liebste Wesen in Todesgefahr schwebt, werde ich da den zur Rettung eilenden Feuerwehrleuten eine langwierige Erklärung geben, wo sie dieses Zimmer finden sollen? Nein, ich werde versuchen, mit äußerster Kürze und Klarheit das Notwendige ihnen zuzurufen, damit sie mich verstehen, ohne Zweifel verstehen!! Nichts anderes darf die Kunst tun. Auch sie ist ja ein Hilferuf des Herzens. Ist das aber ein echter Hilferuf, der sich selbst verwirrt, der im Grunde gar nicht verstanden sein will? Nein! Nein! Ein solcher Ruf kommt nicht aus wirklicher Not.«
Und darunter:
»Sie verwirren alle, alle, alle! Ihnen ist es nicht ernst.«
Die strenge Richterhärte des Maestro fügte hinzu:
›Ich auch verwirre! Dies hier kommt nicht aus Notwendigkeit, sondern aus unsicherer Angst. Ich auch verwirre.‹
Noch einmal umfaßt der Blick das Dokument eines dreißigjährigen Planes, einer zehnjährigen Riesenarbeit. Noch einmal prägen sich all diese Takte, Themen, Passagen, Orchesterzwischenspiele, Chorwirbel, Ariosa, Rezitative, Aufschreie, Akkordketten, Trauermärsche, Kriegsmusiken, Duette, Terzette, Quartette, A-cappella-Takte, Finalensembles, Tränensänge ihm ein. Blitzgrelles Wissen: ›Dies ist mißlungen, ein Mischmasch, es genügt nicht.‹
Der Maestro sieht nach dem offenen Schrank. Eine stumme Wendung zum ›Tristan‹ hin, als wollte er damit sagen:
Richard Wagner! Ich werde mich nicht entwürdigen. Ich sterbe als ein alter Opernkomponist!
Da taucht aus der kranken wirren Bilderflucht der violette Riese von Sakristan auf und tutet sein »Der Karneval ist zu Ende« über den Platz. Ein Nebelhorn. Denn draußen zieht ein nächtliches Schiff aus dem Hafen der Giudecca über die Lagune ...
Und plötzlich ergreift Verdi mit beiden Händen den Notenpack und wirft den ›König Lear‹ ins Kaminfeuer.
Eine demütigende Teufelsmacht aber will nicht, daß diese leidenschaftliche Tat vollkommen gelinge. Ein Teil der Blätter liegt verstreut umher. Dies ist fast zuviel. Mit halbgeschlossenen Augen rafft der Maestro die Widerstrebenden auf und schleudert sie den übrigen nach.
Aber auch das ernüchterte Feuer des beginnenden Aschermittwochs streikt. Wie im römischen Zirkus die Raubtiere sich anfangs vor den verurteilten Verbrechern, Sklaven und Christen verkrochen, sträuben sich die Flammen lange und greifen nur träge das dicke Notenpapier an.
Entsetzen und tiefe Beschämung im Herzen, muß zu alledem der Maestro noch mit dem Schürhaken nachhelfen.
Mit bequemen Fingern blättern die Flammen Seite für Seite auf, überfliegen, erhellen die Zeilen, ehe sie das Blatt verschlingen. Immer wieder muß der Arme einzelne Flüchtlinge ins Feuer zurückstoßen. Endlos lange Zeit befaßt er sich mit diesem scheußlichen Mord, bis alles vorbei ist.
Er fällt in den Stuhl, er begreift seine Tat nicht. Von all den Handlungen, die er je gegen seinen Willen begangen hat, ist dies die furchtbarste, widersinnigste. Die Ernte eines ganzen sonst ertraglosen Jahrzehnts, die schwere Mühe so vieler Nächte, ein unsäglicher, der Lebensfreude abgezwungener Fleiß, ein unausdenklicher Wechsel von Kühnheit und Erschlaffung, sein wirklichstes Leben ist hin. Das Feuer hatte sich geweigert. Es wäre Zeit gewesen. Und er hat sie nicht gebraucht. Minutenlang kommt der Maestro nicht zu sich. Seine bewahrende ordnende Natur begreift den Wahnsinn dieser plötzlichen Tat nicht. Er, der sonst kein Haar seines alltäglichen Rechtes und Besitzes krümmen läßt, er, der keinen Betrug eines Verlegers, eines Gutsverwalters duldet, er hat hier sein einziges und wichtigstes Gut selbst vernichtet.
Erst gegen Morgen verwandelt sich die unerträgliche Erstarrung. Ruhe kommt über ihn. Es ist die Ruhe des errungenen Verzichts. Und der Ruhe folgt eine müde und fremde Heiterkeit. Es ist die Heiterkeit des vollbrachten Opfers.
Als der Diener in der Frühe das Zimmer betrat, wollte ihm der Maestro den Auftrag geben, die Koffer zu packen. Aber er besann sich anders und schob diesen Entschluß auf.
Alles, was jetzt produziert wird, ist Angstprodukt.
Aus einem Briefe Verdis an Clarina Maffei
Hier endet die Geschichte der Oper ›Il re Lear‹, die zu Lebzeiten und nach dem Tode Giuseppe Verdis die europäischen Journale immer wieder beschäftigt hat. Obwohl nach dem Willen des Maestro sein gesamter musikalischer Nachlaß, soweit er noch vorhanden war, vernichtet werden sollte, kann die Legende doch nicht von den unveröffentlichten Werken lassen. Stets wieder erhoben sich Stimmen, die beteuerten, es könne sich keine Hand gefunden haben, die aus Pietät für den Verewigten an solchen der Menschheit gehörigen Schätzen das Zerstörungswerk vollbracht hätte.
Insbesondere als vor etlichen Jahren das von Verdi eigenhändig geschriebene Libretto dieser Oper auftauchte, häuften sich in der Presse allerhand Mären und Vermutungen, so zum Beispiel, daß der Maestro in diesem Fall sein eigener Textdichter gewesen sei, was allerdings zum größten Teil hier stimmte.
Wer kann es ergründen, ob dieses Heft mit den ungebärdigen Schriftzügen Verdis dasselbe war, das durch einen glücklichen Zufall dem Flammentod entging, den die vielen Partiturseiten der Opernskizze in der Nacht vom sechsten zum siebenten Februar in Venedig erlitten hatten?
Für den Historiker, der die Geschichte dieses Werkes prüfen will, liegt eine durch etwa drei Jahrzehnte laufende Korrespondenz vor, in der die Oper immer wieder erscheint. Der erste vom Februar 1850 aus Busseto datierte Brief teilt Cammarano dem Jüngeren, (dem Textdichter des ›Trovatore‹), ein vollkommenes, in seiner Gedrängtheit höchst gelungenes Szenarium mit. Wie immer fand und entwarf der Maestro seinen Stoff ganz allein, so daß dem Dichter nichts als das Versemachen übrigblieb.
Drei Jahre später wird die Aufgabe dem Salvadore Cammarano entzogen und in die Hände des höheren Literaten Antonio Somma gelegt. Über die Zusammenarbeit mit Somma besteht ein weitläufiger, für die unnachgiebige Schaffensart Verdis sehr aufschlußreicher Briefwechsel. Dreißig Jahre später erwähnt der Maestro gegen seinen Freund, den Maler Domenico Morelli, das letztemal den Namen: Lear!
Verdi pflegte über unveröffentlichte Werke nichts oder nur sehr wenig auszusagen. So ist auch über ›Il re Lear‹ nur ein Ausspruch erhalten geblieben, den der Maestro im ersten Jahr dieser Arbeit in einer schaffenstrunkenen Stunde getan hatte:
»Es sind herrliche Nummern in dieser Oper. Vor allem das Wiederfindens-Duett zwischen Lear und Cordelia.«
Wie merkwürdig ist es doch, daß, als der Senator von diesem Duett so hingerissen war, der Maestro außer sich vor Zorn geriet.
Alles deutet darauf hin, daß ›Lear‹ bis auf einige Partien der Instrumentation und bühnenmäßigen Glättung mehr als vollendet war, und daß viele Nummern und Stücke sogar in mehrfacher Ausführung bestanden. Seitdem nach der ›Aida‹ der Maestro an keiner anderen Oper mehr arbeitete, waren die meisten Szenen zwei- oder dreimal verfaßt worden.
Einige Schriftsteller und Biographen behaupten, daß so manche Phrase, so mancher Satz dieses ›Lear‹ in ›Otello‹ und ›Falstaff‹ wieder auferstanden sei. Ganz gerissene Durchschauer folgern weiter, daß Verdi die Vernichtung seines Nachlasses nur deshalb angeordnet habe, um zu verhindern, daß diese Abstammung offenbar werde. Kleine Seelen! Mit seinem ›Lear‹ hatte der Maestro mehr von sich geworfen als nur eine Oper.
Wenn auch seine Erfindungskraft, sein musikalischer Motivschatz nicht unerschöpflich, ja an gewisse Grundformen gebunden war, die seine Seele spiegelten, so vermied er es, als er an neue Taten ging, geflissentlich und mit bewußter Strenge, daß in die neuen Werke ganze Wendungen, ja auch nur Erinnerungsteilchen der vernichteten Oper sich einschlichen.
Fast siebzig Jahre alt, hatte er in der Nacht des venezianischen Karnevals einen der grausamsten Verzichte, wie er glaubte, den künstlerischen Selbstmord verübt. Seine Laufbahn – wie hätte denn ein Mann seines Alters nach solcher Tat anders empfinden können – war unerbittlich zu Ende. Und wie bitter war das für diesen Ewig-Sieggewohnten, da ja der Feind, der andere, Richard Wagner, der sein Lebenswerk bis in den Grund entwertet hatte, noch lebte, noch schuf, unnahbar vorwärts schreitend und weltverwandelnd ihn immer tiefer zur Niederung des geistlosen Erfolgskünstlers verdammte.
Es war die unwiderruflichste Resignation, die je ein Menschenherz besiegte.
Aber die eudämonische Macht, die über den schöpferischen Geist herrscht, um das Geschichtlich-Notwendige zu vollbringen, wollte es anders.