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Sechstes Kapitel

Mathias Fischböck

I

In der Musik wie in der Liebe muß man vor allem aufrichtig sein.

Ausspruch Verdis, von Gino Monaldi zitiert

 

Geraume Zeit schon hatte sich Richard Wagner nicht mehr zur gewohnten Stunde auf der Piazza gezeigt.

Italo stand am äußersten Rand jenes Kreises, der sich um das unerschöpfte Lebensfeuer des Meisters in Venedig gebildet hatte. Aristokraten, Künstler, vornehme Dilettanten gehörten in abgestufter Rangordnung zu diesem Kreis, eine Anzahl verfeinerter Menschen, deren kleinster Teil nur Wagner selbst zu Gesichte bekam.

Als vor vielen Jahren der Deutsche hier in Venedig den Tristan schrieb, kümmerten sich nur sehr wenige Leute um ihn. In diesem Winter aber war er außerordentlich in Mode, und nicht nur in Venedig, sondern in der höheren Welt ganz Italiens.

Italo hatte erfahren, daß Wagner sich gesünder fühle als je, und nur deshalb nirgends erscheine, weil er für seine neue philosophische Schrift in eifriger Arbeit auch die Nachmittage verwende. Fast war der junge Mensch dessen froh, daß er sich keinen Vorwurf der Untreue machen mußte, wenn auch er nicht mehr auf die Piazza kam.

Das erste Mal im Leben litt Italo an seelischen Beklemmungen.

Stets sind Depressionen die pochenden Erkenntnisse, die wir nicht über die Schwelle lassen. Fertig werden können wir mit ihnen nur dann, wenn wir es wagen, die Türe aufzumachen.

Italo öffnete die Türe nicht, er verriegelte sie sogar. Schwäche und Genußsucht rechteten in seinem Gemüt, wodurch er es denn verdient habe, in jungen Jahren nicht mehr den täglichen Morgen mit Kraft- und Freudenruf begrüßen zu dürfen. Ja, seitdem er Margherita Dezorzi kennengelernt hatte, schwankte sein Leben ohne Mut zur Entscheidung zwischen den Zielpunkten.

Oft sehnte er sich jetzt nach Bianca. War er aber bei ihr, fühlte er sich unglücklich, fremd, ja gefangen. Sie lebte sehr viel allein, denn Carvagno hatte nun selbst seine privaten Sprechstunden ins Ambulatorium des Hospitals verlegt, um die riesige Arbeit, wie er meinte, leichter leisten zu können.

Italo wußte sich der geheimnisvollen Veränderung seiner Freundin nicht gewachsen. Ihre Seele sah mit wissenden Augen irgendwohin, wo er noch nichts erblicken konnte, fremdartige Kräfte nährten sie, die ihm selbst ganz unzugänglich waren. Er, der damals in der Kirche sich so erhaben über das bäurisch betende Weib gefühlt hatte, er war zu klein, zu erlebnisleer, um sie verstehen zu können.

Vieles, was Bianca tat und sagte, erschreckte und ärgerte ihn, weil er es nicht nachempfinden konnte.

Sie hatte auf dem Fischmarkt einige große Schildkröten gekauft. Stundenlang saß sie nun über den mit Salatblättern gefüllten Korb gebeugt und sah den trägen Tieren zu, wie sie mit ihren platten Schlangenköpfen unter dem Panzer hervorzüngelten.

Auf der Straße war sie imstande, ein altes blindes Bettelweib angeekelt von sich zu weisen, dafür aber alles Geld, das sie bei sich trug, einem frechen Gassenjungen zu schenken. Immer wieder kam irgendein Satz von ihren Lippen, dessen Sinn Italo sich nicht zusammenreimen konnte, der aber einer empfindungsschweren Bedeutung voll schien. Oft beschrieb sie ein Ding mit ganz einfachen Worten, aber es war nicht ein Mensch, ein Hund, ein Haus, sondern die zweite, ihm unsichtbare Form hinter diesem Ding, die sich ihrem plötzlich geisterseherischen Blick erschloß.

Von einem gewissen Augenblick an hatte sie auch aufgehört, von der Zukunft zu sprechen. Kein Wort der Angst, des Grauens über die schwere Lebenslage hörte Italo mehr. Es war ihm unheimlicher als alles andere, dieses Schweigen. Er wußte nicht, ob sie hoffnungslos oder zuversichtlich an das kommende Schicksal dachte. Ihm selbst war der Mund verschlossen. Wechselnd glaubte er in ihrem Gehaben ausgesprochenen Wahnsinn, seltsame Leichtfertigkeit oder eine verborgene Gewißheit wahrzunehmen.

Eines Vormittags fuhr er mit ihr im kleinen Dampfschiff an den Lido. Sie durchquerten die öde, verlassene Akazienallee von der Lagune zum Strand.

Neblig und überwölkt spie die winterkranke Adria lange schwerfällige Wellenreihen ans Land. Nur zwei schiefe, windüberfüllte Segel standen draußen im Dunst, durch den eine verlarvte Sonne selten mit schmalen Klingen spielte. Ein Relais von halbnackt frierenden Männern, der äußerste fünfzig Meter weit im Meer, zog mit Ruf und Ruck ein schweres Netz heran, das nicht zu sehen war und sich auch nicht zu rühren schien.

Die Flut hatte den Strand, den die Liebenden in der Richtung nach Malamocco durchwanderten, sehr verkürzt. In einem grauen Spiegel versank ihr Fuß, der unbenetzt blieb, doch tiefe, saugende Stapfen zurückließ.

Italo sah, daß der Fuß der Schwangeren neben ihm schwere und fast größere Spuren in den Boden preßte als der seine. Mit Mißvergnügen, mit Verrätergefühlen erfüllte der Anblick dieser reifen Tritte seine Sinne, und er konnte es nicht verhindern, daß ein Verlangen nach streichelnd-beschwingten Sohlen, nach einer andern Gestalt seine Phantasie erregte.

Der Unmut des fieberfröstelnden Meeres hatte Tausende von unglücklichen Tieren ausgeworfen. Vergebens mühten sich die schiefwackelnden Taschenkrebse, ihr Heil, das Wasser, zu erreichen. Regungslos platt lagen die ausgesetzten Quallen mitten unter noch lebendigen Muscheln, Seegras und den blassen knochenartigen Schäften des Meerschilfs.

Immer dunkler wurde der Tag, immer zänkischer das Meer, immer ätzender der Salzgeschmack auf den Lippen der beiden Einsamen.

Sie wanderten schweigsam, weitausschreitend, als wären sie keine Spaziergänger, sondern hätten ein wichtiges, unerbittliches Ziel vor sich.

Plötzlich blieb Bianca mit leichtem Ausruf stehen.

Vor ihnen lag der Kadaver einer riesigen Schiffsratte mit übermäßig langen, steif von sich gestreckten Beinen und der dünnen Schnur des Schwanzes. Deutlich zeigte das Aas mit Schnurrbartborsten, rötlichen Ohrläppchen ein grau-katzenartiges Gesicht. Der Bauch war weit aufgeschlitzt und wimmelte von Totentieren. Italo, den sofort der Gedanke durchfuhr, daß es für eine Schwangere gefährlich sei, solch etwas Scheußliches zu sehen, riß Bianca zur Seite:

»Kehren wir um!«

Nichts gab es, was Italo mehr mit Graus und Schrecken erfüllte, was seinen Nerven unerträglicher war, als der Anblick von etwas Verwesendem. Als Kind hatte er einst eine zertretene fliegenumschwärmte Schlange gesehen. Über dieses Erlebnis war er fast in eine Krankheit verfallen. Seither konnte er keine Küche betreten aus Angst, den nackten Leichnam eines Huhns erblicken zu müssen. Bianca hingegen schien sich von dem Häßlichen nicht leicht lösen zu können. Sie starrte lange die Ratte an.

Dann gingen sie in ihren einsamen Spuren zurück. Italo biß die Zähne aufeinander, so elend war ihm das Herz vor Unglück und Widerwillen. Nach fünf Minuten Schweigens blieb Bianca stehen und sah mit weitem Blick aufs Meer hinaus:

»So wird das Weib verwesen, das dich mir nimmt.«

Einen Augenblick war es Italo, als müsse er diesen Fluch, dieses das Meer beschwörende Zauberwort durch irgend etwas aufheben, ungeschehen machen, allein er fand kein Mittel. Die Frau, noch immer die unsichtbaren Erscheinungen des Horizonts prüfend, schüttelte den Kopf.

»Was will sie nur, die falsche Lügnerin? Sie hat ja Zeit. Es sind nur wenige Tage mehr.«

»Um Gottes willen, was sprichst du da, Bianca?«

Sie schien zu erwachen und ihre lautgewordenen Gedanken ebensowenig zu verstehen wie er. Rasch, als könne er nicht mehr mit ihr allein bleiben, zog Italo seine Freundin mit sich.

Später saßen sie in der Halle einer Gastwirtschaft und nahmen ein warmes Getränk zu sich.

Bianca streichelte Italos Hand; sie fühlte seine Beklemmung, die ihn immer wieder seufzen machte.

»Du bist traurig, mein Kind, ich weiß es. Dies alles ist zu viel für dein kleines verwöhntes Herz!«

»Ich habe Sorgen Tag und Nacht, Bianca!«

Er sagte diese Worte, er sprach wieder seit langem von der Bedrängnis, und plötzlich wurde ein böser Zweifel in ihm wach, ob er denn schuld sei, ob dieses Kind nicht ebenso Carvagnos Kind sein konnte. Wäre es nicht am besten, nach Paris zu fliehen, nach Palermo, nach Afrika oder Grönland, nur um nichts von all diesen Schreckensdingen mehr hören zu müssen. Allerdings hatte er mit Bianca alle Möglichkeiten errechnet, und seine Schale, nicht die des Arztes, neigte sich unter den Beweisen tiefer. Aber er kannte ja die Frauen kaum und ihren fremden Listen und Tücken mußte er wohl hilflos erliegen. Sogleich fühlte Bianca in der Hand des Freundes die fluchtsinnende Strömung:

»Ich bedrücke dich, Italo. Sag nichts, ich weiß es, ich verstehe es. Was sollst du jetzt mit mir anfangen? Aber, hörst du, ich will dich nicht bedrücken, du mußt frei sein, mein Kind! Ich liebe dich sehr. Ich habe dich oft mit meiner Eifersucht gequält. Jetzt bin ich nicht mehr eifersüchtig, mein Freund!«

Sie lachte unbefangen fröhlich:

»Geh nachmittags auf die Piazza, in die Cafés, suche ihn auf, deinen geliebten Wagner. Ich habe nichts dagegen und werde mich nicht langweilen. Er ist ein großer Mann und will dir helfen, dich fördern, du wirst von ihm lernen. Du sollst selbst ein großer Künstler werden, mein Italo! Wie schön spielst du dein Instrument! Und frei sollst du sein! Frei! Heute nachmittags und immer!«

Italo gab deutlichen Schrecken zu erkennen, als mute ihm die Geliebte etwas durchaus Ungehöriges zu:

»Nein, Bianca, das nehme ich nicht an. Ich bleibe bei dir ... heute nachmittags ...«

»Ich werde dir nicht böse sein, ich lege dir keine Falle.«

Mit überlegener Beruhigung stellte seine Stimme ihr eine Ewigkeit in Aussicht:

»Den heutigen Nachmittag und immer werde ich bei dir sein, Bianchina.«

»So suche dir eine Stunde, dich zu vergnügen, wieder heiter zu werden, mein Kind!«

Auf Italos Gesicht spiegelte sich ein plötzlicher Einfall, der aber so unwichtig schien, daß er ihn mit einem Lächeln fortzuwischen bereit war:

»Bianchina ... wenn du es erlaubst ... hätte ich wohl etwas vor ...«

»Was denn? Sags!«

»Aber nur, wenn es dir recht ist, wenn du schwörst, daß es dir recht ist, gehe ich hin.«

»Ist es das Quartett?«

»Nicht gerade das! Aber heute abends wird beim Grafen Balbi musiziert werden. Eine Musiksoiree! Sehr interessant! Du weißt, ich gehe ohne deine Zustimmung in keine Gesellschaft. Entscheide also!«

»Werden Weiber dort sein?«

»Nein! Kaum! Das heißt ...«

Italo hatte sich vorgenommen, diese Frage zu verneinen, etwas Unüberwindliches aber, halb Schauder und halb Lust, zwang ihn, den Namen zu nennen:

»Das heißt, die Dezorzi soll kommen ...«

Eine lüstern-süße Befriedigung durchprickelte kitzelnd seine Organe, als sein Mund angesichts der Geliebten die erregenden Silben des andern Namens bildete. Mit aller Mühe mußte er sich beherrschen, damit nicht ein Blick, ein Tonfall, eine Atemlosigkeit ihn verrate. Aber Bianca, die sonst alles vorauswußte, die oft ungesprochene Gedanken beantwortete, hier ahnte sie nicht das geringste:

»Ist es die Sängerin?«

»Ja, natürlich! Deshalb wurde sie ja meines Wissens eingeladen!«

»Kennst du sie?«

»Nein, persönlich nicht!«

Glänzend gelang die Lüge weiter:

»Daß ich sie in der gräßlichen Oper von Ponchielli gehört habe, das weißt du ja. Sie ist sehr gut, ausgezeichnet ...«

Als wäre dieses Lob aber ein allzugroßes Wagnis, fügte er hinzu:

»Im Grunde scheint sie mir doch sehr manieriert zu sein, und das kommt daher, daß sie nicht sehr schön wirkt ... auf der Bühne wenigstens.«

»Willst du wirklich in diese Gesellschaft gehen, Italo?«

Die Sache war für ihn entschieden:

»Nun, Bianchina, ich sehe, daß es dir nicht recht ist, daß du darunter leiden wirst. Ich gehe nicht. Ich bleibe abends zu Hause, werde arbeiten. Es ist besser. Diese und alle Gesellschaften mit und ohne Musik sind für mich begraben.«

Italo küßte Biancas Hand, als wäre er ihr dafür dankbar, daß er einer unerwünschten Verpflichtung nicht Folge leisten müsse. Dann rief er den Kellner, zahlte und erhob sich. Sie traten auf die Terrasse.

Straff stand des Mannes Gestalt vor der schweratmenden Wand des Meeres. Die über die winterlich-ungastliche Terrasse streichende Brise brachte seinen dunklen Scheitel in Unordnung und einige weichliche Strähnen fielen in die Stirn.

In diesem Augenblick liebte ihn Bianca wie noch niemals. Sie hätte aufweinen mögen vor Liebe. Jede Zelle ihres Lebens sehnte sich nach Demütigung.

Dies war einer der seltenen Augenblicke, in denen solche kraftvolle Wesen, schutzlos und dem Tode offen, ganz um sich selbst gebracht werden können.

Lieblich und ohne Tücke, wie in den ersten Tagen ihrer Beziehung, ging sie leise neben ihm, als müsse selbst der Klang ihres Schrittes sich in dem seinen lösen.

Das Schifflein zerschlug mit schäumenden Rädern das uralte, wissende Wasser der Lagune, das dunkel, kein Meer war, ein See, kein Strom, sondern der Stadt vermählt, etwas Märchenhaft-Menschliches. Die Bojen und Leuchtapparate zogen vorbei, die dunstigen Inseln drehten sich fern, die Gärten der Stadt, in denen nur Lorbeer, Pinie, Zeder und Myrte grünte, strichen dahin, die schwarzüberfluteten, pflockumzirkten Sandbänke, alle Dinge bewegten sich trüb und stumpfsinnig unter dem traurigen Riesengewichte des Wolkentags.

An der Landungsbrücke von Veneta marina und Bragora legte der Dampfer an. Ein paar unfrohe Menschen – auch ihren Leib durchwolkte der Winternebel – stiegen ein und aus: Arbeiter, Kleinbürger, keine Fremden, keine Reichen, keine Genießer.

Es war eine der Stunden, wo auch diese Stadt, verraucht vom nordischen Elend des Jahrhunderts, ein ordinär-verwelktes Gesicht zeigt.

 

Oh, bald wird sie der Norden ganz verschlungen haben, sie und alle goldenen Denkmäler der Mittelmeer-Gezeiten. Denn er allein ist an der Reihe der Herrschaft und drückt der Erde das harte Zeichen seiner Satansmoral auf. Die eckige Form, den Kubus, die Barschheit, die Maschine, die abgehackte Grimasse, die innere Nebel-Verschwommenheit, die Kaserne in tausend Formen, den leidenschaftslosen Mord, die Leistung aus Lebensleere, das Laster aus Unsinnlichkeit, den alkoholischen und geistigen Fusel, die amerikanische Hatz der sinnlos Einsamen, die hoffnungslose Trauer derer, die auf dem Eise Korn bauen müssen und keine Stimme zum Singen haben. Und sein Jahrtausend der Barbarei hat er erst angetreten, der nordische Luzifer, schon aber sind alle Hirne vergiftet.

Verhöhnt und ohne Geltung schämen sich die leichtfüßigen Tugenden der Sonne: Der Adel der Trägheit, die ruhevolle Genügsamkeit inmitten des Überflusses, der herrliche Kuß ohne Nebengedanken und Reue, das Aufkochen des Blutes, seine jähe Kälte, das tägliche Fest, der Dolchstoß ohne Besinnung, der rasche Krieg mit Fahnengeflatter, der am Abend die Feinde beim gemeinsamen Becher verläßt, der Gesang, den die Geschlechter sich reichen, damit die Lobpreisung niemals verstumme, die süße und heilige Symmetrie. Für lange nun ist euer Stern dahin! Lebet wohl, sterbet wohl!

 

Die Liebenden saßen stumm auf der Bank des Verdecks. Palast, Piazzetta, Campanile und das Bild des Kanals grüßten freudlos. Bei San Tomà stiegen sie aus. Vor der Kirche der Frari, wie tausendmal schon, standen sie still, um Abschied zu nehmen:

»Schwöre mir, Italo, daß du mir meinen Wunsch erfüllen wirst.«

Italo wehrte böse ab:

»Wenn es der ist, den ich dir vom Gesicht ablese, werde ich nicht schwören.«

»Du kränkst mich sehr, mein Kind, wenn du es nicht tust. Schwöre!«

»Nein! Nein!«

»Schwöre mir, daß du heute abend zu dieser Soiree gehn wirst!«

»Niemals!«

»Aber ich flehe dich an darum! Ich will, daß du dich deines Lebens freust. Ich bin nur glücklich, wenn du es bist. Ach, es tut mir leid, daß ich nicht dabei sein kann. Aber es wird ein Tag kommen, wo wir alles gemeinsam genießen werden. Ich weiß es. Darum erfülle mir meine Bitte, Italo! Geh hin!«

Aus seinen Worten klang Nachsicht und Zärtlichkeit:

»Du überwindest dich, Bianchina, glaubst du, ich fühle es nicht?«

»Nein, mein Leben! Es ist keine Überwindung. Es ist mein heißer, wirklicher Wunsch. Hörst du? Ich weiß, daß du mir treu bist und treu bleibst.«

»Ja, Bianca, ich bin dir treu.«

»Also, geh zu diesem Balbi! Ich werde abends selig sein, wenn ich mir denke, jetzt sprichst du, jetzt lachst du, jetzt atmest du auf, jetzt bist du wieder das lustige Kind. Geh! Es ist kein Opfer!«

Und jetzt erst, gequält zögernd, hatte sich Italos Stimme zur Aufrichtigkeit durchgekämpft:

»Ist es dir wirklich kein Opfer, Bianca? Ich traue dir nicht.«

»Ich schwöre es dir. Und nun schwöre auch du mir, daß du gehorchen wirst!«

»Wir werden es sehn, mein Herz, mein großes, einziges Herz! Jetzt weiß ich noch nichts. Ich werde das tun, was dein wirklicher Wunsch ist.«

 

Im Torgang des Hauses küßte sie ihn so neuartig, mit solcher Kraft ihres Wesens, daß er den ganzen Heimweg lang erschüttert, unentschieden und doppelt unglücklich war.

II

Margherita Dezorzi hatte gesungen. Eine sehr erlesene Folge altvenezianischer Canzonetten und Arien. Ihre Stimme riß diese Gesellschaft hin, aber nicht weil sie im Sinne eines hervorragenden Instruments schön klang; (übersättigt vom Stimmzauber der abgelaufenen Virtuosenepoche wandten sich von ihm die Gebildeten Italiens ab); Margheritas Stimme wirkte dadurch, daß sie zart verschleiert und ohne üppige Fülle, ganz Energie, ganz Ausdruck war.

Ebensowenig wie dieser Stimme konnte man ihrem Gesicht eine klare Schönheit zubilligen, aber die ganz untheatralische Strenge, Mädchenhaftigkeit und ein geistiger Ehrgeiz verbreiteten höhere Entzückung, wenn sie erschien. Unschwer vermochte ein gutes Auge, sah es schärfer in ihre Züge, das langgezogene Oval, die hart-ungütigen Formen, die dunkle Blässe des venezianischen Volksgesichts zu erkennen: Eine längst überwundene Gewöhnlichkeit, die Elternerbschaft, aus der ein angespannter Wille das Äußerste geholt hatte, was zu holen war.

In der ungeschminkten Ruhe und Einfachheit ihres Auftretens lag aber etwas Unbekanntes, das sehr feine Sinne ernüchtern mußte, ohne daß es erfaßt werden konnte. Die meisten jedoch urteilten nicht, sondern gaben sich der Erscheinung hin.

Denn Margherita Dezorzi hatte eine jener herrlichen Gestalten, die unterm Kleide nur als schmiegsamer Hauch zu leben scheinen, so daß kein Wunsch nach verletzter Keuschheit, nach Nacktheit sich regt, da das verhüllte Wunder Freuden bringt, die keiner Entschleierung bedürfen.

Italo fühlte sein eigenes Nervengeflecht deutlich wie die Saiten eines Instruments. Höchst wirklich griff eine Hand mit Kraft in diese Saiten und spannte sie zu einem drohenden, unerträglich-süßen Akkord, ohne sie zum Klang zu entlassen.

Italo wollte von dieser Spannung nicht erlöst werden. Er atmete mit schwerer Brust, betete insgeheim, daß niemals die selige Narkose von Aug, Ohr und Herzen weichen möge. Er sah ihr Gesicht, er hörte ihre Stimme, ihn durchdrang ihr Strahl. Aber ihm war es, als würden nicht seine äußeren Sinne das Glück erfassen, sondern geheimnisvollere Ohren, Augen, Empfindungen das Bild des Mädchens in sich saugen. Das ging so weit, daß sein Gedächtnis, wenn er wegsah und sich prüfte, Margheritas Züge und Stimme nicht nachschaffen konnte. Nur das übermächtige, seiner selbst selige Gefühl hing in seinem Innern, greifbar, schwer, fast wie ein Stein.

Angesichts dieser Frau waren seine Sinne tot, jede Lüsternheit, jeder Wunsch schienen Regungen aus einer unvorstellbar-tierischen Vorzeit. Ihre Schulter unterm silbernen Flor, der holde Abdruck des Knies in der Seide, der schmale, leichtschreitende Fuß, dies alles, anders als sonst, reizte das Trübe nicht auf, sondern erzeugte in ihm, (so glaubte er wenigstens), unbekannte und geistige Wonnen.

In dieser Stunde verstand er nicht mehr sein Verhältnis zu Bianca. Etwas Graues, Unseliges war ihm die Erinnerung an den heutigen Vormittag, an den Lido-Spaziergang. Oh diese gealterte Liebe! An tausend Berührungen, Küsse, Leiblichkeiten, schamlose Worte gebunden, schien sie ihm etwas Unreines, fast Entehrendes zu sein.

Er hatte in Bianca die frühverlorene Mutter wiedergefunden und die Zärtlichkeiten der Mutter, deren jedes Kind doch überdrüssig ist.

›Der Mann muß von der Mutter frei werden‹, dachte er jetzt mutig, ›um die Liebe des Mädchens zu erobern. Eifersüchtig und unduldsam ziehen uns die Mütter zur Erde nieder, wollen nichts, als uns in ihren Schoß zurückpressen.‹

Die Gestalt Margheritas aber ließ alles Traurige, Erdenschwere, Sorgenvolle in ihm versinken, und er fühlte bis in die Haarwurzeln den ungeduldigsten Drang, sich unerhört auszuzeichnen, eine Heldentat zu begehn, zu strahlen, und wäre es auch nur durch Talent und Witz.

Sein hübsches, unberührtes Gesicht war rot wie Feuer, die Haut scharf gespannt, der Puls unterm engen Halskragen des Fracks tobte. Trotz seinem Wunsche zu glänzen, brachte Italo kein Wort hervor. Später durchbrach er den Bann und es gelang ihm zu lügen, was er aber nicht als Schmach empfand.

Margherita hatte ihn nämlich in einem der Zimmer, wo sie ziemlich allein waren, angesprochen und nach Wagner gefragt.

Daß der Meister den jungen Italiener ein oder zweimal eines Gesprächs gewürdigt, hatte sich in der venezianischen Gesellschaft verbreitet und Italo einen gewissen Ruhm verschafft.

Nun erzählte er Margherita allerlei Unwahres: Begegnungen, Gesprächswendungen, Aussprüche, Urteile. Er wunderte sich selbst, wie feurig seine Phantasie arbeitete, bedeutende und zugleich glaubwürdige Formeln hervorbrachte. Ach, er wollte sie ja nur fesseln, von seinem Einfluß, seiner Wichtigkeit überzeugen und verhindern, daß sie von ihm weg in ein anderes Zimmer trete.

Mehrmals sah sie ihn mit ihren dunkeln Augen an, deren Blick er mißverstand, diesen Blick des sehr begabten, ehrgeizbesessenen Weibes, das keine andere Leidenschaft kennt als Ziel und Spiel. Das Weib, Paria des Geschlechts noch immer, setzt, wenn es strebend aus seinen Grenzen tritt, tausendmal mehr Willen, Auftrieb, Opfermut ein, als je ein Mann.

Margheritas Blick, der nur die Wahrheit seiner Worte und seine Möglichkeiten prüfte, überschätzte der eitle Italo, er hielt ihn für die Besiegelung des Einverständnisses, für einen Seelenruf von ihr zu ihm. Sein Kopf taumelte. In allen Knochen fühlte er die Ermattung eines ungeahnten Siegs.

Das Gespräch war erschöpft. Aber er meinte, daß nur ein ähnlicher Gegenstand die Künstlerin festhalten könne, und ohne daran zu denken, daß er ein Wort breche, begann er wieder:

»Oh, Fräulein Dezorzi, ich könnte Ihnen noch ein Geheimnis verraten. Werden Sie verschwiegen sein?«

»Fragen Sie doch meine Mutter, ob ich jemals einen Klatsch angerichtet habe! Sie beschimpft mich wegen meiner Verschwiegenheit. Unweiblich nennt sie das. Aber mich interessiert nur nicht, was alle andern Frauen interessiert. Also Sie können ruhig sein.«

»Ich habe meinem Vater schwören müssen, daß ich es niemandem verrate. Es ist zur Zeit noch ein zweiter berühmter Musiker in Venedig. Allerdings ihn nach Wagner zu nennen, ist Gotteslästerung, – Verdi!«

Margherita schien von dieser Mitteilung sehr eingenommen. Sie trat näher an Italo heran:

»Ah, Maestro Verdi! Das ist sehr gut! Wissen Sie, wie lange er bleibt?«

»Wie es heißt, nur wenige Tage.«

»Und Sie kennen ihn?«

»Ich kenne ihn gut. Mein Vater aber ist sein bester, man kann wohl sagen, sein einziger Freund. Haben Sie etwas übrig für diesen alten Verdi?«

»Ich bin Sängerin. Man urteilt ihn jetzt ein wenig vorschnell ab.«

In diesem Augenblick fanden sich einige Gäste zu dem Paar, die den Namen des Maestro gehört hatten, und es entspann sich eine damals in Italien häufige Unterhaltung, wobei von den Konservativen Wagner, von den Fortgeschrittenen Verdi in Grund und Boden geflucht zu werden pflegte. Diesmal waren die Fortgeschrittenen bei weitem in der Mehrzahl und der Maestro hatte keine Partei.

Der sehr pariserische Corteccia, eine gepflegt-blasse Erscheinung mit blondem Malerbärtchen, Musiker, Kunsthistoriker und Italos Freund, verstieg sich sogar zu dieser Gegenüberstellung: Wagner sei nicht nur der musikalische, sondern ebenso der dichterische, denkerische und menschlich-heroische Erfüller der Zeit ... Verdi, über dessen rein musikalische Qualitäten sich mehr als genug streiten ließe, das stilistische Unglück der italienischen Kunst. Anfangs ein halbroutinierter Stümper, später der notenschreibende geschickte Journalist des Risorgimento, habe er sich letztlich zu einer gewissen Höhe der Machart aufgeschwungen, die noch gefährlicher sei, weil sie die Brutalität und Gemeinheit des Stils verschleiere.

Der nachlässiggeschniegelte Kunstbetrachter schloß:

»Verdi, und nicht Rossini oder Bellini, hat die schöne originale Form unseres lyrischen Dramas vor den Augen Europas lächerlich gemacht. Seine Opern gleichen aufs Haar den Parodien auf die italienische Oper, die in den Varietés aufgeführt werden. Sie sind selbst nur Parodie.«

Die Dezorzi hatte diesem Verdikt sehr unzufrieden zugehört. Auf ihrer jugendglatten, harten Stirn zeigte sich zwischen den Brauen eine Falte, die unbedingt eine große Karriere verkündete. Sie zog den Shawl über die Schulter: »Sie sind sehr ungerecht, meine Herren: Ich glaube, Verdis Musik wird von Ihnen gar nicht recht verstanden. Schuld tragen die Sänger und in zweiter Linie die Kapellmeister, die sie entsetzlich schematisch aufführen. Eins, zwei, drei, vier! Nur schön im Takt. Diese Opern, glauben Sie mir, sind alles eher als tot. Ich stehe doch immerhin vier Jahre auf der Bühne und habe es gelernt, das Publikum zu fühlen. Wenn Verdi gespielt wird, da ›zieht es‹ durchs Haus wie bei keinem andern sonst. Da hören wir Sänger kein Husten, kein Reden, kein Rücken, selbst die Kinder sind still. Ich habe oft schon darüber mit Kollegen gesprochen. Es ist uns, als sängen die unten insgeheim jede Melodie mit. Und in nicht sehr wohlerzogenen Theatern tun sie es nicht nur insgeheim. Oh, meine Herren, die meisten von Ihnen sind gewiß große Musiker, aber hier urteilen Sie ganz unzulänglich. Ich will Ihnen übrigens beweisen, wie ganz anders unser alter Verdi auch auf Sie wirken kann. In wenigen Tagen führen wir ›La forza del destino‹ auf. Sie alle sind eingeladen.«

Italo, von der überlegten Klugheit Margheritas ganz berauscht, drehte schnell den Mantel nach dem Wind und entdeckte in sich eine Vorliebe für Verdi. Wild rauschte sein Blut durchs Herz, seine Zunge war gelöst. Er verwies Corteccia:

»Wenn Wagner mehr als ein Mensch ist, so tut man Unrecht, einen Menschen wie Verdi mit dieser überirdischen Macht umbringen zu wollen. Fräulein Dezorzi hat ein unübertreffliches Wort gefunden. ›Es zieht‹, wenn die Musik Verdis gespielt wird. Wohl sind seine Texte puppenhaft, seine Wirkungen abgegriffen, aber er ist ein Rhythmiker, eine Seele von einem Rhythmiker.«

Italo eilte ans Klavier und bewies am zweiten ›Traviata‹-Finale, das er auswendig kannte, mit voller Wucht der Finger und des Pedals seine Behauptung. Aber während er spielte, ging es ihm weder um seine Behauptung, noch auch um den verteidigten Autor, sondern um Margheritas Bewunderung für sein Können.

Sie trat zu ihm, und er wiederholte das Stück, indem er es in eine andere zur ersten sehr fremde Tonart hinüberwarf. Ganz leise sang sie mit, und Italo, der jetzt erst aus der früheren Betäubung recht erwachte, fühlte, wie ihre Seelenkörper sich in der außerirdischen Sphäre der Musik durchdrangen.

An Bianca durfte er nur die Erde erleben. Und die Erde tat weh mit ihren unbeugsamen Ursachen und Folgen. Nun schwelgte er, nun war er im pflichtlosen Raum der Schönheit dieser Einzigen nah, die alle übertraf und die nur er verstehen konnte.

Seine wagnergesalbten Finger fanden (woher auf einmal?) immer mehr von diesen plastischen Weisen, als wären sie nie geschrieben worden, sondern lägen seit Erschaffung der Welt vorhanden und fertig in den zwölf Stufen der Oktave.

Leise sang die Dezorzi mit. Er spürte neben sich ihren schwachen Parfümduft, die Gestalt, die nur eine faltenwerfende Form des Kleides zu sein schien, er sah ihre ausstrahlenden, mageren Hände und wußte:

›Ich habe sie mit Klängen zu mir gezogen.‹

Dieser Ungetreue ahnte in diesem Augenblick nicht, daß er nicht nur Bianca betrog, sondern auch Richard Wagner.

Was Margherita empfinden mochte, daran dachte er nicht, es war ihm fast gleichgültig, denn jetzt erlebte er eine neue, unleibliche Vermählungswonne in einem Reich ohne Verantwortung.

Allgemein wurde Italo für die Art seines Klavierspiels mit Lob überhäuft. Man hatte bisher nur gewußt, daß er ein glänzender Geiger sei. Jetzt fand man, er wäre der geborene Pianist. Man beschwor ihn sogar, Liszt, der ja auch in Venedig weilte, um Rat anzugehen.

Durch seine Verliebtheit, durch seinen Erfolg war das sonst unsicher-hochmütige Wesen Italos ganz verwandelt. Plötzlich redselig und überzeugungsvoll, warf er Sentenzen in die Unterhaltung und herrschte sehr bald in diesem Kreise von Menschen, die zumeist reifer waren als er. Da er so jung war, hübsch, begeistert, ließ man ihn auch gerne und ohne Widerstand gewähren. Solche Feuer sind nicht gefährlich.

Nur eines machte ihn unruhig. Von Margheritas Mund war ihm kein Lobeswort gefallen. Sie schien nach der Szene am Klavier weder von seinem Können, noch von seiner Erscheinung und den witzigen Aussprüchen besonders hingerissen zu sein. Nachdenklich und präokkupiert schwieg sie, oder sprach leise mit ihrer Mutter, die den Eindruck eines abgerichteten dicken Tieres machte und reglos, abgebrüht und verlegen zugleich, auf ihrem Sitz thronte. Wäre Italo nicht allzusehr vom eigenen Wein und seinem wachsenden Liebesgefühl berauscht gewesen, hätte er bemerken können, daß sein erregtes Benehmen, seine laute Vorherrschaft Margherita verletzten. Sie verließ sogar den Raum, in dem er um ihretwegen brillierte.

Später fand er sie wieder allein in einem der kleineren, antiquitätenbeladenen Salons des venezianischen Palazzos. Er hoffte, irgendein beglückendes Wort, welchen Inhalts wußte er nicht, aber ein entscheidendes Wort von ihr zu hören. Doch sie fragte nur mit vollkommener Gleichgültigkeit gegen den jungen Menschen, dessen benommene Pupillen sie anstarrten:

»Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?«

»Oh, Sie machen mich glücklich, Fräulein Dezorzi!«

»Da Ihr Vater ein guter Freund des Maestro Verdi ist, könnte er ihn nicht veranlassen, unserer Aufführung seiner Oper beizuwohnen? Es wäre mir sehr wichtig.«

»Soviel ich weiß, ist Verdi ein äußerst schwieriger Mann, der das Theater, vor allem aber seine eigenen Stücke in letzter Zeit meidet. Auch zeigt er sich prinzipiell nirgends öffentlich. Ich verspreche Ihnen aber, daß ich alles tun werde, um Ihren Wunsch zu erfüllen. Hier meine Hand!«

Italo erschrak, als er Margheritas Hand faßte. Sie war kalt wie bei allen blutarmen Frauen.

»Es ist mir sehr wichtig«, sagte sie noch einmal und lächelte und sah ihm fest in die Augen. Und wieder lag auf Italos Sinnen die tiefe Narkose ihrer Wirkung.

Gegen Ende des Abends saßen alle im großen Musiksaal. Jetzt führte Graf Balbi die Unterhaltung. Dieser Schöngeist und Sammler war, wie die Eingeweihten wußten, einer der gewiegtesten Kunsthändler Italiens. Da die venezianischen Edelleute des achtzehnten Jahrhunderts, auch solche, welche die allerberühmtesten Namen trugen, höchst persönlich in öffentlichen Spielhäusern die Bank gehalten und mit steinerner Grandezza den Goldrechen gehandhabt hatten, mochte Graf Balbi seinen Privatberuf für nicht minder standesgemäß ansehen.

Er richtete sein gedehntes Wort an die Dezorzi:

»Verehrteste Margherita! Haben Sie niemals daran gedacht, im Umzug unseres schönen venezianischen Karnevals mitzuwirken?«

»Als ich jung war, habe ich mirs gewünscht.«

»Als ich jung war. – Meine Herrschaften, haben Sie diesen Ausspruch grausamer Selbsterkenntnis gehört? – Oh meine Liebe! Sie müßten es tun! Unser Venedig ist die einzige Stadt der Welt, wo das Fest, die Verkleidung, die Mummerei eine ununterbrochene Tradition und noch einen lebendigen Sinn hat. In anderen Städten ist das alles eine leere Farce, hier nicht. Uns steckt das Festefeiern ehrlich im Blut. Es ist mein Traum, diesen schönen Zug unserer Natur zu fördern und zu beleben. Darum habe ich auch ein Komitee des Karnevals gegründet. Ich will vor allem die höheren Stände, die sich schon fast seit einem Jahrhundert zurückgezogen haben, wieder zur Teilnahme anregen. Schönste Margherita! Ich habe eine Idee für Sie, etwas Entzückendes, Einzigartiges!«

»Ist eine Komödiantin, deren Beruf ja die Verkleidung ist, für Ihre Absichten die Richtige?«

»Bei Ihnen ist das etwas ganz anderes, Margherita Dezorzi! Sie sind die Muse selbst! Sie haben uns heute das Glück bereitet, die wunderschönen Canzonen und Balladen unserer musikalischen Vergangenheit vorzutragen. Ich werde Ihnen dafür ewig dankbar sein. Aber während Ihres Gesanges ist mir diese Sache eingefallen.«

»Welche Sache?«

»Ich habe da drinnen einige wunderbare Stiche. Sie stellen zeitgenössische Szenen und Figurinen aus den allerersten Opern dar, die im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts in unserer Stadt aufgeführt worden sind. Claudio Monteverdi, der größte Musiker seiner Zeit, hier in Venedig gestorben, ist der Komponist einiger dieser Uropern.«

Jemand rief:

»Hallo! Hat den der Marchese Gritti schon gekannt?«

Man benützte die Gelegenheit zum Lachen. Graf Balbi nahm aber keine Notiz davon:

»Die berühmteste Oper Monteverdis, von der ich auch die meisten Abbildungen besitze, hat zwar ihre erste Aufführung in Mantua erlebt, aber das tut nichts. Ich spreche, wie Sie selbst schon wissen werden, von seinem ›Orfeo‹. Sie werden sich, liebste Margherita, die Figurine der Eurydice ansehen. Es ist dies eine so reizende Verschmelzung von Antike und Barock, daß Sie bei Ihrem hohen Kunstsinn ganz bezaubert sein werden. Wie würde Sie dieses Gewand kleiden, von allen Frauen, die ich kenne, einzig Sie!«

Balbi brachte einige dieser Stiche. Man war wirklich erstaunt über die Grazie der Zeichnung, über den Edelmut der Gewänder. Nicht Komödianten konnten es gewesen sein, deren Körper diese zarte Pracht ertrug. Ernst vertiefte sich die Dezorzi in die Bilder. Der Graf wandte sich wieder zu ihr:

»Sehen Sie diese Gruppe! Orfeo mit der Leier schreitet voran, Eurydice folgt ihm, den Schleier vors Antlitz haltend, und Pluto sieht ihnen bärbeißig nach. Die Eurydice hätten wir für diese wunderschöne Gruppe des Umzuges am sechsten Februar. Seit einer Stunde wäre auch der Orfeo gefunden, unser Freund Italo. Ich glaube, ich finde allgemeines Einverständnis.«

Balbi wurde akklamiert, Margherita und Italo schwiegen.

»Und Pluto?« fragte jemand.

»Ich denke, daß wir aus unserer Gruppe Pluto weglassen, oder besser, ersetzen. Es wäre vielleicht kein übler Gedanke, wenn man den alten, unglücklichen Komponisten, Monteverdi selbst, enttäuscht seinen Helden nachsehen ließe. Ich stelle diesen Einfall natürlich nur zur Erwägung.«

»Und diesen Komponisten und Erzvater der Oper müssen Sie selbst geben, Graf«, rief dieselbe Stimme.

»Ich lehne die Zumutung, Fräulein Dezorzi unglücklich nachzublicken, keineswegs ab. Übrigens habe ich auch einen Porträtstich Monteverdis. Die historische Treue wird nicht leiden. Ich sehe diesem Maestro tatsächlich ähnlich. Wie leider ein älterer Herr dem anderen ähnlich sieht.«

»Herrlich, die Gruppe ist fertig«, stellten einige Raschbegeisterte fest. Balbi lockte:

»Auch besitze ich einige alte Sammet- und Brokatstoffe, die nicht übel sind. Ich weihe sie Ihrem Kostüm, Margherita. Sie sollen diese Stoffe haben. Für die Königinnen unserer Zeit würde ich sie nicht hergeben. Sie aber sollen sie haben. Ich bitte um Ihre gnädige Entscheidung.«

Die Erwähnung der Brokate erst schien auf die Dezorzi Eindruck zu machen. Feierlich schmiegte sich der Körper der Sängerin in die Schmeichelei fremder Herrlichkeiten. Ihr Gesicht prüfte eine Sekunde lang die Maske der Eurydice. Dann sagte sie:

»Ich weiß nicht. Wir müssen das noch einmal besprechen.«

Mit diesen Worten gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Ehe Italo nur einen Laut zu ihr hätte sprechen können, stieg sie schon über das Brett in die Gondel. Die abgerichtete Mutter folgte ihr umständlich und sperrte sie mit ihrer gezierten und doch durchtriebenen Art breit von der Welt ab. Diese Tochter und die stumme Mutter waren ein undurchdringliches Paar.

Das Ruder klatschte in die Nacht des Wassers, die Herren der Gesellschaft rissen den Hut vom Kopf und sahen beim Schein der gräflichen Windlichter, wie das Wunder verschwand.

 

Von den Gefühlen dieses einen Tages vollkommen zerschlagen, schwankte Italo nach Hause.

Er hatte das Versprechen erfüllt, das Biancas Großmut, ihr unbewußtes Mit-dem-Feuer-Spielen oder das Schicksal ihm abgenötigt. Er war in voller Kenntnis der Gefahr zu dieser Abendgesellschaft gegangen. Jetzt war es geschehen, wogegen er sich in den letzten Tagen noch schwach gewehrt hatte: Er liebte Margherita. Bis in den letzten Lebenswinkel schmerzte und beseligte ihr Bild. An Widerstand war nicht mehr zu denken.

Was wird geschehen? Wird die Karnevalsgruppe zustande kommen? Wie soll er vor die arme Bianca treten?

Er war vor Angst, Sehnsucht, Liebesfeuer, Reue nicht fähig, sich auch nur den nächsten Tag vorzustellen. Nur eine Hoffnung noch: Die Last der mahnenden Konflikte in den Schlaf werfen zu können!

Aber auch dieser Schlaf des Leichtsinns, heute zum erstenmal löschte er das Gewissen nicht aus. Immer wieder fuhr Italo stöhnend ins Dunkel auf. Unten im großen gedämpften Raum ging Verdis Freund, sein Vater, laut, ruhelos und verlassen auf und ab.

 

Am nächsten Vormittag schon lag ein Brief des Grafen Balbi auf Italos Tisch, der ihn zu einer dringlichen Besprechung in bewußter Karnevalsangelegenheit einlud.

III

Ich erkläre, daß ich ein begeisterter Anhänger der Zukunftsmusiker sein will, unter einer Bedingung allerdings, daß ihre Musik kein System und Theorem sei, sondern Musik.

Aus einem Brief Verdis an Arrivabene

 

Die Insel der Giudecca, der Stadt Venedig südlich vorgelagert, hat im Winter die schönste Morgen- und Vormittagssonne. Kenner Venedigs wissen, daß der langgestreckte, von fünf Kanälen durchschnittene Südstrand der Giudecca mit seinen verborgenen Gartenanlagen in den ersten Monaten des Jahres bei gutem Wetter den Charakter einer Riviera annehmen kann.

Diese Gärten, meist in Besitz oder Pacht reicher Engländer, sind sehr wohlgehalten, haben lange Glashäuser, dichte Weinlaubgänge, mit kleinen Muscheln statt Kieses bestreute Wege, und auch während des Winters bewahren sie das dunkle Grün einiger Palmenarten, der Myrtenbüsche und Zypressen.

Einer von den Gärten, ›Eden‹ oder ›Il Paradiso‹ genannt, zeichnet sich durch besonders schöne Treibhäuser, Lauben, Anlagen, Rebengänge, durch die hübsche alte Gärtnervilla und eine Strandpromenade aus, welche entlang der schadhaften Mauer wandert, die mit Geröll und Ruin in die seichte Lagune stürzt. In der Mitte dieses Strandweges, von Zypressen flankiert, steht ein luftiger durchbrochener Holzpavillon mit umlaufender Bank im Innern. Hier, insbesondere im Winter, pflegen oft ein paar ältere Herren zu sitzen und stumpf vor Sonnengenuß in die Lagune hinaus oder in den ›Gazzettino‹ hineinzustarren.

In dem stillen Venedig, über dem nicht der Schrei des Geräts, sondern nur der kurzlebige Schrei des Menschen steht, ist dies der stillste Ort, auch schon deshalb, weil nur wenige Kinder mit Bonnen und Müttern dieses Paradiso in Erfahrung gebracht haben.

Hieher in diesen Pavillon, den der Maestro schon seit dreißig Jahren kannte, pflegte er auch jetzt von seiner nutzlosen und qualvollen Arbeit an der ›Lear‹-Oper zu entfliehen.

Seine Qual, die irrend-unsicheren Gedanken lösten sich, wenn er auf die Lagune hinaussah, die mit ihrem fast unzugänglichen Spiegel wie ein durchgewetztes Kleid die Blöße des ungeheuren Sumpfbodens bedeckte, von der Giudecca fort an dem langen Lidoriegel, an Malamocco und Pellestrina vorbei bis zum unsichtbar verschwimmenden Abschluß der Chioggiainsel hin.

An dem ersten Februartage des Jahres, eine Stunde vor Mittag – die Sonne brannte fast sommerlich – geschah es, daß in dem Pavillon mit der weiten Lagunenaussicht Maestro Verdi den Patienten Doktor Carvagnos, Mathias Fischböck, kennenlernte. Diese Bekanntschaft wurde selbstverständlich durch den schönen blondhaarigen Knaben vermittelt, den der Maestro schon einmal gesehen und in seinem dunkelsten Herzen nicht wieder vergessen hatte.

Es heißt, daß alle Italiener Kinderfreunde sind. Bei Giuseppe Verdi kam zu dieser Eigenschaft der Rasse noch das Blut des Landmanns. Die Tragödie seiner frühen Mannesjahre, der Verlust von Frau und Kindern, war nie und nimmer überwunden, sie blieb geradezu das bindende Element, das alle Verwandlungen seines Lebens geheim miteinander verknüpfte. Wie ein ewiger Orgelpunkt stand das Leid der Kinderlosigkeit über diesem Leben.

Die zweite Ehe mit Giuseppina Strepponi, der Sängerin, war eine einsame Kameradschaft geblieben. Die allertiefste Berührung und Erkennung blieb ihr darum versagt.

Beim Anblick von Kindern kannte dieser als hart gescholtene Mann wohl die neidischen, sehnsüchtigen Gefühle einer Mutter, die um die ihren gekommen war.

Der kleine Hans sammelte ein wenig abseits von seinen Eltern die Muscheln des Weges in ein Säckchen. Sein Spiel hatte etwas Still-Gedrücktes, wie es alle Kinder zeigen, die unter den mißlichen Verhältnissen des Elternpaares zu leiden haben.

Die Mutter des Kleinen, die reizlose Deutsche, war gar nicht so unschön, wie sie auf den ersten Blick schien. Irgendein strenger Wille, eine asketische Absicht vielleicht oder ein Leid zwangen sie, alles zu tun, um weniger vorteilhaft zu wirken, als es möglich gewesen wäre. Ihre großen Augen waren angstermüdet in das Bild des Mannes versunken, der neben ihr auf der umlaufenden Bank des Pavillons saß, und zwar in der Mitte des Halbkreises, so daß der Maestro, der sich am Ausgang niedergelassen hatte, die Leute sehr gut beobachten konnte.

Als ein kleiner Wind sich erhob und für einen Augenblick die Sonne verschwand, wollte die Frau eine Decke über die Knie des Gatten breiten, er aber schien über diese Absicht zornig zu werden, worauf sie ohne Widerspruch das Tuch wieder gefaltet auf die Bank legte.

Jetzt erst fiel dem Maestro der Doktor Carvagno ein, er erinnerte sich der Frau und des Knaben, wie sie vor dem Tor eines Hauses gewartet hatten. Dieser junge Mensch also war krank. Nichts aber verriet die Art der Krankheit. Er hustete nicht, war eher breitschultrig als von lungenleidender Magerkeit; das einzige, was auf ein Übel schließen ließ, schien die übergesunde Rötung der Wangen und ein unbeherrschtes Zittern zu sein, das seine Beine von Zeit zu Zeit überfiel.

Der sonst bei aller Menschlichkeit sehr hochmütige Verdi, der es sich wohl überlegte, wem er die Auszeichnung eines Blickes zuteil werden ließ, konnte von der Gestalt Fischböcks sein Auge nicht abwenden.

Vielleicht war es die auffällig blonde Haarfarbe, die Vater und Kind, beide im gleichen Goldton trugen. Der Maestro wurde von blonden Menschen immer angezogen. War es der Bürger römischen Landes in ihm, den das wunderschöne Haar des Barbaren reizte, war es der langobardische Ahnherr seiner Blutmischung, der angesichts einer vergessenen Heimat die Augen aufschlug?

Aber nicht nur dieser Goldton zog ihn an, das Gesicht des Fremden war so eigenartig, daß es den Betrachter nicht entließ.

In dem Augenblick, wo uns ein Gesicht begegnet, haben wir einen Eindruck, der wie ein chiffriertes Telegramm unsere künftigen Beziehungen zu diesen Zügen vollkommen enthält. Was hellere Zeiten dereinst vermögen werden, wir können die Chiffren dieses Eindrucks noch nicht lesen.

Fischböck hatte das Gesicht eines jüngeren Schullehrers. Dieses Urteil brachte der erste Blick. Denn die scharfgezeichneten etwas kleinen Organe in diesem Antlitz trugen das Mal der Verkniffenheit und Pedanterie. Auch waren sie durch seltsam tiefe Falten miteinander verbunden, die zwar nicht auf Krankheit deuteten, aber auf einen lebensabgewandten Charakter und nimmer hätten glauben lassen, daß der Mann sein sechsundzwanzigstes Lebensjahr knapp überschritten hatte. Dieser Kopf zerfiel in zwei vollkommen getrennte Wesenheiten, die auseinanderstrebten, die Harmonie nicht wollten: Der obere Teil, die wunderbar herrschende, scharf abgedachte Stirn und die Augen eines bedeutenden Menschen. Die untere Partie, Mund und Kinn, eng zusammengedrängt, mißachtet, unfroh, als stünde sie der Entwicklung der Stirne im Weg. Hier gab es nur Kampf und keinen Ausgleich. Fischböcks Gesicht, das unverkennbar abweisend war, hätte niemals die Sympathie des Maestro geweckt, der, bis zum letzten Tag seines Lebens mit sich selbst unzufrieden, durch nichts mehr verletzt wurde als durch die Selbstsicherheit eines anderen.

Aber über Stirn und Augen des jungen Deutschen lag noch etwas mehr als der Stolz eines (vielleicht törichten) Selbstbewußtseins. Ein Licht lag über ihnen, nicht im Gleichnis nur wird das gesagt, nein, ein wirkliches, sichtbares Licht, aus inneren, verzehrenden und irren Strahlen gesponnen. Vielleicht war dieses Licht die Krankheit Fischböcks, und zugleich der Grund, warum der widerstrebende Sinn des Maestro einen ähnlichen Mitleidskrampf spürte wie damals, als in der Stube des Theaterdieners von La Fenice der Krüppel seine wehmütigen und kampflustigen Arien sang.

Jetzt näherte sich das Kind, ganz bewußtlos vor Spiel, dem Platze Verdis. Eine der roten spitzen Muscheln fiel aus seiner Hand und rollte davon. Der Bub lief der Muschel nach und stolperte dabei über des Maestro Füße, die in ländlichen, vorne abgedeckten Stiefeln staken. (Oh, zu ihrem Mißvergnügen konnte Peppina dem Hasser alles Eleganten diese groben Bauernstiefel nicht abgewöhnen.)

Verdi hob das Kind auf, das schon den Mund verzog, und tröstete es mit einem deutschen Satz, den er aus den zehn Vokabeln, die er kannte, drollig zusammensuchte. Warm und gewonnen blickten die Eltern.

War es der deutsche Satz, war es die Stimme, war es das reizende, abendsonnenhafte Lächeln in den Augenfältchen, (»engelsholdes Lächeln des Alten« nannte es die Sängerin Romilda Pantaleoni), war es die Würde des Menschen, die eine solche warme Wirkung übte? Die junge Frau sprang auf und eilte herzu, den fremden Herrn von dem Kind zu befreien. Aber der Maestro hatte den Knaben an sich gezogen und sagte das deutsche Sätzchen:

»Jetzt ist gut. Jetzt ist gut!«

Dann sprach er die Mutter französisch an und lobte ihr Kind. Die Eltern dankten beide.

Fischböck sprach fließend und vollendet italienisch:

»Sie reden deutsch, das ist selten unter Italienern.«

»Nein, nein! Ich habe auf meinen Reisen ein paar Worte aufgeschnappt. Aber da Sie vollkommen italienisch zu sprechen scheinen, Herr, werde ich mich hüten, Ihnen den Rest meiner Vokabeln preiszugeben.«

»Ach, Sie kennen also Deutschland?«

»Kennen? Das ist zuviel gesagt. Ich bin einige Tage lang in Wien, in Berlin, in Dresden und Köln gewesen. Deutschland ist groß und das ist wenig.«

Nachdem das Gespräch also angeknüpft war, verstummte es. Die Augen Fischböcks hingen an dem Unbekannten. Er hatte niemals ein Bild Verdis gesehen. Aber der Ruhm, die Angesehenheit eines Hauptes läßt in geheimnisvoller Schwingung die Luft erzittern, die es umgibt. Der Maestro merkte, daß der junge Deutsche mit den hochmütigen Zügen nur aus Respekt nicht weitersprach.

Sein erfahrenes Auge schätzte die Fremden ab und erkannte, daß Last von Armut auf ihnen lag, von Armut allerdings, über die er sich nicht klar war. Er wünschte die noch ganz steife Bekanntschaft fortzusetzen und erkundigte sich danach, ob die jungen Leute nur vorübergehend oder ständig in Italien lebten.

Mathias Fischböck antwortete, als wäre er froh, einmal mit einem Fremden sprechen zu können:

»Wir leben schon mehr als fünf Jahre, seit unserer Hochzeit, in Venedig. Wir sind also keines von den unangenehmen Pärchen, die hier nur ihre Flitterwochen erledigen.«

»Und der Kleine? Wie soll er erzogen werden? Was wird er einmal sein, Deutscher oder Italiener? Haben Sie schon einen Entschluß gefaßt?«

»Das ist in der heutigen Welt und Zeit gleichgültig. Solange ich es kann, will ich darüber wachen, daß er von den Scheußlichkeiten unserer Kultur und Erziehung verschont bleibt.«

»Ich habe kein Recht, Sie zu beraten. Aber ich finde nicht, daß es gleichgültig ist. Wir sind Nationen, und wenn wir nicht vollständig Wurzel und Charakter verlieren wollen, müssen wir das Besondere in uns wahren und fortentwickeln. Sonst kommt nur ein gebildeter Mischmasch heraus.«

Fischböck zog eine ungeduldige Grimasse:

»Nationen? Dieser moderne Nationalismus ist nichts als eine Verschwörung der Rassendefekte zur Abwehr ihrer Gesundung. Ich sehe Ihre Nationen, mein Herr, nirgends und den Mischmasch überall.«

»Und warum leben Sie in Venedig?«

»Das hat einige Gründe. Ich gehöre einem sogenannten freien Beruf an und bin folglich gezwungen, mit meiner Familie in einem weniger kostspieligen Land zu leben als es Deutschland ist. Zweitens tut Venedig meiner Gesundheit gut ...«

Verdi fragte etwas zaghaft mit einem Blick auf des Deutschen Knie, die wieder von jenem unbeherrschten Zittern ergriffen wurden:

»Sind Sie krank?«

Der junge Musiker und seine Frau beeilten sich mit der Antwort sehr. Beide sprachen durcheinander, als müßte etwas vertuscht und der Frager zugleich beruhigt werden:

»Krank? Das ist nicht das richtige Wort. Im Gegenteil, ich fühle mich jetzt gerade so wohl wie noch selten. Es hat noch kein Arzt eine wirkliche Krankheit an mir gefunden. Ich bin im Grunde kerngesund. Meine Lungen sind prächtig, alle Organe sind prächtig. Es ist nur dieses verfluchte, sinnlose Fieber, das mich etwas herunterbringt.«

»Ich habe gehört, daß es nervöse Fiebererscheinungen geben soll.«

Agathe Fischböck nahm diese Bemerkung des Maestro entzückt auf und mit einer hohen Stimme, die alle Worte einzusaugen, statt auszuströmen schien, versicherte sie:

»Dein Fieber, Mathias, ist gewiß nervös, wie der Herr es sagt! Doktor Carvagno meint dasselbe.«

Mathias nickte vollkommen überzeugt zu den Worten der Frau:

»Es ist der böse Geist, der sich immer dem in den Weg stellt, der die Wahrheit zu sagen hat.«

Der Maestro, der den Sinn der letzten Worte nicht verstanden hatte, forschte weiter:

»Sie wollten mir noch einen Grund für Ihre Entscheidung, hier zu leben, nennen?«

»Wohl! Venedig liegt fernab. Es ist nicht von dieser Zeit.«

»Was heißt das?«

Das Schulmeistergesicht verwandelte sich in ein Schwärmerantlitz von seltsam mittelalterlichen Zügen, in die manches Bösartige gemischt war:

»Ich muß ganz weg sein aus diesem verfluchten Jahrhundert, wenn ich meine Aufgabe fertigbringen soll.«

Der Maestro wurde sehr ernst. Die großartigen Zeitverfluchungen, die sich in den letzten Jahren häuften, waren ihm wie jedes Zeichen der Schwäche und Unlust an der Welt zuwider. Wohl war er selbst ein Dichter des Schmerzes, aber dieser Schmerz war seine Empfindung vom objektiven Leben und nicht ein bloßes Leiden am eigenen Wert und Unwert. Auch verletzte ihn, den Leidenschafts-Dramatiker, jedes übertriebene Wort im Gespräch. Sein guter Geschmack wehrte sich gegen den Satz, den Fischböck gesprochen hatte, wenn er auch noch immer seinen ganzen vermessenen Sinn nicht verstand:

»Warum beschimpfen Sie unser Jahrhundert? Es hat uns Menschen vieles Gute, ja Herrliche gebracht.«

»Was für Herrlichkeiten sind das, wenn ich fragen darf?«

»Sie sind jung, Signor, und ich bin alt. Sie haben vielleicht mehr gelernt als ich. Ich hingegen habe das Jahrhundert seit den zwanziger Jahren wachsen sehen. Noch heute fühle ich mit ungläubigem Staunen die mächtigen Unterschiede. Meine erste Reise im Postwagen von Parma nach Mailand dauerte fast einen ganzen Tag. Heute reise ich in ein paar Stunden nach Paris. Meine ersten Arbeiten mußte ich bei Talglicht erledigen. Heute beginnt sich schon, wie es den Anschein hat, die elektrische Flamme durchzusetzen. Als ich meinen ersten Brief schrieb, mußte ich wochenlang auf Antwort warten. Heute kann ich in einem Tag ans Ende der Welt kabeln und eine Rückdepesche erhalten. Sie, junger Herr, kennen es nicht anders, und darum verachten Sie diese riesigen, ich sage, diese weltbeglückenden Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts.«

»Ich sehe nicht, daß die Welt durch ihre technischen Fortschritte glücklicher geworden ist.«

»Das ist die Schuld der Welt, das heißt der Menschen, die nackt geboren werden, und deshalb alle Albernheiten immer wieder von Anfang an selbst abhaspeln müssen.«

»Hat dieser verdammte sogenannte Fortschritt nicht das Geistige im Menschen abgetötet, verdorben?«

»Ach! Ach! Geist hat es immer gegeben, Eisenbahnen nicht.«

»Ein schöner Tausch!«

»Darf ich Ihren Namen wissen?«

»Fischböck!«

»Oh, das ist nicht leicht auszusprechen. Sehen Sie, Herr Fischböck, als ich in meiner Jugend der Zucht der Pfaffen entlaufen war, gab es ein großes Wort, das Erbteil der französischen Revolution, das uns begeisterte: ›Vernunft.‹ Heute hängt diesem Wort ein riesiger Zopf über den Rücken. Dafür kann man in allen Feuilletons und Zeitungsartikeln das Wort ›Geist‹ und ›Geistigkeit‹ lesen. Glauben Sie mir: Auch diesem Geist wird ein Zopf wachsen.«

»Aber Sie werden mir doch zugeben, daß unsere Kultur im Sterben liegt?«

»Wieso tut sie das?«

»Wir haben in keinem europäischen Lande eine Kunst mehr.«

»Soweit ich mir über die Literatur ein Urteil erlauben darf, hat Manzoni, der Dichter eines wahrhaft göttlichen Buches, noch vor wenigen Jahren gelebt. Victor Hugo lebt noch. Zola und Tolstoi schreiben Werk auf Werk. Das ist nur mein bescheidener Einblick, denn ich lese nicht allzuviel.«

»Zola und Tolstoi sind kritische Schriftsteller und keine wahren Schöpfer.«

»Vielleicht, Herr Fischböck, haben Sie darin ein schärferes Urteil als ich. Aber eines werden Sie selbst wissen, daß in diesem Jahrhundert die Musik auf den Gipfel geführt wurde.«

Der Maestro sagte das, wie jemand, der seine ungetrübte Überzeugung ausspricht, die von der ganzen Welt geteilt wird und also niemandes Widerspruch erregen kann. Er sah beruhigt zu Boden. Fischböck aber geriet bei dem Worte Musik in große Aufregung. Er sprang auf. Seine Frau sah ihn verzweifelt an, als dächte sie: Jetzt ist das Unglück geschehn. Er aber trat näher zum Maestro:

»Musik? Wer hat die Musik auf ihren Gipfel geführt?« Wie ein Jäger mit gespanntem Gesicht wartete Fischböck auf die Antwort, um sie niederzuknallen.

Verdi ließ eine gewisse Zeit verstreichen, dann sagte er leise, als ob es ihn eine Überwindung koste:

»Beethoven und Wagner!«

In diesem Augenblick verzerrte sich Fischböcks gotisches Mönchs-Gesicht zu einer asiatischen Haßfratze, er lachte auf, preßte die Hand auf sein schlagendes Herz und lief draußen vor der sonnüberschmolzenen Lagune auf und ab, als wolle er irgendwelche Zeugen für seine Erkenntnis anrufen. Als er sich gefaßt hatte, blieb er vor dem Maestro stehn. Der aber hob nicht den Blick, sondern rückte in einer gebieterischen Art zur Seite, worauf sich Fischböck sehr gehorsam und höflich setzte. Dann aber bellte er:

»Beethoven und Wagner?! Eben diese Meister sind die Mörder der Musik.«

»Da Sie selbst Musiker zu sein scheinen, müssen Sie mich belehren, Herr Fischböck!«

 

Mathias Fischböck starrte geradeaus. Wortlos arbeitete sein Mund, schweigend zerkaute er ungenügende Formeln. Mit der hohlen Hand schöpfte er Luft, als müsse er ferne flüchtige Geister an sich raffen. Und mit Mühe, wie ein Mensch, der sein heiligstes, tausendmal durchdachtes, unerschöpfliches Wissen in wenigen blassen Worten preisgeben soll, begann er:

»Einst war die Musik rein, sie, der Engel des Erdenlebens. Nebeneinander gingen die Stimmen, einsam und in sich selbst gekehrt wie die Sterne, die einer vom andern nichts wissen, jede eine klar-umfassende melodische Periode in der Ordnung. Harmonie war für Gott da, für den Menschengeist nur ein Stück Architektur erkennbar ... (Verzeihn Sie, ich kann's nicht anders ausdrücken) ...

Es kam der Humanismus und mit ihm das freche Ich, die eingebildete Person, die nichts anderes ist als nie zu befriedigende Genußsucht. Die entgötterten Stimmen stoben auseinander. Statt in der unendlichen übermenschlichen Ordnung zu kreisen, verkamen sie in zwei mageren Systemen: Melodie und Baß. Das heißt Melodie war ja gar keine Melodie, sondern ein leerer Reiz, ein Jodeln mit bequemen Intervallen in den für die Plebs angenehm festgehaltenen Tonarten und Geschlechtern. Der Satan fuhr in den Baß. Er hörte auf, wahre Stimme zu sein, und wurde Sitz des Tiers, des Geschlechtstriebs, des nackten Rhythmus', also des wahrhaft bösen Prinzips. Anfangs gestand man sich den Genuß als Ursache und Zweck der Musik fröhlich ein. Dann aber war das achtzehnte Jahrhundert zu Ende und Beethoven erschien. Gewiß, ein Erzengel. Aber der Engel des Abfalls, Luzifer! Er hat den Höllensturz der Musik vollendet, indem er sie, wie es so schön heißt, befreite. Ja, vom Sternengesetz hat er sie befreit und dafür an den menschlichen Zufall geschmiedet. An das Zwielicht der aufgeblasenen Eitelkeit, des Zornes, der Brunst, des Selbstbetrugs hat er sie gebannt, an all das, was sich selbstbesessen ›Ich‹ und ›Seele‹ nennt. Beethoven ist der Erfinder dieser ›Seele‹ in der Musik. Gab es ein unreines vordringliches ›Ich‹ bei Bach? Jetzt aber wird dem Pöbel in allen Konzertsälen der Welt billig Seele verkauft, die Seele des Herrn Liszt zum Beispiel ... Die Folgen sieht man ...«

Der Maestro, dem dieser Gedankengang ungeheuerlich erschien, wurde dennoch von irgend etwas darin berührt. Er versuchte sich über die verrückte Lästerung des jungen Menschen klar zu werden:

»Sie hassen und verachten, wenn auch auf originelle Weise, wie alle Deutschen den Italianismus in der Musik. Ich bin, weiß Gott, kein gelehrter Historiker, wie der große Erzvater Fétis, aber soviel habe ich schon verstanden, daß Sie in Ihren Worten, Herr Fischböck, den Verfall der Musik von der Entstehung der Arie, der Monodie herleiten. Hier auf diesem, auf italischem Boden wurde Musik der Kirchen-Macht entführt, so herrliche Früchte sie auch in der gregorianischen Gefangenschaft des A-cappella-Stils getragen haben mag. (Ich selbst, sehen Sie, halte Palestrina für den allergrößten Meister, den es je gegeben hat.) Doch sie wurde entführt, und als das Madrigal abgestorben war, als das erste ›Recitativo‹, die erste ›Aria‹ erklang, war sie neu- und wiedergeboren. Eine andere Musik als Arien-, als Opern-, als Inhaltsmusik gibt es seit dieser Zeit nicht mehr. Und Sie glauben nicht an Nationen, da doch Ihr Haß gegen die moderne Musik ein verborgener Nationalhaß zu sein scheint. Ja, wir haben die Gesangsmelodie, die Arie, die Opernmelodie erfunden, mit ihrer einfachen, bescheidenen Begleitung, und das ist eine große Tat unserer Geschichte, die wir siegreich gegen die Tendenzen des Nordens durchgesetzt haben. Vielleicht ist, wie Sie behaupten, die Oper ein Abstieg. Mag sein! Aber seit etwa dreihundert Jahren gibt es in allen Genres der Musik nichts anderes mehr als Oper. Gut! Die Oper ist eine plebejische, wenn Sie wollen, eine angewandte Form. War aber der liturgische Gesang nicht auch eine angewandte Form? Gibt es, wie eure Weisen es fordern, überhaupt eine absolute Musik? Nein! Das ist eine unmögliche Forderung! Wenn ich Sie recht verstanden habe, hassen Sie an Beethoven nichts anderes als die Oper. Seine Symphonien sind ja auch nur wortlose Opern, melodramatische Vorgänge ohne Bühne, statt in Akten in Sätzen. In der Neunten muß er sogar ein regelrechtes Finale eingestehn. Ach! Wozu all das Geschwätz! Es verwirrt nur! Wir Italiener sind arme, naive Eingeborene. Ihr Herren aber habt zu viel Geist, viel zu viel Geist!«

Sehr erstaunt blickte Mathias Fischböck den alten Herrn mit seinem großen Borsalinohut, dem dunkelbraunen Winterrock und den eckigen Bauernstiefeln an, der eher wie ein treuer Landarzt als wie ein Künstler aussah:

»Sie sind Musiker, mein Herr?«

»Gott bewahre! Ich bin Landwirt, wenn man übertreiben will, Gutsbesitzer! Nur in meiner Jugend habe ich mich mit Musik, allerdings bloß mit Gesangsmusik befaßt.«

»Aber Sie haben unglaubliche Kenntnisse ...«

»Oh! Die Wissenschaft ist auf Ihrer Seite, Signor Fischböck! Doch eines müssen Sie mir noch erklären. Ich habe immer gehört, Richard Wagner sei der Retter der Musik, ihr gewaltiger Erneuerer, der sie von dem trivialen Gelichter der Rossini, Meyerbeer und Verdi befreit hat, der sie zu ihren polyphonen Quellen zurückführt ...«

Fischböck schrak zusammen:

»Polyphonie ... Wie? ... Ich bitte, sprechen wir nicht von Wagner. Schon der bloße Name ist mir unerträglich. Ich hasse ihn wie nichts auf der Welt ... Polyphonie nennen Sie das? Effektvoll aufgeplusterte Mittelstimmen ... Er der Retter? ... Um Gottes willen! ... Dieser Erzgötze des Ichs! Sagt der Baalsdienst, der mit ihm getrieben wird, nicht alles?«

Und nach einer langen Pause fügte er ganz erschöpft hinzu:

»Die letzten Musiker waren Buxtehude und Bach.«

»Ein hartes Urteil und sehr entschwundene Daten!«

Das unnatürlich gerötete Antlitz des jungen Deutschen wandte sich voll dem Maestro zu:

»Wir kennen uns kaum eine halbe Stunde, mein Herr, und doch reden wir schon über die tiefsten und delikatesten Dinge. Sie verstehen es gut mit mir. Aber jetzt werden Sie mich vielleicht für einen Wahnsinnigen halten, wenn ich, ein Fremder, den Sie nicht kennen, dies zu Ihnen sage: Mir, mein Herr, ist es gelungen und wird es noch besser gelingen ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Doch eine solche Naivität leuchtete auf dem jung-alten Gesicht, daß aller Sarkasmus aus dem Wesen des Maestro verschwand und eine tiefe Verwunderung über diesen Menschen sich seiner bemächtigte.

Fischböck sah in die Lagune hinaus. Er fand noch immer die rechten Worte nicht.

»Oh, glauben Sie mir, lieber Herr ... Herr ...«

»Carrara! Nennen Sie mich Carrara!«

»Ja, Herr Carrara, es ist mir fast schon gelungen!«

»Was ist Ihnen gelungen?«

Mit unbeugsamem Trotz stellte der Deutsche seine Überzeugung aller witzelnden Feindschaft der Welt entgegen:

»Ich werde die Musik auf eine neue und reine Grundlage stellen. Doch darüber kann man nicht reden.«

Das Gesicht Verdis verschloß sich streng. Fischböck spürte es:

»Mein Herr Carrara! Ich habe nichts anderes gegen die Italiener als gegen die Deutschen. Die Italiener mit ihrer geradlinigen Einfalt sind sogar ehrlicher ... Aber, glauben Sie mir, es ist genug, genug! ... Ich bringe das, was kommen muß ... Wie schwer ist das zu sagen! ... Ach, was geht mich diese verfluchte Zeit mit ihrem Wagner-Gedudel an! ... Mich kennt noch niemand. Gott sei Dank! Ich darf frei sein und ohne Eitelkeit ... Aber sie ist schon fast gefunden, die verlorene, die neue, die Ich-lose Melodie.«

Ein verkrampfter Überschwang hatte den jungen Menschen ergriffen. War es sein Fieber? Die junge Frau, die in einer schönen Weise immer schwieg, warf einen flehenden Blick auf den Maestro, der ihm rätselhaft blieb. Fischböck – (sein verkniffener Mund zuckte) – ergriff die Hand des Unbekannten, zu dem ihn plötzlich eine jener schnell aufblühenden Sympathien zog, die wir in Momenten innerer Gelöstheit so leicht empfinden können.

Verdi sah in dieses fanatische Gesicht, das von Glauben an sich selbst glühte, von jener Selbstgewißheit, die ihm so selten zuteil geworden war, da ein harter, nie zufriedener Geist ihn weiterhetzte bis zur Verzweiflung. Und dieser halbe Knabe, arm, krank, ohne Namen, er war in dieser Minute erfüllt von solcher Gnade.

Der Maestro dachte etwas Ähnliches, was er bei Marios Gesang gedacht hatte: ›Dies ist vielleicht ein Genie.‹ Obwohl der Gedanke hier gänzlich unbegründet war und nichts für ihn sprach, konnte der Maestro ihn doch nicht von sich weisen. Eine Bewegung kam über ihn, väterlich und selbstverzichtend.

Fischböck wollte die verletzende Wirkung des Bekenntnisses zu sich selbst abschwächen:

»Halten Sie mich nicht für einen Schwätzer, Herr Carrara, oder für einen jener eitlen Propheten, die jetzt überall die Kunst reformieren. Ich will nicht um jeden Preis neu sein, nein, nein!! ... Mir geht es um weit tiefere Dinge ... Ich hasse nur den modernen, gestaltlosen Schmutz! ... Ich selbst bin nicht frei von ihm! ... Aber er muß ausgebrannt werden, und in mir vor allem! ... Ich will die Kunst befreien von der modernen Unform, dem Unverantwortlich-Subjektiven. Ich bin konservativ. Denn was die Alten selbstverständlich besessen haben, will ich uns wieder erringen ... Wir sind ja auf den Hund gekommen. Das einfachste Können fehlt diesen Musik-Götzen. Glauben Sie zum Beispiel, daß einer dieser berühmten Opernkomponisten auch nur eine schulgemäße Fuge schreiben kann?«

Diese neue Überhebung zerstörte für eine Weile das Sympathiegefühl des Maestro. Aber dann kam ein Einfall, der ihm so lustig schien, daß er den Spott nur schlecht verbergen konnte.

Verdi trug immer ein Notenheftchen in grünem Einband bei sich. Dieses Heft benützte er aber fast nie zur Notiz seiner Einfälle, sondern als rechte Aufgabentheke. Er hatte nämlich die Gewohnheit, hie und da für sich eine Fuge zu schreiben. Wenn dann solch ein Heft voll war, warf er es fort, denn er schätzte die schlechteste Inspiration höher ein als die beste Mache und betrachtete das Fugenschreiben nur als Ölung seines inneren Musikmechanismus, vielleicht als selbstironische Buße für frühere Opernsünden. Hier in diesen Fugenheften, die leider alle verlorengegangen sind, hätte man verwunderliche Dinge finden können. Denn aus irgendeinem Lärm, aus dem Ruf eines Eisverkäufers, eines Barkenführers, aus dem Arbeitsgeschrei der Drescher und Winzer, aus dem Weinen eines Kindes, aus dem Tonfall eines flüchtigen Satzes holte er die Themen zu seinen Übungen.

Einmal – (diese Geschichte erzählt uns Professor Pizzi) – setzte er seine Nachbarn auf der Senatorenbank des Königreiches, den Freund Piroli und den ausgezeichneten Quintino Sella, in Verwunderung, als er auf vier solcher Notenblätter den Tumult einer erregten Parlamentsverhandlung in eine Doppelfuge umsetzte. Dieses historisch beglaubigte Stück soll sich im Besitz der Familie Piroli erhalten haben.

Es würden wohl viele Musikbeflissene empört auffahren, wollte man den Komponisten des ›Rigoletto‹ den größten Musiker seiner Zeit nennen. Der Schnellste war er jedenfalls. Denn mit einem Zug sondergleichen, unheimlich hingefetzt, wurde das innen oder außen Gehörte zum Notenbild. Dies war auch eine seiner wenigen Eitelkeiten, mit denen der Maestro hie und da die Leute zu verblüffen liebte. Blitzschnell holte er aus einem akustischen Vorgang den musikalischen Satz und nagelte ihn mit wilden Notenköpfen ins grüne Heft.

Das kecke Wort Fischböcks stachelte ihn auf. Dazu kam noch sein Patriotismus, der dem Deutschen beweisen wollte, daß ein Italiener (denn mehr, als daß er ein Italiener sei, wußte der andere ja nicht), daß auch er nicht nur Unisonochöre zu machen verstehe, sondern das höhere Handwerk wohl beherrsche.

Langsam zog er das grüne Heft hervor und sah sich wie ein Zeichner um, der das Objekt seiner Studien sucht:

»Herr Fischböck! Ich bin zwar nur ein Stümper und Italiener. Aber Sie sagen, daß niemand heute mehr eine Fuge zu machen verstehe. Ich bin bloß ein Liebhaber. Wenn Sie Nachsicht haben, will ich zwar nicht eine Fuge, aber ein kleines Fugato wagen.«

Er schlug das Heft von hinten auf, damit andere Notierungen ihn nicht als Fachmann verrieten, und zog den Bleistift hervor:

»Hören Sie dort die Kinder in dem kleinen Segelboot? Diese Mädchenstimmen! Das ist ein ganz brauchbares Thema: Fis-Dur. Sechs Kreuzchen! Sehen Sie, da steht es!«

Ein paar Minuten, und eine der kleinen Heftseiten war mit ausgeschriebenen Notenzeichen bis zum Rand gefüllt. Ohne Überlegung gehorchte der Rhythmus, in überbewußter Sicherheit setzten die Stimmen nacheinander ein, kamen die richtigen Werte untereinander zu stehen.

Fischböck schlug sich an die Stirn.

»Das ist unerhört, das ist famos! So etwas habe ich noch nicht erlebt. Und Sie, Herr Carrara, wollen kein Musiker sein?«

»Um Gottes willen, Signor? Musiker? Nein, nein! Als ich vor einem halben Jahrhundert am Konservatorium in Mailand schüchtern anklopfte, haben sie mich wegen Talentlosigkeit fortgeschickt. Ich bin ihnen dankbar dafür. Zu welch entsetzlicher Gelehrsamkeit hätte ich es sonst bringen können. – So bin ich Musikfreund geblieben und Landwirt geworden. Ein bißchen Praktik und basta! Wenn Sie aber einmal nach Hause kommen, erzählen Sie dann Ihren Landsleuten, daß die Italiener zwar musikalische Halunken sind wie eh und je, daß aber dort selbst die hinausgeworfenen Konservatoristen den Kontrapunkt nicht allzu schwer nehmen!«

Fischböck, ganz entzückt von der Persönlichkeit des Fremden, ja tief erregt, packte des Maestro Hand:

»Herr Carrara, ich will nicht zudringlich sein. Sie kennen mich ja nicht. Und Agathe sagt, ich wirke auf alle Leute als Flegel. Ich glaube selbst, daß ich unsympathisch bin. Aber Sie, Sie sind der erste Mensch seit langer Zeit, bei dem mir das sehr leid tut. Ich habe großes Zutrauen und eine Bitte an Sie: Wollen Sie zu mir oder darf ich zu Ihnen kommen? Ach, ich habe ja niemanden, der meine Sachen begreift. Ich glaube jetzt fest, obgleich Sie doch soviel älter sind als ich, daß Sie der Mann wären, mich zu verstehen. Gerade mit Ihnen möchte ich über vieles reden. Ich weiß, daß ich jetzt zudringlich war.«

Der Maestro zögerte einen Augenblick mit der Antwort. Er wußte aus langer Erfahrung, wie schmerzhaft es ist, sich mit fremden Schicksalen zu belasten. Er war zu alt, um nicht jede neue Beziehung zu fürchten. Was gab sie ihm? Verpflichtungen, Sorgen, Verstimmungen und früher oder später einen trüben Abschied mehr. In seinem Alter und Rang war er allzu einseitig immer wieder der Gebende und Schenkende. Und vor der undankbar-verletzenden Gleichgültigkeit der Jugend hatte er Angst. Da aber sah er Agathe Fischböck an. Sie hing mit großer Spannung an seinen Lippen, als könnte ihr kein besseres Heil widerfahren als seine Zusage. Sie lächelte in dieser Spannung flehentlich. Dieses Lächeln entschied die Frage: »Gut, ich werde zu Ihnen kommen!«

»Wann? Heute? Sagen Sie heute!«

»Heute nicht. Aber morgen! Geben Sie mir Ihre Adresse.«

Fischböck schrieb Straße und Hausnummer auf einen Zettel. Ehe er der Frau und dem neuen Bekannten seine feste Hand gab, sah der Maestro lange das Kind an und sagte:

»Aber du mußt auch dabei sein!«

 

Schnellen, heiteren Schrittes ging er davon. Auf den Fondamenta della Croce nahm er dann eine der einfachen Barken, die man hier Sandolo nennt, zur Überfuhr. Er setzte sich nicht auf den verwetzten Sitz, sondern stand die ganze Zeit aufrecht. Er wußte nicht, warum, aber beruhigende Stimmen des Gemüts führten Gespräche:

»Wenn sie wüßten, wie sie alle komisch sind mit ihrem welterschütternden Ich ... Ach, es kommt auf Kunst, auf Kunstschwatz und dergleichen nicht an ... Wir überschätzen den Unsinn, weil wir die wahren Beschäftigungen verlernt haben ... Dieser Mensch will sein Ich überwinden und quält dabei höchstwahrscheinlich das arme blonde Weib, das sich für seinen Narrentraum aufopfern muß ... Nun, ich bin neugierig auf diese objektive Kunst ... Wozu das? Früher wäre ich auf solchen Unsinn nicht neugierig gewesen. Ein konfuser Kopf ... Der Mensch macht auf mich Eindruck ... Vielleicht ist er der neue Mann ... Das Hauptunglück (ich weiß es schon längst) ist das Wort ›Kunst‹ ... Das ist voll Eitelkeit, voll falscher Ziele und Gefühle ... Leben muß man! ... Und leben heißt alle Schimären töten, immer wirklicher werden ... Der arme Wagner! ... Alle irren, alles ist voll Gespenster! ... Ach, ich müßte ihn doch besuchen! ... Aber so schimärenlos, scheint es, bin ich noch nicht.«

Die Fahrt ging an großen bauchigen Schiffen vorbei, die, unbeladen, mit rotem Tiefgang aus dem Wasser ragten.

Der Maestro überlegte jetzt mit Freude, daß einer seiner Lieblingspläne, die Gründung des Spitals in Villanova, wie die nachgesandte Post heute gezeigt hatte, sehr gut fortschreite. Dies war Wirklichkeit. Neue und jetzt beglückende Vorstellungen erwachten in seinem Geist. Er dachte an die verschiedenen Diät- und Verköstigungsklassen der Kranken, an die tägliche Ration von Brot, Nudeln, Polenta, Milch und Wein, an die Kosten der Normalportion, der chirurgischen Instrumente, des Operationsbetriebs, an die Zahl der Betten, an den Stand des Wartepersonals, an Ersparnismöglichkeiten, Aufbesserungen und hundert andere Dinge mehr.

In den Minuten dieser Überfahrt war er nicht der große Opernkomponist, der weltbelauerte Künstler, der seit zehn Jahren stumm war, und sich verhöhnt, verfolgt, übertroffen fühlte. Sein Herz schlug frei vom Druck der Unfruchtbarkeit, der Rivalität, des Ruhms. – Er war der alte kinderlose Mann, der durch Glück und Arbeit ein großes Vermögen erworben hatte, das er nun mit kluger Berechnung für die Armen anlegte.

Er beschloß noch heute Doktor Carvagno aufzusuchen, und unter seiner Führung das Ospedale civile zu besichtigen. Vielleicht konnte er ein oder die andere Einrichtung für das kleine Krankenhaus von Villanova übernehmen.


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