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Siebentes Kapitel

Der Augenblick

I

In den letzten Jahrzehnten war das alte und hochberühmte Fest des venezianischen Karnevals schon sehr in Verfall geraten. Der große Umzug von der Riva zur Piazza fand zwar noch immer statt, aber nicht mehr von lebendigem Übermut geleitet, sondern nur weil eine lahme und greisenhafte Erinnerung mächtiger Zeiten noch immer als alljährliches Gespenst am buntgeflickten Faschingsdienstag erwachte.

Der große Tag des Karnevals, der einmal alle Stände der Stadt in Orgien, Duellen, Abenteuern, Liebesbegegnungen, Intrigen, Gelagen, Morden, Ehebrüchen, Komödien – mit Feuerschein, Maskentanz, Liebesschrei, Bacchusruf und dem schwarzen Schall rücklings ins Wasser gestoßener Körper vereint und entzweit hatte, dieser Karnevalstag war zu einem Jahrmarktsfest, zu einer Art gewöhnlicher Volksbelustigung herabgesunken.

In diesem Jahre dreiundachtzig, dank dem Komitee des ästhetischen Grafen Balbi, sollte es anders werden. Nicht nur Margherita Dezorzi und zwei andere Bühnenkünstlerinnen von Rang hatten zugesagt, bei den Gruppen des Umzugs mitzuwirken, sondern sogar einige Damen des Adels waren den Überredungskünsten des Veranstalters erlegen.

Selbstverständlich täuschte sich Balbi vollkommen über die Art dieses Festes, das aus Trunkenheit, Geilheit und Galgenhumor heraus gefeiert werden will, das, so heidnisch unheilig es ursprünglich auch ist, durchaus zur Welt des katholischen Kirchenjahres gehört, und mit der Lockerung des rituellen und gläubigen Lebens seinen Sinn, wenn nicht verloren, so doch verwandelt hat.

Man stand am Ausgang jenes Zeitalters, in dem die bürgerliche und künstlerische Welt vollkommen die Gegenwart unter den Füßen verloren hatte. Während mit den eckigen Bewegungen einer seellosen zukünftigen Menschengestalt die Maschine das Erdenbild verwandelte, schwelgte diese romantische Bürgerwelt in gemalten oder gelebten Tableaus voll kämpfender Ritter auf zum Himmel gebäumten Rossen (die wild-gekränkte Gesichter schnitten), voll faltiger Fahnen und wandelnder Mönche, die im schlechtgepinselten Qualm ihrer Fackeln die verschwimmenden Gesichter versteckten. Piloty in München, die Historienmaler überall hatten ihre Leinwand mit staubwirbelnden Affären längst verrauchter Schlachten überfüllt, Makart in Wien prangende Züge in »echten Kostümen« veranstaltet. Hinter dieser Pracht – (heute weiß das jeder Akademieschüler herzuleiern) – stand aber keine Notwendigkeit, kein Leben, sondern nur die Hohlheit dekorativer Genießer.

Graf Balbi war schließlich nichts anderes. Sein Unternehmungssinn, seine Prachtliebe hatte den Karnevalsumzug erwählt, einem makartschen Ehrgeiz zu frönen.

Die Gruppe des ›Orfeo‹ war beschlossen, die Kostüme und Masken in einigen Sitzungen festgesetzt worden. Margherita war wie immer, wenn es sich um Proben oder Vorbereitungen eines Theaterspiels handelte, sachlich, klarsinnig. Sie zeigte kein weiteres Interesse an Italo, aber da sie eingewilligt hatte, seine Eurydice zu sein und keinen andern mehr auszeichnete als ihn, überließ er sich seinen schmachtenden Träumen.

Wie hochmütig war seine Liebe zu Bianca gewesen. Kein Dienst, kein Opfer der sich restlos verschenkenden Frau schien ihm zu hoch. Wie demütig war seine neue Liebe zu der Sängerin, die seine Blicke nicht im geringsten verstehn wollte und ihn bestenfalls wie einen Kollegen behandelte.

Italo, der unter Lügenlasten keuchend, täglich ein paar Stunden bei Bianca verbrachte, fühlte, daß es so nicht mehr weitergehe. Vor dem wachen Herzen der liebenden Frau rettete er sich in halbechte Melancholien, in ununterbrochenes Stöhnen, Seufzen und in plötzliche Tränenkrämpfe, die er in ihrem Schoß weinte.

Durch solche Leidensgebärden sind Frauen am ehesten über die wahren Ursachen zu täuschen.

Eines Morgens aber, als er mit niegefühlter Seligkeit, Margherita auf der Welt zu wissen, erwachte, zweifelte er nicht länger, daß der Knoten sofort zerhauen werden müsse. Es gab nur zwei Wege!

Der eine: Bianca alles gestehn! – Aber wie konnte er das tun? Sie trug ja ein Kind von ihm. Er wollte sie nicht morden.

Und dann! War dieses Geständnis seine Pflicht? Wohl war all seine Liebe für Bianca abgestorben. Doch das neue Feuer trug er noch im Herzen versperrt, nichts war geschehn und die Dezorzi sah ihn kaum an.

Er wählte den anderen Weg, den leichteren, die Gemeinheit. Bianca pflegte selten auszugehn, das wußte er. Sie litt seit längerer Zeit an einer nervösen Platzangst. Menschenansammlungen zumal und laute Straßen ertrug sie nicht.

Es war keine Gefahr da, daß sie ihm unerwünscht begegnen könnte. So erfand er diese schulbubenhafte Ausrede, die ihn von ihr befreite, seinen Sinnen Urlaub gab, das neue Glücksgefühl auszukosten und durchprickelt zu warten, wohin das Schicksal ihn verführen werde. Indem er alle vornehmen Regungen in sich niederwürgte, erzählte er an diesem Morgen der Frau eine alberne Geschichte, daß sein Bruder Renzo in Rom gefährlich erkrankt sei, er selbst auf Wunsch seines Vaters noch heute dahin reisen müsse, und nicht wisse, ob er vor zehn Tagen heimkehren werde.

Bianca, sonst so mißtrauisch, so ahnungsvoll, glaubte diese Geschichte aufs Wort. Sie fühlte nur eines, daß sie Abschied nehmen müsse von dem Geliebten. Das Leid dieses Abschieds für wenige Tage verblendete sie ganz.

Als Italo ihr Haus verließ, spie er vor sich selber aus, denn er hatte freimütigen Tones wie noch nie gelogen. Er fühlte sich durch diese erste große Lüge moralisch besudelt. Dennoch war ihm leicht wie schon seit Monaten nicht. Die Entscheidung war gefallen, der böse kleine Schritt geschehn, der notwendig zur Tragödie führen mußte. Besinnungslos wollte er weitergehn, und wenn sie ihn auch niemals erhören würde, die Gegenwart, das Antlitz, die Huldgestalt, das Genie der Sängerin anbetend genießen.

Unter dem Vorwand der Orpheusgruppe betrat er noch am selben Tag die Wohnung der Dezorzi. Die stumpfe Matrone empfing ihn, er mußte dreißig Minuten lang in einem ganz ungemütlichen Zimmer eine lahme Unterhaltung schleppen. Diese halbe Stunde machte ihn unglücklich. Wofür hatte er Bianca aufgeopfert?

Endlich, als hätte sie plötzlich geheimen Auftrag erhalten, erhob sich die Mutter und führte ihn zu Margherita. Immer wenn er sie sah, krampfte sich seine Verliebtheit zu einem panischen Schrecken zusammen, daß er zu stottern begann wie ein Idiot.

Sie saß an einem Tischchen über den Kalender gebeugt und hatte aus einem für ihn nicht ersichtlichen Grund den vierzehnten Februar rot angestrichen. Dann sagte sie nach rasch abgetaner Begrüßung:

»Am zwölften ist die Premiere der ›Macht des Schicksals‹. Haben Sie Ihren Vater schon ersucht, Maestro Verdi ins Theater zu bitten?«

»Mein Vater hat mir alles versprochen. Ich hoffe bald Antwort zu bekommen.«

»Das ist gut.«

Die große und überaus schmale Gestalt stand von dem Schreibtisch auf:

»Diesmal werden Sie mich entschuldigen. Aber Sie sehen, ich muß zur Probe.«

Italos Gesicht verfiel. Er wurde weiß vor Unglück. Jetzt schickte sie ihn fort, nachdem er kaum ein Wort gesprochen hatte. War er nicht gekommen, ihr alles zu sagen, zu bekennen, daß er um ihretwillen das Weib, das ihn liebte, verlassen hatte, daß er zum Verbrecher an einer großen Seele geworden war? Sein Mund arbeitete vergebens an einem toten Wort. Er wandte die Augen ab. Margherita besann sich anders:

»Es tut mir leid, daß ich fort muß. Aber Sie können mich ja begleiten. Ich gehe zu Fuß ins Theater.«

Gehorsam und glücklich ging er an ihrer Seite. Er war mundtot und blöde. Es gelang ihm nicht, sich zu erklären. Gerade diese Wirkung ihrer Person schien die Dezorzi aber besonders zu befriedigen.

II

Mein Name ist sehr alt und lästig. Ich peinige mich selbst, wenn ich mich nenne.

Aus einem Brief Verdis an Boito

 

Doktor Carvagno hatte den Maestro durch das öffentliche Krankenhaus der Stadt Venedig geführt, das dank seiner unnachgiebigen Tatkraft aus dem mäßigen Kleinstadtspital der Scuola San Marco in eine moderne Anstalt von mächtigem Umfang verwandelt worden war. Verdi, der die trüben, halbverfallenen Mauern des Ospedale, die den Rio dei Mendicanti entlanglaufen, oft schon mit Schaudern gesehen hatte, war sehr erstaunt, als er im Innern des Gevierts einen großen Park, saubere Küchen und große Krankenzimmer vorfand.

Carvagno, der den verehrten Mann mit dem Glücksgefühl, seine Leistung von klaren Augen gewürdigt zu sehen, durch alle Räume führte, ging eifrig auf jede Frage des Maestro ein, zeigte die Operationssäle, die Diensträume, die Küchen und Waschküchen. Mit Leidenschaft war Verdi bei der Sache. Über Einrichtungen, die ihm besonders zusagten, machte er Aufzeichnungen, und entwarf im Geist sogleich Briefe und Anordnungen, die er noch am selbigen Tag dem künftigen Kurator seines ›Spitals für mittellose Kranke in Villanova‹ zusenden wollte.

Nach einer Stunde sehr anstrengenden Rundgangs saß man im lichten Zimmer Doktor Carvagnos, dessen Fenster auf die Lagune hinaussahen und das zypressendunkle Bild der venezianischen Nekropolis, die Friedhofsinsel San Michele umrahmten.

Hier erkundigte sich der Maestro nach Mathias Fischböcks Krankheit. Vorher hatte er von der mittäglichen Begegnung auf der Giudecca erzählt. Der Arzt, der eine Zigarrenkiste nach langwierigem Suchen endlich aus der Lade zog, zeigte die angestrengten Augen eines sehr Kurzsichtigen:

»Ich will Sie nicht, Signor Maestro, mit irgendwelchen medizinischen Fachausdrücken ermüden. In allen Wissenschaften, vor allem aber in unserer rein praktischen heißt ein Name zumeist Verlegenheit. Der junge Deutsche leidet an einem ununterbrochenen Fieber, das schon einige Monate lang dauert, jedoch niemals besonders hohe Temperaturen erreicht. Die Ursache dieses Fiebers ist nicht klar. Soweit die Methoden unserer Untersuchung reichen, finde ich kein Organ wesentlich angegriffen, auch die Lunge nicht. Ich habe natürlich hundert Vermutungen, aber keine scheint mir genügend stichhaltig zu sein. Meine Kollegen würden mich wahrscheinlich steinigen, wenn sie hörten, was ich jetzt zu Ihnen sage: Vielleicht gibt es Erregungszustände des Körpers, die durch geistige Einflüsse hervorgerufen werden. Bei diesem Fischböck scheint es, als ob der ganze Lebensprozeß, ungeduldig geworden, in höherer Verbrennungstemperatur ablaufen würde. Eine feste Diagnose kann ich, wenn ich aufrichtig sein will, bisher noch nicht stellen.«

»Und die jungen Leute leben in Armut?«

»Auch daraus werde ich nicht ganz klug. Sie haben mir niemals ins Gesicht über ihre Verhältnisse geklagt. Und ich bin oft bei ihnen, aus einer Art Verpflichtungsgefühl, und dann, weil dieser Mensch mich interessiert: Ich bin sicher, sie hungern. Trotzdem können Sie sich keine Vorstellung davon machen, welche Vorsicht nötig ist, wenn man ihnen einige Lebensmittel ins Haus schmuggeln will. Geld würden sie einem einfach vor die Füße werfen. Sie sind stolz wie Hidalgos. – Wurden Sie erkannt, Signor Maestro?«

»Nein! Ich heiße in diesem Fall Carrara und bin Landwirt.«

»Ich schäme mich, daß ich immer unbefriedigende Auskünfte geben muß. Wahrscheinlich bin ich gar kein rechter Arzt, sondern nur ein wüster Kerl, der nicht nachgibt. Ein rechter Arzt weiß von vornherein den Namen der Dinge und was er vorschriftsmäßig zu tun hat. Mein Unglück ist es, daß mir die Krankheiten der Leute ungebührlich nahe gehen, sie reizen mich, sie fordern mich heraus. Ich kann das gar nicht erklären, verehrtester Maestro, bei mir gibt es wenig Kopfarbeit, aber auf einmal habe ich eine unbequeme Leidenschaft in mir, fast einen Schmerz ... ach, es ist niederträchtig, daß ich mich vor Ihnen wichtig mache.«

»Oh, ganz im Gegenteil, lieber Carvagno! Ich verstehe Sie sehr gut. Sie schildern Ihre Art von Inspiration. Ich verstehe.«

Einige Minuten später verabschiedete sich Verdi.

 

Wie er es versprochen hatte, erschien der Maestro am nächsten Nachmittag in der Wohnung von Mathias Fischböck. Diese Wohnung war nichts als ein ziemlich großer niedriger Raum, der durch einen Vorhang in eine Schlaf- und Wohnstube geteilt war. Gleich bei seinem Eintritt aber, ohne daß er sich über den Ursprung seines Gefühls hätte Rechenschaft geben können, verspürte Verdi eine merkwürdige Rührung. Es herrschte in der Stube ein fremdartiger und reiner Geist, der ihn ergriff, der ihn einen verwirrten Augenblick lang über Jahrzehnte weg den Gedanken fassen ließ, er besuche den jungen Wagner in Paris.

War dieser Einfall der Grund seiner Bewegung, war es eine verschwommene Erinnerung, die nicht Leben bekam, war es die Tatsache, daß er einen fürsorglich-gedeckten Tisch vor sich sah mit dem Teekessel darauf und einer großen Schüssel voll Bäckereien? Er hatte nicht erwartet, daß er als Gast würde empfangen werden, und jetzt, da ihn ein harrendes Zimmerchen, ein vorbereiteter Tisch erwartete, empfand er dies mit einer wachsenden Beklemmung.

Alles in diesem Raum hatte für ihn einen wesensfremden und darum unheimlichen Charakter. Es schien ihm, als grüße eine unverständliche Seele, stark und doch hilflos, ohne Heimat. Er selbst war bereit, liebend und sonder Vorbehalt, die fremdartige Seele dies eine Mal zu umarmen.

Jeder Gegenstand rings zeigte dem Maestro dieses Unheimliche und zugleich Rührende. Der weißgedeckte Tisch, das Pianino mit Noten und Büchern, das alte, hier vollkommen sinnlose Sternenfernrohr in der Ecke, ein Erbstück, das Fischböck immer mit sich führte.

Frau Fischböck schien eine große Vorliebe für Tücher und Deckchen zu haben. Überall, wo es nur anging, waren sie aufgelegt und gaben dem Zimmer eine altjüngferliche, sterbensergebene Eigenart.

Große Freude erfüllte den Sinn des Maestro, als der kleine Hans, ganz ohne Aufforderung, sogleich zu ihm ging und ihm als einem Bekannten die Hand reichte. Von Freunden fühlte er sich empfangen.

Mathias nahm ihm ehrerbietig den Mantel ab, das Auge Agathens war voll Vergnügen und der Knabe schleppte unerbittlich einige Spielsachen seiner Vorliebe herbei, um den Gast in ihr Geheimnis einzuweihen. Der Maestro war mit sich schrecklich unzufrieden, daß er nicht daran gedacht hatte, für Hans ein Geschenk mitzubringen.

Der junge Musiker ging in dem guterwärmten Raum im Überrock herum. Als er merkte, daß es dem Maestro auffiel, entschuldigte er sich:

»Nehmen Sie mirs nicht übel, Herr Carrara! Aber mich friert, und nie wird mir warm. Können Sie sich vorstellen, wie aufreibend bei meinem Zustand das Arbeiten ist? Doch um so besser! Mehr Reibung, mehr Funken!«

Und er reckte die Arme, während plötzlich seine Wangen sich unnatürlich färbten. Der vermeintliche Signor Carrara schüttelte den Kopf:

»Warum denn leben Sie im Winter in diesem kühlen, nördlichen Venedig? Italien ist so reich an Orten, wo jetzt schon der herrlichste Frühling blüht, und die viel weniger kostspielig sind als diese Stadt!«

»Denken Sie, ich mag nirgendwo anders leben als hier! Ich fühle mich hier sehr wohl. Ich will niemals fortgehen.«

»Man sagt, daß diese Magierin Venedig den Musikern besonders gefährlich wird. Eine Sage sogar erzählt, daß in uralter Zeit auf diesen Fluten und Fischerinseln die Musik geboren worden sei. Aber bei Ihren Grundsätzen und Theorien, Herr Fischböck, werden Sie durch Venedigs Musik keinen Schaden nehmen.«

»Ach, Herr Carrara, auch in mir wie in jedem andern Zeitgenossen sind ganze Riesenmengen schlechter Musik aufgestapelt. Ich verstehe sehr wohl den musikalischen Magnetismus dieser Stadt. Man läuft stundenlang durch die Gassen, man schaut betäubt in den großen Kanal oder auf die Lagune. Immer wiegt den Menschen, auch wenn er auf dem Festland steht, der Wassertakt. Nicht die klare Musik der Sterne, aber die chaotische des Wassers herrscht hier. Darum, weil ich sie immer vor mir habe, kann ich sie leicht überwinden. Nebel-Auf und -Ab, Durcheinanderwogen, Spiel der Formlosigkeiten, Wassermusik, ist das nicht alles Wagner? Der Alte weiß sehr gut, warum er immer wieder herkommt.«

»Ich kenne die Musik Wagners viel zu wenig, um darüber zu urteilen, lieber Fischböck! Aber sollten Sie diesem Meister wirklich so wenig verdanken, daß Sie ihn so sehr hassen können?«

Agathe Fischböck – der Dampf zischte aus dem Samowar – bat nun zu Tisch. Der Maestro konnte anfangs wiederum eine Befangenheit nicht leicht überwinden, wenn er daran dachte, daß diese armen Menschen sich seinetwegen in Ausgaben gestürzt hatten. Aber, da er so herzlich, so freimütig behandelt und aufgefordert wurde, aß und trank er selber freimütig, um seine Gedanken nicht zu verraten. Nur die Milch, die man ihm zum Tee anbot, wies er zurück.

Immer mehr wuchs seine Sympathie für diese Menschen und ein Gefühl väterlicher Besorgnis. Als das Mahl beendet war, lebte Behagen auf. Der Kranke fühlte sich wohl, wie schon lange nicht. Unbewußt wirkte die große Persönlichkeit Verdis auf ihn beglückend. Die Frau sah einen Freund gewonnen, einen vornehmen älteren Mann, aus dessen streng-gütigen Zügen die Verläßlichkeit selbst sprach. Sie war noch so jung. Und wieviel Verantwortung, drohende Schrecken, folternde Sorgen lagen auf ihr. Sie empfand die Gegenwart des Gastes wie eine beruhigend streichelnde Hand. Dieses helle bärtige Gesicht mit dem (auch in engem Raum) weitschweifenden Blick zog alles Elend an sich und löste es freundlich auf. Agathe warf ihre Last ab und sonnte sich wie ein Kind in diesem Antlitz. Noch mehr als Mathias fühlte sie die Bedeutung dieses Menschen. In ihrer überquellenden Dankbarkeit fand sie aber nur das ungeschickte Mittel, den Maestro unablässig zum Essen zu nötigen.

Fischböck reichte dem Gast ein Zündholz für die Zigarre:

»Länger, Herr Carrara, dürfen Sie es nicht mehr leugnen, daß Sie Musiker sind. Ich habe in den letzten Stunden immer wieder daran denken müssen, wie Sie, ohne einen Augenblick nachzusinnen, diese Kinderstimmenfuge aufs Papier geworfen haben. Ich lasse mich nicht schnell einschüchtern, aber das war ein Stoß für mich. Sie haben das im Handgelenk, was die geeichten Berühmtheiten unserer Tage längst verlernt haben. Und Ihre Notenschrift, die hat kein Dilettant.«

»Mein lieber Fischböck, das hat mit Musik gar nichts zu tun. Das ist ein Taschenspielerstück. Andere machen mit demselben Geschick Kartenkünste. Ich bin Gutsbesitzer. Reden wir nicht davon.«

»Nein! Nein! Sie haben eine Handschrift!«

»Es muß Ihnen doch lieber sein, daß ich kein Notenschmierer bin. Nach Ihren Prinzipien müßten Sie mich ja sonst verachten. Aber nicht, damit wir über mich reden, bin ich hierher gekommen. Ich möchte recht viel von Ihnen erfahren.«

»Meine Geschichte ist schnell erzählt!«

»Wie alt sind Sie?«

»Sechsundzwanzig!«

»Sechsundzwanzig«, wiederholte der Maestro langsam, als koste er die ihm so entlegene Zahl aus.

Fischböcks Gesicht legte die altertümliche Mönchsmaske an. Kindlichen Tones zog er die Summe seines Schaffens:

»Sechsundzwanzig! Jawohl! Aber bis zum fünfundzwanzigsten gilt nichts von mir. Meine wahre Geburtsstunde fällt in diesen Winter.«

Der Maestro dachte an sein eigenes sechsundzwanzigstes Jahr: ›Da habe ich gerade den ‹Oberto, Conte di San Bonifacio› geschrieben gehabt. Mein Gott, wie anspruchslos bin ich gegen diesen Jüngling hier gewesen.‹ Nach einer Weile des Schweigens sagte er:

»Da ich schon wie ein Richter Ihr Bekenntnis abnehme, frage ich weiter: Wo geboren?«

»In Bitterfeld, einer Stadt in Mitteldeutschland!«

»Bitterfeld? Campo amaro! Auf bittrem Feld! Glücklichere Taufnamen für ihre Städte konnten eure Vorfahren nicht finden?«

»Mein verehrter Herr Carrara! Diese Stadt heißt mit Recht Bitterfeld. Auch mir war sie nicht süß. Ich bin der Sohn des dortigen Stadtkirchenorganisten. Schon mein Vater, der seit drei Jahren tot ist, war den Spießbürgern nicht recht geheuer. Im heutigen Deutschland wird unsereins Alkoholiker oder Sonderling, oder gar beides zusammen. Mein Vater schrieb sein ganzes Leben lang an einem Geschichtswerk über ›Die thüringischen Stadtpfeifereien nach dem dreißigjährigen Krieg‹. Da er so ziemlich der einzige Mensch von Bitterfeld war, kehrte er seinen p. t. Mitbürgern die Kehrseite zu. Sie haben ihn verfolgt. – Und nun gar ich, das können Sie sich wohl ausrechnen. – Allzuviel Grund zum Heimweh habe ich nicht. – Meine Agathe hier hat übrigens ihre himmelblaue Bitterfelder Zukunft an der Seite eines reichspatentierten Assessors oder Pastoratskandidaten auch verspielt. Sie hat sich von mir entführen lassen. Finis! Das ist unsere ganze Biographie!«

Maestro Verdi hatte nicht viel Vorstellung vom deutschen Philisterium und seiner unerfreulichen Entwicklung seit 1870. Trotzdem war es ihm unbegreiflich, daß ein Mensch mit offenbarem Widerwillen von seinem Vaterland sprechen konnte. Der Italiener verstand das uralte deutsche Mißgeschick, den nationalen Selbsthaß nicht, der aus tragischer Unfähigkeit zu volkshafter Lebensgestaltung wächst. Noch in den Zeiten der hoffnungslosen Zersplitterung durch Fremdherrschaft und Kurienerziehung besaßen die Italiener eine urwüchsige Demokratie, die den Deutschen durch Bismarcks glückliche Kriege weniger denn je gegeben wurde. Eine andere Sache aber war dem Maestro wichtiger:

»Nehmen Sie meiner väterlichen Neugier diese Frage nicht übel, Herr Fischböck! Da Sie alle Beziehungen zur Heimat abgebrochen haben, wovon leben Sie dann?«

Dem Musiker wurde die Antwort sichtlich schwer. Flüchtigen Tones suchte er die Wichtigkeit dieses Themas zu verwischen:

»Ach, es geht schon. Ich habe so etwas wie einen Mäzen. Und außerdem werde ich mich jetzt nach Schülern umsehen. Ich hoffe auch, daß ich in einigen Wochen wieder gesund und strapazenfähig bin. Und sehen Sie, Herr Carrara: Agathe, sie arbeitet viel, macht allerhand wunderschöne Sachen ...«

Agathe nahm ihr Kind bei der Hand und verschwand im Nebenraum. Der Maestro sah diesem schweigsamen Mädchenwesen nach, desgleichen ihm noch nie begegnet war. Ging sie jetzt, weil sie sich ihrer Armut schämte, weil sie einem Lob, einer Frage auswich, oder einfach nur um die Herren allein zu lassen? Hinter dem Vorhang blieb es ganz still. Nicht einmal das Kind, dieses allzu ernste Kind, lachte und plapperte.

Fast mit einem Vorwurf wandte sich Verdi an den jungen Gatten und Vater:

»Erlauben Sie, Herr Fischböck! Sie sind Musiker, und ich bin sicher, ein sehr tüchtiger Musiker. All Ihre kritischen Ansichten jetzt beiseite; aber ich denke mir, daß ein junger Meister von Ihrem Geist, von Ihrer Einsicht in die Kunst in heutiger Zeit wohl sein gutes Auskommen finden müßte. Es gibt so wenig schöpferische Naturen. Und die Welt hungert wie niemals noch nach Musik.«

»Nun, nach meiner Musik hungert sie gewiß nicht.«

»Man müßte es auf den Versuch ankommen lassen. In Deutschland wird sich ein Verleger finden, der Ihre Sachen druckt.«

Fischböck empörte sich:

»In Deutschland? Im Liszt-Wagnerschen, orchester-schwulstigen Deutschland?? Oder im Deutschland öder Akademiker? Nein, dort findet sich kein Verleger für mich!«

»So wird er sich, wenn Sie wirkliche Musik schreiben, in Italien finden.«

In Mathias Fischböcks Auge funkelte es kurz auf. Es war derselbe begehrliche Blitz voll Schwäche und Hoffnung, den der Maestro an dem unglückseligen Sassaroli beobachtet hatte. Sofort aber wich diese Anfechtung einer ablehnenden Härte:

»Ich habe mich damit abgefunden. Ich schreibe nicht für die Zeit!«

»Glauben Sie an eine Nachwelt?«

»Das ist mir nicht weniger gleichgültig. Ich erfülle einfach in meinen Kompositionen das Wesen der Musik, wie ein Baum das Wesen der Natur. Mir wachsen ja auch die Haare und Nägel ohne Zweck und Publikum. Gerade so wächst mir meine Musik. Was die Welt damit anfängt oder nicht, geht mich nichts an.«

»Sie sagen, Ihre Zeit sei Ihnen gleichgültig! Aber hören Sie, mein lieber Fischböck, Sie haben vielleicht noch ein halbes Jahrhundert Zeit vor sich. Die Gleichgültigkeit wird Ihnen immer schwerer fallen.«

»Davor fürchte ich mich nicht. Denn ich will lieber gescheiter werden als dümmer.«

»Ihr Deutschen mögt eine höhere Auffassung des Erfolges haben! Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Musiker nicht wirken will. Musik ist keine Philosophie, keine Darstellung ewiger Wahrheiten, sonst würde sie nicht so schnell veralten. Sie ist, mehr als andere Künste, eine zeitgebundene Wirkung auf Menschen. Wie die Liebe ist sie ein seliger Umweg zur Befriedigung. Deshalb ist der Applaus, der einem Musikstück folgt, nicht eine Unzucht, wie die Modernen behaupten, sondern ein notwendiger Bestandteil dieses Musikstückes selbst. Man müßte ihn geradezu in der Partitur vorzeichnen. Ebensowenig wie die Politik ohne Massen, ist die Musik ohne Publikum denkbar.«

»Das bestreite ich ganz ergebenst, Herr Carrara! Es ist nur die herabgekommene Auffassung unserer Zeit, für die der schnelle Effekt alles ist. Die Welt geht unabhängig von Menschen ihren Gang, und ebenso der Kosmos der Töne. Müssen Ohren sein, damit Musik ist?«

Der Maestro dachte angestrengt nach, wo er schon einen ähnlichen Satz gehört habe. Endlich erinnerte er sich des Marchese Gritti, wie er am Weihnachtsabend vor der Büste Bellinis zu ihm gesagt hatte: ›Ihr Jungen alle, was ist das für eine Musik, bei der man zuhören muß?‹

Die Meinung des uralten Operngenießers stand in seltsamer Gleichung zu dem Grundsatz des jungen Asketen.

Verdi brach den Streit ab. Der Trotz Fischböcks hatte für ihn etwas Falsches, Unnatürliches. Wie wäre es denn möglich, Musik und Wirkung zu trennen! Das war nie und nimmer zu begreifen:

»Jetzt werden Sie mir dennoch gestatten, Freund, Ohr zu sein. Denn nach all dem bin ich wirklich gespannt, ein Werk von Ihnen zu hören!«

Fischböck, plötzlich unruhig werdend, begann die Voraussetzungen seines Schaffens zu erklären:

»Ich hasse, Herr Carrara, das Orchester, das alte mit seinen wiehernden Tuttiakkorden und hundertmal mehr noch das moderne schlammige mit seinem süßen Klangsumpf. Dieses neue Orchester mit der vorgegaukelten Vielstimmigkeit, die aber nichts anderes als gebrochenes Akkordwesen und ein ewiges uneingestandenes Tremolo darstellt, ist das Abbild des halben, modernen Menschen, der überwunden werden muß. Auch für Gesang-Stimmen mag ich nicht schreiben. Sie sind durch die Oper verdorben. Einige Chorwerke und Motetten hab ich in meiner Jugend freilich komponiert. So bleiben mir (außer der Form des Streichquartetts etwa) nur die temperierten Instrumente, Klavier und Orgel, in denen die Töne nicht bloß ein sinnliches, sondern auch ein geistiges, höheres Leben führen. Sehen Sie! Hier sind einige Manuskripte.«

Fischböck legte die Musikalien auf den Tisch. Es waren Toccata, Chaconne, Passacaglia oder auch nur Musikstück genannte Blätter, mit einer unendlich pedantischen Schrift, fast ohne Vortragszeichen und dynamische Anweisungen ausgefüllt. Nähere Titel fehlten. Die einzelnen Stücke waren nur numeriert. Die Tempovorzeichnung beschränkte sich auf die einfachsten Angaben und auf die Metronomziffer.

Schon äußerlich wirkten diese Seiten als Kampfansage gegen jeden dramatischen Stil.

Verdi liebte es nicht, sich durch Notenbilder täuschen zu lassen. Er forderte deshalb Fischböck auf, eine dieser Sachen zu spielen.

Der Deutsche setzte sich ans Piano und begann hölzern und eckig die Wiedergabe.

Beim zweiten Takt hielt der Maestro den jungen Menschen für einen Wahnsinnigen, beim zehnten für einen Schwindler, beim dreißigsten war er davon überzeugt, daß die schwere unaufgeklärte Fieberkrankheit Fischböcks all seine Urteilskraft zerstört habe und mithin auch an diesem Unding schuld sei. Am Schluß endlich fragte er sich selbst, ob seine Ohren schon so verkalkt und veraltet seien, daß er in diesem Opus nichts als ein regellos zufälliges Durcheinander von Tönen zu hören vermochte.

Die Stimmen des Stücks gingen nebeneinander her, als hätte jede einen anderen Komponisten. Immer wieder stießen sie wie durch einen Unglücksfall zusammen und dann entstanden Akkorde, daß die Ohren gellten. Manchmal klang das Tongebilde wie eine unfreiwillige Parodie auf das Wohltemperierte Klavien, manchmal wie eine eilige Etüde oder Fingerübung. An einer oder zwei Stellen sprang selbst dieses verbohrte Stück aus seinem starren Geleise und ein unterdrückter Schrei, ein menschlicher Schmerzenslaut rang sich los. Sogleich aber stellten die unangenehmsten Intervalle und die mißklingenden Akkorde, die gleichsam verbundene Augen trugen, das beleidigende Stimmgefüge wieder her.

War das wirklicher Wahnsinn, wars zerstörende Krankheit, höhnische Absicht, zu verwunden, war es die Taubheit des Maestro für neue Klänge? Doch als das Stück zu Ende kam, fand Verdi keine Spur von Zorn und Ärger mehr in sich. Die Ungereimtheit des Menschen, die reine Überzeugung, mit der er sie verfocht, die Hoffnungslosigkeit der Sache steigerten das Mitleid. Und mit dem Mitleid forderte dieser blinde Dienst am Vergeblichen Respekt heraus. Lange schwieg der Maestro, ehe er sein Urteil abgab:

»Sie haben gewiß vorher gewußt, Herr Fischböck, daß ich alter Mann dies hier nicht werde verstehn können. Da ich Sie für einen aufrichtigen und wahren Menschen halte, muß ich mir selbst die Schuld geben. Nehmen wir an, ich sei nicht nur alt, sondern sehr alt. Vielleicht gibt es heute schon oder wird es einmal Ohren geben, zu denen Ihr Stück sprechen kann. Ich allerdings habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie diese Ohren geschaffen sein müßten.«

»Herr Carrara, es ist ja klar, daß Sie nicht im ersten Ansturm meine Musik begreifen können. Vorerst müssen Sie sich von allen Klang-Vorurteilen freimachen.«

»Das werde ich kaum zustande bringen.«

»Bedenken Sie nur, wieviel man im Laufe der Zeiten in dieser Richtung gelernt hat.«

»Das ist wahr. Was jetzt schon veraltet klingt, hätte man in meiner Jugend als Ohrengraus ausgepfiffen.«

»Nun sehen Sie! In einiger Zeit wird auch diese Musik, die Sie heute noch erschreckt, selbstverständlich sein. Ich bin nur allzufrüh geboren.«

»Ich werde bald sterben. Meine Jahre sind soweit. Nach meinem Tode wird die Welt mancherlei erleben. Ich wünsche Ihnen, daß Sie noch bei Lebzeiten verstanden werden mögen.«

»Sehen Sie sich nur meine Musik an, Herr Carrara! Ihre Augen müssen Ihnen sagen, sie ist gut.«

»Gewiß! Die Bewegung Ihrer Noten ist prächtig anzuschauen. Wenn es darauf ankäme, könnte ich ohne Vorbehalt Ihr Anhänger sein.«

»Glauben Sie mir, Herr Carrara, wenn Sie's auch vorläufig noch nicht erkennen, es sind wirkliche Melodien.«

Diese Worte eines unsinnigen Selbstvertrauens erschütterten den Maestro:

»Melodien?« fragte er und schwieg.

Fischböcks Mund wurde noch lippenloser:

»Ich habe keine Angst. Alles, was ich schreibe, ruht auf strengen und durchdachten Regeln, ebenso wie die alte Musik. Wenn Sie mehr von mir kennen werden, so wird Ihnen die neue Melodie schon aufgehn. Wir sind alle verdorben.«

»Ich habe als Italiener gewiß eine beschränkte und nicht mehr zeitgemäße Auffassung der Melodie.«

»Was also nennen Sie Melodie?«

»Erklären läßt sie sich niemals, höchstens beschreiben. Die wahre Melodie ist meinem Gefühl nach dem Charakter und der Möglichkeit der menschlichen Stimme unterworfen. Selbst das Instrument kann nur Melodien bilden, wenn es den Gesang des Menschen nachahmt. Die Melodie ruht also auf den sanglichen Intervallen und auf den Gesetzen der Harmonie, die nicht verletzt werden dürfen. Dies ist eine dürftige Umschreibung, denn erstens ist das Theoretisieren meine Sache nicht und zweitens ist kein Gesprächsgegenstand überflüssiger und ergebnisloser als das Geschwätz über Musik ...«

»Die Gesetze der Harmonie? Die sind veränderlich.«

»Ohne Frage! Die Melodie ist an ihr Zeitalter gebunden. Sie hängt nicht wie Mahomets Grab im leeren Äther. Sie kann weder zeitlich noch räumlich unendlich sein.«

»Sie geben aber zu, daß ...«

»Ich gebe zu, daß Ihre Musik einmal, wenn die Menschen die dazugehörigen Ohren bekommen sollten, verstanden werden kann. Aber Sie selbst legen ja auf die menschliche Zustimmung keinen Wert!«

Fischböck senkte den Kopf. Der unbestechliche Asket, der die Götter seines Zeitalters ruhig verwarf und ohne Bedenken sich selbst überhob, sagte jetzt so kindlich und leise, daß des Maestro letzter Verdacht verschwand:

»Oh, ich wünsche mir sehr, daß drei oder vier Menschen verstehen könnten, wohin ich strebe.«

Da wurde das Antlitz des Gastes ganz weich:

»Wenn man älter wird, beginnt man, schon um der Verständigung willen, das Einfache zu suchen. Der Künstler muß sich nicht noch einsamer machen, als er schon von Natur aus ist. Auch Sie werden das lernen!

Und nun hören Sie, lieber Fischböck! Geben Sie mir eines oder das andere Ihrer Stücke da mit. Ich will sie studieren. Denn, wie gesagt, mein Ohr, mein Geschmack und ich selbst sind alt, sind rückständig. Alle Urteile über Kunst halte ich für falsch. Ein leichtfertiger Eindruck genügt mir nicht.«

Fischböck suchte die seiner Ansicht nach faßlichen Manuskripte aus. Er fühlte, daß ihm an dieses Gutsbesitzers Carrara Einsicht mehr gelegen war, als er sich selbst zugestehen mochte. Ehe die Schriften angenommen wurden, mußte der Musiker aber ausdrücklich versichern, daß sie noch in Abschrift mehrfach vorhanden seien.

 

Der Maestro sah sich wieder in der Stube um, die nichts Italienisches, nichts Weltläufiges, sondern etwas Kleinstadtsauberes, Kleinstadtenges hatte. Er sah das blonde Lehrergesicht mit den unjungen Falten und den brennenden Augen, diesen Menschen, der aus Verrücktheit, aus Fieber, aus Trotz, aus welchem Grund auch immer eine lächerliche Kunst schuf, die ihm allein genügen mußte. Und wiederum, widerwillig empfangen, trat ein Gedanke in den Sinn Verdis:

›Muß nicht ein Mensch von solcher Selbstgewißheit, ein Mensch von solch hochfahrendem Geist, der aus Haß gegen diese Zeit das ganz Unbekannte versucht, muß nicht ein solcher Mensch Größe haben? Wer sagt mir denn, daß meine alten Ohren recht haben müssen?‹

Die Frau, das Kind kamen aus dem Vorhang hervor. Der Maestro fühlte beim Abschied, daß Agathes Hand nicht von seiner sich lösen wollte, als erflehe sie ein Versprechen, sein verschworenes Einverständnis gegen den unsinnigen Schwarmgeist von Mann, gegen diesen geliebten Kranken, der täglich von ihr genommen werden konnte. Im Rausch des Fiebers und seiner Tollheit brachte er sich zu jeder Stunde, ohne an sie zu denken, in Gefahr. Sie war verurteilt. Fühlte es der Fremde?

Die Hand des Maestro gab ein Versprechen. Auch um des schönen und traurigen Kindes willen, das zwischen der Schwärmerei des Vaters und der schweigsamen Schwermut der Mutter ein unkindliches Leben führen mußte.

Was aber fehlte dem großen Park von Sant Agata mit seinen Alleen, englischen Rasenflächen, Bosketts und Lichtungen mehr als Stimme und Lauf eines Kindes? Greisenhaft waren die Wege immer gewesen, still und gesetzt, allzu mürrisch die Wipfel der alten Bäume.

III

O nahe nicht der Urne,
Die meinen Staub empfangen!
Mein Sehnen und Verlangen
Kühlt heil'ger Boden ab.

 ...
Warum mit leerem Stöhnen
Den Widerhall ermatten?
Ehre den trüben Schatten,
Und gönn ihm seinen Schlaf.

Aus der Heyseschen Nachdichtung des Gedichtes: ›Non accostar all' urna‹ von Jacopo Vitorelli, das Verdi im Jahre 1838 vertont hat

 

Leidend, mit schmerzenden Schläfen und erstorbenen Herzens saß an diesem Abend der Maestro vor dem Manuskript des ›König Lear‹.

Wie weitab lag Musik! Kaum verstand er es, daß er einmal geschrieben, Noten zu Harmonien und Rhythmen gefügt hatte, die jetzt allabendlich durch die angespannten Räume der Theater schwebten und schwangen. Wer war dieser Verdi? Er gewiß nicht! Ein Fremder, ihm ganz und gar unverständlich. Mit vollem Recht hatte er sich den braven Advokaten- und Notarsnamen Carrara beigelegt. Er fühlte sich jetzt nicht mehr Verdi als Carrara.

Von Genua war er geflohen, von Mailand, von allen Stätten, die ihm vertraut waren, wo gewohnte Gesichter und Stimmen ihn umhegten, hierher geflohen in diese gefährliche Stadt, um das Unmögliche zu vollbringen, um noch einmal sein allerletztes Werk zu versuchen, um allein zu sein, ganz allein mit sich selber, Aug in Aug. Nun entschleierte sich trotz allem Kampf, trotz wütendem Sichwehren die Wahrheit: Es ist zu Ende! Dann und wann hatte ihn eine kurze Hoffnung getäuscht, ein Sätzchen war gelungen, eine glücklich gefügte Verschlingung der Stimmen. Aber das war ja nichts als Nachhall, Echo einer erworbenen Praxis. Alle Eigenlüge half nichts. Die Fähigkeit war nicht mehr da. Wie der eines Laien erstaunte jetzt sein Geist darüber, daß es Leute gab, die ohne Mühe, voll flüssiger Phantasie, in wenigen Stunden ein paar Seiten mit Gebilden füllen konnten, die vorher nicht auf der Welt waren und nun ein unabhängiges wirkliches Leben führen.

Für immer wird ihm das versagt bleiben, wieviel Jahre ihm auch noch zugeteilt sein mochten.

Der Maestro sprang auf und begann seine gewohnte Zimmerwanderung:

›Und jetzt, gerade jetzt, wo ich soweit bin, wo ich mich herausgearbeitet habe aus allen Bedingungen, wo ich so viel weiß, so erfahren bin, – jetzt muß ich aufhören! Es ist, um rasend zu werden. Ich lebe noch, fühle mich dreißig Jahre alt, alle Kräfte sind in frischer Ordnung, Energie und Blut, und jetzt, Teufel, soll ich all das aufopfern, umkommen lassen, weil ich in meinem Kern tot bin? Nicht mehr wäre ich nun der plebejische Opernschreiber und Kabalettenmacher! Oh, ich würde es ihm schon zeigen, das Stärkste, Unwiderrufliche würde ich erfinden, das Vollkommene! Und jetzt, jetzt gerade ist es aus.‹

Wieder einmal blieb der Maestro vor dem versperrten Kasten stehn. Er riß sich aber los und wanderte weiter, weiter.

Irgendwo lagen die Manuskripte Fischböcks. Er war entschlossen, sie nicht anzusehn. Wozu? Er wollte dem Deutschen auf jeden Fall helfen. Dieser dreiste Unsinn aber würde ihn nur in Zweifel bringen und wütend machen.

Er konnte das Ehepaar und den Knaben nicht aus dem Hirn bringen. Immer wieder erhob sich das Bild des armen Zimmers mit dem weißgedeckten Tisch und der beklemmenden kleinstadtartigen Sauberkeit. Er sah das hektische Schulmeistergesicht vor sich, hörte das abgehackte, gesangfeindliche und schlechte Klavierspiel dieses Menschen, der mit Unverfrorenheit letzter Erkenntnisse die Kunstgiganten der heutigen Zeit abtat und nur Bach als seinen einzigen Vorgänger gelten ließ. So mancher Einwand gegen die Grundsätze Fischböcks fiel jetzt dem Maestro ein. Warum betitelte er seine Musik mit altertümlichen Namen wie Toccata und Passacaglia? Versteckte sich nicht hinter den großen Worten dieses mönchischen Kindes auch nur der zeitgemäße Snobismus, der des Senators satirisches Steckenpferd war?

Die Deutschen schienen doch eine unheilbar literarische Nation zu sein, eine Nation von strebsamen Schuljungen. Die gebildete Anspielung war ihr größter Stolz. Immer spielten sie sich vor irgendwelchen unsichtbaren Lehrern auf, nach deren Lob sie offenbar ihr Leben hindurch schmachteten. Die Mehrheit gab akademisch langweilige Aufgaben ab, die Minderheit kritzelte Fratzen und Lästerungen in ihre Hefte.

Fischböck war trotz seinem Haß gegen das eigene Volk ohne Zweifel durch und durch ein Deutscher!

Der Maestro fühlte den innigen Händedruck der Frau, Druck einer harten, abgearbeiteten Hand. Gewiß war das junge unscheinbare Geschöpf die wahre Heldin der Tragödie. Und in dieser Stille wurde die schweigende Agathe plötzlich lebendiger und wirklicher als Fischböck. Verdi hörte ihre hohe, ein wenig verschreckte Stimme fast körperlich. Diese Stimme schien Klagen in sein Ohr zu flüstern. Er erkannte das Schicksal einer verschwendeten Jugend: Harte Arbeit bis in die Nacht hinein, grausam unterjochtes Selbstgefühl, die ganze Verlassenheit einer Frau an der Seite eines Berserkers, der keine Augen für das Wesen hat, das er stets um sich sieht. Agathe war es, welche die verschollenen Bilder beschwor, die sich allmählich des Maestro bemächtigen sollten.

Wenn er aber an den Knaben dachte, schämte er sich, daß er ihm kein Geschenk mitgebracht hatte.

Plötzlich riß er sich zusammen. Er war nun einmal hier. Sein Leben durfte nicht mit einer Schmach enden. Es war noch nicht nötig, den Kampf aufzugeben.

Und wieder saß er, starrte aufs Papier und versuchte seine Sinne in die öde Heidelandschaft zu versetzen, wo Lear den Gewitterhimmel anklagt. Aber die Sturmnoten, die seinen Fingern geläufig waren, haßte er, sie bedeuteten nur die Wiederholung früherer Sturmmusiken aus ›Corsaro‹, ›Rigoletto‹, ›Aroldo‹. So ging es nicht.

Er legte den Kopf auf seine Arme. Eine merkwürdige Lähmung der Glieder, des ganzen Körpers kam über ihn. Der Maestro wußte aus Erfahrung, daß gegen solches Zerschlagenheitsgefühl nichts auszurichten war. Diese Müdigkeit, der keine Schlaf- noch Traumerlösung gegönnt war, mußte er oft ganze Nächte lang erdulden, denn der Schlaf, wie bei allen Menschen fortgeschrittenen Alters, nahm auch bei ihm ab, wurde kürzer.

Eine quälende Halbwachheit pflegte sich jetzt oft über ihn zu werfen wie ein Feind. Die unendlich vielen Bilder, die Erlebnis-Teilchen, die der alte Mann in neunundsechzig Jahren gesammelt hatte, stürzten wie ein gestauter Strom in solchen Stunden über das Wehr seines Beisichseins und rissen ihn mit sich. Es schien, als ob diese Müdigkeit nur ein Vorwand, nur ein Mittel des Stroms von noch nicht abgelebten, nicht erledigten Erinnerungen wäre, den Körper niederzuschleudern, den Willen wehrlos zu machen, um zuchtlos wieder auferstehn zu dürfen.

Vor Mattigkeit konnte der Maestro sich kaum erheben. Er wußte, daß diese innere Welt empordränge und nicht abzuschlagen sei. Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Licht zu löschen, und angekleidet, wie er war, sich auf den Diwan des Hotelzimmers auszustrecken.

Der Schein der Gaslaternen auf der Riva, der Brücken- und Schiffslampen schwebte im Raum und lag mit schwachen Quadraten und Balken auf Teppich und Gegenständen.

 

Der Zustand, der den Maestro in Besitz nahm, war kein Traum, nicht einmal Träumerei. Keinen Augenblick verlor der Daliegende das Zimmer aus den Augen, selbst wenn er sie schloß, ging ihm das Bewußtsein des Wachens nicht verloren.

Unabhängig von ihm, kaum mehr Erzeugnisse seiner Person, traten die alten Geschehnisse, er selbst mitten unter ihnen, auf eine unerklärliche Bühne und trieben dasselbe Wesen, wie sie es einst in der Wirklichkeit getrieben hatten.

Er nannte diesen Zustand »Erinnerung«, bedachte aber nicht, daß nicht er sich erinnerte, sondern nach unbekanntem Gesetz das alte Leben selbst wieder antrat. – Zuerst entstand in dem »Raum der Erinnerung« folgende Szene:

Er ist jung und sitzt mit zwei Männern an dem Tischchen eines Wirtsgartens bei Mailand, der in den Dreißiger- und Vierzigerjahren sehr viel besucht worden ist. Der eine Mann mit einem dick-gemütlichen und geriebenen Lüstlingsgesicht ist der Impresario Bartolomeo Merelli, die mächtigste Persönlichkeit der Mailänder Scala und des k.k. Hof-Operntheaters nächst dem Kärntnertor zu Wien. Der andre Mann ist der Dichter und Librettist Solera, der das Textbuch von Verdis allererster Oper ›Oberto, conte di San Bonifacio‹ in Form gebracht hat. Solera, ein breiter, nicht ungefährlicher Riese, ein unverkennbarer Raufbold, zu dessen Tatarengesicht mit kurzem Vollbart das Monokel am breiten Band einen fast lächerlichen Kontrast gibt, sitzt dem Maestro gegenüber. Man kennt wilde Geschichten von diesem Solera. Als Knabe brach der Zigeuner schon aus dem Wiener Theresianum aus, wurde in unabsehbarer Reihenfolge Versifax, Journalist, Spion, Verschwörer, politischer Herzensbrecher, Opernkomponist, Plagiator, Croupier, Hofmann der spanischen Bourbonen, Polizeidirektor des Khediven in Kairo. Sein Abenteurerleben glich aufs Haar dem des Textdichters von Mozart, der sich Abbate Lorenzo da Ponte nannte und kraft einer Schicksalsverwandtschaft ebenso wie Solera in New York gestorben ist.

Während der Maestro deutlich sieht, daß Solera ihm ein Glas honiggoldenen Landweines einschenkt, muß er daran denken, wie bald dieser hochbegabte Dichter und Jugendgefährte aus seinem Leben verschwunden ist. Er, der spätere Dichter des ›Nabucco‹, war nach ein paar Jahren so gründlich unauffindbar, daß man ihm seinen Anteil am Gewinn der Oper nirgendshin senden konnte. Später kehrte er wohl nach Italien zurück, war aber moralisch so herabgekommen, so bettlerfrech und unleidlich, daß Verdi nichts mehr mit ihm zu tun haben mochte.

Jetzt aber, in dem sommerlich lichten Wirtsgarten, auf der geheimnisvollen Bühne der Chronik, redet Solera mit vielen Worten auf den Maestro ein, Merelli grunzt dazu und hat seine schwer erforschlichen Absichten. Verdi fühlt sich müde und traurig, und während der Schall nächtlicher Promenaden von der Riva ans Fenster und zu ihm herauftönt, blinzelt er ins gezweig-zersplitterte Sonnenlicht, das auf dem Gartentisch, auf Flaschen und Gläsern brennt ...

 

Dieses Bild, unverständlich und unvollkommen, wie es aufgetaucht ist, vergeht rasch. Neue kommen, noch unverständlicher, noch unvollkommener, aber immer deutlicher führen sie ihn.

Er sieht sich in der kleinen Wohnung an der Mailänder Porta Ticinese. Er schaut in einen Spiegel. Ein fast fremdes, schwarzbärtig-weiches Gesicht erwidert.

Es ist merkwürdig. Sein Sachgedächtnis ist sonst nicht das allerbeste. Aber jetzt in diesem Augenblick könnte er jedes Möbel, jede Uhr beschreiben, die in den drei Zimmern stand, die er vor vierundzwanzig Jahren verlassen hat.

Er träumt nicht, er erinnert sich.

Auf einmal steht eine junge Frau vor ihm. Es ist nicht die geduldige Peppina, die so schnell die Allüren der großen Diva abgelegt hat und bürgerlich-geduldig nun seit vielen Jahrzehnten die schwere Last seiner Person erträgt, es ist nicht die Teresina Stolz, seine Aida, die noch immer bäurische Böhmin mit ihren mächtigen Umarmungen und den fremd-harten Worten, die sie flüstert, es ist eine andere Frau, ein anderes Mädchen, ein anderes Glück.

Lange, lange hatte er nicht an Margherita Barezzi gedacht, an die Frau, die seines ruhmlosen, armen Anfangs erste Jahre teilte. Jetzt sieht er sie, die schmale Erscheinung, die innerhalb weniger Monate die Ländlichkeit von Busseto ganz abgetan hat, er sieht ihre Frisur dunklen Haares, das schattige Antlitz, ihr schönüberwimpertes Auge, die wohlgekleidete Gestalt, den liebverzärtelten Fuß. Sie spricht nicht. Ihre Stimme ist dahin. Er aber sagt: ›Margherita‹ und sagt es nicht nur auf der Bühne der Chronik, auf der er jugendlichen Wesens steht, er sagt es als ausgedienter Graubart, auf dem Sofa des Hotelzimmers ruhend.

Nun zieht er im längst verfallenen Zimmer zwei goldene Armbänder aus der Tasche und gibt sie der Heiterblickenden. Mehr wegen seiner dummen Pedanterie als aus wirklicher Not hatte sie den Schmuck versetzt, da das Geld zur Zeit eines Zahlungstermines ausgegangen war. Sie streift klirrend die Ringe über, und er fühlt mit schauerlicher Deutlichkeit den Hauch eines fremden, unbekannten Kusses auf seinem Mund, der sich sogleich wie ein allerfeinstes und wehmütiges Gift durch sein Wesen verteilt ...

 

Draußen dröhnt das Nebelhorn eines Dampfers. Auseinanderfallend plärrt ein Strauß von Gelächtern empor.

 

Der Maestro kann den unerschöpflichen Gedanken nicht fassen, daß dieser Kuß einmal Gegenwart und Ereignis war, heiß, ohne Rätsel, innigstes Leben. Er kann mit der wahnsinnsträchtigen Erkenntnis nicht fertig werden, daß unser Sein kein seliger Stand ist, sondern ein grauenvolles Sichentfernen vom geliebten Andern, vom geliebten Selbst, daß wir allabendlich nicht nur alle Gefährten begraben, sondern unser eigenes abgeschiedenes Ich, daß jeder Atemzug auf Erden eine gräßliche Untreue ist.

Die Gedanken gleiten zum Tod, zum Tode gleiten die Bilder.

Er steht im Zimmer mit den beiden Gitterbettchen, in denen seine Kinder fiebern. Die junge Mutter schleicht umher. Sie schwankt vor Ermüdung schlafloser Nächte. Aber wie soll sie denn ausruhn? Das schläfrige Dienstmädchen schlurft durch die Küche. Die ist keine Hilfe. Und er sieht Margherita Wasser holen, Wasser wärmen, Schüsseln füllen, Tücher einweichen, die Speise für die Kinder rühren. Aus der Küche ins Zimmer, aus dem Zimmer in die Küche. Wie wenig erleichtert er ihrs durch seine ungeschickte Handreichung.

Aber wie groß auch das Elend ist, jetzt nach unendlichen Jahrzehnten wieder fühlt er das Weib in seinem heiligsten Werk, das Weib ohne jede Fraglichkeit, die Mutter in der Glorie. Und er weiß auch, daß selbst in diesen Ängsten, in dieser schmerzlichen Einigkeit des Hauses das einzige Glück des Mannes ruht, das erdgewollte und gottgesetzte Glück, vor dem Ruhm und Kunst, diese unseligen Nachtfeuer der Schiffbrüchigen, nichts gelten.

Und sie? Die nichts anderes hat als die hundert Schmerzen, Gleichgültigkeiten, das Ungemach des Alltags; die in so kleinen Verhältnissen leben muß; nicht wie reiche Frauen den Luxus, die Entzückungen der Mode, der Gesellschaft, der Trägheit genießen darf? Wie bedürftig ist sie doch, diese Mutter in der Glorie? Er hat die Arbeit, die berauschende Hoffnung, die Gier nach Größe. Sie aber hat neben ihrer täglichen Sorge nichts als die unbefriedigte Mißstimmung eines besessenen Anfängers, dem alles zu langsam geht, der bittere Fehlschläge erlebt, Viertelerfolge, von jedem lauen Wort, von hundert vermeintlichen Ablehnungen sich verletzt dünkt. Oh, er sieht die Größe ihrer Entsagung, ihrer verschwenderischen Selbstlosigkeit, und wie sie wiederum ins Zimmer tritt, will er sie umarmen.

Da fängt das Töchterchen, das dreijährige, zu weinen an, mit den vorwurfsvollen Lauten der leidenden Kinder und Tiere, die der selig-gefühllosen Nacht noch so nahe sind. Margherita läuft zu dem Mädchen und trotz ihrer Todmüdigkeit erzählt sie, schwätzt sie, singt sie, um das Kind zu beruhigen.

Aber der Knabe, an dessen Bett er selbst sitzt, Icilio weint nicht. Er liebt den Erstgeborenen, wie ein guter Bauer sein erstes Kind liebt. Der Knabe atmet in kurzen, raschen Stößen, sein Gesichtchen fiebert braun-rot, die Hände, zu Fäusten geballt, schlagen die Bettdecke. Er sieht den Sohn, und sein eigenes Herz, das Herz des jungen Musikers, das Herz des alten Maestro auf dem Diwan jagt im Takte mit dem Puls des fiebernden Kindes.

Im gleichen Augenblick vermischt sich mit der Erinnerung der heute gelebte Tag, und der Maestro weiß in dieser Sekunde nicht, ob er seinen eigenen Knaben sieht oder den kleinen Hans Fischböck.

Aber jetzt fühlt er, wie er mit Entsetzen das Kind aus dem Bett reißt und es an sich drückt, als wäre die Berührung mit seinem Leib das einzige Mittel der Rettung. Denn von der Stirn des Kleinen ist die Röte gewichen und verdächtig gurgelt der Atem. Er preßt die zuckenden, brennenden Gliedchen an sich und muß spüren, wie die Gelenke sich immer unnatürlicher strecken, muß hören, wie die Atemzüge immer unregelmäßiger werden. Mit aller Kraft stemmt er sich gegen die Erinnerung an den schauerlichen Moment, wo dem letzten röchelnden Hauch kein neuer mehr folgt ...

 

Es gelang dem Maestro zur rechten Zeit, zu sich zu kommen. Ein Hustenkrampf hatte ihn erfaßt. Draußen sangen einige Matrosen. Irgendein Lichtschein zog majestätisch über die Wand.

 

Vergebens machte der Liegende eine kleine Anstrengung, aufzustehen. Noch fesselte ihn die Welt, die niemals in uns stirbt, mit geheimnisvollen Ketten. Alle Kraft bot er auf, die Bilder der nächsten Ereignisse, Bilder der sterbenden Frau, der Kinderleichen, Bilder von weitaufgerissenen Türen, von Särgen, von schnapsduftenden Pompe-funèbre-Männern mit Kotstiefeln, Bilder von regenerweichten Friedhofswegen seiner nicht Herr werden zu lassen.

Erst als in einem seltsam modernen und schönen Sommerkleid Margherita Barezzi vor ihm erschien, ließ er den Widerstand und gab sich hin. Aber seine Kräfte waren erschöpft und für wenige Minuten schlief er ein, die zum Traum wurden, als ob die Tote so freier schalten könne als im Raume der Erinnerung.

Er ging mit Margherita die Stiegen des Hauses hinab. Sie schritten durch sonnenvolle Straßen, kamen zu den parkbedeckten Basteien des Mailänder Kastells. Margherita ging überaus schnell, und er, der alternde Mann, konnte ihr kaum nachkommen und mußte immer ein Stückchen zurückbleiben.

Mit ihrem leichten Schritt überwand sie alle Räume, stieg vom Ufer einer fremdartigen Lombardei über eine japanische Holzbrücke in ein fremdartiges Venedig, und der Maestro folgte ihr, ohne weiter darüber erstaunt zu sein. Auf der Piazza kaufte sie bei einem alten Weibe Blumen, eine Unmenge Mimosen, von denen sie immer wieder ein paar Stengel verlor. Sie schien sich in diesem höchst verwandelten Venedig gut auszukennen und war so höflich oder schelmisch, immer die Wege zu wählen, die der Maestro zu bevorzugen pflegte. Diese Gassen und Gäßchen waren absonderliche Varianten des venezianischen Stadtbildes, die unbegreifliche, sehr verschleierte Empfindungen hervorriefen, Schaurigkeit und schleichende Wehmut. Nun bog sie auch in die Calle larga Vendramin ein. Nur mit Widerstreben folgte ihr der Träumer zum Palazzo. Sie blieb stehen, wie wenn sie etwas überlege, und drehte sich dann – es geschah das erstemal – nach ihrem Gatten um und lachte so kindlich, so überlegen, so siegesgewiß, als wisse sie ganz genau, daß alles gut und glücklich ausgehen werde. Dann stellte sie sich auf die Fußspitzen und warf mit neuem Gelächter, verbotenen Übermuts voll, drei ihrer Blümchen über die Mauer. Darauf wurde sie ernst und sah umher, als ob sie ein bestimmtes Haus suche. Nach einem kurzen Gang fand sie es auch, grüßte unnahbar, wie eine entfernt bekannte Dame grüßt, und verschwand im Flur ...

 

Der Maestro erwachte aus diesem kurzen Traum. Er hatte keine Zeit über seine Bedeutung nachzudenken, denn mit neuer Gewalt traten neue Bilder seiner Erinnerung hervor, und er unter ihnen.

 

Er sitzt in dem kleinen Zimmerchen der Scala, das für die Autoren freigehalten ist. Er hat abgelehnt, den althergebrachten Platz des Komponisten zwischen dem ersten und zweiten Violoncell einzunehmen, um wie es einst Sitte war, als Verfasser der aufgeführten Oper, die Notenblätter des wenig wichtigen Instrumentalisten umzudrehen. Er spürt sehr wohl, wie unsicher der heutige Abend ist, wie steif diese komische Oper: ›Ein Tag lang König.‹ Doch diese mäßige opera buffa ist das Werk der heroischesten Willensanspannung seines Lebens. Er hatte vielleicht kein Kunstwerk erschaffen, aber wie ein Held seine Pflicht getan in diesen Monaten unmenschlichen Verlustes, lebloser Betäubung, schwerer Krankheit, wobei ein Schwächerer einfach verkommen wäre. Er ist nicht stolz auf die Oper – sie ist ja gleichgültig –, aber er ist stolz auf seine Tat, und um dieser Tat willen könnte er ein Fiasko nicht ertragen. Was aber weiß dieses Publikum von Abonnenten, Foyerschwätzern, sogenannten Musikkennern und Radetzkyoffizieren von ihm und seiner Tat? Zwei Akte sind schon vorübergegangen. Er hat nichts davon gehört. Ein Unglück ist nicht geschehen, obgleich er weiß, daß nur wenig Hände geklatscht haben. Die Sache ist nicht verloren.

Zwei oder drei Bekannte haben ihn in seiner Kammer besucht, sein Gönner, der Graf Borromeo, sein Freund, der Ingenieur Passetti, ein zugleich feiges, zugleich anhängliches Nichts, das sich in den Tagen des dreifachen Todes seiner angenommen hatte. Beide aber haben von seiner Musik geschwiegen, nur von den Sängern des langen und breiten gesprochen, um sich recht verlegen beim ersten Glockenzeichen zu empfehlen.

Gefährliche Ärgerwallungen über diese unaufrichtigen, schwankenden Freunde mußte er hinunterschlucken.

Fünfundzwanzig Minuten spielt schon der letzte Akt der Oper. Der hat die drei oder vier entscheidenden Nummern und Szenen. Für ein paar Sekunden hellt sich der tiefe Unmut des jungen Komponisten, des alten Maestro auf. Es muß ja gut ausgehen. Das Quartett ist nicht schlecht, hat ein paar bessere Wendungen, wird ganz bestimmt gefallen. Und das Finale noch mehr.

Er sieht sich hundertmal durch diesen Raum rennen, den er so gut kennt, denn den Ausgang vieler Premieren hat er hier abgewartet. Die Zeit rückt vor und das Hoffnungsgefühl täuscht ihn immer mehr. Er hält es nicht länger aus, rennt die vielen weitläufigen, altersschwachen Treppen des Scalatheaters hinab, verirrt sich, gerät in einen Keller voll Kulissenmoder, Requisitenstaub, und erreicht endlich schweißübergossen die Bühne.

Da schlägt ihm die einzigartige herzdurchschneidende Luft der Theaterkatastrophe entgegen. Kopfloses Geflüster der Spielleiter, Choristen, Beleuchter, Bühnenarbeiter. Der Maestro der Chöre rauft sich die Haare. Der Mann am Vorhang starrt mit den aufgerissenen Augen einer tragischen Maske, sein ganzes Leben an das Seil klammernd, irgendwohin, um das erlösende Zeichen zu empfangen. Ein Sänger im Kostüm stürzt an dem jungen Autor vorbei, mit blutunterlaufenen Augen unter der Schminke. Er flucht, schreit und spuckt in weitem Bogen. Eine Sängerin sitzt auf einem Versatzstück und weint in hysterischen Lauten. Der hartgesottene Merelli allein, er, der schließlich den ganzen Verlust tragen muß, beruhigt mit der souveränen Verlegenheit eines Generals auf der Flucht sein ratloses Volk. Sein feistes Genießergesicht mit dem blauen Hauch über den scharfausrasierten Backen ist nicht mehr wollüstig bequem, sondern zeigt die bleiche entschlossene Massigkeit eines Cäsaren-, eines Caligulahauptes.

Der Maestro hat gerade die letzten Töne des zum Schweigen gebrachten Orchesters, der verzweifelten Sänger gehört. Nur ein unentwegtes, ein gurgelndes Fagott klappt noch nach. Dann wird der dumpfe, von schneidenden, stechenden Tönen zerfetzte Lärm da draußen, dieser böseste, allergemeinste Bestienlärm, der aufsiedende Lärmtumult jeder Lynchjustiz, mit hundert Gebrüllen, Gelächtern, Schreien, Pfiffen wird dieser Lärm Herr des Geschehens. Zehn Sekunden lang nach der ersten Erstarrung ist es dem Unglücklichen, als würde er das schwärzliche Würgen in seiner Kehle nicht verschlucken können. Keiner sieht ihn an, keiner bemerkt ihn. Gott sei Dank! Und da schneidet der niedersausende Vorhang das tierische Heulen ab und nur eine tote Brandung rollt ferne.

Sinnlos vor Entsetzen rennt er durch die nächtigen Straßen der Hauptstadt. Der alte Mann in dem Hotelzimmer fühlt ihn, fühlt sich laufen und laufen. Frisch und wie noch nicht erlebt ist das Elend da. Kein Triumph vermochte es je zu übermalen. Nicht-vergessen-können ist der Fluch, der auf dem Maestro liegt. Verhöhnt ward das schwerste Pflichtopfer seines Lebens! Und für wen hatte er dieses Opfer gebracht? Für einen Impresario, dem er sein Wort nicht brechen wollte.

Nun läuft er durch die leere Nacht. Den Stein in der Kehle kann er nicht hinabschlingen. Ohne zu wissen, wie er hergekommen ist, steht er vor dem Haus auf der Corsia di Servi, wo er nach dem raschen Tode von Frau und Kindern ein Zimmer bezogen hat. Er schließt das Tor auf, und ohne ein Lichtchen anzuzünden, in tiefster Finsternis drei Stufen auf einmal nehmend, ist er endlich im vierten Stock, endlich in seiner toten staubigen Stube.

Hier wartet er eine Stunde, zwei Stunden. Vielleicht wird doch noch jemand kommen, unten pfeifen oder rufen, ihn nicht in dieser Nacht allein lassen. Er wartet zwei und eine halbe Stunde. Aber niemand kommt, niemand pfeift, niemand ruft, kein Merelli, kein Borromeo, kein Passetti, nicht einmal der Maestro suggeritore, der Souffleur des Theaters, der ihm Dank und Geld schuldet. Endlose Nacht! Während einiger Sekunden erlebt der alte Maestro ihr vielstündiges Drama wieder mit allen einsamen Szenen von Wutausbrüchen und Selbstmord-Einflüsterungen.

Das graue Licht steht im trüben Fenster und der Entschluß ist gefaßt: Nie wieder eine Note schreiben! Und da er schon einmal dieses verdammte Handwerk ergriffen hat, bleibt nichts anderes übrig als ein mittelmäßiger Pianist zu werden. Ein Konzertspieler, wenn es sehr hoch geht, aber mit weit größerer Sicherheit ein Tanzmusikant: Bagasset! Bagasset! Und schon sitzt er vor seinem schlechten Klavier und übt und übt. Eine elende Skelettgestalt schleicht am Morgen aus einer Scheuer und schwankt, die Geige über den Buckel gehängt, über die Straße von Roncole. Bagasset! Die Drohung des Vaters. Von der Metropole führt der Weg des Landburschen zurück in die Dörfer.

 

Wieder versuchte der Maestro von seinem Diwan aufzustehn. Aber noch immer ließ ihn die Umklammerung nicht los. Bild auf Bild mußte er erdulden. Die Bilder aber rollten nicht ab, sondern sie überschnitten, sie durchdrangen einander, sie waren alle gleichzeitig da. Die meisten von ihnen hatten gar keine Bedeutsamkeit und kaum einen Bezug auf sein Leben: Eine Straßenecke in Paris. Ein Pferd ist auf dem Platz de Ferrari in Genua zu Boden gestürzt. Höfliche Begrüßungsworte eines Unsichtbaren. Ein Hund kläfft hinter einem Gatter. Das Maschinenhaus in Sant Agata. Herr Gott, wo ist nur der Schlüssel? Dieser verfluchte Marenghi! Nichts ist in Ordnung. Ah, das ist die alte Etüde von Hummel. Mit den vier Vierteln des Basses kann man einen Sarg zunageln ...

 

Er sitzt vor seinem schlechten Klavier und übt mit tauben Fingern und tauber Seele, wie in Schadenfreude gegen sich selbst, ein und dieselbe Phrase hundertmal wiederholend, Etüden von Kalkbrenner und Hummel, öde Musik, von der man Gesicht und Geruch verliert und Staub in die Lungen bekommt. Ohne aufzuhören, wie ein tibetanischer Mönch seine Gebetskugel rollt, übt er und übt. Er übt sich das Leben aus dem Leib, seine Finger und Muskeln erniedrigt er zu Maschinen, die, wenn sie feiern müssen, sich immer wieder danach sehnen, auf die Tasten etüdenhämmernd nicht leben zu müssen.

Täglich siebenmal fährt sein alter Nachbar im offenen Schlafrock ins Zimmer, hält sich die Ohren, kreischt, daß ihn der Maestrino wahnsinnig machen werde.

Endlich spricht der Hausherr ein Machtwort.

Und jetzt bleibt dem Unglücklichen nichts mehr als das einschläfernde Gift zerlesener Schauerromane. Er sieht sich im unaufgeräumten Zimmer, ungekämmt, ungewaschen, halbverhungert lesen, lesen ...

 

Vor Verdis Balkonfenster auf der Riva degli Schiavoni entstand ein Männerstreit. Heiser hetzten die Stimmen gegeneinander. Es schien gefährlich werden zu wollen, denn einer schrie rauh auf. Messer blitzten aus dem Gewirr der Stimmen. Ehe aber noch ein Unglück geschehen war, schien die Gesellschaft, plötzlich wieder handelseins, vor der nahenden Wache Reißaus zu nehmen.

Der Maestro hat noch keinen neuen Atemzug getan, als er schon durch die glasbedeckte Galleria de Christoforis zu Mailand mit schwerem Kopf und kranken Augen schlendert. Draußen steht Dezemberdämmerung, in ihm die Dämmerung trüber Roman-Welten. Ein Arm schiebt sich unter den seinen. Der allmächtige Merelli. Man redet gleichgültige Dinge. Worte hört der ruhende Maestro nicht, aber er fühlt den Sinn des stummen Gesprächs, ja mehr noch, er hat den fett-heiseren Stimmklang Merellis im Ohr, ohne daß ein Wort fällt. Merelli hat Mangel an Novitäten für den Karneval. Er spricht mit der gönnerhaft-abschätzigen Zutraulichkeit eines Theaterdirektors in Nöten, die ein solcher Gott an einen nicht ganz hoffnungslosen jungen Autor wendet. Otto Nicolai, der Deutsche, der in Mailand Karriere machen will, hat ein Libretto von Solera zurückgeschickt, und dabei ist dies ein ausgezeichnetes hochwertiges Buch, dessen Situation und Verse sich sehen lassen können.

Draußen fällt ein klebriger, schwerflockiger Schnee. Oh der ewig hassenswerte Schnee, Gruß feindlicher Zonen!

Merelli spricht mit dem verletzenden Zynismus des Kunsthändlers vom Theater, von den Sängern, von den Komponisten. Gutmütige Verachtung läßt er auch den jungen Mann an seiner Seite spüren, aber zugleich Interesse und die von keiner Niederlage durch Presse und Publikum zu erschütternde Überzeugung: Mit dir ist etwas zu machen. Worte sind nicht zu hören, aber den Sinn der bröselnden Rede versteht der Maestro. Er möchte fort, sich losmachen, sucht die erstbeste Gelegenheit zum Abschied, aber sie kommt nicht.

Oder besser, er will gar nicht, daß sie komme, denn er weiß, Merelli geht ins Theater, und der ungeheure Zauber, plötzlich wieder erwachend, zieht den Dramatiker zum Gebäude der Scala. Er kämpft mit sich, er will nicht schwach werden, der ernste Vorsatz ist gefaßt. Aber der feiste Schlaukopf kennt die Menschen besser und vor allem seine schwachen und süchtigen Tiere von Musikanten. Er spielt sogar mit dem Opfer, so sicher ist er seines Erfolges. Als der Maestro sich empfehlen will, hält er ihn mit allerhand Gleichgültigkeiten zurück, promeniert vor dem unselig-anziehenden Haus, und gibt dann seinen Mann frei. Verdi entfernt sich langsam. Da erst ruft Merelli ihn zurück und zieht ihn mit einem harmlosen Vorwand ins Haus.

Der Mensch, der sich erinnert, und der Mensch, der Erinnerung ist, beide fühlen den Bühnengeruch, aus Leinwand, Holz, Farbe, Schmieröl, Fäulnis, Schminkfett und Hitze gemischt, der einen Theateraufgang erfüllt. Man tritt in die Kanzlei Merellis. Ein ganz gleichgültiges Manuskript (der Vorwand) wird gesucht und gefunden, das der junge Maestro Verdi längst schon zurückgeschickt hat, wovon der Impresario nichts zu wissen vorgab.

Aber da ist auch ein anderes Manuskript. Ganz zufällig liegt es auf dem Schreibtisch. Gegen Merelli kommt niemand auf. Dieser scheinbare Weichling ist ein willensstarker und überlegener Imperator. Wie der Maestro sich auch gegen die Lektüre eines Operntextes wehrt, der Gewaltige drängt ihm dieses blaue Heft mit der großen Modeschrift Soleras auf, das den kalligraphisch gemalten Titel ›Nabuccodonosor‹ trägt.

Er wollte noch einmal den verderblichen und hold-erregenden Geruch des Bühnenhauses riechen. Und dieser kleine Wunsch, diese leise Schwäche wurde ihm zum lebenslänglichen Segen, zur lebenslänglichen Vermaledeiung.

Merelli steckt ihm das Textmanuskript in die Tasche, läßt sich auf keine Unterhaltung ein, schiebt ihn sehr ungnädig zur Tür hinaus, die er hinter ihm zuriegelt wie ein höchst beschäftigter Mann, der keinen Störenfried mehr einzulassen gedenkt.

Verdi tritt hinaus in den wässerigen Dezember, in den dickschwebenden Schnee. Immerwährend spürt seine Hand in der Rocktasche das Heft Soleras. Er geht immer schneller, denn er fühlt, daß jetzt sich etwas Fürchterliches ereignen werde. Noch will er fliehen. Aber es ist zu spät. Angst, als ob nun endlich der Körper zusammenbrechen wolle, als ob ein Schlaganfall sich ankündige. Aber nicht der Körper sagt den Dienst auf, etwas anderes naht.

Noch einige Schritte macht der junge Mensch, dann muß er stehenbleiben, mit beiden Händen sich an dem eisig-eisernen Gitter eines Portals festhalten. Ein Gefühl von unbeschreiblicher Grauenhaftigkeit wächst auf, eine Unerträglichkeitsempfindung des Lebens, als wolle nicht etwa der Körper sich im Tode von der Seele trennen, sondern diese Seele selbst sterben.

Unaussprechliche Furcht vor Untergang, vor Untergang, der mehr ist als nur Tod. Der ungeheuerliche Augenblick ist da.

 

Jäh sprang der Maestro auf. Mit den bebenden Händen eines Geistersehers suchte er die Streichhölzer. Die Gaslichter des Zimmers flammten auf. Er war im letzten Nu diesem Augenblick entgangen, der in den unwirklichen Hüllen der Erinnerung als atembeklemmende Wirklichkeit ihm nahte. Alles, nur dieses Erlebnis nicht wieder!! Erlebnis konnte man es ja gar nicht nennen. Aber wie es nennen, diese Grenze des Zeitlichen, wo sie das außerzeitliche Grauen berührt? Sein Leben war nicht gemacht, über das Menschliche hinauszugreifen. Ihn würde es vernichten. Ein einziges Mal hatte er es überstanden. Ein zweites Mal, in diesem Alter heute, könnte er es nicht.

Jetzt, beim Schein des Lichtes, unterm vertrauten Bild der Dinge kehrte wohl die rettende Skepsis wieder und mit ihr das Wort: Nervenanfall! Trotzdem aber, lieber der Tod als noch einmal dieser Anfall.

Damals wohl hatte »der Augenblick« die schwere Krise gebrochen. Erschöpft wie ein vom Tode Auferstandener war er nach Hause gekommen, hatte das Heft aufs Bett geworfen und ohne einen Gedanken mehr in die Luft gestarrt. Aber siehe, das Heft glitt herab und fiel zu Boden. Er hob es auf und las unwillkürlich den Vers:

»Va, pensiero, sull' ali dorate!«

»Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen!«

Und da krampfte sich sein Zwerchfell zusammen, alle Muskeln spannten sich zum Zerplatzen, die Kehle zuckte erdrosselt, der Atem abwärts gepreßt, und was der dreifache Tod, die Katastrophe seiner Laufbahn nicht vermocht hatte, ein schwingender Vers erlöste die Tränen aus dem zermalmten Menschen. Und in diesen Tränen rollte die Melodie.

Damals hatte die Lähmung nicht volle zwei Jahre gedauert. Der Augenblick voll Grauen, der ihn auf dem Heimweg von der Kanzlei Merellis antrat, warf ihn ins Leben zurück.

Heute dauerte die größere Lähmung seines Lebens schon zehn Jahre. Er war am Ende. Ein kleiner Rest nur – so pflegte er selbst zu sagen – war ihm vom Herzen geblieben, und der umkrustet und tränenlos. All seine Versuche waren jetzt vergebens. Kein Heft wird mehr zur Erde fallen und einen köstlichen Vers ihm darbieten. Nur Vernunft, Wissen und Können, erworbene Geschicklichkeit waren sein, und diese veraltet, bäurisch, überholt. Der siegreiche Wagner, dem nichts schwer wurde, jetzt zu dieser Nachtstunde vielleicht schrieb er in seinem Palazzo Vendramin an einer neuen Partitur, die wiederum alles umwerfen und erneuern würde. Der »schwere«, »tiefe« Deutsche sprang lachend über alle Vergangenheit hinweg, war ohne weiteres aus einem Barrikadenmann zum Favorit eines Königs geworden, er stürmte durch die Zeit, als wäre nichts von Jahreslast an ihm hängengeblieben. Er aber, der »heitere«, »seichte« Italiener, wie sie doch alle ihn nannten, er lag in schweren Erinnerungen, das uralte Schicksal ließ nicht von ihm, Frau und Kinder, vierzig Jahre schon tot, hatten sich heute in diesem Zimmer gezeigt, und die Angst vor einem Anfall, den er den »Augenblick« nannte, irrte noch immer in seinem nicht völlig beruhigten Puls.

Der Maestro schlichtete die losen Notenblätter in die Mappe des ›König Lear‹. Auch dies hier war nur ein Werk des Pflichtgefühls, denn kein Mensch hatte das Recht, müßig, ohne Arbeit zu leben. Tief war ihm dieses Gefühl eingewurzelt.

Während er Ordnung machte, stieß er neuerdings auf die Manuskripte Fischböcks. Und wiederum meldete sich die Empfindung, daß der junge Deutsche trotz seinem musikalischen Nihilismus mehr sei als ein Wahnsinniger und nur Fieberkranker.

Er selbst mußte sein Schaffen immer vom Urteil der Welt abhängig machen. Dieser aber und vielleicht eine ganze künftige Generation wird nichts mehr wissen von den schädlichen Folgen öffentlichen Strebens. Aber auch dies wird falsch sein.

Das Blut sauste noch immer in den Ohren Verdis. Warum hatte ihn mehr als alles andere die Erinnerung an jenen »Augenblick« verstört? Er sah sich schreckhaft im ernstlauschenden Zimmer um, als ob irgendwo Gefahr sich ducke. Dann, um frische Luft zu bekommen, trat er auf den Balkon.

Das Wasser dehnte sich, ohne zu sein. Die Nacht war jetzt ununterbrochen und vollkommen.

IV

In seinem Schuldbewußtsein gegen den Senator – er konnte die jähzornige Szene nicht vergessen – hatte der Maestro den alten Freund öfters besucht.

Immer mehr festigte sich nach diesen Besuchen des Senators Erkenntnis von der schweren Selbstbewußtseins-Erkrankung des Maestro. Über Musik zu sprechen wurde vermieden und dadurch legte sich auf diese Zusammenkünfte ein schwerer Nebel des Unausgesprochenen, wie er auf Menschen liegt, die ein Leid erlebt haben und untereinander davon nicht zu sprechen wagen.

Der Senator verzehnfachte in diesen Tagen seine Aufmerksamkeit gegen Verdi. Täglich schickte er einen Boten mit Wein, mit Havannazigarren, mit Büchern ins Hotel, schrieb dazu Briefe und Zettel voll Scherzen und Glossen; er tat alles, um den Ernsten zum Lachen und von der Selbstquälerei fortzubringen.

Jedermann wird in ähnlichen Fällen schon die Erfahrung gemacht haben, daß solche Anstrengungen nicht nur nichts nützen, sondern sogar das Gegenteil bewirken. Kein Kranker will damit getröstet werden, daß trotz allen Schmerzen sein Übel unbedeutend sei, kein mühsam Rackernder, daß aller Zwang vorübergehe; kein Zweifelnder, daß es auf andere Fragen ankomme. Es gehört zum Wesen des Leids, daß es nicht eigentlich nach Tröstung, sondern nach Bestätigung verlangt.

Durch seine freundschaftlichen Bemühungen wollte der Senator aber trösten und das verstimmte den Stolz des Maestro, der keine Form von Mitleidigkeit ertrug.

Der Senator fühlte, daß seine Mühe nichts bewirke, ja die Düsterheit noch steigere. Er sann früh und abends über ein entscheidendes Mittel nach. Zeit hatte er übergenug. Seine Arbeit an den Texten lahmte, sie war ja doch nicht mehr als ein Geduldspiel, zu dem er aus moralischer Selbstquälerei sein abspringendes Temperament zwang. Renzo lebte in Rom, Italo hielt sich weniger denn je zu Hause auf. Der Senator ahnte, daß es im Leben seines Sohnes jetzt bewegte Stunden geben müsse, aber die Gesinnung des liberalen Revolutionärs verbot ihm, auch nur mit einer Frage die Freiheit der Persönlichkeit anzutasten, mochte diese auch zufällig sein eigenes Kind sein.

Dazu kam bei ihm noch ein merkwürdiger Egoismus, der nicht so sehr seiner Person selbst als der Generation galt, der er angehörte. Die Jugend interessierte ihn durchaus nicht. Ihre Bestrebungen und Ansichten waren ihm schon deshalb zuwider, weil sie ein anderes Datum trugen als das seiner eigenen großen Zeit. Der Generations-Fanatismus des Senators war aber etwas ganz anderes als der törichte Ruf älterer Leute nach den Segnungen der guten alten Zeit.

Es war der noch nicht erschöpfte Glaube, daß in der Menschenblüte von 1848 ein neuer Messias gewandelt habe, unbekannt und heute noch nicht geahnt, der jenen vergangenen Tagen den freudig-stürmischen Charakter gegeben. Mochten auch die großen Menschen dieser Jugend besiegt, gefallen, gestorben sein – unüberholt, göttlich und von der Menschheit noch nicht genossen lebte ihr niemals alternder Geist, der jetzt verachtet wurde. Da ihn selbst ihr Geist erfüllte, warum sollte er sich mit einer schwächlichen, viel zu altersgrauen und tatlosen Gegenwart abfinden?

Dieses Geistes reinste Erscheinung lebte nur noch in Giuseppe Verdi. Die Liebe des Senators zu Verdi war die leidenschaftliche Folge seiner Jugendtreue. Er hing mit fast krankhafter Glut an dem Maestro. Dieser allein noch schwenkte die Fahne über dem Leichenfeld der niedergebrochenen Jugend von damals.

Italo ließ sich nun zumeist auch bei den Mahlzeiten entschuldigen. So verbrachte der Ganz-Einsame in Selbstgesprächen, wütenden Träumereien und beim Weine die Stunden des Tages und der schlafarmen Nacht.

Einmal hatte er sich in den prunkvollen Vordertrakt des Hauses begeben, um den Marchese zu besuchen und sich nach dem Wohlbefinden des Hundertjährigen zu erkundigen. Aber die Stunde dieses Besuches, die siebente des Nachmittags, war schlecht gewählt, denn Gritti wartete schon auf François, der Frack und Ausstattung für den abendlichen Theatergang bringen sollte. Der Senator, der die Ungeduld des Uralten und seinen Ärger über die unnötige Kraftverschwendung eines Gesprächs sah, nahm gar nicht Platz und beruhigte den Greis!

»Haben Sie keine Angst, Marchese, ich gehe schon wieder. Aber zum Teufel! Eines müssen Sie mir erklären. Wie bringen Sie es zustande, jeden Abend eine Oper vorzufinden?«

Die helle leblose Diplomatenstimme belehrte von oben herab:

»Ein Kunstfreund wie Sie sollte sich in diesen Dingen auskennen. Vier Tage der Woche spielt die Gesellschaft im La Fenice, die übrigen drei die Stagione im San Benedetto, oder wie man dieses Theater neuerdings zu nennen pflegt, im Rossini!«

»Ah?! Haben Sie dort eine Primadonna namens Dezorzi gehört?«

Die Konserve eines menschlichen Lebewesens, Gritti, überwand mit unendlicher Vorsicht und Aufmerksamkeit eine Verschleierung des Halses. Er räusperte sich, ganz in die Wichtigkeit dieses Vorgangs versenkt, hustete, jede Anstrengung vermeidend, und spie schließlich ins Taschentuch, worauf er noch den Auswurf gründlicher Betrachtung unterzog. Dann erst gab er Antwort:

»Dezorzi? Gräßlich! Gläserne Stimme! Kein Atem, kein Ansatz! Man hätte solche Dilettantin gesteinigt zu meiner Zeit.«

An diesem Abend saß der Senator allein an seinem Tisch und trank, während er seinem Lieblingsgedanken, Verdi aus seiner Verfinsterung zu retten und ihn ungeahnt zu erhöhen, eifrig nachhing. Er trank Glas auf Glas seines Lieblingsweines.

Die bunte, sommerliche Luft der leichten Trunkenheit begann ihn zu umschleiern. Mit dem wachsenden Selbstbewußtsein, der leisen Begeisterung, der süßen Welteinverstandenheit, der weingespendeten, zogen allerhand phantastische Rettungspläne durch sein Hirn.

Den unmöglichsten dieser Pläne, denjenigen, der am wenigsten der Art Verdis angepaßt war, ergriff er mit glückseligem: Ich hab's. Im Rausch verwechselte er sich selbst mit dem Maestro.

So wenig empfinden die Menschen, die innigsten Freunde einander, selbst wenn sie helfen wollen.

V

Fünf Tage glaubte Bianca ihren Geliebten schon in Rom. Die demutsvolle ahnende Schicksalsergebenheit, die sie in den letzten Wochen gebeugt hatte, war mit der Entfernung des jungen Italo plötzlich wieder von ihr gewichen. Sie sah ihn nicht mehr, sah nicht mehr mit jenem schrecklichen Entzücken wie auf der Meerterrasse des Lido sein Gesicht, die wohlgezeichnete Erscheinung, den ganzen frühlingshaften Menschen, den ihre Schwermut nicht zu verdienen meinte.

Sie hatte ihn ziehen lassen, als hätte sie kein Anrecht auf ihn, kein Recht, ihn zu halten, wie sie ihn auch für die Abendgesellschaft des Grafen Balbi freigegeben hatte. Jetzt aber, wo er fort war, hielt sie die Trennung, die Sehnsucht, hielt sie sich selber nicht aus. Nicht die Einsamkeit war es, die sie um den Verstand brachte. Lebte sie nicht seit Jahren schon von Carvagno alleingelassen? Seit einigen Monaten war sie dem Schicksal dankbar, daß sie so wenig lügen, reden, sich verraten mußte.

In endlosen Stunden erlebte sie das Grauensgefühl mancher Schwangeren, die allein mit ihrem wachsenden, immer fremder werdenden Leibe ist. Die Unglücklichen, die sich vor der Zukunft fürchten müssen, die das Blühende ihres Zustands nicht genießen dürfen, sind diesem Gefühl doppelt ausgesetzt. Sie schickte oft, mitten am Tag, ihre Dienerin fort, tat alle Kleider von sich und schlich nackt durch die schlechtgeheizte, wintertrübe Wohnung, mit Blicken unbeschreiblichen Erstaunens sich selbst betrachtend. Sie sah, wie ihre große Gestalt dick und unregelmäßig geworden war, wie der Bauch hervortrat und die schweren Brüste auf ihm lagen. Die Beine waren nicht mehr lang und schön geschwungen wie früher, sondern plump und stark ruhten sie auf geschwollenen, ermüdeten Füßen.

Sie sah sich, dieses fremde formlose Weib mit Entsetzen und dachte an den zarten Italo, der jetzt noch weniger zu ihr paßte als früher. Mußte er, der Schönheitssüchtige, sich nicht von ihr wenden, nicht ein Mädchen suchen, eine Ziergestalt ohne Verderbnis? Sie verwünschte das Kind, das sich in ihr wie ein unglücklicher Häftling bewegte, dieses ungerufene, ungewollte Kind, mit dem sie, trotz allen Gebeten, die Madonna nach so langen Jahren bestraft hatte.

Ein kleiner Umstand genügte, ihre Qual ganz unerträglich zu machen. Sie hatte sich einen Zahn ausgebissen, einen Eckzahn, dessen Fehlen kaum zu bemerken und leicht zu ersetzen war. Das erschien ihr nun als beschämendes Unglück, als Sinnbild unaufhaltsamen Vergehens. Sie weinte stundenlang in sich hinein.

Durch alle Selbsterniedrigungen genährt, schwoll in haltlosen Augenblicken ihre Liebe zu wütenden Ausbrüchen. Da konnte sie laut schreien, mit den Fäusten gegen die Wand hämmern, ja sich verzweifelt zu Boden werfen.

Kirchenbesuch, Gebet, Beichte halfen nicht mehr. Allzusehr war sie in ihr einsam wegloses Unglück verstrickt, das jeder Tag, jeder Schritt ohne ihn nur noch dichter machte.

Ein Brief Italos hätte ihr helfen können. Schon eine Stunde, bevor die Post kam, lief sie totenbleich von einem Zimmer in das andere, ließ alles stehen, verwirrte durch falsche Aufträge ihre Hauswirtschaft, vergaß den Schildkröten frisches Salatfutter vorzulegen. Die Post kam. Aber kein Brief von Rom. Ein Wehgefühl ohne Maß, ein drosselndes Erbarmen mit sich selbst bannte ihr Leben. Sie saß und starrte:

›Warum schreibt er nicht? Fünf Tage ist er nun in Rom. Fünf Briefe könnten schon gekommen sein. Warum schreibt er nicht?‹

Sogleich aber erfand sie Entschuldigungen für den Geliebten, hundert Möglichkeiten, die das Ausbleiben von Briefen rechtfertigten. Sie hatte ja keinen Grund, zu glauben, daß Italo sie nicht liebe. Niemals seit anderthalb Jahren hatte er nach einer anderen Frau geblickt. Wie scharf beobachtete sie ihn, wie oft legte sie ihm Fallen, fragte mit der harmlosesten Miene: ›Wie gefällt dir dieses junge Mädchen, jene Frau, die an uns vorüberging?‹ Nie war er gestrauchelt. Kein Funken in seinen dunklen Augen verriet ein schmachtend untreues Verlangen. Ja, er war treu! Sie konnte ihm vertrauen. Aber Rom, Rom! Wie viele Weiber würde er sehen!? Konnte er standhalten? Die verborgene Krankheit pochte, während sie sich selber zuredete: ›Ich kann sicher sein.‹

Am Sonntag der Faschingswoche trat Carvagno zu unerwarteter Stunde ins Zimmer. Bianca lag auf dem Sofa. Sie hatte Kopfschmerzen und hielt die Schläfen. Mit einer ihr höchst ungewohnten Eindringlichkeit sah sie der Mann an:

»Du bist allein?«

»Natürlich bin ich allein.«

»Ich finde, du hast sehr nachlässige Kavaliere.«

»Was soll das heißen?«

»Nun! Italo könnte dir wahrlich Gesellschaft leisten, statt sich auf der Piazza herumzutreiben.«

»Italo ist in Rom bei seinem kranken Bruder.«

»So? Er ist in Rom?«

»Ist dir das so unglaubwürdig, Carvagno?«

»Sonderbar!«

»Was ist daran sonderbar?«

»Ich habe doch eben Italo gesehen. Er ist mit Corteccia vor Florian gesessen.«

Bianca fühlte, daß sie jetzt übermenschliche Kräfte erzeugen müsse. Sie setzte sich ruhig auf, nahm ruhig eine Näharbeit vom Tischchen:

»Du hast Italo gesehen? Sollte er schon von Rom zurück sein?! Kaum wahrscheinlich!«

»Er sitzt bei Florian!«

»Höre! Bist du deiner Sache sicher? Es ist natürlich möglich, daß er in Venedig ist. Aber ich kann es mir nicht recht vorstellen, daß Renzo so schnell wieder gesund geworden sein sollte.«

Die Frau lächelte mit dem gelassensten Ausdruck Carvagno ins Gesicht. Er wurde schwankend.

»Mein Gott, ich könnte schwören. Aber du weißt, daß ich mit meinen schlechten Augen schon einmal eine arge Verwechslung angerichtet habe.«

»Hast du deine Brille gehabt?«

»Das weiß der Teufel! Den Corteccia mit seinem affektierten Bart habe ich erkannt. Der junge Mensch daneben ...? Jetzt hast du mich unsicher gemacht.«

»Es ist ja möglich, daß es Italo war.«

Beide schwiegen. Plötzlich hob Bianca die Handfläche. Carvagno bemerkte einige Blutstropfen darauf. Er faßte ihre Hand und sah, daß sie sich die Nadel mit halber Länge in den Handteller gebohrt hatte.

Der Arzt hielt es für Ungeschicklichkeit Biancas, zog die Nadel aus dem Fleisch und wusch die Stichwunde aus. Den Rest des Nachmittags blieb er bei der Frau. Sie nähte gehetzt an einer Handarbeit, als wäre sie eine Negersklavin und die Peitsche des Farmers über ihr. Carvagno fühlte eine erstaunliche Verlegenheit. Er war überaus redselig, erzählte Schwänke aus seinem Tagewerk. Riesengroß wuchs in diesen freien Stunden die Erkenntnis seiner Schuld vor ihm auf.

Zehn Jahre waren sie miteinander verheiratet. Seit zwei Jahren, seitdem er Primarius der Abteilung für innere Krankheiten war, hatte er kaum einen Tag für sie Zeit gehabt. Er erwachte. Alles was mit ihr zusammenhing, selbst den Verdacht, hatte er zurückgewiesen, um frei zu sein für die Arbeit. Erleuchtungen betäubten plötzlich. Verkapselte Entschuldigungen, dumm, halb unverständlich, flössen in seine Rede. Die Frau nähte. Es war ihm kaum möglich, ihre Hand zu ergreifen. Zwischen ihnen standen Geschehnisse, die er nicht enträtseln konnte. Aber immer stärker fühlte er seine Schuld.

Um fünf Uhr und um sieben Uhr erlitt Bianca Ohnmachtsanfälle. Die zweite Bewußtlosigkeit, in die sie sich geflüchtet hatte, dauerte recht lange. Gelb, mit aufgelöstem Haar, lag ihr Kopf tief.

Die schwere Gehirnanämie, verbunden mit großem Blutandrang zum Herzen, war in ihrem Zustand – Carvagno wußte es – nicht unbedenklich.

Als sie erwachte, beschwor ihn ihr Blick:

Allein sein!

Er verstand die flehentliche Bitte nicht gleich.

Nachdem alle ärztliche Fürsorge getroffen war, lag im weißen Nachtkleid, abgewandten Hauptes, ein Weib im Bette, das seinen Körper, weil es nicht fliehen konnte, reglos dem Raum überließ. Sie sprach nicht mehr.

Noch nie hatte sich Carvagno so schmerzlich fremd im Zimmer seiner Frau gefühlt wie jetzt.

Vielleicht würde sie nun schlafen.

Obgleich er wußte, daß sie wach war, verließ er auf Zehenspitzen und mit trübe dröhnendem Hirn das Zimmer.


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