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In den ersten Novembertagen brachte Doktor Platania Iride auf die interne Abteilung der Poliklinik, wo sie ein winziges aber eigenes Zimmer erhielt. Das geschah nicht deshalb, weil die häusliche Pflege nicht mehr hinreichte – der Zustand der Patientin war nach wie vor der gleiche –, sondern weil sich der Hausarzt in der Krankheit gar nicht mehr auskannte. Er wäre geneigt gewesen, in Irides Mattigkeit, Kopfschmerzen, Schwindelanfällen und in der neuerdings hinzutretenden Nahrungsverweigerung eine Form der jugendlichen Hysterie zu erblicken, hätten ihn nicht gewisse organische Veränderungen stutzig gemacht. Mit Irides Hospitalaufenthalt verfolgte er die Absicht, die Kranke unter ständige Beobachtung zu stellen und seine eigene Verantwortlichkeit mit anderen Kollegen und zuvörderst mit der klinischen Kapazität des Faches zu teilen. Das sagte er auch dem Vater offen heraus.
Für Don Domenico bedeutete die Überführung seines Kindes in ein öffentliches Krankenhaus den schwersten Schlag seit der Unglücksnacht des Karnevals, obgleich er an Doktor Platanias Versicherung fest glaubte, daß keine Gefahr bestehe und mit dem prekären Ortswechsel nur ein Akt der Vorsicht geübt werde. Sein Stolz empfand in dem ganzen Komplex von Krankheit, Spital und was sonst dazu gehörte, nicht nur ein Unglück, sondern ebenso eine Schande. Durch Krankheit stieg der Mensch herab, durch Aufnahme in ein Siechenhaus, selbst wenn es eine private Casa di cura war, wurde er deklassiert. Das Klägliche, das Unterbürgerliche griff nach solchen Familien, die ein Mitglied in fremde und berufsmäßige Pflege abgeben mußten. Sie traten damit gleichsam aus dem heiligdunklen Bezirk der häuslichen Abgeschiedenheit, sie machten sich im Schmerze gemein, sie zeigten ihre Wunden offen den Vorübergehenden, die Straße hatte ein Recht, ihnen nachzublicken. Das ist eine kühle Analyse dessen, was im Herzen Don Domenicos vorging, als er dem Antrag Doktor Platanias zustimmte. Doch es wäre ungerecht, zu verschweigen, daß neben diesen feinfaserigen Schamgefühlen in seinem Herzen auch die bange Sorge um das Kind mahnend wuchs. Doch davon merkten weder die Schwestern noch der Hausarzt etwas, obgleich Papa die Übersiedlung der Kleinen unverzüglich anordnete. Iride selbst hatte nichts dagegen, da ihre neugierige und abwechslungshungrige Natur frischen Erlebnisstoff witterte. Es wurde beschlossen, das heißt Papa erließ den Befehl, daß Annunziata so viel Stunden des Tages wie nur möglich bei Iride verbringen solle. Die Küche hingegen ward Grazia nunmehr vollständig anvertraut, bis auf die Tage, wo sie und Annunziata auf Vereinbarung ihre Dienste tauschen würden.
Don Domenico erschien nun täglich um drei Uhr in der Poliklinik und saß eine halbe Stunde lang an Irides Bett. Die Ärzte hatten sich darauf geeinigt, daß hier ein Fall von Leukämie vorliege, von jener Erkrankung des Blutes, bei der die roten Blutkörperchen von den sich mehrenden weißen, den Leukozyten, verdrängt werden. Iride hatte also jüngst mit ihrer überbewußten Selbstdiagnose recht gehabt. Domenico Pascarella fragte den leitenden Professor um sein aufrichtiges Urteil. Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Ein leichter Fall. Das Stadium günstig. Es werde nichts unversucht bleiben. Die Heilung jedoch beanspruche geraume Zeit. Auch diese hoffnungerweckende Äußerung vermochte die verborgene Niedergeschlagenheit nicht zu bannen, die sich Don Domenicos bemächtigte. Doch war es eine andere Prüfung als jene, der er durch den Zusammenbruch seines Geschäftes nun schon so lange unterworfen war. Diese hatte ja in ungeahnter Weise seine Kampfeskräfte geschärft, während die Sorge um Iride, zu der gleichfalls verschwiegenen Sorge um die Brüder in Brasilien tretend, ihn lähmte und müde machte. Nach so vielen Jahrzehnten der Wohlfahrt drohte ein einziges Jahr des Unheils sein Leben aufzubrauchen. Derartige Anwandlungen der Schwäche setzten ihm freilich erst zu, seitdem er Iride im Hospital besuchte. Er haßte von ganzer Seele den Tod und dessen Nachbarschaft. Greulich war es ihm jedesmal, über die übelriechenden Höfe und Gänge des Krankenhauses seinen Weg suchen zu müssen. Don Domenico schätzte das Sonnenlicht, die Reinheit, die Herrlichkeit, die Ehre, einen andächtigen Familientisch, zuchtvolle Kinder, die Abgeschlossenheit des Hauses, den Gesang, die Oper Gioconda, – und wenn es ans Sterben ging, so sollte sich auch diese Lebensstunde in einer gesetzmäßigen und geheiligten Zeremonie vollenden. Er gedachte ordnungsgemäß auf seinem Totenbett zu liegen, oben im Halbstock der Via Concordia, in gewohnter Umgebung. Annunziata und Placido, Grazia und Lauro, Ruggiero und Iride, alle, alle sollten um sein Bett knien und die kargen Vaterworte des Abschieds entgegennehmen, mit denen er auch noch als ein Toter ewig unter ihnen bleiben würde. Daß ihm eines der Kinder im Tode vorangehen könne, das erschien ihm als regellos und gottverboten. Nun aber hatte eine Macht eingegriffen, der alle Ordnung und Reinheit zuwider war. Das Niedrige (unter Battefioris Führung) empörte sich und zog ihn hinab. Das Barometer seines Lebens stand auf dem Zeichen Bankerott und Spital. Die Söhne hatte er ziehen lassen, und sein jüngstes Kind lag in dem häßlichen Haus, dessen Torgang er nur mit Grauen betrat.
Es war sehr traurig, daß die neuerliche Verdüsterung gerade in dem Zeitpunkt eintrat, da Don Domenico zum erstenmal das Recht gehabt hätte, ein wenig aufzuatmen. Der fast neunmonatige Verteidigungskrieg, den er bis an die letzten Grenzen seiner Kraft führte, begann gute Früchte zu zeitigen. Die Reisen zu den Weinleuten, Gastwirten, Schiffern und kleinen Grundbesitzern der Umgebung schienen sich belohnen zu wollen, all diese Fahrten in den vollgepferchten Zügen, bei Regen und Höllenhitze, all das vergebliche Warten in dumpfigen Räumen, all das Reden, Raten, Handeln, Ausweichen, Anbieten, Zurücknehmen, dieses ganze demütige oder zupackende Treiben, das er nach einem Leben untadeliger Würde im Alter auf sich nehmen mußte. Es war nach und nach gelungen, die meisten dieser kleinen Gläubiger, die ländlichen Sparer und Einleger, zur Zinsenstundung zu bewegen, indem Don Domenico sie davon überzeugte, daß sein Ruin nicht minder den ihren bedeute. Die hohen Herrschaften freilich zeigten sich weit weniger zugänglich. Nur ein großes Bankhaus, das Don Domenico persönlich schätzte, gewährte ein Moratorium. Die anderen frevelhaften Verbindlichkeiten, die Battefiori eingegangen war, mußten beglichen werden. Durch Pascarellas beispiellose Anspannung war es bisher wenigstens geglückt, den Zusammenbruch hinauszuschieben und, wer weiß, vielleicht abzuwenden. Noch blieb die Ehre unangetastet.
Daß aber die Dinge für ihn weit besser lagen als er ahnte, erwies sich erst jetzt im November, als er an zwei ruhigen Vormittagen aus sämtlichen Kontis eine rasche Vorbilanz zog. Obgleich es, wie schon gesagt, untunlich ist, das ganze geschäftliche Gewebe der Firma Pascarella hier bloßzulegen, so müssen doch die wichtigen Ursachen der Wandlung angeführt werden.
Häusliche Ersparnisse? Nun, sie stellten das Äußerste des Möglichen dar. Der Verbrauch war bis zur untersten Grenze des Möglichen herabgesunken. Die Mädchen hatten sich über alles Maß bewährt, indem sie an jedem Stückchen Zucker, an jedem Zwirnfaden und an jeder Minute des elektrischen Lichtes geizten. Doch zu den wichtigen Ursachen gehörte nicht einmal die Entlassung des Aziendapersonals. Trotzdem aber muß eingestanden werden, daß der Vater auch die dreihundert Dollar Ruggieros (kein Irrtum, der Jüngste hatte der ersten Sendung noch einmal hundert folgen lassen) nach Wunsch für das Geschäft verwandte. In der damaligen Umrechnung ergaben sie eine Summe von mehr als sechstausend Lire. Don Domenico verabsäumte nicht, ein eigenes kalligraphiertes Konto »Pascarella Ruggiero« zu eröffnen und den Sohn somit unter seine Gläubiger aufzunehmen, was doch, wie man zugeben wird, an den Umsturz der Weltordnung grenzte. Wichtiger als all dies war der Aufschwung des laufenden Straßengeschäftes, den der Fremdenzustrom in diesem Frühjahr mit sich brachte. Doch weder er, noch die Gewinnung von drei oder vier neuen Kommittenten hätten genügt, die Besserung der Lage zureichend zu erklären. Die Entscheidung zum Guten kam von anderer Seite.
Man wird sich erinnern, daß nach Renato Battefioris schändlicher Flucht Don Domenico sogleich sein ganzes Vermögen in die allzu leichte Waagschale geworfen hatte. Dieses Vermögen bestand bekanntlich aus der Mitgift der Mädchen, aus Mamas Schmuck, aus einem Hausanteil und dem Grundstück außerhalb der Peripherie Neapels. Die ersten drei Vermögensteile wurden unverzüglich realisiert. Der Verkauf des Grundstückes zog sich hinaus. Und gerade auf dieser Verzögerung ruhte ein reicher Segen. Im Sommer nämlich wurde bekannt, daß sowohl die Gemeinde Neapel als auch ein großes Industrieunternehmen, das einem Konsortium englischer Kapitalisten gehörte, den Besitz des Grundes und überhaupt des ganzen umliegenden Areals für ihre Zwecke anstrebten. Hatte man bisher jeden Quadratklafter dieser unebenen Wüste fast umsonst feilgeboten, so schoß jetzt, durch den Kampf der einander lizitierenden Mächte belebt, der Marktwert des Terrains blitzschnell in die Höhe, und Don Domenico Pascarella konnte das Grundstück schon im Oktober um das Vierfache des ursprünglichen Preises an die englische Gesellschaft losschlagen. Es war das beste Geschäft seines Lebens.
Die Bilanz bewies ihm noch immer nicht, daß er flott war. Hätte die Behörde von ihm Aufklärung über den wahren Stand der Dinge gefordert, so wären seine Schulden noch immer weit größer gewesen als seine Aktiven, und er mithin nach wie vor im kriminellen Sinne eigentlich ein betrügerischer Kridatar. Immerhin aber hatte sich im Laufe dieser neun Monate die Schuldensumme so unerwartet verkleinert, daß Hoffnung bestand, sie im Laufe der nächsten neun Monate völlig zu tilgen und das Gleichgewicht wieder herzustellen. Dann aber Schluß! Liquidieren und zusperren! Das schwor er sich zu.
Wenn Don Domenico jetzt alles klar überdachte, so waren ihm auf der Sollseite seiner (nun nicht mehr selbstrastrierten) Kontoauszüge jene grausamen Kredite am unangenehmsten, die Avvocato Gennaro Gnolli ihm zugeführt hatte. Sie zeichneten sich nicht nur durch einen unanständigen Zinsfuß aus, sondern waren groteskerweise, was Don Domenico sich erst durch Nachschlagen der Verträge ins Gedächtnis rief, über Nacht kündbar und mußten sieben Tage nach erfolgter Kündigung zurückerstattet werden. Der Zorn über die Zumutung dieser Verträge bildete eine der Ursachen des wilden Skandals, der am dreizehnten November verhängnisvoll zwischen Pascarella und Gnolli losbrach. Der unmittelbare Anlaß aber waren die »Spesen«, die der körperlich so hinfällige Advokat für seine Tätigkeit einzuheben geruhte.
Es kann gar nicht bestritten werden, daß so manches im Wesen Don Domenicos, dieses Mannes der Ehre und Ordnung, unerlaubt widerspruchsvoll ist. Wie »eigentümlich« im reinsten Wortsinn er die Wirklichkeit anschaute, weiß man ja von Anfang an. Ganz zu schweigen von seinem häuslichen Königreich, der Fall Battefiori zuerst und jetzt der Fall Gnolli bestätigen es aufs neue.
Avvocato Gennaro Gnolli hatte sich in der Kommerzwelt Neapels als Sachverständiger und Konsulent in schwierigen Lagen einen bekannten, wenn auch nicht angesehenen Namen erworben. Er wurde meist dann gerufen, wenn es brannte und wenn es durch findige und kniffige Mittel den Brand zu ersticken galt. Da er ein vielerfahrener Mann war und eine weitgehende Bekanntschaft besaß, pflegte sein Beistand in manchen Fällen erfolgreich zu sein. In Kenntnis dessen hatte ihn Don Domenico herangezogen und ihm vollen Einblick in die Katastrophe gewährt. Der Unglückliche war ja damals folgender Zweifelsfrage gegenübergestanden: Soll ich, der selbst nur das ehrenhaft unschuldige Opfer eines Verbrechers ist, den Zusammenbruch offen einbekennen, den Gläubigern alles hinwerfen und bis ans Ende meiner Tage als freier Bettler leben? Oder soll ich um meiner Kinder willen das Unheil vertuschen und versuchen, mich durchzuschlagen? Avvocato Gnolli war es in jenen Tagen gewesen, der durch tröstlichen Zuspruch die Zweifelsfrage positiv entschied, der mit pfiffigen Einfällen half, der Kredite brachte und sich auf viele Arten notwendig machte. Dann aber kam der Moment, in dem Gnollis Aufgabe beendet war. Und jetzt hätte jeder vorsichtige Kaufmann, der etwas auf sich hielt, diesen Geist entfernt, ihn abgelohnt und das Verhältnis so schnell wie möglich gelöst. Hierin aber versagte Domenico Pascarella, und man muß tiefer schürfen, um zu erkennen, warum.
Der erste Fehler: Don Domenico hatte mit Gnolli überhaupt keine Vereinbarung getroffen, das heißt, wenn die Rede darauf kam, war er der Verschiebungs- und Verschmierungstaktik des Advokaten erlegen. Später, wenn ihn sein Gewissen diesbezüglich mahnte, redete er sich auf die Überlastung mit hundert wichtigeren Problemen aus, ebenso wie er die langmütige Duldung Gnollis in der Azienda auf seine zerstreuende Reisetätigkeit zurückführte. Doch hätte er selbst zugegeben, daß ihn des Advokaten restlose Mitwisser- und Hehlerschaft unsicher mache, die Wahrheit wäre damit noch immer nicht voll eingestanden worden. Die tiefste Wahrheit war dies: Don Domenico hatte eine heimliche Schwäche für Koboldnaturen wie Battefiori und Gnolli. Er, der hochgestrenge Vater, der die reinste Form des Guten in seinen Kindern heranziehen wollte, er ließ zugleich das Böse und Schmutzige irgendwo durch eine Hintertür in seine Welt. Gewiß, er hatte Battefiori niemals ins Haus geladen. (War nicht die Tat des Kobolds die Vergeltung dafür?) Schließlich aber hatte er ihn ein Vierteljahrhundert lang am gleichen Schreibtisch ertragen samt seinem Zigarettengewölk, seinem Zeitungswirrwarr, seiner Unsauberkeit. Domenico Pascarella, der keinem Menschenschlag gegenüber schlaff und schwach wurde, war einzig diesem schleimigen und schmeichlerischen Typus verfallen. Er wirkte wie muskellähmendes Gift auf ihn. Und ärger noch, die Battefioris schienen in einem verborgenen Seelenwinkel sein Wohlgefallen zu erregen. Ein vertracktes Wohlgefallen, das sich in verächtlicher Behandlung der Betreffenden äußerte. War es aus der hündischen Schmeichelei und Selbsterniedrigung der Kobolde zu erklären? Man vergesse nicht, daß Don Domenico die Verfolgung Battefioris schon nach der ersten Nacht einstellte. Wenn dafür auch andre Gründe in Betracht kamen als der Wunsch, den Lumpen zu schonen, so war vielleicht auch jene ganz unbegreifliche Sympathie mit der Niedrigkeit dabei im Spiel. Das Rätsel muß leider ungelöst bleiben.
Die Sache mit den Spesen freilich war zu dreist, um Don Domenico nicht aufs äußerste zu erbittern. Hier rächte sich jene schwere Fahrlässigkeit, die ein Übereinkommen mit Gnolli verabsäumt hatte. Dieser tauchte in der Azienda auf, wann es ihm paßte, erledigte auf der bewußten Schreibtischseite seine privaten Geschäfte und benahm sich auch sonst durchaus im Sinne seines Vorgängers, nur daß er dessen Lebensrepertoire noch um das abwechslungsreiche Einnehmen von Tropfen, Pillen und Pulvern vermehrte. Je überflüssiger er wurde, um so regelmäßiger stellte er sich ein. Mit dem psychologischen Feingefühl eines echten Kobolds vermied er es jedoch, dem Patron täglich zu begegnen, was ja nicht schwer war, da sich dieser oft außerhalb Neapels befand. In solchen herrenlosen Stunden spielte Gnolli vor dem nunmehr auf zwei Mann zusammengeschrumpften Personal den Chef. Er gab Aufträge, schaltete und waltete nach eigenem Ermessen und setzte dafür »Spesen« in Rechnung, ganz abgesehen von den Provisionen, die er für zugebrachte Kundschaften einhob.
Dies alles war Don Domenico natürlich nicht ganz unbekannt, doch hatte er bisher nicht besonders darauf geachtet. Erstens bestand keine Abmachung darüber, wie Avvocato Gnolli für seine dankenswerte Anfangstätigkeit zu honorieren sei. Der Mitwisser konnte sich deshalb in dem Glauben wiegen, Pascarella erkenne in ihm eine Art stillen Gesellschafters an, dem er Vertrauen und bis zu einem gewissen Grade Verfügungsrecht gewähre. Und zweitens waren die Spesen, deren Buchung dem Prinzipal hie und da auffiel, nicht hoch und sicherlich auch entsprechend. Der Kassier, der keine Gegenweisung erhielt, zahlte sie auch prompt aus.
Erst die Generaldurchsicht der Bücher bewies, daß Don Domenico diesmal nicht einem großen, sondern einem kleinen Räuber auf den Leim gegangen war. Mehr noch als Empörung ergriff ihn schmerzhafte Bitterkeit. Er berechnete rasch, daß er für all diese Provisionen und Spesen nicht nur seine Töchter hätte aufs Land schicken können, sondern seine Söhne auch weiter zu Hause erhalten. Schuldgefühl und Reue war etwas, was diesem Manne sehr fern lag, nun aber streiften sie auch ihn in einer schwarzen Wolke von Wut.
Am dreizehnten November kam er schon sehr zeitig in die Azienda, aus Mißtrauen, Gnolli könne ihm entschlüpfen, obgleich dieser (wie Battefiori) niemals vor elf Uhr auftauchte. So geschah es auch heute. Der Avvocato mußte gleich bei seinem Eintritt brenzlige Luft gerochen haben, denn sein aufmerksamer Blick stand mit dem kecken Ton im Widerspruch, der Pascarella sogleich eine angenehme Mitteilung zu machen versuchte:
»Ich habe für Sie eine glänzende Sache ausgedacht. Aber Geduld bitte! Pazienza! Ich werde sie Ihnen erst am Ende der nächsten Woche verraten.«
Der Inhaber des Studio stand kerzengrade am Schreibtisch und gab keinen Laut von sich. Gnolli kostete den Ernst dieses Schweigens eine Weile aus wie eine Weinprobe, dann begann seine Gestalt einzuschrumpfen und sein Stimmchen wehleidig zu lachen:
»Wir können wirklich zufrieden sein, Don Domenico. Wir haben gut zusammen gearbeitet. Was sagen Sie? Und Ihre Bilanz? Ich bin überzeugt, wir sind bereits heraus, wir sind auf gleich, wenn nicht gar schon aktiv, wie?«
»Wieso wir?«
Es klang eher bebend als eisig. Der Advokat ließ sich seufzend auf Battefioris Platz nieder. Um zu betonen, wie sehr er sich noch immer zu Hause fühle, zog er sein medizinisches Heilmittelinventar aus der Tasche und reihte die Fläschchen und Schächtelchen mit gezierten Gesten vor sich auf. Es war wie eine stumme Musikbegleitung zu seinen Worten:
»Mein Gott, ja! Sie haben recht, Don Domenico. Ich habe einige Ideen gehabt und Ihnen beträchtliche Kredite geschaffen. Aber wirklich gearbeitet haben nur Sie. Nur Sie haben das Unmögliche möglich gemacht. Das ist die lautere Wahrheit.«
Domenico Pascarella blieb noch immer leise:
»Vor allem stehen Sie auf. In einem fremden Hause nimmt man nicht ungebeten Platz.«
Gennaro Gnolli stand wirklich auf. Er tat das nachsichtig wie ein verständiger Mann, der einem großen Kinde jeglichen Gefallen erweist. Dabei lächelte er noch immer, als wäre das aufmunternde Lächeln von vorhin auf seinem Gesicht aus purer Vergeßlichkeit liegen geblieben:
»Was haben Sie denn heute?«
Don Domenico holte mit einem gewaltigen Ruck das Kassabuch heran und öffnete es:
»Ich fordere Sie hiermit auf, mir Ihre sogenannten Spesen Punkt für Punkt nachzuweisen!«
Avvocato Gnolli schloß halb die Augen und legte den Kopf schief nach rechts, als sei er zu müde, ihn aufrecht zu halten. Es war die richtige Koboldgebärde der moralischen Schreckensverwunderung über Undank und Bosheit der Welt. Battefiori hätte es genau so gemacht. Don Domenico glaubte seine Stimme zu hören:
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ich frage, woher nehmen Sie das Recht, sich hier herumzutreiben und dem Kassier dafür Spesenrechnungen vorzulegen?«
Der Advokat dachte eine Weile nach, indem er sich an seiner kleinen Evazigarette festsog, mit der freien Hand aber langsam von der Hüfte gegen den Magen fuhr, als nahe von dorther tückische Gefahr:
»Verzeihen Sie, werter Don Domenico, wäre es nicht besser, diese Unterredung auf eine günstigere Stunde zu verschieben?«
»Wir werden dazu keine Gelegenheit mehr haben!«
Pascarella hatte seine Stimme nicht länger in Gewalt. Um so besonnener aber und traurig-leiser wurde der andere:
»Ich liebe keinen Streit. Er ist für mich überhaupt das Ärgste. Darum habe ich auch nicht geheiratet. Ich bin ein sanfter und sehr kranker Mensch. Nur ungern spreche ich von meinen Verdiensten. Sie zwingen mich leider dazu, Sie zu erinnern, daß ich im Februar dieses Jahres Ihr Geschäft durch gewisse Kredite gerettet habe ...«
Don Domenicos Faust hieb donnernd auf die Kontrakte nieder:
»Diese Kredite sind eine Gemeinheit!«
»In Ihrer Situation bekommt man keine anderen. Es war schon eine enorme Leistung, sie Ihnen zu verschaffen. Einem andern wäre es nicht gelungen.«
Gerade die Tatsache, daß in diesem Satz einige Wahrheit enthalten war, brachte Don Domenico um die letzte Ruhe:
»Sie sind ein Dieb! Sie bestehlen mich!«
Gnolli knickte zusammen und bohrte beide Fäuste tief in die Magengrube:
»Da haben Sie es nun«, ächzte er schadenfroh, »da haben Sie es nun.« Sein schmerzverzerrtes Gesicht wandte sich gierig den Medikamenten auf dem Schreibtisch zu. Vorsichtig ließ die eine Hand den Magen los, den nun die andere ganz allein festhalten mußte wie ein ungebärdiges Tier, das am Strick reißt. Er packte eine der Tropfflaschen und hielt sie hoch, um sich die abgemessene Flüssigkeit von oben in den Mund zu träufeln. Nach dieser Anstrengung hatte seine Stimme wie die eines Sterbenden mit der Welt abgeschlossen:
»Wenn Sie diese Beleidigung nicht zurücknehmen, Don Domenico, ist sie nicht mehr ungeschehen zu machen.«
Und da Don Domenico nichts zurücknahm, gedachte die erlöschende Stimme wehmütig der vergeudeten Tätigkeit:
»Seit neun Monaten arbeite ich tagtäglich für Sie ... opfre Ihnen meine ganze Zeit ... Die Verluste, die ich durch Sie erleide, übersteigen zwanzigfach diese lächerlichen Spesen, mit denen ich nicht einmal meine Taxiunkosten decken kann ... Im übrigen ... ich schenke sie Ihnen, Commendatore!«
»Ich bin kein Commendatore.«
»Ich weiß auch, warum Sie es nicht werden können.«
Domenico Pascarella hielt sich an der Schreibtischkante fest:
»Was heißt das?«
Avvocato Gnolli sah verschämt zur Seite, als sei er wider Willen gezwungen, Intimitäten preiszugeben, die noch weit unantastbarer sind als Liebesgeheimnisse:
»Sie kennen ja meine großen Beziehungen. Man ist sich über manches schon im klaren, Signor Pascarella. Bisher aber habe ich Sie immer gehalten.«
Er tastete jetzt beruhigend seine linke Seite ab, um das gekränkte Herz in Schach zu halten. Dabei streifte er wie zufällig das Parteiabzeichen im Knopfloch. Don Domenico aber neigte sich gierig immer weiter vor:
»Sie ... haben mich ... gehalten??«
Der Advokat trat ein wenig zurück. Sein Gesicht nahm den gezuckerten Ausdruck mystischer Informiertheit und pietistischer List an, den man in allen diktatorisch beherrschten Ländern immer dann antrifft, wenn das Gespräch sich dieser Herrschaft nähert:
»Nicht das, was Sie meinen, Signore. Um Ihre Geschäfte kümmert sich vorläufig noch niemand. Aber Ihre – wie soll ich es nur sagen? – Ihre Sympathien sind recht unklar. Ich habe Sie bisher noch nicht fallen lassen. Und wenn Sie wieder zur Vernunft kommen, so ...«
»Hinaus!« brüllte Domenico Pascarella. Und da Gnolli sich nicht rührte, sprang er hinterm Schreibtisch hervor, packte den kleinen Mann und stieß ihn zur Wendeltreppe, die in den Straßenladen führte. Der Advokat kam zu Fall und polterte auf allen vieren ein paar Stufen hinab. Es war eine Szene wie in der alten Komödie. Pascarella schrie dem Praktikanten unten zu:
»Hinauswerfen, wenn er sich noch einmal zeigt!«
Dann raffte er mit bebenden Händen die Arzneiflaschen und Schachteln vom Schreibtisch und schleuderte sie dem Kobold nach. Eines der Fläschchen zerbrach. Wie der Teufel Schwefelgestank, so hinterließ Gennaro Gnolli den süßen Geruch von Medizinaläther, der mehrere Tage lang auch durch fleißigstes Lüften nicht aus dem Studio zu vertreiben war.
Nachher verbrachte Don Domenico, obgleich die Essenszeit vorüberging, noch zwei Stunden in dem engen Raum. So mitgenommen hatte ihn der Vorfall, daß seine Glieder ihm nicht gehorchten und er sich deshalb nicht forttraute. Er verzichtete auf seine Mahlzeit und begab sich gegen drei Uhr gleich ins Hospital, um Iride zu besuchen. Sie hatte am Vormittag irgendwelche Injektionen empfangen und schlief jetzt fest und wie betäubt. Don Domenico starrte aus großen, etwas vorgewälzten Augen auf sein Kind. Es war ein trauriger und zugleich sonderbar gieriger Blick. Um halb vier Uhr kehrte er wieder in die Azienda zurück. Die Kündigung jener ominösen Kredite lag schon auf seinem Schreibtisch.
Sieben oder acht Tage früher hatte Annunziata ein rätselhaftes Erlebnis gehabt, das die meisten leicht auf den Begriff des Sinnentrugs zurückführen werden. Iride war an demselben Tag ins Krankenhaus eingezogen und zeigte, durch die traurige Umgebung tief niedergeschlagen, eine von Stunde zu Stunde wachsende Nervosität. Annunziata sann auf ein Mittel, sie heiter zu stimmen. Nun liebte Iride noch immer nach Kinderart nichts leidenschaftlicher als jene klebrige Sorte von Fruchtkaramellen, die in prächtig unnatürlichen Farben prangen. Die Schwester machte sich also nach fünf Uhr auf den Weg, um in einem bekannten Zuckerwerkladen auf der Via Roma ein Päckchen dieser Karamellen für die Kleine zu besorgen. Es regnete und die schmutzige Dämmerung des Novembers herrschte, die sich wie eine glasig distanzerweiternde Materie zwischen die eilenden Menschen drängte. Trotz dem nieselnden Regen steigerte sich der abendliche Verkehr in jeder Minute. Insbesondere vor dem Geschäft, das Annunziatas Ziel bildete, standen und schoben sich die Leute am dichtesten. Es gab dort nicht nur Schokolade und Süßigkeiten aller Arten zu kaufen, sondern auch Kaffee, Tee, Marmelade und andere Artikel des täglichen Hausbedarfs. Im Hintergrund des Lokals war überdies ein Espressoschrank eingerichtet, der viele Männer von der Straße abzog. Gerade als sich Annunziata dem Laden näherte, flammte die Bogenlampe auf und besonnte den matten Regen in ihrem Kreis wie einen tanzenden Mückenkranz. Zugleich wurde auch eine Reklame im Schaufenster magisch erleuchtet. Sie stellte das Modell einer altertümlichen Fregatte oder Caravelle mit hohem Bug dar, die zwischen zwei gemalten Wellen-Versatzstücken automatisch schaukelte. Darüber stand in rötlicher Transparentschrift zu lesen: »Caffè Santos«.
Annunziata blieb vor der Auslage stehn und betrachtete träumerisch das alte Schiff, das auf papierenen Wogen von Brasilien heimwärts schaukelte. Zugleich aber betrachtete, dicht neben ihr, eine andere Dame dieses Schaufenster. Ihr fiel zuerst der unmoderne Schirm auf, den die Dame, trotz dem Regen, geschlossen in der Hand hielt. Der Schirm mußte schon deshalb auffallen, weil er ganz verbogen, ja fast zerbrochen aussah. Die Handschuhe der Dame waren hell. Sonst aber schien sie Trauer zu tragen oder wenigstens tief dunkel gekleidet zu sein. Auf einmal kam Annunziata die Nähe ihrer Nachbarin unglaublich bekannt vor, alles, der altmodische Hut mit dem Halbschleier, der schwarze Mantel mit dem dürftigen Astrachankragen und mehr noch als alles andere der Regengeruch des durchnäßten Stoffes. Die Fremde löste sich von der Spiegelscheibe, um in das Geschäft einzutreten. Aber in der Tür drehte sie sich nach Annunziata um, die ihr folgen wollte. Ein kummervoller, doch verschwörerischer Blick aus Augen, die durch den Schleier zwar beschattet, aber auch vertieft wurden: Vorsicht! Wir sind nicht allein. Tu das Deine! Annunziata blieb regungslos in der Menschenströmung stehn. Zwei volle Minuten brauchte sie, damit sich der Schwamm ihres Bewußtseins mit der Erkenntnis vollsauge: Mama! Auch sie trat nun ein und kaufte wie im Tiefschlaf ihre Karamellen. Sie versuchte, sich Mama zu nähern. Aber diese wußte es so einzurichten, daß sie Annunziata immer den Rücken kehrte. Nur ihre Stimme konnte die Tochter deutlich vernehmen:
»Ein halbes Kilo Kaffee wie immer.«
»Bitte sehr, Signora. Gemahlen oder ungemahlen?«
»Ungemahlen! Die Drei-Stern-Sorte.«
Diese reale Einkaufsformel überzeugte Annunziata noch keineswegs, daß sie sich getäuscht habe. Vielleicht lag darin eine Verschlagenheit, eine angenommene Banalität der Toten, mittels welcher sie sich der Menschenwelt assimilierte. Sie zahlte sogar umständlich an der Kassa, wobei sie den alten Schirm unter den Arm steckte. Dann aber wurde Annunziata nochmals von dem schweren und trostlosen Blick getroffen, der zu klagen schien: Warum hast du dich nicht gerührt, Kind? Warum hast du unsere Begegnung nicht ausgenützt und die letzte Möglichkeit damit versäumt?
Schon an der nächsten Straßenecke sagte sich Annunziata: Das Ganze war natürlich ein Unsinn. Ich leide und ängstige mich um Lauro. Irgendeine Ähnlichkeit an dieser Dame, ihr schwarzer Mantel mit dem Fellkragen und vor allem der nasse Geruch hat das Bild heraufbeschworen. Das ist klar. Und der Blick? An dem war ja nur der Schleier schuld. Und nun erschien es ihr nicht mehr als eine Kriegslist, daß abgeschiedene Geister Kaffee kaufen.
Diese einleuchtende Beruhigung wirkte aber nur auf die Oberfläche ihres Gemütes. Die tieferen Schichten vermochten mit dem Erlebnis nicht fertig zu werden. In der Nacht erhoben sich beklemmende Fragen: Was hat der verbogene Schirm für eine Bedeutung? Wollte sie mit mir sprechen? Weiß sie etwas von Lauro?
Am nächsten Tag suchte Annunziata nach langer Zeit wieder die Kirche Santa Maria Avvocata auf und beichtete. Nachher bat sie den Pater Ildefonso leise, noch ein paar Worte sprechen zu dürfen:
»Hochwürden ... Ich habe nicht vergessen ... Und wenn ich jetzt dieses Leben verlassen will ...«
Schwerflüssig nur löste es sich von ihren Lippen. Immer sah sie Suor Concetta vor sich mit dem eingefatschten Dantegesicht. Der Priester schien nicht überrascht:
»Haben Sie Ihren Entschluß unwiderruflich gefaßt, meine Tochter?«
Um den lippenlosen Mundschnitt blitzte es stumm: Sind wir also so weit? Habe ich deine Seele richtig erlotet? Annunziata wich aus:
»Ich frage ja nur ... Wenn ... Oh, es wird schwer sein ...«
»Ich weiß das, meine Tochter. Die Familie! Man wird es nicht dulden. Man wird Sie vielleicht verfolgen. Doch Sie sind großjährig, nicht wahr? Wenn die letzten Zweifel in Ihnen selbst besiegt sind, dann kommen Sie, kommen Sie zu mir! Ich werde Ihnen helfen und Sie schützen.«
Nach diesem Gespräch kehrte Annunziata in ihren Alltag zurück, ohne sich vor den Schwestern das geringste anmerken zu lassen. Sie verbrachte viele Stunden bei der ungeduldigen Iride, sie nahm, so oft es nur ging, Grazia den Küchendienst ab und sorgte aufmerksam für alle Bedürfnisse Papas wie bisher.
Am dreizehnten November aber, und wiederum gegen Abend, begegnete sie zum zweitenmal der Erscheinung Mamas. Diese Begegnung war weniger natürlich erklärbar und seelenzerrüttender als die erste. Annunziata hatte die Klinik verlassen, um Grazia daheim zu helfen, denn Giuseppe, durch die Ereignisse um seinen Hauptberuf betrogen, wurde täglich fauler und unbrauchbarer. Sie bog von der Via Roma in eine schmale Gasse ein, die zur Via Concordia ziemlich steil emporführt. Vor ihr polterte eine Pferdedroschke in der Dämmerung den Vico langsam hinan. Annunziata folgte dem Gefährt immer im gleichen Abstand. An der Ecke der Via Concordia überholte sie den Einspänner und wartete, ob er weiter zum Corso Vittorio Emanuele hinauffahren oder den Weg in ihrer eigenen Wohngasse fortsetzen werde. Ein Blick in den Wagen. Der Fahrgast war Mama. Nicht die Dame aus dem Kaffeegeschäft. Eine andere Dame, aber doppelt und dreifach mehr Mama als die frühere. Die Kleidung ließ sich in der Dunkelheit nicht erkennen. Das Gesicht aber leuchtete fahl unter dem Hut, dessen sich Annunziata noch gut erinnerte. Und das Furchtbarste! Mama erkannte ihre Tochter, erhob sich in der Droschke ein wenig, drehte sich ihr zu und breitete die Arme aus. Und dies war keine Gebärde der Liebe, sondern eine Gebärde unauslöschlichen Schmerzes, ein ›Zu spät für ewig‹. Annunziata machte zwei Schritte auf den Wagen zu, der eine ganz gewöhnliche neapolitanische Taxameterdroschke mit einem schläfrigen Kutscher war. In diesem Augenblick aber zog das Pferd an, und der Wagen rollte in donnerndem Trab durch die menschenleere Via Concordia dem Pascarellahaus entgegen. Dort schien er ein paar Sekunden zu halten, um dann mit dumpferem Lärm im Vico San Mattia zu verschwinden.
Annunziata floh im Laufschritt. Sie rannte zweimal die Via Roma auf und nieder. Dann kehrte sie zu Iride zurück, wo sie eine Stunde wortlos im finsteren Zimmer sitzen blieb. Gegen neun Uhr wagte sie es endlich wieder, die Via Concordia zu betreten. Sie betete im Gehen, doch nicht mehr, um erhört zu werden, sondern um zu beten. Ein Ave-Maria nach dem andern fiel von ihren flüsternden Lippen. Mehr als eine halbe Stunde stand sie dann noch unentschlossen im Hausflur, bis das eintraf, worauf sie mit eiskalten Gliedern wartete, seitdem ihr Mama das Unabwendliche in einer zweiten Begegnung angekündigt hatte.
Am Abend dieses dreizehnten Novembers kam Don Domenico, noch immer durch den Auftritt mit Gnolli verstört, schon um sieben Uhr nach Hause. Da seit der Umwälzung der Lebensverhältnisse sich das späte Abendmahl eingebürgert hatte, war Grazia bei Papas Heimkehr noch lange nicht mit dem Essen fertig. Diese Hauptmahlzeit des Tages, der Pranzo, erforderte die meiste Mühe und Aufmerksamkeit, da Papa jetzt mittags oft nur eine kleine Erfrischung zu sich nehmen konnte. Man mußte also außer Früchten und Käse zwei warme Gänge bereithalten. Heute hatte Grazia neben einer Zuppa di fagioli ein Stück Capretto in der Bratröhre, das noch lange nicht daran dachte, weich zu werden. Giuseppe hockte wie immer, ablehnend interessiert, auf einem Küchenschemel und sah dem Werke unverwandt zu, als brächte er damit folgende Meinung zum Ausdruck: Bei euch unzulänglichen Geschöpfen arbeitet nicht einmal das Feuer so, wie es sich gehört. Der Diener war in letzter Zeit sehr gealtert. Da ihm niemand zutrauen konnte, das Familienunglück habe ihm so stark zugesetzt, mußte angenommen werden, daß ihm die neue magere Lebensweise nicht gut anschlug. Grazia schrak zusammen, als sie draußen um diese ungewohnte Stunde Papas polternden Hausschritt vernahm. Dabei fuhr ihr das Messer, mit dem sie gerade arbeitete, tief in den Finger. Don Domenicos Stimme mahnte im Vorzimmer unerbittlich:
»Giuseppe, das Essen!«
Grazia begann sich trotz ihrer mit dem Taschentuch verbundenen Wunde nervös zu tummeln. Sie rührte in der Suppe, sie rückte mit der Pfanne, was nicht viel Sinn hatte, da ja die Eile der Köchin die Speisen um nichts rascher gar macht, als die Eile des Landmanns etwa das Getreide reif werden läßt.
Giuseppe trollte sich in die Sala da pranzo, um den Tisch zu decken, an welchem dann der ausgehungerte Vater saß und gedankenvoll auf das Abendmahl wartete. Er hatte zu hundert Überlegungen Zeit. Gnollis Spesen, eine runde Summe, ließen sich nicht ausschalten. Priscillas Lohn zum Beispiel war gegenüber dieser Summe eine Lächerlichkeit gewesen. Und jetzt mußten anstatt ihrer seine Töchter, vornehme junge Damen also, ein Amt besorgen, das alles eher als standesgemäß war. Weiter! Iride lag im öffentlichen Krankenhaus, auf dem Zahlstock zwar, aber immerhin im öffentlichen Hospital. Er konnte für sie keine feinere Heilstätte, keine gute Casa di cura bezahlen, aber diesem Lumpen, diesem Battefiori Nummer zwei, hatte er das Geld auf Konto »Spesen« nachgeworfen. Mit dem gleichen Refrain als Beschluß ging er Punkt für Punkt seiner Lebensführung durch. Und in dieses Lied mischte sich die Sorge wegen der gekündigten Kredite wie ein häßlich pfeifender Ton.
Endlich kam Grazia und hinter ihr Giuseppe mit den Schüsseln. Ihr Gesicht war rot und von der Herdhitze gedunsen. Die rechte Hand trug sie verbunden. Auch ihre Schönheit war, in dieser Stunde wenigstens, herabgekommen und entwertet. Dennoch sah Don Domenico jetzt seit neun Monaten wieder, daß seine Tochter schön war. Eine unbekannte Art von eingefrorenem Erbarmen schmolz bei ihrem Anblick. Sie waren heute nur zwei bei Tisch und saßen weit auseinander. Nur zwei, das erstemal, seitdem die Welt bestand. Beiden war es unheimlich. Vater und Tochter wurden verlegen, als befänden sie sich in einer Situation, die von ihnen fremdartige Anspannung verlangte. Ein Gespräch kam schwerfällig in Gang, man kann es nicht besser sagen:
»Wo ist Annunziata?«
»Ich weiß es nicht, Papa.«
Schweigen. Die rote Bohnensuppe wird in den Teller geschöpft, der Wein ins Glas geschenkt. Das Besteck beginnt zu klappern. Papa schlürft die Suppe angelegentlich und hörbar wie immer. Da hält der Löffel auf dem Wege vom Teller zum Munde inne:
»Annunziata sollte doch eigentlich schon zu Hause sein, eh?!«
»Wir haben dich heute nicht so zeitig erwartet, Papa.«
»Wo kann sie denn stecken?«
»Ganz sicher bei Iride, Papa.«
»Bei Iride? Nun ja ...«
Grazia hört beim dritten Löffel zu essen auf. Sie hat Angst, ihr müsse übel werden. Nichts Körperliches. Die rote Farbe der Suppe erinnert sie an irgendwelche scheußliche Traumvorstellungen. Papa bemerkt gar nicht, daß sie nichts ißt. Er sitzt tief über seinen Teller gebeugt, löffelt mit stattlicher Kraft und schlürft in musikalischen Tönen, oft genußvoll dazwischenstöhnend, die Suppe mit den großen braunroten Bohnen in seinen gierigen Mund. Als er mit der Portion fertig ist, beginnt er eifrig im Teller herumzuschaben, um die gestockten Reste der Brühe noch auf den Löffel zu bekommen. Der kreischende Klang der gesunden Gier schauert Grazia den Rücken hinab. Was ist doch so ein Mann für ein Mensch? Diese unnütze Frage stellt sie sich, ehe Giuseppe den nächsten Gang bringt. Papa arbeitet mit der Serviette an seinem ausgezogenen Schnurrbart:
»Heute sieht Iride schon besser aus.«
»Findest du, Papa?«
»Nach dieser Beobachtung in der Poliklinik werde ich sie sofort aufs Land bringen. Nach Capo Miseno vielleicht. Annunziata geht mit mir. Das ist jetzt das Wichtigste. Gute Luft tut größere Wunder als alle diese Ärzte zusammen.«
»Es ist sicher das Wichtigste, Papa.«
Giuseppe bringt den Braten, stellt ihn vor Don Domenico hin und tritt zurück. Es ist ein einziges größeres Rippenstück. Papa stürzt sich darauf, macht aber mitten in seiner Bewegung halt:
»Und du?«
»Ich bin fertig, Papa.«
Und mit einem unmerklich leisen Nachdruck in der Stimme:
»Ich esse ja überhaupt kein Fleisch ... Schon lange nicht.«
Er stößt die Gabel in das Zicklein, und nachdem er Grazias Teller mit einem flüchtigen Blick gestreift hat, beginnt er zu knurren:
»Ah! Diese modische Fasterei! Wie oft soll ich euch noch sagen, daß ihr anständig essen müßt. Sonst werdet ihr zwei am Ende auch noch krank.«
Sie wendet nicht den Blick von seinem Teller. Wie ahnungslos bist du doch, Papa! Sie bleibt ganz kalt. Nicht eine Träne verirrt sich in ihr Auge. Da der Vater im Schelten fortfährt, vertröstet sie ihn:
»Ich werde ja noch Käse und Obst essen.«
Neues Schweigen. Papa gibt sich nur mehr leidenschaftlich dem Mahle hin und hat alles vergessen. Es ist nicht leicht, aus den Höhlen und Scharten des Kotelettknochens alles Fleisch herauszubekommen. Manchmal gleiten Gabel oder Messer aus und schrillen über den Teller. Da es nicht anders geht, nimmt Don Domenico den Knochen in die Hand und macht sich daran, ihn abzunagen. Dabei beißen seine noch unverbraucht jugendlichen Zähne dann und wann auf einen harten Knorpel, was ein imponierendes Knacken ergibt. Grazia wendet ihre Augen nicht von dem hungrigen Vater. Sie sieht ihn das erstemal essen, nein, rücksichtslos die Speisen vertilgen. Da erschauert sie vor dem, was angesichts des knochenabnagenden Vaters unbezähmbar in ihr aufsteigt: Haß. Das sumpfige Loch, das der versiegende Glaube zurückläßt, füllt sich mit schwarzer Substanz, mit Haß. Und dieser Haß ist nicht erst heute geboren. Krampfhaft versucht sie an Placido zu denken, um einen Halt zu finden. Wie soll sie weiterleben, wenn dieses schreckliche Gefühl nicht vergeht? Papa verlangt eine Fingerschale. Sie läuft dienstbeflissen in die Küche und bringt die geforderte Schale, mit warmem Wasser gefüllt. Der Vater mißt sie wieder, mit einem ihr unbekannten Blick:
»Ruggiero und Lauro haben schon dreimal geschrieben, Placido erst einmal, nicht wahr?«
Grazia drückt die Ellbogen an den Leib und verengt so ihre Angriffsfläche wie ein Tier in Kampfstellung:
»Placido ist gewiß sehr überlastet, Papa.«
»Überlastet? Was heißt das?«
»Er muß ja in seinem Büro die ganze italienische Korrespondenz besorgen.«
»Da könnte er einen Brief an uns auch noch mitbesorgen.«
»Placido fühlt sich in Rio nicht wohl, Papa. Er ist nicht zum Büromenschen geboren.«
»Das bin ich auch nicht, aber noch weniger zum Obenhinaus ...«
Grazias Körper brennt. Was hat Placido durch Papa schon seit Jahren leiden müssen?! Und dennoch bringt er ihm das Opfer seines Geistes und Lebens. Seine Idee war es, nach Brasilien zu ziehn, um dem Vater zu helfen und ihn zu retten. Eine tragische Kinderei, aus übermenschlicher Liebe stammend. Drei junge, lächerlich junge Burschen ziehen aus um ihres Vaters willen. Und dieser Vater mäkelt nach gewohnter Art weiter an Placido herum, anstatt zu weinen und sich an die Brust zu schlagen. Wer trägt die Schuld an dem ganzen Unheil? Wer hat in guten Zeiten ein Schreckensregiment geführt und im Mißgeschick drei Knaben mittellos und waffenlos ohne Widerstand in die Welt gehn lassen? Wie reimt sich das zusammen? Papa ist der Schuldige, Papa. Hundert Anklagen durchwirbeln Grazias Kopf. Grauenvolle Klarheit überfällt ihren Geist, der erblinden will wie ein Auge, das allzu grellem Lichte ausgesetzt wird. Sie wendet ihr Gesicht vom Vater ab, der gelassen eine Orange zerteilt:
»Wo nur die Annunziata bleibt? Iride wird doch schon längst schlafen.«
Sie antwortet nicht. Sie kann nicht reden. Denn könnte sie es, so müßte sie schreien. Entsetzliches Erwachen aus den Gewißheiten des Kindseins, aus dem einfachen fragelosen Glauben. Wie kann ein Mensch das überleben? Nein, Papa ist nicht gut, Papa ist nicht gut.
Don Domenico führt langsam die letzte Orangenspalte zum Mund. Er spürt nicht den schwächsten Hauch von dem Sturm, der in Grazia entfesselt ist. Allzusehr beschäftigt ihn ein eigenes Mißbehagen, das urplötzlich erwacht. Was ist geschehn? Welch dumpfe Einsamkeit umgibt ihn? Er hat keine schlimmeren Kinder als andere Leute. Und dieses Mädchen da? Man kann mit einer solchen Tochter zufrieden sein. Aber warum sind all seine Kinder so scheu zu ihm und so wortkarg? Man muß ja nicht gerade an Liebkosungen denken, an unstatthafte Grenzüberschreitungen. Aber es gibt doch einen anständigen Mittelweg. Warum kommt keines der Mädchen je zu ihm und berührt ihn mit der Hand und sieht ihm ins Auge und fragt ihn nach seinen schweren Sorgen? Noch nie hat er auch nur eine Spur von kindlicher Zärtlichkeit erlebt. Wieso kommt das? Er ist jetzt ganz erstaunt über diesen Mangel seines Vaterlebens, der ihm bisher noch nie aufgefallen war. Er sieht zu Grazia hinüber, die nach und nach ans andere Ende des großen Tisches geraten ist:
»Du sitzt so weit weg. Willst du nicht näher rücken?«
Ihr Gesicht verzerrt sich zu einer gepeinigten Grimasse:
»Ich kann nicht ...«
Diese erstaunliche Antwort bemerkt Don Domenico nicht mehr, denn kaum ist sie ausgesprochen, verlischt jäh das elektrische Licht. »Kurzschluß«, stellt er fest und geht an ein Fenster, das er öffnet. Doch auch draußen in der Via Concordia ist es stockdunkel, keine Wohnung leuchtet. Er murrt:
»Wieder einmal eine Schweinerei im Elektrizitätswerk, Überall Lumpenpack, mascalzoni, heutzutage.«
Grazia aber weiß es besser. Sie hätte nicht denken und fühlen sollen, was sie gedacht und gefühlt hat. Eine rasche drohende Antwort, die plötzliche Finsternis. Grazia ist straffällig für jenen gottverfluchten Haßanfall. Und sie weiß: Es muß kommen, die Treppen empor, zwei Stockwerke, bis zur Wohnungstür der Pascarellas. Vater und Tochter sitzen und warten, daß die Arbeiter im Elektrizitätswerk den Schaden beheben. Keiner spricht. Grazia schneidet in der Dunkelheit, sie weiß nicht warum, eine verrückte Fratze, als kitzle sie der Teufel.
»Hol Kerzen«, befiehlt endlich Papa.
Sie tastet sich langsam durch den Salotto bis in die Stanza della Mammina. Dort ist die Nacht am stofflichsten. Sie spürt den Widerstand der elastischen Schwärze im Vorwärtstappen. Auf dem Sims der Kaminattrappe steht ein dreiteiliger Kerzenleuchter. Ihre Hände erschrecken vor dem Metall, in dem ein leise prickelnder Strom zu kreisen scheint. Sie trägt den Silberleuchter Mamas in die Sala da pranzo und ist sich bewußt, damit eine Entheiligung, ja eine Art Kirchenraub zu begehen. Papa zieht seine Cerini aus der Hosentasche und entzündet alle drei Kerzen. Ein gelbes todfremdes Licht. Don Domenico hat das Fenster vorhin nicht gut verschlossen. Die Kerzenflammen neigen die Köpfe vor einem Zugwind, der nicht fühlbar ist. Grazia öffnet die Fensterflügel noch einmal und schlägt sie fest und laut zu. Während dieser Handlung spürt sie mit dem Rücken, daß jemand ins Zimmer getreten ist. Und schon hört sie Annunziatas Stimme, eine hohe und klirrende Stimme jetzt:
»Ein Telegramm, Papa.«
Die Finsternis hat die älteste Schwester im Hausflur überfallen. Wie wohl tat es, im ungegliederten Weltraum zu stehn, ohne rechts und links, ohne oben und unten, allein nur mit dem klopfenden Herzen! Als der Bote kam und mit seiner Taschenlampe die Parteientafel suchte, da streckte sie ruhig die Hand aus: Es ist für uns. Und dann mit ganz gelockerten Knien die Stiegen emporgeschwebt, als sei die Nacht der eigentliche Ort der Sicherheit und Orientierung. Der taube Giuseppe vernahm ihren Elfenschritt und öffnete, ohne daß sie erst läuten mußte. Und weiter unaufhaltsam, hinein in die Sala da pranzo, wo der heilige Leuchter auf dem Tisch flackert: Ein Telegramm, Papa.
Die Glühlampen beginnen zu blinzeln, dann zu zwinkern. Endlich beruhigt sich der neuerwachte Lidschlag dieses vernunftscharfen Lichtes. Es beherrscht nun wieder die Welt und läßt nichts zweifelhaft. Grazia hat noch Zeit, sich über Annunziatas Augen zu wundern. Die Pupillen sind so stark vergrößert, als hätte die Schwester Tollkirschen gegessen oder sich eine Atropinlösung eingespritzt.
Papa reißt die widerspenstige Depesche auf, liest und reicht sie Grazia. Grazia liest und reicht sie Annunziata. Annunziata liest und hört nicht auf zu lesen. Dabei enthält der Kabelstreifen nicht mehr als fünf Textworte:
»São Paulo. Lauro schwer erkrankt. Brief folgt. Placido, Ruggiero.«
Nach der ersten Erstarrung tritt Papa zur Wand, wo er mit abgekehrtem Gesicht etwa zwei Minuten stehen bleibt. Dann dreht er sich um und ist ein anderer. Ein Sturm von Optimismus und Aktivität hat sich seiner wie in allen verzweifelten Lebenslagen so auch jetzt bemächtigt. Er reißt die Tür auf und schreit:
»Giuseppe ... olà ... Giuseppe ... Zum Teufel ... Giuseppe!« Er packt den Diener an. Er schüttelt ihn:
»Sofort ans Hafenamt telephonieren, wann das nächste Schiff nach Brasilien, nach Rio oder Santos, geht! ... Was stehst du noch herum? Hinunter mit dir, zum nächsten Telephon! Avanti, du alter Kretin!«
Nun läuft er auf und ab und monologisiert eher, als daß er zu seinen Töchtern spricht. Nur hie und da wirft er ihnen Weisungen zu, ohne Antwort abzuwarten:
»Ich fahre hinüber ... Der Wievielte ist heute? ... Das wißt ihr natürlich wieder nicht ... Der Dreizehnte, ja, der Dreizehnte ... Am Fünfzehnten geht hoffentlich der Giulio Cesare ... Sicher geht er ... Die Fahrt dauert vier Wochen ... Sehr lang ... Aber zu spät, das gibt es doch nicht ... Vielleicht ist die Sache gar nicht so schwer ... Wenn ich komme, wird sich alles selbstverständlich ändern ... Sie sind zu jung ... Und das Klima ... Und Brasilien ... Habe ich es nicht immer gesagt ... Es hätte nicht geschehen dürfen ... Zu viel ist auf mir gelegen ... Also ich fahre ... Den Zwischendeckplatz müßt ihr mir morgen früh besorgen ... Verstanden? ... Wir wollen gleich einpacken ... Ich nehme nur das Nötigste mit ... Keine warmen Sachen ... Ihr könnt sofort den Koffer vom Boden holen ... Nein, eine kleine Handtasche genügt vollständig ... Nun, was, geht der Giulio Cesare übermorgen? ... Keine Verbindung mehr, du alter Kretin!? ... Ich fahre ... Er wird gehn, er muß gehn!«
Während dieses Ausbruches von überströmendem Leichtsinn, von donnernder Selbstberuhigung und leerem Tätigkeitswahn rühren sich die Töchter nicht. Grazia sitzt regungslos am Tisch, den Kopf auf beide Arme geworfen. Annunziata steht noch immer blind und taubstumm auf demselben Platz. Papa aber wird immer aktiver und zuversichtlicher. Da die starre Gegenwart der Töchter seiner Hoffnungswut in die Arme zu fallen droht, entläuft er hinauf in seine Zimmer. Dort reißt er die Schubladen auf, wirft Wäschestücke aufs Bett, schleudert Stiefel ins Zimmer und bereitet mit dröhnendem Willensrumor sein Gepäck zur Abreise.
Als erste der Schwestern bewegt sich Annunziata. Sie nimmt den noch immer brennenden Silberleuchter vom Tisch und trägt ihn hinüber in die Stanza della Mammina. Dort läßt sie sich langsam zu Boden gleiten. Das Gesicht auf den Teppich gepreßt, bleibt sie liegen. Sie selbst weiß nicht, wie lange.