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»Ah, Maulaufreißer, Wichtigmacher!«
Diesen Ausrufen, die von jenseits des Doppelschreibtisches kamen, der nebst der eisernen Kassa und einem abweisenden Sofa das enge Studio fast vollständig ausfüllte, schenkte Don Domenico nicht die geringste Beachtung. Eines der wenigen Laster, die er an Signor Renato Battefiori gefunden hatte, war ein phantastischer Zeitungsverbrauch, der alltäglich zu dieser Stunde, um elf Uhr vormittags einsetzte. Das ging schon seit mehr als dreiundzwanzig Jahren so, Pascarella sah von seiner Arbeit auf und überzeugte sich, daß sie alle in altgewohnter Weise versammelt waren, die »Stampa«, »Corriere della Sera«, »Mattino«, »Tribuna«, »Sole«, »Giornale d'talia«. In wüsten Formationen, halbzerknüllt, flügelschlagend, abrutschbereit, bedeckten sie den Schreibtisch seines Teilhabers. Wenn er es recht überlegte, so war die Schreibtischseite Battefioris der schwerst erträgliche Umstand dieser zwanzigjährigen Gemeinschaft. Im schreienden Gegensatz zu seinem eigenen ordnungsstrotzenden Gebiet bot sie das Bild einer stets sich wandelnden Erdbebenlandschaft. Die Post von einigen Tagen, umgestürzte Aschenbecher, Regimenter von Zigarettenresten übersäten die grüne Fläche, deren Farbe unter Tintenklecks und Aschenregen kaum mehr hervortrat. Ein Wunder, daß Battefiori bei solchen anarchischen Gewohnheiten seine Sache so trefflich verstand und das Geschäft nicht nur über die Kriegsjahre, sondern auch über die verschiedenen Entwertungszeiten heil hinüber gebracht hatte. Sehr schön! Aber Battefiori sollte sich nicht zu viel einbilden, er, ein alter Junggeselle. (In dieses Wort legte der Vater einen Abgrund von Verachtung.) Die Seele, das Rückgrat, der absolute Halt der Firma war und blieb doch er allein, Domenico Pascarella. Wohl hatte der Junggeselle den Parteienverkehr und Börsendienst im kleinen Finger. Er besaß unzählige Bekanntschaften, die immer neue Verbindungen ergaben: die Tugenden eines Straßenlungerers, Kaffeehausgastes, Allerweltsfreundes, kurz eines Junggesellen. All diese bodenlosen Künste wären ohne seine, Pascarellas, Ruhe und Sicherheit nutzlos und gefährlich gewesen.
Aus dem Zeitungsgewölk tauchte jetzt für einen Augenblick eine Glatze mit fünf eisengrauen Haarsträhnen, die an ihr klebten, und ein Gesichtchen dazu, schief geneigt, fast bittflehend, das zu jenen empörten Ausrufen gar nicht passen wollte. Dieser Anblick versöhnte Don Domenico. Battefiori gehörte nicht zur feindlichen Welt, so wenig er zu seinem eigenen Hause gehörte. Er war gewissermaßen ein Anrainer des Pascarellahauses und die Azienda hier lag vor den Toren dieser Burg. (Don Domenico nannte das Büro »Azienda«, so wie er sein Wohnhaus »Palazzo« nannte.)
In Wirklichkeit lag die Azienda keineswegs vor den Toren des Palazzo, sondern ziemlich weit davon entfernt auf dem großen Platz, der sich gegenüber dem Renaissance-Prachtbau des Castel Nuovo und dem Municipio entfaltet; und zwar auf dem unteren Teil dieses Platzes, hafenwärts, und nicht etwa oben, gegen die Via Roma oder Toledo zu. Dies muß eigens deshalb betont werden, damit es niemandem einfalle, die kleinen Bankgeschäfte, die auf der erwähnten oberen Seite liegen, mit der Azienda Domenico Pascarellas zu verwechseln. Und hier öffnet sich abermals eine widerspruchsvolle Perspektive. Don Domenico war seinem Beruf nach Bankier, wollte jedoch kein Bankier sein, und einer von der Via Santa Brigida schon gar nicht. Nein, er war kein Geldmensch. Sein durch das Verhängnis zerstörter Jugendtraum hatte der Landwirtschaft gegolten. Jetzt genoß er das Vertrauen der Weinbauern, Gastwirte und kleinen Schiffsleute der Umgebung. Diese Braven aus Capua, Caserta, Marcianise, Benevento, Avellino, Majori, Salerno vertrauten ihm ihre Ersparnisse an, die er verwaltete, und basta! Alles andre gehörte auf Battefioris Pflichtseite. Im übrigen konnte er sich über den Sozius nicht beklagen. Nicht nur hatte dieser im ersten Augenblick schon erkannt, wer Don Domenico war, er hatte auch unverzüglich die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen und sich immer bedingungslos unterworfen. Noch heute wahrte er die gebührende Form und federte respektvoll auf, wenn Don Domenico das Lokal betrat. Noch heute vermied er jeden Widerspruch und hörte mit angespannten Zügen die Wahrworte Pascarellas an, ohne sie zu unterbrechen. Für diesen waren solche Manieren nicht minder wichtig als die Tatsache, daß Battefiori auch bei großen Transaktionen nicht mit der Wimper zuckte. So hatte Don Domenico vor einigen Monaten die Mitgift seiner Töchter dem Unternehmen entzogen, um sie an sicherster Stelle vor allen Schwankungen zu schützen. Battefiori erklärte sich damals sofort einverstanden damit, ohne daß er wußte, zu welchem Zwecke das entnommene Kapital verwendet werde. Ebensowenig wußten übrigens die Mädchen, daß Papa für ihre Zukunft wirke und sorge. Was ging es sie auch an? Seiner Auffassung nach hatten junge reine Mädchen von Geld noch mindere Kenntnis zu haben als von Liebe. Don Domenico bevorzugte die verhüllte und unangesagte Tat. Es lag in seiner Natur, niemanden einzuweihen und diejenigen, die von ihm abhingen, am allerwenigsten. Auch Battefiori erfuhr seine Pläne erst im letzten Augenblick.
Einmal freilich hatte sich der kleine Mann gerächt. Das war die Geschichte im Vorjahr, als Domenico Pascarella eines Tages in die Azienda kam und die Tafel mit der dicken Aufschrift vorfand: »Cambio Valute – Geldwechsel«. Ein schweres Vergehen Battefioris, und er mußte es auch wochenlang büßen. In langen dramatischen Dialogen erschöpfte er händeringend aber vergeblich die kräftigsten und stichhaltigsten Argumente: Die Fremdensaison! Zehntausend Ausländer! Die gute Örtlichkeit! Die bereits erworbene Konzession! All dies zerschellte an des Gegners starrem: »Ich bin kein Wechsler!« oder: »Hängen Sie sich einen Korb um und klappern Sie in der Galleria mit Münzen, wenn Sie wollen!«
Doch auch diese Komödie fand eine des Protagonisten würdige Lösung. Als Battefiori an einem Herbstmorgen ins Geschäft kam, sah er nun seinerseits die verfemte und lang schon abmontierte Tafel wieder an der Azienda prangen. Was war geschehen? Hatte ihm Don Domenico vergeben? Nein! Er hatte nach längerer Überlegung seinen Willen gesetzt. Damit aber war der Geldwechsel zum vornehmen Gewerbe erhoben, was er ja auch unbedingt ist, wenn man an die verschiedenartigen Geschäfte der Großen, der Fürstlichkeiten und Politiker, denkt.
Domenico Pascarella beugte sich über seine Arbeit. Sie bestand darin, daß er mit roter, blauer, grüner Tinte und den dazu gehörigen Federn, sorgfältig liniierend und rastrierend, gewöhnliche weiße Kanzleibogen in kompliziertes Buchhaltungspapier verwandelte. Dies aber war beileibe keine Marotte des Geizes, der an Schreibutensilien Ersparnisse machen will. Wie ein empfindlicher Mann keine fertigen Schuhe kauft, so konnte er, dem die Buchführung oblag, keine fertigen Rubriken brauchen. Wie man sieht, mußten sich demnach auch die toten Dinge vor diesem Charakter beugen.
Die Stimme von drüben eiferte noch immer:
»Alato discorso! – Elevata dichiarazione! – Parole vibranti! – Pensiere eterni! – Un urlo frenetico della immensa folla! – Die unermeßliche Menge ein einziger frenetischer Aufschrei! O Gott, was noch?!«
Don Domenico liniierte ruhig weiter:
»Wie oft ermahne ich Sie schon, von all diesen unreinen Zeitungen abzulassen?!«
Battefiori stieß melancholisch zischend den Atem aus seiner allzu schmalen Nase:
»Sie haben leicht reden, mein hochverehrter Don Domenico. Sie sind ein Mann, wie es keinen zweiten mehr gibt. Sie besitzen Ihre eigene Welt. Sie sind glücklich. Aber ich? Versetzen Sie sich bitte einmal in solch einen Unglückswurm, wie ich es bin! Alt, einsam, verloren und, wenn ich auch mein tägliches Brot habe, schiffbrüchig. Was bleibt mir? Zum Ersatz für ein verspieltes Leben will man wenigstens erfahren, was vorgeht ...«
»Durch diese Blätter erfahren Sie ganz gewiß, was nicht vorgeht.«
In einem Anfall von entschlossener Ordnungsliebe faltete daraufhin Signor Battefiori seine Zeitungen zusammen, als sei er nunmehr durch Pascarellas schlagende Antwort für Zeit und Ewigkeit bekehrt:
»Das haben Sie brillant gesagt. Wie immer! Es ist alles Lug und Trug.«
Er neigte sein demütig lauschendes Runzelgesicht vor:
»Manches würde Sie vielleicht doch interessieren, Don Domenico ... Wissen Sie, was die Herrschaften da vorhaben? Sie wollen die moderne Unmoral abschaffen. Sie wollen zur römischen Familie zurückkehren. Alle Macht den Familienvätern! Denn die Familie ist der Kern des Staates und der Staat ist der liebe Gott. Interessant, was?!«
Don Domenico rastrierte und antwortete nicht. Battefiori aber gab es nicht auf, ihm die Ideen des neuen Regimes auseinanderzusetzen:
»Zweck des Ganzen ist es – man liest es hundertmal –, es soll wieder eine Autorität errichtet werden.«
Domenico Pascarella legte nachdrücklich die Feder hin:
»Autorität hat man, aber man errichtet sie nicht.«
Ein Schein wehmütiger Begeisterung erleuchtete Battefioris Gesichtchen:
»Mit Ihnen werden auch jene Helden nicht fertig, Don Domenico.«
Und nach einer Pause setzte er seine Klage leise fort:
»Ich trage mein Schicksal zu Ende. Aber wissen Sie, daß Sie der einzige Mensch auf der Welt sind, den ich beneide?«
Signor Pascarella brauchte trotz seinem Alter noch keine Brille. Ernst prüfte er ein neues Blatt. Battefioris Klage erklang immer inniger:
»Ah, Sie sollten meinen Neid begreifen! Es wird Mittag zum Beispiel. Was tun? Die Arbeit ist fertig. Man muß essen. Also auf zu Targiani! Und am Abend die gleiche Geschichte. Also auf zu Esposito! Manchmal auch umgekehrt. Das ist die ganze Abwechslung. Ich will gar nicht davon reden, daß der Magen schwach, das Essen miserabel und die Speisekarte immer die gleiche ist. Aber alleinsitzen, mein sehr verehrter Herr, einsam tafeln?! Reden Sie jetzt nur nichts von Freunden! Wenn ich mir erlauben darf, aufrichtig zu sein, der einzige Mensch, den ich mir als Freund gewünscht habe, ... doch das wissen Sie ja selbst.«
Don Domenico machte eine ebenso knappe wie inhaltsreiche Bewegung. Sie drückte etwa aus, daß er nicht die Schuld trage, wenn Battefiori es nicht zum Familieneigentümer gebracht habe, daß ferner das minderwertige Los von Junggesellen weitverbreitet und allgemein bekannt sei und daß endlich ihm selbst nichts peinlicher wider den Geschmack gehe als sentimentale Grenzübertretungen in einem sachlichen Verhältnis. Des ungeachtet aber verwandelte sich die Elegie des Schreibtischgefährten jetzt nach und nach in einen Dithyrambus:
»Und Sie, Don Domenico? Jawohl, mein Neid malt sich es gierig aus, wie Sie sich nach Geschäftsschluß Ihrem Hause nähern. Ihr Herz schlägt zufrieden und ruhig. Sie wissen, das junge Volk wartet Ihrer. Es ist eine ganze Welt, die auf Sie wartet, und eine wohlgeratene dazu. Ahnen Sie denn, was Sie besitzen?«
Hier mußte der Entbehrende mit dem Taschentuch unters Augenglas fahren:
»Ihre Kinder, Don Domenico, sind die reinsten Engel ...«
Während dieses Lobgesanges hatten die Augen Pascarellas immer nervöser, immer sprungbereiter dreingesehen. Als Battefiori zur näheren Charakteristik der Geschwister übergehen wollte, wurde er heftig unterbrochen:
»Ich bitte höflich, sich um andere Dinge zu kümmern!«
Des Vaters Abwehr mußte dabei ihr Bewenden haben, da aus dem kleinen Laden unten, wo die Straßenkundschaft empfangen wurde, der Stimmenklang einer Meinungsverschiedenheit empordrang. Der Kassier arbeitete in einem anderen Raum und zwei ältere Beamte befanden sich auf Geschäftswegen, so daß im Laden nur ein junger Praktikant dem Publikum zu Diensten war. Um deshalb nach dem Rechten zu sehen, verließ Don Domenico den sehr betrübten Lobredner und betrat die schwanke Wendeltreppe, die unmittelbar vom Studio abwärts führte.
An einem Pulttisch stand ein großer schlanker Engländer, der Hut, Handschuhe und ein Bündel mit Fünf-Pfund-Banknoten vor sich hingelegt hatte. Der Praktikant suchte ihm durch Gesten und einige englische Brocken klar zu machen, daß er, laut einer neuen gesetzlichen Verordnung, seinen Paß vorweisen müsse, wenn er Geld zu wechseln wünsche. Der Engländer andrerseits deutete ebenfalls durch Gesten und englische Brocken an (erfahrungsgemäß meint mancher im fremden Lande sich besser verständlich machen zu können, wenn er die eigene Sprache gebrochen stammelt), kurz, der Engländer deutete auf gleiche Art an, daß er nicht daran denke, seinen Paß vorzuzeigen.
Don Domenico verhielt sich vorerst neutral und betrachtete eingehend den Kunden. Ein ausgesprochenes Interesse für dieses Britengesicht fesselte seinen Blick. Es war kein sehr junges Gesicht mehr, wohl über die Vierzig, denn das volle weiche Haar hatte schon jene Färbung, von der man nicht weiß, ob sie aschblond oder aschgrau ist. Die Wangen hingegen strahlten von einem gesunden Rot, einem knabenhaften, windaufgerauhten Rot. In den ruhigblauen Augen aber stand das humorvolle Vergnügen zu lesen, das ihnen der kleine Kampf bereitete, der eben ausgefochten wurde.
Nachdem dieser mit Zeichen- und Brockensprache noch eine Weile hin und her gegangen war, fragte Domenico Pascarella endlich seinen Angestellten nicht ohne Hoheit:
»Was will er?«
Der junge Mann versicherte mit einem dichten Schwarm von Worten, daß es zum Verzweifeln sei, daß der Herr ihn schon eine halbe Stunde aufhalte, weil er die Erlässe der Regierung nicht anerkennen wolle und, obgleich er das diesbezügliche Verordnungsblatt mit eigenen Augen gesehen habe, die Vorweisung seines Passes verweigere. Don Domenico zeigte durchaus kein Entsetzen über die Widerspenstigkeit der Kundschaft. Er selbst verurteilte die Übergriffe des Staates, die sich von Tag zu Tag mehrten, die Schikanen der verschiedenen Ämter, die Dreistigkeit der Steuerkommissionen, den Druck des politischen Lebens. Und weil er hier in seiner Azienda Herr sein wollte und nicht ein Schalterbeamter der Post oder Eisenbahn, rief er dem Kommis zu:
»Sag ihm, er soll seine Adresse aufschreiben und Schluß!«
Diese Entscheidung hatte einen unerwarteten Effekt. Der Engländer öffnete den Mund zu einem herzlichen Lachen, zog aus der Brieftasche seinen Paß, zeigte ihn mit freundlicher Verbeugung Herrn Pascarella und schrieb dann steil und großzügig auf ein Blatt Papier:
»Mr. Arthur Campbell, Hotel Bertolini.«
Indessen hatte der Praktikant seine Umrechnung beendet und reichte sie dem Fremden. Da alles nun in guter Ordnung seinen Lauf nahm, wollte Don Domenico den Raum schon verlassen, als ihn neue Unzufriedenheit des Engländers wieder zurückhielt. Der offizielle Kurs des Pfund Sterling, den der Quälgeist mit dem Fingernagel hartnäckig unterstrich, lautete auf fünfundvierzig Lire und etliche Centesimi. Der junge Mann hatte dreiundvierzig, fünfzig eingesetzt und schwor in voller Erregung, daß weder die Banca Commerciale noch der Credito Italiano einen anderen Tageskurs auszahlten. Nur die Gegenwart seines Chefs hinderte ihn daran, unverschämt zu werden. In diesem aber stieg wieder der alte Unwille über die Wechselstubenidee Battefioris auf, die er zuerst so streng bekämpft und dann selbst verwirklicht hatte. Der Handel mit diesem ausländischen Querulanten bewies ihm ihre innerste Unwürdigkeit. Er schob den Kommis beiseite, rechnete die Summe nach dem gedruckten Kurs um und zählte dem Engländer viertausendfünfhundert und etliche Lire wie mit Peitschenhieben auf den Tisch hin. Da hatte er aber die Rechnung ohne seinen Kunden gemacht. Dieser schüttelte den Kopf, nahm nun selbst den Bleistift zur Hand und zog von der Summe jenen Prozentsatz ab, den er nach seinen heimischen Erfahrungen der Wechselbank zu entrichten hatte. Lächerlicherweise unterschied sich der Betrag nicht viel von dem, den der Praktikant vorhin ausgesetzt hatte. Dann steckte Mr. Campbell, aufs höchste befriedigt, die ihm gebührenden Banknoten ein und ließ den Rest auf dem Pulttisch liegen. Don Domenico aber nahm weder von diesem Vorgang noch von dem zurückerstatteten Gelde die leiseste Notiz. Er stand abgesperrt und unbeteiligt da, als hänge er fernen, stolzen Gedanken nach, in denen der schmutzige Valutenverkehr dieser Gegenwart keine Rolle spielen durfte. Das hinderte den Fremden aber nicht, mit schönen Zähnen fröhlich zu lachen und Herrn Pascarella voll ins Gesicht zu sehen wie einem sympathischen Mann, dem zu begegnen eine erfreuliche Sache war. Zum Schluß reichte er ihm auch noch die Hand. Und so unglaublich es klingen mag, Don Domenico faßte die Hand des ungeladenen Gastes und vergaß sogar, ein recht liebenswürdiges Lächeln zu unterdrücken, wie sehr er sich auch nachher darüber ärgerte.
Der Abschluß dieses ungewöhnlichen und folgenreichen Geschäftes hatte einige Zeit gekostet. Es war zwölf Uhr und der Praktikant machte schon Anstalten, den Laden zu sperren. Für Don Domenico war die Stunde seines alltäglich pedantisch durchgeführten Mittagsspazierganges gekommen. Als er seinen Kompagnon Renato Battefiori davon in Kenntnis setzte, daß die Freizeit angebrochen sei, entgegnete dieser, für ihn gebe es keine solche Einteilung, er sei immer frei, er könne speisen oder fasten wie es ihm beliebe und fühle jetzt gerade das Bedürfnis, alle Rückstände aufzuarbeiten und neue Schlingen voraus zu werfen. Diese Antwort bewies klar, daß Battefiori ein unverbesserlicher Geist der Unordnung war und daß er in kindischer Bosheit dem Senior die Lebensleere vorwarf, die ihn plagte. Dieser ließ ihn in seinem Rauchnebel und in der Korrespondenzwüste zurück, in der er fahrig zu hantieren begann.
Als Don Domenico wenige Minuten später bei der Galleria Umberto einbog, fing es sehr heftig zu regnen an. Jetzt war an den Spaziergang, der ihn sonst auf langen Wegen zur Mahlzeit nach Hause führte, nicht mehr zu denken. Er trat unter das Glasdach der großen Halle und wurde von einer trüb brausenden Menschenflut ergriffen, die sich sogleich um ihn schloß. Wiewohl er Neapolitaner war, konnte er Ansammlungen und dichte, schreiende Massen nicht leiden. Mit einem bösen Gesicht, den Stockgriff zur Brust erhoben, kämpfte er gegen den Wirbel, der seine Selbstbehauptung gefährdete. Bei einem der Caffès trat er, um Luft zu bekommen, zwischen die Tische. Da wurde er angerufen. Ein paar Bekannte aus grauer Vorzeit, die er viele Jahre nicht mehr gesehn hatte. Alte Herren wie er. Sie zeigten ein Wohlgefallen, ja eine warme Freude an dieser unerwarteten Wiederbegegnung, die er durchaus nicht begreifen konnte. Vergeblich suchte er sich zu retten. Man zwang ihn, Platz zu nehmen. Jetzt saß er, ein Glas Vermouth vor sich, eng zusammengepreßt, an dem unbequemen Tisch und nahm freundschaftliche Fragen, Lobsprüche über sein jugendliches Aussehen, sowie andere Zeichen der Zuneigung entgegen. Don Domenico wußte nicht viel zu erwidern und wünschte im stillen die Leute zum Teufel. Einer von ihnen war ein Gefährte seiner frühen Jugend, ein anderer lebte schon seit Jahrzehnten im Ausland. Was gingen ihn diese Männer an, die sich so wohlwollend seiner erinnerten? Die Wahrheit ist, daß Pascarellas Vaterschaft alle Lebensfasern in ihm hatte verkümmern lassen, die jemals sich zu anderen Menschen hinübergetastet hatten. Er spürte jetzt, fern von seinem Hause, diese Dürre und sie war ihm sehr unangenehm.
Das Wiedersehn mit alten Jugendgespielen, Studienfreunden und Zechgenossen bildet sehr selten eine reine Freude. Es ist eine der unverstandenen Gnaden Gottes, daß wir die Zeit, das heißt den Ablauf und die Veränderung unserer selbst nicht wirklich erleben müssen. In unserem Bewußtsein bleiben wir uns immer gleich. Da tritt aber solch ein halb vergessenes Gesicht vor uns hin und zeigt erbarmungslos gutmütig, was mit uns geschehen ist. Dieses Gesicht dient zum Gradmesser unserer Verwandlung und blickt wie ein Vorwurf der Untreue drein, die jeder in einem tiefen Sinn an seinem eigenen Leben begangen hat.
Alles wäre glatt und gut verlaufen, wenn nicht einer der Herren Don Domenicos Familie zur Sprache gebracht hätte. Es war der Ausländer, der solches unternahm. Sein Name muß genannt werden. Eccheverria, italienischer Generalkonsul in Rio de Janeiro, derzeit auf Urlaub. Viel diplomatisches Menschengefühl bewies er im Augenblick nicht, da er Pascarellas wachsende Verstimmung nicht merkte:
»Sie haben sechs Kinder, Don Domenico, wie?«
Und er zwinkerte stolz und schelmisch dem Kreise zu, als sei aus seiner Mitte eine kecke aber rühmenswerte Tat hervorgegangen:
»Er gehört noch zum alten Stil. Wir andern sollten uns schämen.«
Domenico Pascarella verzog keine Miene, um in das Stammtischlachen der Gesellschaft einzustimmen. Was hatte dieser brasilianische Esel zu wissen, wieviel Kinder er sein nannte? Er selber forschte doch auch nicht nach der Kinderzahl dieses Esels aus Brasilien. Der Esel aber war einmal im Lauf:
»Wer hätte das vor vierzig Jahren gedacht, daß aus Ihnen einmal ein berühmter Familienvater werden wird?«
Pascarella umkrallte seinen Stock. Fest hielt er sich, um nicht aufzuspringen. Hatte man ihn an diesen Tisch gelockt, um ihn zu verhöhnen? Wer war ein berühmter Vater? Wagte es dieser Eccheverria, sich über ihn lustig zu machen? Ach nein, ganz im Gegenteil. Der ahnungslose Konsul verstieg sich jetzt sogar zu einem salbungsvollen Ton:
»Man hört ja überall, daß Ihre Kinder wahre Wunder sind, Engel ...«
Don Domenico zog sich zusammen und hob den Stock in Augenhöhe. Sollte er den Unverschämten niederschlagen? Zum zweitenmal heute dieses ekelhafte Wort: Engel! Erst Battefiori und dann dieses Vieh hier. Was hieß das überhaupt, Engel? Lag darin eine freche Kritik an ihm, dem Vater? Und was hört man überall? Was hat man überall zu hören? Seine Kinder waren kein Überall, keine Engel, kein Gesprächsstoff, sie waren ganz gewöhnliche Söhne und Töchter. Er konnte kein Überall und keine Engel brauchen und vor allem keine niederträchtig hämische Zudringlichkeit brasilianischer Wegelagerer. Schwerfällig vor kaum beherrschter Wut erhob er sich, legte zwei Lire auf die Tasse, rückte den Hut und ließ die verdonnerten Jugendfreunde sitzen.
Das Schicksal aber, das die Häufung gleichartiger Motive in kurzer Frist so sehr liebt, hatte ihm noch eine andre Begegnung zugedacht. Kaum war sein Unmut ein wenig gewichen – er wollte gerade aus der Galleria trotz dem Regen in die Via Roma treten –, als sich eine Hand auf seine Schulter legte.
Maestro Cavaliere Tullio Capironi gehörte ebenfalls jenem prähistorischen Bekanntenkreis an, dessen Wiedererscheinen Domenico Pascarella so merkwürdig verstört hatte. Auch Capironi war ihm eine Ewigkeit lang nicht zu Gesicht gekommen. Seitdem er seiner Tochter Grazia gestattet hatte, bei dem alten Kapellmeister Gesangstunden zu nehmen, hegte er einen ausgesprochenen Groll im Herzen. Gesangstunden gehörten zum unerschöpflichen Kapitel jener »Vordringlichkeiten«, die er verabscheute wie die Hölle und in seiner Familie doch nicht ganz ausrotten konnte. Warum hatte er die Vordringlichkeit dieser Gesangstunden nur zugelassen, die zweimal in der Woche dreißig Lire kosteten, Geld genug also? Den Entschluß seiner Vater-Verantwortlichkeit, Grazias liebliche Stimme wie einen Edelstein zuschleifen zu lassen, hielt er nun für einen Entschluß unverzeihlicher Vaterschwäche. Er warf einen strengen Seitenblick auf Tullio Capironi, der ihn beim Arm nahm und zu irgend einer windstillen Stelle der Galleria zurücksteuerte:
»Ich habe mit dir zu reden.«
Neben dem straffen stämmigen Pascarella wirkte der um einige Jahre jüngere Maestro wie eine verbitterte Mumie. Sein Gesicht mit der großnasigen spitzbärtigen Maske Karls des Fünften war gezeichnet von der zynischen Erschöpfung eines vierzigjährigen Theaterlebens. Insbesondere die Faltendraperie um den eingesunkenen Mund erweckte die Vorstellung eines ständig infernalischen Lachens, die noch durch die röchelnde Kehlkopfkatarrhstimme gesteigert wurde. Freilich, Capironi hatte jedes Recht zur Erbitterung. Seit einigen Jahren war er völlig kaltgestellt, und obwohl er in Neapel lebte, hatte die Direktion der Opernstagione auch heuer auf seine Mitwirkung verzichtet. Er leitete jetzt in gottverlassenen Nestern wie Bari, Tarent, Brindisi, Potenza vereinzelte Vorstellungen drittklassiger Gesellschaften und lebte ansonsten von Gesangsstunden. Cavaliere Tullio Capironi fühlte sich und war auch das Opfer des neuen Mailänder Dirigententyps. Ältere Kenner des lyrischen Theaters stellten ihn aber noch heute über die Genauigkeitsheroen der siegreichen Schule. Ihm standen keine blendenden Mittel zur Verfügung, keine dreißig Proben wie den amerikanischen Berühmtheiten. Am Morgen kam er in einer Stadt an und am Abend mußte schon alles fertig sein. Sein Reich war die Improvisation, der besessene Kampf mit untauglichen Waffen um die einmalige, selbstlose und hinfällige Vollkommenheit dreier Musikstunden. Die Zeit war vorbei. Und auf dem Grunde der spöttischen Feuchtigkeit seiner schwarzen umschwollenen Augen stand unbeweglich nichts als dieses Vorbei. Die Augen betrachteten nun erbarmungslos Herrn Pascarella:
»Also deine Tochter Grazia hat dir nicht verraten, daß ich dich zu sprechen wünsche?«
Sofort fror Don Domenico wieder zusammen. Wollten diese Einmischungen heute kein Ende nehmen? Das Wort »verraten« fraß sich wie Gift in seinen Sinn, Capironi aber wartete keine Antwort ab:
»Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß dein Mädel eine Stimme hat.«
»Das weiß ich selbst«, erklärte Pascarella schneidend.
Doch da war er an den Unrechten gekommen. Der alte Künstler bekam Augen voll kalten Ekels und fauchte ihn an:
»Nichts weißt du! Gar nichts! Ihr bildet euch hier alle ein, etwas zu verstehen, weil jeder seine private Röhre hat und zu Hause die Wände anheult. Ich kenne kein unmusikalischeres Volk als euch. Analphabeten seid ihr, unheilbare Analphabeten.«
Don Domenico blinzelte verdutzt. Diesen Umgangston hatte er seit Menschengedenken nicht mehr an sich erfahren. Es läßt sich nicht verheimlichen, einen Augenblick lang wurde er kleinmütig. Wie alle Herrschsüchtigen und Hochfahrenden erlag er dem überraschenden Gegenstoß. Dazu kam noch die selbstbewußte Überlegenheit des Musikers, der für die Welt- und Wertordnungen, wie sie in Pascarellas bürgerlicher Gesinnung eingegraben waren, nicht einmal verächtliche Kenntnisnahme übrig hatte.
Capironi lenkte jetzt ein:
»Ich rede nicht von der Stimme. Stimme hat jeder. Das Mädel aber hat da drinnen etwas« (er tippte auf den Überrock des Vaters) »und mehr als nur Herz, sie hat einen Reiz, einen Ausdruck, eine besondere Natur ...«
Jedes dieser Worte, die er hören mußte, reizte Pascarella ohne Grenzen. Der Augenblick des Kleinmuts war fortgeblasen. Wie recht hatte er doch mit seiner Abneigung gegen Grazias Gesangstunden gehabt! Die Folgen der Zügellosigkeit zeigten sich. Keine Schwäche mehr gegenüber den Kindern. Diese Engel sollten ihm nicht über den Kopf wachsen. Das schwor er sich in seinem aufgewühlten Innern zu. Und wie sich dieser verlebte Gaukler wichtig machte, dieser wüste Vagabund! Er schien gar nicht zu bemerken, was in ihm, dem empörten Vater, vorging. Tullio Capironi schien wirklich nichts davon zu bemerken, denn er setzte jetzt bedeutsam Wort für Wort:
»Es ist meine Pflicht, dir meine volle Überzeugung auszusprechen, daß aus deiner schönen Grazia etwas werden kann.«
Soweit also war es schon gekommen. Sie konspirierten miteinander. Eine Verschwörung hinter seinem Rücken. Don Domenico mußte einen bösen Schmerz verwinden. Seine Engel trieben Verschwörerpolitik, sie kalfakterten in der feindlichen Welt herum, während er für sie arbeitete. Doch nur ruhig! Keine Erregung zeigen! Harmlos weiter forschen! Vielleicht melden sich noch andere Eröffnungen. Und mit aller Tücke, zu der er fähig war, blickte er den Maestro staunend an und erkundigte sich:
»Ja, was soll denn aus ihr werden?«
Tullio Capironi neigte langsam sein kleines schönes Ohr der Intonation dieses Satzes entgegen, als prüfe er den Klang einer Geige, um wieviel Schwingungen nach oben oder unten sie falsch gestimmt sei. Zugleich zog er aufmerksam die dichten Augenbrauen hoch:
»Es kann etwas aus ihr werden, was dir vielleicht gar nicht angenehm ist, mein Lieber ...«
Nun war es um alle guten Vorsätze geschehen. Don Domenico trat einen Schritt zurück. Der Stock in seiner Hand zitterte. Und er, der sonst jedem Aufsehen ängstlich aus dem Wege ging, schrie jetzt, ohne sich um die Menschen ringsum zu kümmern:
»Es ist mir sogar höchst unangenehm! Und nun mache ich dich meinesteils darauf aufmerksam, daß ich dieses falsche Spiel nicht länger dulde. Die Gesangsstunden sind hiemit gekündigt. Verstehst du? Jawohl, gekündigt! Meine Kinder haben keine besondere Natur. Wir brauchen keinen Theaterflitter. Aus uns wird nichts. Wir sind zufrieden. Aus uns muß nichts werden!«
Maestro Capironi hörte diesen hervorpreschenden Worten gefesselt und mit unbewegten schwarzen Knopf-Augen zu. Als der andere mit seinem Ausbruch zu Ende war, wartete er eine Weile, spie, kunstgerecht zur Seite und sagte röchelnd, aber aus voller Seele:
»Du ganz absurder Narr!«
Don Domenico wußte aber in seiner Empörung nicht, wie er, vom Guß ganz und gar durchnäßt, bis zur heimischen Via Concordia gelangt war. An der Ecke des Vicolo Tre Rè erwartete ihn der Diener Giuseppe mit einem Regenmantel, einer altväterischen Verbeugung, einer beweisgesättigten Meldemiene und folgenden Worten:
»Eccellenza! Ich habe Mitteilungen zu machen.«