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Drittes Kapitel
Ein Tag des Zornes

An demselben Vormittag, da sich die zudringliche Welt in Gestalt Battefioris, des brasilianischen Konsuls und Maestro Capironis durch hinterhältiges Lob in die Familienangelegenheiten Don Domenicos perfid eingemischt hatte, trafen einander Grazia und ihr Bruder Placido zu einem gemeinsamen Spaziergang.

Dieser Spaziergang war ein geheimes, illegales Recht, das sich die beiden an jedem Freitag der Woche herausnahmen. Es war aber gar nicht leicht, zu dem Genuß der kleinen Sünde zu gelangen, denn manches Hindernis mußte überwunden werden. Wie ein festes Gitter starrte das väterliche Gesetz ringsumher: Junge Mädchen hatten erstens einmal nichts auf der Straße zu suchen. Nur unaufschiebbar notwendige Gänge und Besorgungen konnten Ausnahmen zulassen. Betrat aber ein junges Mädchen die Straße, so geschah es womöglich in Begleitung einer älteren Frauensperson. Daß an Stelle einer gesetzten Dame jedoch ein junger Mann, und wäre es auch der leibliche Bruder, die Begleitung bildete, galt als durchaus unstatthaft. Es konnte ja Leute geben, die zwar die Schwester kannten, aber nicht den Bruder, durch welchen Umstand dann Gerüchte entstanden und die Ehre des Vaters zu Schaden brachten. Der Gedanke an die konzentrierte Feindseligkeit der Welt, die sich verschlagen-höhnisch gegen die Pascarellas richtete, war nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn auch die Mode der befreiten Frauenkleidung als eine Übermacht geduldet werden mußte, die Mode der freien Sitten und des ungebundenen Verkehrs lag für die Töchter Don Domenicos außerhalb der irdischen Möglichkeiten.

Andrerseits hatte auch ein Student am hellichten Tage nichts auf der Straße zu suchen. Jeder nicht unmittelbar zweckhafte Gang, mithin auch jeder Spaziergang, war heuchlerischer Müßiggang. Zeittotschläger und Straßenflaneurs, mochten sie sonst ganz anstellige Leute sein wie Renato Battefiori, hatten den abschreckenden und ehrlosen Tod des Junggesellen zu gewärtigen.

Die Gesetzestafel oder, besser, der ungeschriebene Kodex, von dem hier nur jeweils kurze Partien ans Licht treten, war durch gewisse Mächte gesichert, die zu seinem Schutze dienten. Die stärkste dieser Schutzmächte bildete die Liebe, die seltsame Liebe zum Vater, welche den Geschwistern innewohnte, die nächststärkste aber war die Furcht. Nach Liebe und Furcht sanken die Schutzmächte des Gesetzes immer tiefer herab bis zu Giuseppe, der ihm durch Spürsinn und Angeberei zu dienen meinte.

Damit ihnen die kleine Freitagsfreude nicht vergällt werde, hatten Placido und Grazia große Vorsicht nötig, um Giuseppe nicht in die Arme zu laufen. Denn so strenge der Diener über die Lebensführung der jungen Herrschaften wachte, er selber trieb sich trotz seinen überreifen Jahren in der lässigsten Lungererart in ganz Neapel herum und konnte an den unmöglichsten Punkten plötzlich auftauchen. Er schien einen geheimnisvollen Instinkt für jene Zeiten und Örtlichkeiten zu besitzen, wo eines der Pascarellakinder das Gesetz übertrat. Am meisten hatte darunter Ruggiero zu leiden, der von heißer Leidenschaft fürs Fußballspiel entflammt war, dem er mit etlichen Kameraden auch dort huldigte, wo es polizeilich verboten ist. Erwischte ihn aber die Staatsmacht nicht, Giuseppe erwischte ihn gewiß. Zu diesem Ertappungsinstinkt muß noch eine geradezu teuflische Art von Schwerhörigkeit addiert werden, die der alte Diener vom Schicksal zum Geschenk erhalten hatte. Es war ein dehnbares, eigensinniges und verstocktes Leiden, das ihm ermöglichte, die Tatbestände nach seinem Sinn zu drehen und Erklärungen einfach nicht zu hören. Gar oft erhob dieser seltsame Mittler zwischen Vater und Kindern eine Anklage, hinter der nichts anderes steckte als ein verwechselter Konsonant oder ein falsch aufgeschnappter Satz. So mußte man sich in jeder Minute, an jeder Straßenecke, und selbst zu Hause scharf vorsehen.

Die Geschwister trafen einander auf der Höhe der Stadt, in der Nähe des Ospedale Internazionale. Von dieser abseitigen Gegend aus erreichten sie dann auf besonderen Wegen den Posilipo, das wunderbare Vorgebirge ihrer Heimat. Hier hatten sie den verwilderten Garten einer zum Verkauf oder zum Vermieten ausgeschriebenen Villa längst schon ausfindig gemacht und saßen nun, das Meer überschauend, auf einer Steinbank. Seit Tagen bemerkte Grazia schon, daß auf Placido große Trauer lastete. Seine Augen, in deren konzentriertem Lächeln sonst Verständnis und Begründung für alles lag, hatten diesen Ausdruck verloren. Sie waren auf der Suche. Die Schwester rückte nah an ihn heran:

»Also, was ist mir dir, Placido?«

Er brauchte eine Weile zur Antwort:

»Du weißt es ja selbst, Graja, es ist wegen Papa.«

»Ja, ich finde, daß sich Papa jetzt merkwürdig zu dir benimmt«, urteilte sie rasch.

»Klar, er haßt mich!«

Grazia widersprach sehr eifrig:

»Im Grunde bist du doch sein Lieblingskind.«

»Jetzt bin ich sein Haßkind und so wird es wohl bleiben.«

Die Schwester wollte mit einer bagatellisierenden Handbewegung diesen starren Satz verwischen, aber es gelang ihr nicht gut. Ein Mensch wie Placido ließ sich nicht billig beruhigen:

»Ich habe lange mein Gewissen erforscht. Hilf mir, Graja! Erinnerst du dich an etwas, was ich angestellt haben könnte?«

»Du etwas anstellen, Placido? Lauro geht seiner Wege, und der kleine dumme Ruggiero stellt immer wieder etwas an. Aber du?!«

»Lauro! Ihm ist Papa viel weniger aufsässig. Er gesteht ihm sogar eine Portion Unabhängigkeit zu. Lauro kann sich am besten bewahren. Es ist komisch ...«

Die Wolken beherrschten nun den ganzen Himmel. Die Sonne hinter ihnen zerlief wie ein Dotter. Die Spiegelstellen des Meeres wurden stumpf. Der Horizont verschwand vollständig. Sie saßen an der Küste des Nichts.

Placido zog jetzt den Schluß, an dem er schon lange nicht mehr zweifelte:

»Es gibt nur eine einzige Erklärung, Graja. Seitdem er von meinen Schreibereien eine Ahnung hat, haßt er mich.«

Grazia berührte seine Hand, da sie die Wahrheit nicht leugnen konnte. Placido aber betonte jedes Wort:

»Er will nicht, daß wir uns selbst verherrlichen.«

»Mir erlaubt er ja, singen zu lernen ...«

»Ach Graja, ich werde vielleicht das Opfer bringen müssen!«

Sie stieß seine Hand fort:

»Nie darfst du dieses Opfer bringen. Es wäre ein Verbrechen.«

Placidos Oberkörper sank zusammen:

»Waren unsre Mahlzeiten, Colazione und Pranzo, nicht das Schönste im Leben bisher? ... Das ist nun aus für mich ... Ich ertrage es kaum mehr, ihm gegenüber zu sitzen.«

»Zwischen dir und ihm gibt es doch nie einen Krach ...«

»Wie gut wäre ein Krach ... Er ist das Zeichen einer alltagsgemäßen, fast gutmütigen Spannung ... Selbst die Ohrfeigen, die Ruggiero bekommt ... Aber die Spannung zwischen Papa und mir wird immer unendlicher ... Einfach nicht zu lösen ... Wenn du wüßtest, was ich mir in den letzten Nächten für Dinge ausgemalt habe ... Ich war schon entschlossen, aus dem Hause zu gehn ... Schließlich bin ich großjährig und Arbeit schreckt mich nicht.«

»Nein, Bruder!« Das war beinah ein Aufschrei.

»Ach, wie könnte ich euch denn verlassen!? Dich!? Ich kann es nicht. Jetzt esse ich ein bitteres Brot, aber ich esse es im Licht. Dann wäre ich ins Dunkel gestürzt. Darin liegt ja die Unlösbarkeit. Ich darf im Licht nicht leben und im Dunkel leben kann ich nicht.«

Sie suchte ihn von seinem Leiden abzubringen. Alles werde sich ändern. Papa sei der launischste Mensch der Welt. Obgleich ihn nichts und niemand von seinem Platz rücken könne, so wechsle er ihn doch stets selbst in der inkonsequentesten Art. Heute zum Beispiel lasse er Iride eine Unart glatt durchgehn und morgen sperre er sie für nichts ein. Einmal, wenn Salzfaß oder Essigkaraffe auf dem Tisch fehlten, verlangte er sie recht höflich, ein andermal brüllte er Annunziata deswegen an, als habe sie eine schwere Missetat verübt. Placido solle über seine Beziehung zu Papa nicht nachgrübeln, sondern sich um nichts andres bekümmern als um die geniale Gabe, die ihm verliehen worden sei.

Placido hörte den allzu vernünftigen Zuspruch an, ohne ihn ungeduldig zurückzuweisen. Dann aber hob er Stille gebietend die Hand, eine Gebärde, die Grazia genau kannte. Sie bedeutete, daß er ihr ein neues Gedicht preisgeben werde. Und wirklich, er begann leise und ohne jede Einleitung:

»So voll war ich von innerem Gesange,
Als mich der Morgen aus der Finsternis
Ins Leben und zum offnen Fenster riß,
Daß ich im Blau mir Aug wusch, Haar und Wange.

Kaum könnt ich wehren meinem Überschwange,
Wie sehr ich auch verständig mich befliß.
Das Werk des Tages tat ich ungewiß,
Weil ich so reich war und vor Reichtum bange.

Doch als die Stunde kam, die Frucht zu sammeln,
Da wehte ein Befehl von oben her,
Um alle meine Türen zu verrammeln.

So leer wie ich war keine Wüste leer.
Aus meinem Munde drang ein schweres Stammeln,
Und dieses auch verstummt nun mehr und mehr.«

Placido kam sofort und mit nervöser Angst jedem Lob zuvor:

»Das ist natürlich kein gutes Gedicht. Du brauchst gar nichts zu sagen, Graja. Selbst ich habe schon manches bessere gemacht. Ich kann dir übrigens genau beweisen, warum es ein mäßiges Sonett ist. Verse, die etwas über Gefühle aussagen, sind im Grunde immer dilettantisch. Ein Gedicht soll kein flüssiges Wortgebilde sein, sondern ein fester Körper, der nicht nachgibt, wenn man ihn anrührt. In diesem Sonett aber gibt fast jede Zeile nach. ›Die Frucht zu sammeln‹, ›wie eine Wüste leer‹, das sind keine echten Bilder, keine wirklichen Gleichnisse, sondern nur abgenützte Phrasen des gewöhnlichen Sprachgebrauchs. Durch diese schlechten Bilder entsteht eine wacklige Verlogenheit der Vision. Wo kommen auf einmal die ›verrammelten Türen‹ her, wenn vom ›Fruchtsammeln‹ die Rede ist? Ursprünglich wollte ich ausdrücken, wie man übervoll sich hinsetzt, um ein Gedicht zu verfassen, und während der Arbeit darauf kommt, daß man völlig leer ist und sich selbst beschwindelt hat. Es ist dann etwas anderes daraus geworden, weil ich Papa ins Spiel gezogen habe ...«

»Du hast mir ja dieses Gedicht nicht als Gedicht vorgesprochen«, erklärte Grazia halblaut. Placido zeigte sich ihren Worten sehr dankbar:

»Gott sei Dank, daß du mich verstehst, Graja ...«

In dieser Minute fielen die ersten Regentropfen, die gleichzeitig Don Domenico zum Betreten der Galleria Umberto zwangen. Placido sprang entsetzt auf:

»Wir müssen ja nach Hause.«

Sie warf einen Schreckensblick auf ihre Armbanduhr und dann stoben die Geschwister davon, nicht wie erwachsene Menschen, sondern wie unartige Kinder, die auf belebten Straßen einen Wettlauf unternehmen. In großen Sprüngen erreichten sie, jetzt alle Vorsichtsmaßregeln außer acht lassend, die nächste Straßenbahn.

 

Annunziata, Iride und Lauro warteten schon in Grazias Zimmer mit größter Ungeduld.

»Wo steckt ihr solange«, rief ihnen Lauro entgegen, »wir haben eine wichtige Sache zu besprechen und die Zeit ist gleich um.«

Placido und Grazia, noch ganz außer Atem, setzten sich auf das Bett. Die kleine Kammer mit den fünf erregten Menschen erweckte das Gefühl dichter Überfülltheit. Lauro stand in der Mitte wie ein Rädelsführer, der die letzten Weisungen erteilt:

»Wir haben beschlossen«, meldete er, »daß du auf den Ball ins Bertolini gehn sollst, Graja.«

Grazia schien ernstlich verletzt:

»Was fällt euch denn ein? Ich denke längst nicht mehr dran. Es tut mir leid, daß ich überhaupt davon gesprochen habe.«

Lauro blieb unbeugsam:

»Nein, Graja! Du mußt gehn. Auch Zia ist meiner Ansicht. Wir haben ein langes Gespräch darüber gehabt. Nicht wahr, Zia?«

Annunziata gab, durch Lauro so lebhaft aufgemuntert, ihre Meinung mit merkwürdig ermüdeter Stimme ab:

»Es ist gut für dich, einmal in die Welt zu kommen, Graja, unter Menschen. Lauro hat mich überzeugt.«

Iride war wie immer über jede Unregelmäßigkeit entzückt, die sich darbot. Sie stieß Annunziata und Lauro heimlich an, damit sie ja nicht zurückwichen, sie machte Zeichen mit den Augen, kurz, sie benahm sich als rechte Einpeitscherin der Sünde. Grazia mußte sich mit Mühe freimachen, so sehr bedrängte sie die Kleine: »Bitte, bitte, Graja, sag ja!«

Grazia wehrte sich immer heftiger gegen die kränkende Zumutung:

»Ich versteh dich nicht, Zia. Ich versteh euch alle nicht. Einen Augenblick lang hab ich vielleicht eine dumme Lust gehabt, dorthin zu gehn. Aber sie ist mir schnell vergangen, als ich mir diese Festa di ballo wirklich vorgestellt habe. Lauter fremde Menschen. Schrecklich!«

Hier nahm Placido zum erstenmal das Wort:

»Der Entschluß ist nicht nur gut, Graja, er ist sogar notwendig. Schau, wir leben immer nur untereinander. Ich halte das für gefährlich und ganz besonders für dich. Der Mensch muß auch einmal in den Spiegel sehn.«

Grazia rettete sich ins väterliche Gesetz:

»Und gerade den Spiegel verbietet Papa.«

Iride aber verkündete ihren großen Geschwistern bedeutungsvoll:

»Heute früh war Papa wunderbar aufgelegt.«

Sie wollte mit der Erwähnung von Papas Prachtlaune den Mut der Zaghaften stärken. Das war nicht nötig. Alle, bis auf die Betroffene, schienen von der Vorstellung des verbotenen Festes leidenschaftlich erfüllt. Lauro schaltete jetzt Grazia überhaupt aus:

»Was meinst du, Placido, soll ich heute bei Tisch sehr vorsichtig ein Gespräch einfädeln? Es ist, glaube ich, besser, wenn ich es tue und nicht du. Die Zia traut sich ja nicht.«

Annunziata leugnete keineswegs, daß ihr der Mut zu einem solchen unerhörten Wagnis fehle. Es sei übrigens ein verfehltes Mittel. (Placido nickte zu Annunziatas Worten.) Denn wenn Papa nur den leisesten Wunsch aufblinzeln sehe, verzehnfache sich sein Zorn und sein Widerspruch. Das wisse doch jeder. Lauros Art aber war es nicht, an einer Schwierigkeit hängen zu bleiben. Er sprang zu einem neuen Gegenstand über:

»Dafür wirst du für Graja etwas anderes tun, Zia, nicht wahr?«

Da die Schwester nicht gleich sprach, verriet er es selbst:

»Sie braucht für die Oper kein neues Kleid, sagt sie. Das vorjährige genügt. Sie wird es ein bißchen umändern. Und für das ersparte Geld kriegt Grazia ein Kostüm.«

Diese kam gar nicht dazu, das Opfer abzuweisen, denn Iride überschrie jetzt alle:

»Ein venezianisches am besten! Oder vielleicht als sardinische Bäuerin! Oder als Marquise! O Graja, ich brauche auch kein neues Kleid. Das gelbe ist noch gut genug.«

Ihr Opfermut war in Nachahmung der ältesten Schwester grenzenlos:

»Du mußt auch das Geld von meinem Kleid nehmen!«

Angesichts dieser Bestürmung murmelte Grazia entsetzt:

»Ihr seid alle krank ... Zia, hilf mir!«

Sie hatte recht. Es war wirklich nicht leicht erklärlich, warum diese Festa di ballo im Hotel Bertolini die Gemüter so sehr verwirrte. Wenn man weiter vordringt, wird man auf eine Ursache stoßen, die man Lockung der Sünde nennen könnte. Sie hatten bisher widerspruchslos in der Zucht des Gesetzes gelebt. Vielleicht war nun der Augenblick erreicht, wo sich die Übertretung als Lebensnotwendigkeit erwies. Das soll jedoch keine Deutung sein, sondern bleibt nur Hypothese. Sonderbar genug, daß sie jetzt alle durcheinander sprachen und Iride spitze fanatische Schreie des Aufmunterns in den Kampf flocht. Lauro verwies endlich dem Kinde seinen Überschwang und dämpfte selbst den Ton:

»Halt! Was meint ihr dazu? Muß man denn überhaupt Papa etwas davon sagen?«

Die Geschwister hatten keine Zeit, die Verwegenheit dieser Frage ganz zu erfassen, denn Ruggiero, naß von Regen und Schweiß, erschöpft wie der Marathonläufer, war zur Tür hereingefahren:

»Ich bin verloren«, stöhnte er mit verzerrtem Gesicht. Die Brüder brachten aus dem Verzweifelten nach und nach folgendes heraus: Er habe auf dem Kirchplatz in der Nähe mit einigen andern Handelsschülern nicht etwa Fußball gespielt, sondern einen kleinen Gummiball ganz harmlos hin und her gestoßen. Auf einmal sei Giuseppe als tiefbefriedigter Zuschauer dicht neben ihm gestanden: »Ich bin verloren ...«

Das sei nicht gerade angenehm, aber den Kopf werde dieses kommune Alltagsvergehen nicht kosten, wenn sich nichts Schlimmeres ereignet habe. Ruggiero erschauerte.

»Seit gestern finde ich meine Parteikarte nicht. O Gott ...«

Nun, vielleicht liege sie in einem Schulbuch. Giuseppe habe übrigens heute noch gar keine Gelegenheit zur Angeberei gehabt.

»Was, Giuseppe«, keuchte Ruggiero, »er geht unten neben Papa, er hat ihn abgewartet. Ich bin im letzten Augenblick an ihnen vorüber ins Haus ...«

Und wirklich, keine Minute verging, als es amtsgemäß klopfte und der alte Diener gleichsam im Namen des Gesetzes die Tür öffnete. Mit unbestechlichem Blick, der schwanger war von Indizien, brachte er den Befehl seines Herrn:

»Alles in die Sala da pranzo, wenn ich bitten darf, zu Eccellenza!«

Und die Kinder, die eben noch so kühnen Plänen nachgehangen hatten, drückten sich scheu die Wände entlang und gehorchten dem Ruf des Vaters.

 

Domenico Pascarella kümmerte sich vorerst gar nicht um sein Volk. Mit drohenden Schritten, unheilvoll stiefelknarrend, durchmaß er die Sala da pranzo. Je länger er aber sein Schweigen ausdehnte, um so blasser wurden die Kinder. Sie verfielen zusehends. Papas Schweigen kam wie ein Welken über sie. Von Sekunde zu Sekunde wuchs das Schuldbewußtsein in ihnen wie eine spannende Geschwulst. Keinen verschonte es. Selbst wer von ihnen keine Ursache hatte, sich schuldig zu fühlen, wie Annunziata oder Iride, wurde von dem wachsenden Gewicht zu Boden gedrückt. Die Last des Gewissens machte sich unabhängig vom Nachdenken und Bewußtsein, sie verwandelte sich in einen schrecklichen Körperzustand, und dieser Zustand, dieses magenwürgende Übel war der absolute Gegensatz zu der mystischen Wonne von Papas Gesang. Endlich blieb Don Domenico stehn und rief Grazia scharf auf. Sie trat aus der Reihe der Geschwister ein Schrittchen vor. Das Gericht begann:

»Was für einen Auftrag hat dir dein Gesangslehrer gegeben?«

»Einen Auftrag?«

»Nur kein Herumgerede! Du hast mir etwas vom Maestro Capironi auszurichten gehabt.«

»Oh, das war ja erst gestern, Papa ...«

Ihre Halsschlagader klopfte sichtbar:

»Der Signor Maestro wünscht dich zu sprechen.«

»Warum hast du mir das verschwiegen?«

»Ich wollte es nicht verschweigen, Papa. Ich habe nur geglaubt, es wird dich nicht sehr interessieren, Papa.«

»Also eine lügnerische Schlange bist du auch, du Engel?«

»Nein, ich lüge nicht. Es war doch nichts Wichtiges.«

»Nichts Wichtiges? Also scheint es doch ein Etwas zu sein und kein Nichts. Was ist es? Heraus damit!«

Fieberschnell prüfte Grazias Erinnerung die Gespräche mit ihrem Lehrer in der letzten Zeit. Sie fand nichts. Alles verwirrte sich:

»Ich weiß es nicht, Papa.«

»Du weißt es nicht? Dafür aber weiß ich es, du Schwindlerin! Er hat dir Rosinen in den Kopf gesetzt. Ihr verabredet euch skrupellos hinter meinem Rücken. Er will dich zum Theater bringen.«

»Das ist nicht wahr, Papa.«

Sie hob flehend die Hände. Nie hatte Capironi solche Dinge mit ihr gesprochen. Nie war ein Wort vom Theater gefallen. Warum auch? Sie hatte weder Talent noch Ehrgeiz. Sie dachte nicht im Traum daran. Ach, wie sollte sie nur dem Vater ihre Unschuld beweisen?! Der aber zerstörte all ihre Beteuerungen mit einem Schlag:

»Ich hätte nicht gedacht, daß du leugnen wirst. Schäm dich!«

Länger konnte sie ihre Tränen nicht beherrschen. Das Weinen, die Zerknirschung der Angeklagten verlieh dem Richter eine maßvolle Hoheit. Er gebrauchte keine Schimpfworte mehr. Auch seine Stimme klang ruhiger:

»Deine Gesangsstunden habe ich gekündigt. Ein für allemal! Verstehst du?«

»Ja, Papa.«

Sie wollte verschwinden, untertauchen. Das Gericht aber gab sie nicht frei:

»Wir sind noch nicht fertig. Ist es wahr, daß du heute um neun Uhr vormittags bei offenem Fenster gesungen hast?«

»Nein ... ich habe ... nicht gesungen ...«

Das Weinen zerriß ihre Verteidigung in kleine schluchzende Stückchen:

»Ich habe nur ... ein bißchen geübt ... ganz kurz ...« Eine Keule fuhr nieder:

»Aber bei offenem Fenster! Bist du so eitel? Hältst du dich gar für eine Künstlerin? Eh? Willst du die Straße bestricken? Eh? Oder vielleicht die andern Mietparteien verjagen? Soll ich durch dich noch in Schande kommen? Wie oft habe ich euch allen schon gesagt, bei offenen Fenstern und Türen hat nicht Klavier gespielt und gesungen zu werden! Antwortet mir! Habe ich es so angeordnet oder nicht?«

Ein dumpfes Chor-Ja schleppte sich zum Richter hin, der nun sein Urteil fällte.

»Du hast also gar keine Ausrede. Zur Strafe verbiete ich dir bis auf weiteres alles Singen. Auch in deinem Zimmer, ganz für dich allein, hast du nicht zu singen! Verstanden?«

»Ja, Papa.«

Der Blick des Richters ließ sie los und zog nun Lauro aus der Schar. Das Gesicht des Neunzehnjährigen mit den mädchenhaften Wangen war ruhiger als das seiner Geschwister, wenn auch fahl. Seine Augen in ihren Schattentiefen verrieten etwas andres als Angst, aufmerksame Hingabe an das Fatum. Sie sahen den Richter unverwandt an und nahmen seinen Zorn beobachtend entgegen:

»Du weißt genau, was ich mit dir zu reden habe.«

»Ich glaube ja.«

»Was hast du gestern vormittag von zehn bis zwölf getan?«

»Ich habe die Schule geschwänzt.«

»Und warum schwänzt ein erwachsener Mensch, ein Gymnasiast im letzten Jahr die Schule?«

»Es war ein schöner Tag.«

In diesem Freimut lag kein Ton von Frechheit. Er steigerte den Zorn des Richters nicht, obgleich das Vergehen unentschuldigten Müßiggangs mitten im Alltag schwer genug war. Lauros äußeres Ebenmaß, sein stilles Verhalten, das Würde und Ergebenheit eigenartig verband, konnten den Richter nicht reizen. Es klang fast wie grimmiges Wohlwollen:

»Für deine nächsten Seefahrten, mein Junge, gedenke ich dir einen Sturm nachzuschicken.«

Diese Drohung hatte einen gleichnishaften Sinn, denn die Italiener gebrauchen für Seefahrten und Schuleschwänzen denselben Ausdruck: »marinare«. Der Urteilsspruch des Richters fiel nicht gar zu hart aus:

»Andere Leute in deinem Alter«, grollte er, »erhalten schon ihre Familie ... Drei Tage Zimmerarrest! Du rührst dich nicht vom Hause fort! Hast du mich verstanden?«

»Ja, Papa.«

»Und nun zu dir!«

Die Stimme des Richters krempelte gleichsam die Ärmel auf. Der kleingewachsene Ruggiero hatte sich bisher hinter dem Rücken seiner Geschwister gut verborgen. Die Stimme des Vaters aber fand ihn, ohne erst seinen Namen anzurufen:

»Hierher mit dir! Wird es? Vorwärts!«

Der Bär löste sich aus dem Haufen und schlenkerte sich mit den täppischen Armen seines Alters ein wenig vor. Keine Gnade:

»Vorwärts! Näher! Noch näher!«

Zwangsweise wurde der Abstand zwischen Ruggiero und dem Vater immer kleiner. Als er endlich klein genug war, begann das Gericht zum drittenmal:

»Ich habe bisher nicht gewußt, daß du ein ganz gewöhnlicher Straßenjunge bist, ein roher Prolet, der seinen Namen nicht verdient. Die ganze Welt wird jetzt frohlocken: Da sieht man, was die Familie Pascarella wert ist! Einer von ihnen, ein großer Bursche, ein Mann schon, wälzt sich um die heilige Mittagszeit und noch dazu vor den Toren einer Kirche mitten in der Stadt im Dreck! Ist das wahr?«

»Ich habe mich nicht gewälzt. Ich habe auch nicht Fußball gespielt. Wir haben nur so ein bißchen einen kleinen Gummiball ...«

»Fußball gespielt?«

Die Frage donnerte gegen die Wände:

»Fußball gespielt? Ein schönes Spiel! Mit den Füßen spielen! Stoßen, Treten, Keuchen, Schwitzen! Lustbarkeit für Plebejer! Und mit wem hast du dich so vornehm vergnügt?«

»Kameraden ...«

»Jawohl, Kameraden! Niedriges Gesindel, zu dem du gehörst, zu dem es dich hinzieht! ... Und nun, was hast du noch zu bekennen?«

»Ich? Ich ... ich weiß nicht ...«

»Ich rate dir gut, das Stottern zu lassen und so schnell wie möglich alles einzugestehn.«

Der verzweifelte Mund des Knaben schnappte tonlos. Don Domenico zog ein Papier halb aus der Tasche. Da brach es mit Geheul aus Ruggiero:

»Ich, ich, ich habe mich einschreiben lassen.«

»Du hast dich einschreiben lassen. Schön! Nur weiter!«

»Ich habe doch müssen ... In die Partei ... In die Avanguardia ... Wie die andern ... Wie alle ...«

»So?! Du hast mich betrügen müssen? Mich hintergehen müssen

»Es ist doch nicht anders möglich, Papa ... Die Partei ... Die Lehrer ... Die Jungen ... Alle sind schon längst Fascisten ... Sie zwingen einen ... Ich habe ja kein Leben mehr gehabt ...«

Das Gesicht des Richters näherte sich furchtbar dem Sünder:

»Wie, sie zwingen dich, mich zu hintergehen? Sie bekämpfen mich in meinem eigenen Haus, in meiner eigenen Familie? Und du bringst mich in diese schmähliche Situation? Du gibst dich dazu her, deinen Vater lächerlich zu machen? Hinterlistig läßt du dich einschreiben, ohne mir ein Wort zu sagen? Du läßt dich zum Verrat zwingen und glaubst nicht, daß ich dir helfen könnte und dich schützen? Vielleicht läßt du dich nächstens auch dazu zwingen, mir die Fenster einzuschlagen oder die Wohnung anzuzünden! Warum hast du mich hintergangen? Warum hast du kein Wort zu mir gesprochen?«

»Ich habe mich so gefürchtet ...«

Domenico Pascarella aber brüllte auf:

»Für deine Feigheit, hier!«

Und zwei Ohrfeigen rechts und links klatschten in Ruggieros Gesicht, daß er bis zum Tisch taumelte.

Das grausame Strafgericht schien dem Richter selbst wehe zu tun. Denn wiederum durchmaß er mit stiefelknarrenden Schritten, qualvolles Schweigen verbreitend, die Sala da pranzo. Wenn ihn auch die Züchtigung Ruggieros reute – er schlug nicht gern –, so ging ihm doch sein eigenes Los viel näher. Da lebte er nur für seine Kinder. Keinen anderen Gedanken kannte er als sie. Er schützte sein Haus nach bestem Wissen und Gewissen. In fortgeschrittenem Alter arbeitete er noch. Warum? Damit sie ein sorglos standesgemäßes Leben führen konnten, damit das Haus bestellt sei. Und diese Kinder hintergingen ihn! Und diese Kinder waren Verräter! Verräter alle! Grazia betrog ihn mit Capironi, dem Musikvagabunden, und Ruggiero mit der fascistischen Partei. Er war kein Gegner dieser Partei, sie war ihm völlig gleichgültig wie alle Politik, die man hinnahm, wie man die Welt hinnahm, indem man ihr den Rücken zukehrte. Um so ungeheuerlicher aber, daß seine Kinder, seine Kinder ihn unreinen Träumen auslieferten, eitler Streberei und öffentlichem Krawall. Vor den eigenen Kindern mußte er sein Haus verteidigen. Durch heimliche Pforten schmuggelten sie tückisch die feindliche Welt herein. Und zum Dank nannte sie diese Welt höhnisch ihm ins Gesicht: Engel. Das Herz wurde ihm schwer, wenn er an ihr Verrätertum dachte. Bald aber überwand die Empörung wieder seine Bitterkeit. Er durfte nicht dulden, daß sich die Moral der Familie lockere. Alle »Vordringlichkeiten« waren erbarmungsloser zu bekämpfen denn je.

Die Zeit rückte weiter. Das Schweigen machte sie unerträglicher von Augenblick zu Augenblick. Don Domenico ging noch immer auf und ab. Da kam er auf einem der Umgänge dicht an Placido vorbei, der abseits von der zusammengedrängten Geschwistergruppe stand. Der Vater hemmte seinen Schritt und sah den Sohn an. Placidos Gestalt erschien ihm länger als früher. Der Student hielt die Fäuste gegen die Brust gepreßt und den Kopf tief gesenkt wie immer in leidensvollen Momenten. Seine Augenbrauen unter der schönen aber niedrigen Stirn waren krampfhaft zusammengezogen. Beim Anblick dieses Gesichtes hätte man meinen können, Placido selbst sei gemaßregelt und gezüchtigt worden und nicht die Geschwister. Während Don Domenico seinen ältesten Sohn betrachtete, glaubte er in einer schweren Aufwallung erkennen zu müssen, daß in diesem Placido der Kern des Übels liege. Und nun war es wirklich Haß, was ihn durchzuckte. Er suchte nach Gründen gegen den Studenten. Ihm wurde aber nichts andres bewußt als Placidos hohes Körpermaß, das ihm wie Auflehnung erschien. Und der kleine rundliche Mann reckte die Fäuste empor wider den Sohn, der ihn überragte:

»Seid nur so groß, wie Ihr wollt ...«

Es geschah ganz selten und dann auch nur in einem Augenblick der äußersten Verdammung, daß Papa eines seiner Kinder mit dem altertümlichen »Ihr« ansprach. Dieses »Voi« klang langgezogen gleich einem Trompetenstoß wie »Vooï« und bedeutete ungefähr: »Du bist nicht wert, daß ich dich du nenne und damit zu den Meinen zähle. Ich zerreiße die Bande zwischen uns, ich stoße dich aus, ich verbanne dich an den Ort der letzten Sonnenferne. Erfriere oder kehre gebessert um!« Placido hatte tatsächlich eiskalte Hände und Füße. Der Vater maß ihn noch immer:

»Nun! Was habt Ihr mir zu sagen?«

Placido sah stumm und mit zusammengebissenen Zähnen seitwärts auf den Fußboden. Don Domenico aber drohte dunkel:

»Zwischen uns wird es so nicht weitergehn.«

Er gab sich keine Rechenschaft über diese Worte, zu denen kein Grund vorlag und die aus dem unbewachten Abgrund seiner selbst aufgestiegen waren. Dann ließ er Placido stehn und nahm wieder seine knarrende Wanderung auf. Mittlerweile war es vielleicht schon zwei Uhr geworden. Im Türspalt gestikulierte der Arm Priscillas, der Köchin.

Endlich wagte Annunziata eine leise Mahnung:

»Papa, darf das Essen aufgetragen werden?«

Der Vater stampfte auf, als treffe ihn in dieser Frage ein frecher Hohn:

»Und du glaubst wirklich, ich werde mit euch essen, ich werde mich mit euch an denselben Tisch setzen?! Esset nur, wenn ihr könnt!«

Und an Annunziata erging der Befehl:

»Du darfst mir Giuseppe mit einer Kleinigkeit hinaufschicken.«

Er schlug die erste Tür gewaltig zu, die zweite, die dritte. Als er aber oben in seinen beiden Zimmern mit den Türen warf, an Möbel stieß, Stühle rückte und dumpfen Lärm verursachte, da grollte es zu Häupten der Geschwister wie ferner Donner.


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