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Mère Joséphine Imbert, die Oberin des Klosters der heiligen Gildarde, steigt die Treppen hinab zum Sprechzimmer, wo Bernadette Soubirous schon eine volle Stunde wartet. Niemand könnte es der ehrwürdigen Nonne ansehen, daß sie soeben in ihrer Zelle inbrünstig gebetet hat und daß dieses Gebets unruhiges Anliegen niemand anders war als die berühmte Wundertäterin von Lourdes, die heute als Novizin in den Konvent eintreten soll. Als wüßte sie nicht, wer auf sie wartet, beschaut Mutter Imbert mit einem flüchtigen Blick die Harrende, die sich bei ihrem Kommen erhoben hat:
»Also Sie sind die Postulantin, die man von Lourdes hierher gebracht hat?« fragt sie ziemlich streng, und die erschrockene Bernadette muß feststellen, daß man wieder einmal ein Verhör mit ihr zu eröffnen gedenkt. Die Stimme, mit der sie antwortet, ist recht schwach:
»Oui, Madame la Supérieure.«
»Und wie heißen Sie?«
Mein Gott, sie weiß doch, wie ich heiße. Aber sie macht es halt, wie alle es machen. Ich darf mir nichts anmerken lassen: »Bernadette Soubirous, Madame la Supérieure.«
»Wie alt sind Sie?«
»Schon zwanzig vorüber, Madame la Supérieure.«
»Und was können Sie?«
»Oh, pas grand' chose, Madame la Supérieure«, sagt Bernadette und gibt damit eine jener Antworten, die so wahrhaftig sind, daß man sie für keck halten kann. Die Oberin hebt ein wenig den Blick und sucht die dunkel ruhigen Augen Bernadettens zu erforschen:
»Mais alors, mon enfant«, sagt sie, »was sollen wir hier mit Ihnen anfangen?«
Bernadette meint, es sei nicht ihre Sache, auf diese Frage etwas zu erwidern. Sie schweigt also. Die Ehrwürdige ist daher nach einer Pause gezwungen, das Gespräch wieder aufzunehmen:
»Aber in der Welt draußen, welchen Beruf haben Sie sich da gewünscht?«
»Oh, Madame la Supérieure, ich dachte mir, zum Dienstmädchen wird's vielleicht reichen ...«
In diesem Satz schwingt wieder ein heimlicher Nebenklang, in dem die Oberin sich nicht auskennt. Was soll man von diesem Mädchen halten? Die Mundfurchen der fünfzigjährigen Nonne werden ganz scharf. Ihre nächste Frage hat fast einen verletzenden Ton:
»Und wer hat Sie an unsere Kongregation empfohlen?«
»Ich glaube, Seine Gnaden, der Herr Bischof von Nevers ...«
»Aha, Monseigneur Forcade«, wendet sich die Oberin mit einer Spur von Lachen an eine hohe, schlanke Nonne, die soeben in die Tür getreten ist:
»Haben Sie das gehört? Monseigneur Forcade, ce cher et saint homme! Diesem kindlichen Herzen verdankt man immer dergleichen Empfehlungen ... Dies hier ist die Postulantin aus Lourdes. Wie war doch Ihr Name, meine Tochter?«
»Bernadette Soubirous, Madame la Supérieure.«
»Und dies hier ist die hochwürdige Mutter Novizenmeisterin, an die Sie sich in Zukunft werden zu halten haben ...«
»Wir kennen einander bereits«, sagt Mère Thérèse Vauzous, ohne eine Überraschung zu verraten. Das schöne Gesicht der ehemaligen Lehrerin von Lourdes, dieser Amazone Christi, nach Abbé Pomians Worten, ist pferdehaft lang geworden in dem letzten Jahr. Die schmalen Lippen entblößen allzuviel Zahnfleisch. In ihren kleinen, tiefliegenden Augen glänzt nicht der Friede der Selbstüberwindung, sondern ein unbekannter Gram. Bernadette sieht die Vauzous an, wie sie sie oft angesehen hat, wenn sie einsam im Raum der Prüfung stand. Mère Imbert fragt jetzt die Novizenmeisterin:
»Jüngst ist doch die Novizin Angéline auf ihren eigenen Wunsch in die Welt zurückgekehrt; wer besorgt ihre Arbeit?«
»Da die Novizin Angéline erst gestern das Haus verlassen hat«, erwidert Mère Vauzous, »ist die Stelle des Küchenmädchens noch nicht besetzt worden, Madame la Supérieure.«
»Um so besser. Somit könnte die Postulantin schon morgen diesen Dienst antreten ...«
Und dann, mit nachsichtiger Milde zu Bernadette gewandt:
»Unter der Voraussetzung, mon enfant, daß Sie morgen nicht müde sein werden und daß Ihre gesundheitliche Verfassung diese Arbeiten duldet. Es handelt sich dabei hauptsächlich ums Geschirrspülen, ums Gemüseputzen und Kartoffelschälen, um das Reinigen des Fußbodens und ums Ausfegen von Gängen und Stiegen, kurz um alle niedrigen Dienste, die es hier zu besorgen gibt. Merken Sie gut auf: ich gebe Ihnen keinen Befehl, sondern ich mache nur einen Vorschlag. Wenn Sie sich außerstande fühlen, meinen Vorschlag anzunehmen, weil Ihnen diese Arbeit körperlich oder seelisch widerstrebt, so sagen Sie es bitte sogleich ...«
»O nein, Madame la Supérieure«, fällt Bernadette ein, »diese Arbeit widerstrebt mir gar nicht, und ich bin sehr glücklich, die Stellung des Küchenmädchens haben zu können ...«
Sie weiß gar nicht, daß sie durch diese Antwort ein »Examen der Humiliation« glänzend besteht. Und wiederum ist auch diese durch die Oberin angestellte Prüfung in der Demut ein schiefes Mißverständnis, wie so vieles, das zwischen Bernadette und den Menschen vorfällt. Sie ist weder die Tochter eines Generals wie die Novizenmeisterin, noch auch die Tochter eines Gutsbesitzers wie Mutter Imbert. Geschirrspülen, Bodenwaschen und Stiegenreinigen, das tägliche Werk ihrer Mutter, bedeutet keine Demütigung und Erniedrigung für sie, sondern das Kindvertraute und Selbstverständliche, die Arbeit an sich. Die Klosterfrauen haben ein eitles Weltkind erwartet, das von seinem Ruhme trunken ist. Nach all den Triumphen von Massabielle mußte man's annehmen. Bernadette aber ist aufrichtig beglückt, daß man sie für die niedrigste Arbeit im Hause verwenden will. Sie lächelt geradezu erleichtert, und die Oberin nickt befriedigt:
»So, und jetzt folgen Sie der Mutter Novizenmeisterin, die Sie ins Refektorium führen wird, wo Sie am Tisch der Schwestern von Lourdes zu Abend essen können ...«
»Mit Erlaubnis, Madame la Supérieure, noch eines wäre zu bedenken«, meldet sich Marie Thérèse Vauzous. »Die Postulantin trägt einen Namen, der in der Welt großes Aufsehen gemacht hat, immer wieder in den Zeitungen auftaucht und sogar in den Hirtenbriefen eines Bischofs rühmliche Aufnahme gefunden hat. Für uns hier haben große Namen wenig Klang, auch wenn sie durch schwere Mühe erworben worden sind. Wir schälen uns los von alledem, was wir der Welt bedeuten und was die Welt uns bedeutet. Es kommt hinzu, daß der Vorname Bernadette eine recht kindliche Verkleinerung und Verniedlichung ist ...«
»Sehr richtig«, bestätigt Mutter Joséphine. »Vor dem Eintritt ins Noviziat wird die Postulantin einen andern Namen wählen wollen. Am besten, es geschieht gleich ... Haben Sie über einen Klosternamen vielleicht schon nachgedacht, ma fille?«
Bernadette hat nicht nachgedacht.
»Wie ist der Name Ihrer Taufpatin?«
»Tante Bernarde Casterot ist meine Taufpatin, Madame la Supérieure.«
»Dann wird es Ihnen sicher sehr lieb sein, sich Marie Bernarde zu nennen, mein Kind«, entscheidet die Oberin.
Und fröhlich und leicht gibt als erstes Opfer Bernadette ihren Weltnamen her, bei dem sie alle nennen, die sie liebt.
Am nächsten Tage sind bei der Mittagsmahlzeit im Refektorium etwa vierzig Frauen versammelt, darunter neun bereits eingekleidete Novizinnen, an deren Tisch Bernadette den letzten Platz einnimmt. Die Lektorin am Lesepult schlägt soeben das erbauliche Buch auf, das zum Vortrag ausgewählt worden ist, als auf einen Wink Mutter Joséphine Imberts die Novizenmeisterin das Wort ergreift:
»Meine teuren Schwestern, Sie wissen, daß sich seit gestern eine neue Postulantin im Hause befindet. Sie heißt Bernadette Soubirous und stammt aus Lourdes. In den nächsten Tagen wird man ihre Einkleidung als Novizin vornehmen, und sie erhält den Namen Marie Bernarde. Einige unter Ihnen werden gewiß von den Erscheinungen und mystischen Erlebnissen vernommen haben, die dem Fräulein Soubirous begegnet sind und deren heilsame Nachwirkungen so viel Aufsehen erregt haben. Ein Hirtenbrief des Bischofs von Tarbes beschäftigt sich mit ihnen ... Treten Sie bitte hierher, meine Tochter, und berichten Sie uns kurz und einfach über jene Erfahrungen ...«
Ganz verzagt steht Bernadette am Lesepult und blickt auf die jungen und alten Frauengesichter ringsum, die alle sonderbar wunschlos sind, gleichmütig friedlich und sichtlich müde von einem arbeitsreichen Morgen. Einige sehen die Postulantin kindlich neugierig an, andere wie erstorben, drei oder vier Augenpaare hängen mit freundlicher Wärme an ihr. Bernadette, die ihre Geschichte so oft erzählt hat, weiß angesichts dieser unbekannt sanften Erfrorenheit um sie nicht ein noch aus. Wie ein siebenjähriges Kind fügt sie stockend ihre holprigen Sätze zusammen.
»Meine Eltern schickten uns einmal im Winter Dürrling suchen, meine Schwester Marie und mich, und noch eine andere, sie hieß Jeanne Abadie. Marie und Jeanne ließen mich auf der Chalet-Insel allein, am Mühlbach, gegenüber der Grotte. Und da stand auf einmal eine sehr schöne Dame in einem Felsloch oben und war ganz herrlich gekleidet. Und ich sagte es später Marie und Jeanne, und dann auch meiner Mutter. Meine Mutter aber verbot mir, wieder dorthin zu gehen. Aber ich ging doch wieder dorthin. Und die Dame war immer da, sooft ich kam. Und beim drittenmal sprach sie mit mir und bat mich, fünfzehn Tage hintereinander dorthin zu kommen. Und ich kam fünfzehn Tage hintereinander dorthin, und die Dame blieb nur zweimal weg, und das war an einem Montag und einem Freitag. Am dritten Donnerstag befahl sie mir, mich in der Quelle zu waschen und auch zu trinken. Es war aber gar keine Quelle da, sondern erst am zweiten Tag floß die Quelle aus dem kleinen Loch, das ich rechts im Winkel gegraben hatte. Nach den fünfzehn Tagen kam die Dame noch dreimal zu mir. Das letzte Mal ging sie weg aus der Grotte, und ich habe sie nicht mehr gesehen ...«
Dies ist Bernadettens staubtrockene und mit lauter ungeschickten »unds« zusammengekoppelte Geschichte. Sie fällt auf steinigen Boden. Keine Miene rührt sich.
»Wir danken Ihnen, mein Kind«, nimmt die Novizenmeisterin das Wort. »Ich glaube, daß sowohl die teuren Schwestern, die Novizinnen, als auch Sie, Marie Bernarde, mich genau verstehen werden, wenn ich die Überzeugung ausspreche, daß von Stund an in diesem Hause davon kaum mehr die Rede sein wird. Weder werden wir Sie damit behelligen, noch werden Sie selbst darauf zurückkommen wollen ... So, und nun lasset uns die Mahlzeit rasch beenden.«
Als Bernadette an den Tisch zurückkommt, fragt sie ihre Nachbarin:
»Ist das alles, Mademoiselle? Mehr war's nicht?«
Bernadette nickt der Enttäuschten zu:
»Ja, das ist alles, Mademoiselle. Und mehr war's nicht ...«
Am Vorabend ihrer Einkleidung zur Novizin – es ist ein achtundzwanzigster Juli – wird Bernadette nach der Adoration in der Hauskapelle zu Mère Marie Thérèse beschieden. Die Novizenmeisterin empfängt sie in ihrer eigenen Zelle, die noch kahler und strenger ist als die der anderen Nonnen. Nichts als ein eiserner Kruzifixus hängt über der Holzpritsche, auf der schlafen zu dürfen sie die Erlaubnis der Generaloberin eigens erbitten mußte.
»Hören Sie, ma fille«, beginnt die Vauzous. »Sie begeben sich morgen auf einen schweren Weg. Es ist der Weg, der durch die zeitliche Losschälung zum ewigen Leben führt. Zwar ist das Noviziat erst der Vorpfad, der in den Hauptweg mündet, aber für einige bildet er die schwerste Strecke. Wenn wir einmal die Profeß abgelegt haben, finden wir einen entschiedeneren Halt gegen manche Anfechtungen. Ich habe Sie rufen lassen, weil ich einiges zwischen uns klären möchte. Vor allem weiß ich nicht, ob Sie schon eine richtige Vorstellung von meinem Amte haben, vom Amte der Novizenmeisterin?«
Bernadette sieht die Nonne ruhig an, ohne eine Antwort zu geben.
»Ich habe von unsern Oberen die Aufgabe bekommen«, fährt Mère Marie Thérèse fort, »der Goldschmied Ihrer Seele zu sein, Marie Bernarde, nicht anders freilich, als es jede Mutter sein soll, die ihr unmündiges Kind heranzieht und es seelisch und körperlich festigt gegen alle Gefahren des Lebens. Was also in nächster Zeit von Ihnen gefordert werden wird, geschieht zu dem einzigen heiligen Zweck, Ihre Seele zu schmieden und das Edelmetall von der Schlacke zu trennen. Haben Sie mich verstanden?«
»O ja, ma Mère, ich glaub, das hab ich verstanden ...«
»Ich bin also berufen, Ihnen fortan geistlich eine Führerin zu sein. Das ist der Grund, warum ich noch einmal Ihre Erscheinungen erwähne, obwohl ich weiß, daß Sie es nicht lieben, wenn davon gesprochen wird. Offen bekenne ich, daß ich Ihnen lang nicht geglaubt habe und Ihre Visionen für erheuchelt hielt. Inzwischen aber haben infolge wundersamer Umstände hohe Kirchenfürsten den Fall zu Ihren Gunsten entschieden. Ich beuge mich dem Urteil dieser Oberen. Etwas andres steht mir nicht zu. Denn wer bin ich? Ich glaube demnach, daß Sie zur Zeit der Apparitionen eine Bevorzugte des Himmels waren und daß sich eine ganz und gar unbegreifliche Gnade auf Sie herabgesenkt hat, Marie Bernarde. Sie scheinen unaufmerksam zu sein. Können Sie mir nicht folgen?«
»O ja, ich kann Ihnen folgen, ma Mère.«
»Sie müssen mir's nachfühlen, liebe Tochter, wie sehr Ihr Eintritt in unser Noviziat mir mein Amt erschwert. Im allgemeinen handelt es sich in diesem Noviziat um junge Geschöpfe, die wir zu echten und tüchtigen Religiösen heranzuziehen versuchen. Bis zu welcher Grenze diese jungen Seelen ihr künftiges Leben vorbereiten, bleibt ihrer eigenen Spannkraft anheimgegeben. Ihr Fall aber, Marie Bernarde, ist kein normaler Fall. Wenn Sie eine Bevorzugte des Himmels sind, so wächst meine Verantwortung nicht nur Ihnen gegenüber, sondern auch dem Himmel gegenüber. Sie haben als Vierzehnjährige eine unfaßbare Gnade hingenommen, wie ein spielendes Kind den Sonnenschein. Das ist ja eben das Geheimnis der Gnade, daß sie verliehen wird für des Heilands Verdienst und nicht um unserer eigenen Würdigkeit willen. Verstehn Sie das, meine Tochter? Wenn Sie müde sind, so nehmen Sie ruhig auf dieser Pritsche Platz.«
»O nein, ich bin nicht müde, ma Mère ...«
»Es beginnt ein neues Kapitel für Sie«, sagt die Novizenmeisterin mit einem tiefen Seufzer. »Sie haben jene Gnade gewissermaßen durch Ihr eigenes Verdienst einzuholen, soweit das überhaupt menschenmöglich ist. Dies ist gewiß der Grund, warum Sie sich sehnten, den Schleier zu nehmen. Unsre unsterbliche Seele setzt drüben ihr Leben fort, und was sie sich erworben oder nicht erworben hat, das besitzt sie oder das fehlt ihr. Sie werden als Bevorzugte drüben anders empfangen werden als wir nicht Bevorzugten. Das wäre aber eine rechte Schande, wenn im Himmel plötzlich die alte Bernadette auftauchte, die ich, ihre Lehrerin, so lange beobachten konnte: ein träges, zerstreutes, gleichgültiges Ding, das nicht das geringste Interesse für die Wahrheiten der Religion besaß, das zur Not lesen und schreiben lernte und sonst durchs Leben taumelte wie eine Motte. Ein sehr leichtfertiges Ding dazu, das trotz seiner äußeren Bescheidenheit voll heimlicher Tücken und hochmütiger Widerhaken war. Ein Mädchen, dem allezeit die selbstbewußten, ja zuweilen kecken Antworten auf den Lippen saßen. Die alte Bernadette, die am liebsten die ganze Welt zu ihren Füßen sieht. Das ist mein Urteil über Sie, Marie Bernarde, wie ich es mir vor Jahren gebildet habe. Es ist aber nach so langer Zeit Ihr gutes Recht, zu sagen: Mutter Vauzous, Sie täuschen sich in mir. Ich bin nicht so, wie Sie mich schildern. Diese Fehler hab ich gar nicht ...«
»Ich habe sehr viele Fehler, ma Mère«, sagt Bernadette rasch.
Die Nonne aber stellt eine Zwischenfrage:
»Hat Sie unser Hausarzt, Doktor Saint Cyr, untersucht?«
»Ja, als der Herr Doktor gestern im Hause war.«
»Und was hat er zu Ihnen gesagt, mein Kind?«
»Er hat gesagt, daß ich ganz gesund bin.«
»Hat er das wirklich mit diesen Worten ausgedrückt?«
»Ja! Bis auf mein Asthma. Aber das hab ich doch seit jeher ...«
Die Novizenmeisterin lächelt schwach mit ihrem nackten Zahnfleisch:
»Ich ertappe Sie hier auf Ihrer ersten Unwahrheit, Marie Bernarde. Doktor Saint Cyr hat offen zu Ihnen gesagt, daß Ihre Lunge nicht ganz in Ordnung ist.«
»Das tut nichts«, lacht Bernadette. »Ich fühle mich sehr wohl.«
»Mich freut Ihre kleine, edle Lüge, ma fille. Sie beweist mir, daß Sie vielleicht ahnen, daß unsere Leiden und Gebrechen selbst zum Werkzeug einer übernatürlichen Hilfe werden können. Wir müssen eben aus unsern Krankheiten und irdischen Leiden, die aus dem Sündenfall stammen, dieses Werkzeug machen. Begreifen Sie mich?«
»Ich glaub, ma Mère, ich begreife das nicht ...«
»Sie werden mich einmal begreifen, Marie Bernarde ... Im Augenblick aber ist zu sagen, daß es nicht nur Ihr Recht, sondern Ihre Pflicht ist, von jeder Arbeit abzustehn, die Ihre Kräfte übersteigt.«
»Oh, die Arbeit in der Küche macht mir viel Spaß, ma Mère. An so was bin ich halt gewöhnt ...«
Marie Thérèse Vauzous richtet sich hoch auf:
»Das Wichtigste ist, Marie Bernarde«, sagt sie mit gedämpfter Stimme, »daß Sie den Sinn des Gehorsams verstehn, der unser drittes Gelübde ist. Er hat gar nichts zu tun mit dem Gehorsam der Welt, selbst mit dem des Militärs nicht, den ich als Soldatentochter genau kenne. Unser Gehorsam ist kein blinder, kein erzwungener, kein toter Gehorsam, sondern ein freiwilliger, sehender und lebendiger. Wir sind uns immer bewußt, daß wir in Erfüllung des dritten Gelübdes an dem entscheidenden Ziel arbeiten, an der Vorbereitung und Heiligung unseres Ichs für die Ewigkeit. Sie und ich, meine liebe Tochter, sind von nun an eine Einheit und wirken zusammen an diesem Ziel. Ich bitte Sie innigst, ja nicht zu glauben, daß ich Sie als eigensinnige Lehrerin mit meiner Strenge schikanieren will. Freiwilligkeit ist alles. Ohne diese freiwillige Hingabe wird jedes Opfer fruchtlos, ärgerlich, überflüssig. Ein Kloster ist kein Gefängnis. Es gibt keinen Zwang hier. Ehe Sie die Gelübde abgelegt haben, können Sie dieses Haus frei verlassen. Man hat Ihrer Vorgängerin, der Novizin Angéline, nicht die geringsten Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Die Tür stand ihr offen. Es ist keine Stätte des Leidens hier, sondern ein Ort der innerlichsten Freude, die sich hoch erhebt über alle Vergnügungen der Welt. Bei allem aber, was Sie tun oder lassen, bedenken Sie, welche Gnade Sie durch Ihr Opfer einzuholen haben. Und das ist alles, Marie Bernarde. Gute Nacht!«
»Gute Nacht, ma Mère.«
Bernadette hat schon die Türschnalle in der Hand, als ihr Mère Vauzous noch einen Rat mit auf den Weg gibt:
»Lernen Sie beizeiten, rasch einzuschlafen. Der rechte Schlaf ist die große Kunst der Ordensleute.«
Bei diesen Worten blickt die Novizenmeisterin auf ihr hartes Lager mit der rauhen Decke. Bernadette aber, sie weiß nicht warum, gedenkt des schönen, runden Pfirsichs, der unberührt auf dem Teller der Vauzous stand im kalkweißen Mondlicht.