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Knapp nach dieser häuslichen Szene treten ein paar bescheidene Ereignisse ein, die auf eine günstige Wendung im Geschick der Familie hinzudeuten scheinen. Tante Sajou ist eine gutmütige Person. Die gellende Stimme der Soubirous hat sie vorhin erschreckt. Es sind doch sonst recht stille Leute, diese Soubirous, falls man nicht gerade an die beiden Knaben denkt. Wenn Louise Casterot, die so eingebildet ist auf ihre Herkunft, sich gehen läßt, dann muß das Wasser ziemlich hoch stehn. Madame Sajou besitzt einen üppigen Vorratsschrank. Sie öffnet ihn mit einem Seufzer, der ihrer eigenen Güte gilt. In Gottes Namen! Sie schneidet von ihrem Butterkoloß ein Eckchen ab und ein Stück von ihrer Speckseite. Weil aber nicht nur im Wohltun, sondern auch in der Überwindung des Geizes ein Stachel der Wollust steckt, so legt sie noch sechs schmale Scheiben der guten Bauernwurst auf den Teller, für jeden eine. Mit diesen Gaben in der Hand, klopft sie an der festen Tür des Cachots an.
Die Soubirous, die am Herde steht, läßt vor Erstaunen den hölzernen Kochlöffel in die Wassersuppe fallen, die sie aufs Feuer gesetzt hat.
»Oh, meine liebe Cousine, Euch sendet die Allerseligste Jungfrau selbst, weil ich sie heute auch recht fleißig angerufen hab ...«
Da das Reisigfeuer allzu lustig brennt und die Sajou über ihre eigene Güte recht bewegt ist, ruft sie ihrem Mann ins Stiegenhaus zu, er möge einen Arm der trockensten Holzklötze herunterbringen. Ehe aber der gehorsame Ehegatte, der so wortunlustig ist, daß er seiner Alten niemals widerspricht, diesen Befehl ausgeführt hat, schneit ein neues Geschenk in den Cachot. Croisine Bouhouhorts hat Besuch aus dem Dorf Viger bekommen. Es ist eine alte Bäuerin, eine Tante, die ihr alljährlich um diese Zeit ein Faschingspräsent zu bringen pflegt. Diesmal sind es zwei Dutzend Eier. Kaum ist der Besuch aus dem Haus, rennt die Bouhouhorts mit dem Eierkorb schnurstracks zu den Soubirous herüber. Sie ist, wie immer, gehetzt und atemlos:
»Ihr müßt mir die große Freude machen, liebe Nachbarin, und diese Eier annehmen. Meinem Kleinen habt Ihr doch heute das Leben gerettet ...«
Louise Soubirous ziert sich nicht sehr. Auch sie ist überzeugt davon, daß Croisinens Unglückswurm ohne ihr Geschüttel nicht mehr am Leben wäre. Während sie sich die Hände wischt und den Korb mit Dankesworten in Empfang nimmt, berechnet sie, daß sie aus zehn Eiern und der Butter eine höchst ansehnliche und mit Speckscheiben gefüllte Omelette herstellen könne. Die Augen tränen ihr vor wildem Appetit bei diesem Gedanken. Endlich wird man etwas Anständiges in den Magen bekommen. Wer weiß, ob ihre Kinder all den Unfug mit wunderschönen Damen nicht nur deshalb ersinnen, weil sie schon seit Tagen nicht satt geworden sind. – Das Gesetz der gehäuften Zufälle aber will es, daß neben diesen flüchtigen Aufbesserungen jetzt noch eine dauerhaftere Gunst des Schicksals eintritt. Und zwar tritt sie leibhaftig ein in der Gestalt Louis Bouriettes.
Louis Bouriette ist, gleich François Soubirous, ein Gelegenheitsarbeiter. Ein ehemaliger Steinklopfer wie Onkel Sajou, hat er es aber nicht so weit gebracht wie dieser. Für sein Unglück macht er den Splitter verantwortlich, der ihm die Hornhaut des rechten Auges verletzt hat, so daß er auf diesem Auge nichts mehr sieht. Bouriette ist ein selbstbewußter Invalide. »Ich bin ein Blinder«, sagt er täglich zwanzigmal, »und was kann man von einem Blinden wollen?« Auch ihn beschäftigt der Postmeister Cazenave fallweise als Boten und Briefträger. Cazenave hat Bouriette jetzt zu Soubirous geschickt. Folgendes nämlich ist vorgefallen. Der Kutscher Cascarde, der den Postomnibus nach Tarbes lenkt, ist durch einen Huftritt ziemlich stark zu Schaden gekommen. An seine Stelle rückt der Pferdewärter Doutreloux auf. Die Stelle dieses Pferdewärters und Hilfskutschers ist nun für Soubirous frei. Ein Müller weiß, nach Cazenaves Erfahrungen, auch immer gut mit Pferden umzugehen. Der Postmeister bezahlt für diese Stellung zwei Franken täglich und das Mittagessen. Wenn Soubirous einverstanden sei, so möge er morgen um fünf Uhr früh seinen Dienst antreten. Louise faltet die Hände. Der Hausvater aber steht nachdenklich da in seiner hochgeschlossenen Würde und scheint das Für und Wider dieses überraschenden Angebots reiflich zu erwägen.
»Es war ausgemacht zwischen Cazenave und mir«, sagt er endlich selbstbewußt, »daß er mich haben will, wenn etwas frei wird bei ihm. Schließlich sind wir alte Kameraden vom Militär. Als Mühlenbesitzer bin ich freilich andere Arbeit gewöhnt. Wenn man aber so viele Kinder hat, so hat man auch keine Wahl, heutzutage. Ich werde auf dem Posten sein, morgen früh ...«
Und er wischt sich den Schweiß, dessen Ausbruch er trotz seiner tadellosen Haltung nicht verhindern kann. Dann blinzelt er im Kreis umher. Eine schlaue Vergnügtheit breitet sich über seine Züge. Der Südfranzose erwacht. Eine noble, große, prahlerische Gebärde: »Unsere Verwandten und Freunde hier, die uns mit Geschenken überhäufen, sind eingeladen, uns die Ehre zu geben heute abend bei unserm bescheidenen Diner. Es wird eine saftige Omelette zubereitet werden, wie ich die Meinige kenne ...«
Allgemeiner Protest. Auch Louise würde am liebsten protestieren. Der Leichtfuß opfert an einem Abend alle Eier auf, von denen die Familie drei Tage lang leben könnte. Die Soubirous ist aber immer schwach gewesen den Schwächen ihres Mannes gegenüber. So oft hat sie ihn gewähren lassen wider ihren eigenen besseren Instinkt. Ohne seine großmännische Ungenauigkeit hätte man wahrscheinlich weder die Boly-Mühle noch die Escobé-Mühle und schließlich auch die Bandeau-Mühle nicht aufgeben müssen. Nur um als überlegener Spendierer dazustehen, hat er die knauserigsten Kunden mit Wein und Imbiß traktiert. Die Folge war, daß diese Bauern und Bäcker, die jeden Sou dreißigmal umdrehen, Mißtrauen faßten gegen den verschwenderischen Müller. Mit Leichtsinnigen macht man nicht gern Geschäfte. Leider aber ist die Soubirous nicht nur schwach gegen die Schwächen ihres Mannes, sondern besitzt sogar eine ausgesprochene Schwäche selbst für viele dieser Schwächen. Wenn er bei der geringsten Glücksfügung von einer Minute zur andern das Elend abschüttelt wie ein Hund die Regentropfen, wenn er unternehmend dasteht wie jetzt, als ein Einlader und großer Herr, da gefällt er ihr, der alte Müllerbursch François, da muß sie laut auflachen selbst nach diesem Tag. (Von wem hat's die Bernadette, mit ihrer Märchenerzählerei?) Louise wiederholt die Einladung, nicht etwa zögernd, sondern mit wohlgesetzten Worten, denn sie ist bekanntlich gut erzogen:
»Man wird es mir doch nicht antun, meine Omelette zurückzuweisen. Man wird doch wenigstens kosten davon. Auch unsereins will einmal ein bißchen Fasching feiern ...«
Das Wort »kosten« baut eine Brücke. Wer kostet, der stillt nicht seinen Hunger. André Sajou macht seiner Frau den Vorschlag, das eigene Abendessen mit dem der Soubirous zusammenzulegen. Der Steinmetz, dessen erwachsene Kinder längst nicht mehr zu Hause sind, ist ganz froh, einen Abend in Gesellschaft verbringen zu können, und sei es auch nur im Cachot. Er stellt einen großen Krug seines eigenen Weins auf den Tisch. Inzwischen beginnt die große Omelette schon zu duften. Während die Soubirous sie auf der Pfanne herumwirft, schickt sie ein Dankgebet zur Jungfrau, weil für die nächsten Wochen der Hunger gebannt ist. Bouriette, der Glücksbote, will sich empfehlen. Soubirous hält ihn mit beiden Armen zurück. Die Erwachsenen nehmen am Tisch Platz, so gut es geht. Die ausgehungerten Kinder setzen sich dicht gedrängt auf die schmale Bank, die in der Nische steht zwischen Kamin und Fenster, Bernadette neben Justin, Marie neben Jean Marie. Die Mutter läßt es sich nicht nehmen, ihren Kindern das Essen zuerst zu geben, einen Anteil der Omelette, die Suppe und die Wurst aufs Brot. Tante Sajou bringt jedem ein Glas des dunklen, guten Weins. Man hat wahrhaftig ein Faschingsfest.
Die Mahlzeit geht nicht sehr redselig vonstatten. Die Provinz Bigorre und die Pyrenäentäler sind ein armes Land. Man ißt daher schweigend und mit lebhaftem Bewußtsein des Genusses. Die Bauern in den Bergen und die kleinen Leute in den Städten haben Angst, etwas von der Lust und Nährkraft der Gottesgabe zu verlieren, wenn sie beim Essen ihrer Zunge auch noch andre Arbeit geben. Die Unterhaltung beschränkt sich daher auf ein reichliches Lob, das dem Mahle gezollt wird.
Nach Tisch sitzt man noch ein Stündchen beisammen. Die Männer schmauchen ihren Krauttabak, der sich mit dem dichten Holzrauch in der Stube zu einem stickigen Qualm verbindet. Man ist's gewöhnt. Nur Bernadette muß zweimal vor die Tür gehn, um Luft zu bekommen. Das politische Gespräch versteigt sich nicht höher als zu einer kleinen Schimpforgie gegen die Regierung, das heißt gegen die beiden Stadtgewaltigen, den Bürgermeister Lacadé und den Polizeikommissär Jacomet, der jüngst durch den Gemeindepolizisten Callet hat austrommeln lassen, daß man Holz aus dem Gemeindewalde nur auf eine schriftliche Eingabe bei der Mairie erhalten könne. Unbefugtes Holzsammeln falle als Vergehen des Diebstahls unter Paragraph soundsoviel des Strafgesetzbuches. So wird einem von Jahr zu Jahr die Schlinge fester um den Hals gezogen. Wo sind die guten Jahre hin, wo alles frei war, wohlbestellt, billig und der Lapaca noch Wasser führte?
Louise Soubirous denkt daran, daß ihr Mann morgen schon um viereinhalb wird aufstehen müssen. Sie will die Gasterei rasch beenden. In den Pyrenäen pflegen die Frauen nach der Abendmahlzeit noch einen Rosenkranz zu beten zum würdig frommen Abschluß des Tags. Meist sagt ihn eine laut vor, und die andern murmeln mit. Die Soubirous weiß selbst nicht, warum sie ihre Tochter Bernadette jetzt zur Vorsagerin bestimmt. Bernadette steht, entfernt von den andern, an der Tür. Sie zieht gehorsam ihr Rosenkränzlein hervor, das sie heute mit ausgestreckter Hand der wunder-wunderschönen Dame entgegengehalten hat. Tonlos beginnt sie das erste Ave. Das mechanische Gemurmel der Weiberstimmen begleitet sie. Lebendig flammt das Feuer auf. Sonst brennt nur noch auf dem Tisch der Kienspan, den Tante Sajou hingestellt hat. Geschwind spult das Gebet sich ab. Nachdem es zu Ende ist, flüstert die Soubirous noch zum Abschluß: »Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir unsere Zuflucht nehmen zu dir.«
Bei den Worten »Maria, ohne Sünde empfangen« beginnt Bernadette zu wanken und muß sich gegen die Tür lehnen, um nicht hinzufallen. Auch wird sie ebenso kreideweiß, wie Jeanne Abadie und Marie sie heute am Bachufer angetroffen haben.
»Bernadette will ohnmächtig werden«, schreit Croisine Bouhouhorts auf. Alle Blicke wenden sich dem Mädchen zu.
»Ist dir übel, Bernadette?« ruft Tante Sajou. »Trink schnell noch einen Wein ...«
Bernadette schüttelt den Kopf. Sie stammelt:
»O nein, o nein ... Mir ist nicht übel ... es ist nichts ...«
Da geschieht es, daß die erschrockene Mutter gegen ihren eigenen Willen das ausplaudert, wofür sie wenige Stunden vorher ihre Töchter mit dem Bettstock geschlagen hat:
»Oh, diese Bernadette ... Das kommt daher, daß sie heut eine wunderschöne junge Dame gesehn hat, ganz in Weiß, dort bei Massabielle ...«
»Schweig«, unterbricht sie Soubirous ungehalten. »Das ist barer Unsinn ... Bernadette hat's leider mit dem Herzen, wir haben sie untersuchen lassen vom Doktor Dozous, sie verträgt keinen Holzrauch, und das Holz raucht hier den ganzen Tag und die ganze Nacht. Wir brauchen ein neues Abzugsrohr für den Kamin, mein lieber André ...«
Eine kleine Stunde später liegt das Ehepaar Sajou, mit Kopftuch und Zipfelmütze zum Schlaf ausgerüstet, in seinem breiten Bett.
»Was hat da die Soubirous erzählt von Bernadette und einer jungen Dame?« fragt er.
»Oh, die Bernadette hat eine wunderschöne junge Dame gesehen, ganz in Weiß, dort bei Massabielle«, erwidert sie, die sich diese Worte genau eingeprägt hat.
»Wer kann das sein?« erwägt Sajou. »Welche wunderschönen jungen Damen gibt's überhaupt ... Die Töchter Lafites sind nicht in Lourdes ... Sollte es etwa eine von den Cénacs oder Lacrampes sein .... Wahrscheinlich ist's ein Faschingsscherz ...«
Diesmal ist Madame die Wortkarge. Sie erwidert nichts und scheint zu schlafen. Sajou aber beendet seine Überlegungen mit der gähnenden Weissagung:
»Die Bernadette wird's nicht mehr lang machen. Ich seh schon, wie man sie im Sarg aus dem Cachot trägt ...«
Frau Sajou aber faßt den Entschluß, morgigen Tages die Ansicht einiger Freundinnen über die Natur der Dame einzuholen, die Bernadette dort bei Massabielle gesehn hat. Und Madame Bouhouhorts hat zur Stunde denselben Gedanken, während sie sich angstvoll über ihr Kind beugt.
Der Zirkel dieses elften Februar schließt sich. Das Schlafkonzert der Familie Soubirous, unter energischer Anführung des Hausvaters, durchtönt die raucherfüllte Luft des Cachots. Das Herdfeuer ist heute wohlgenährt und läßt seine Flammenbilder und Schattenmuster unermüdlich an den Wänden tanzen. Schlaflos starrt Bernadette auf diese nackten Wände. Heute aber sieht sie, anders als sonst, in die Flammenbilder und Schattenmuster keine Gesichter und Formen hinein. Es ist so, als habe die Begegnung mit der Dame die ganze, meist so angstvolle Bildkraft ihrer Augen erschöpft. Sie zieht sich eng zusammen in dem engen Bettchen, um mit keinem ihrer Glieder den Körper der Schwester zu berühren. Ein Rest jenes Abscheus vor allem Fleischlichen, welcher dem Zusammensein mit der allerlieblichsten Dame voranging und folgte, läßt sie auch jetzt erschauern, wenn sie mit Hand oder Fuß zufällig an die Schwester stößt, die laut atmend und hitzig schläft wie ein junges Tier. Aber merkwürdiger noch, ihr eigener zarter Leib, wenn sie ihn anfaßt, erfüllt sie mit Schrecken. Sie ist nicht eins mit ihm. Er liegt da wie neben ihr, wie etwas Fremdes, ihr selbst nicht viel mehr angehörend als der Leib Maries.
Was ist nur geschehen mit ihr? Sie weiß es nicht. Daß aber etwas äußerst Folgenreiches mit ihr geschehen ist, das weiß sie. Von oben und von allen Seiten drückt es auf sie wie das Bewußtsein einer unausweichlichen Pflicht, der sie nicht gewachsen ist, die sie nicht gesucht hat und doch nicht abschütteln kann. Um sich von diesem Druck zu befreien, richtet Bernadette ihre ganze Vorstellungskraft auf die Dame. Sie preßt die Augenlider fest zusammen, um sich die ganze Holdseligkeit in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Das Weiß des Kleides, das Blau des Gürtels, der matte Schimmer des Halses, die freien Locken unter dem herrlichen Schleier. Das helle, kameradschaftliche Lächeln unaussprechlichen Einverständnisses. Der blutlos wächserne Schein der nackten Füße mit den goldenen Rosen ...
Sooft sich Bernadette aber dem Bild der Dame zu nähern glaubt, wird sie von einem Strudel schwarzer Leere weggerissen. Es ist ihr nicht erlaubt, in Gedanken zu schauen, was sie in Wirklichkeit geschaut hat. Vielleicht aber wird es ihr erlaubt sein, von der Dame zu träumen. Damit dies geschehe, macht Bernadette leidenschaftliche Anstrengungen, um einzuschlafen. Sie bemüht sich, an ganz andre Dinge zu denken. Sie denkt an das Dorf Bartrès. Sie ruft alle Gegenstände des Bauernhauses herbei, in dem sie so lang gelebt hat, den Kreißstuhl der Laguès, Kinderwiege und Spinnrocken. Sie zählt das Zinngeschirr am Bord, sie nennt die Tiere ihrer Herde bei den Namen, die sie ihnen gegeben hat. Sie beschwört den Hund, den sie liebte und der schon lange tot ist. Sie denkt an die Weiden von Bartrès und an den Bach und an die Hügel von Orincles in Schnee und Regen und Sonnenschein. Sie sucht alles zusammen, was in ihrem kleinen Kopf an solchen Erinnerungen lebt. Manchmal überwältigt sie der Schlaf, aber immer nur für wenige Minuten. Kommt sie zu sich, war es nichts. Die Dame entzieht sich ihr. Sie scheint eigens beweisen zu wollen (damit man sie nicht verwechsle), daß sie aus einem ganz andern Stoff gemacht ist als dem der Träume. Es geht schon auf elf, als Marie plötzlich davon erwacht, daß ihre Hand über eine nasse Stelle des Kopfkissens fährt. Sie wendet sich zu ihrer Schwester um und erkennt den Grund.
»Maman ... Maman ...«, flüstert sie mit der lockenden und ängstlichen Stimme, mit der man einen Schlafenden zu erwecken trachtet. Die Soubirous hat den dünnen Schlummer einer guten Mutter. Gleich fährt sie auf:
»He, was ist los hier? ... Wer ruft ...«
»Was sagst du? ... Bernadette weint? ...«
Die mächtige Flüsterstimme Maries zieht die Worte in die Länge:
»Oh, Maman, Bernadette weint so sehr ... Das ganze Kissen ist schon naß ...«
Louise Soubirous schlüpft vorsichtig unter der Decke hervor und steht leise auf. Sie tastet über Bernadettens Gesicht: »Hast du Atemnot, meine arme Kleine? ...«
Bernadette preßt die Fäuste gegen die Augen und schüttelt den Kopf. Maman sucht sie zu beruhigen:
»Nun, so komm, steh auf, damit wir ein bißchen miteinander schwätzen.«
Sie wirft Reisig und zwei große Äste in das schon vergehende Feuer. Dann zieht sie einen Stuhl dicht an die Flammen. Bernadette kniet vor sie hin und wühlt den Kopf hilfesuchend in ihren Schoß. Die Soubirous streicht ihr wortlos übers Haar, lange. Dann beugt sie sich tiefer über sie:
»Fürchtest du dich, mein Kind?«
Bernadette nickt sehr stark.
»Fürchtest du dich vor deiner Dame dort bei Massabielle?«
Bernadette verneint ebenso heftig.
»Da siehst du's also, es ist alles nur eine Träumerei ...«
Bernadette hebt das tränenfeuchte Gesicht, sieht Maman erschrocken an und schüttelt noch heftiger den Kopf als früher.
Die Soubirous fühlt ein großes Herzweh um ihre Tochter:
»Meine arme Kleine, ich kenne das, ich war auch einmal in deinem Alter ... Mädchen in diesen Jahren sehen manchmal Dinge, die es nicht gibt ... Das geht vorbei, vergiß es! ... Das Leben ist doch viel zu schwer für solche Geschichten ... Nun bist du schon groß und hast begonnen, ein Weib zu sein, und in einem oder in zwei Jahren vielleicht findest du schon einen Mann und wirst Kinder haben wie ich ... Das geht alles so schnell, man glaubt gar nicht, wie, meine arme Kleine ...«
Bernadette hält ihren Kopf verborgen und verrät nichts mehr. Louise Soubirous aber ist trotz ihrer klugen Trostworte fest entschlossen, morgen im Beichtstuhl das Urteil Abbé Pomians oder Abbé Pènes' oder Père Sempets über diese Geschichte von der Dame bei Massabielle zu erbitten.