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Kapitel Fünfundzwanzig. Du spielst mit dem Feuer, o Bernadette

Duboë, der Unterpräfekt, kommt eigens nach Lourdes, um die letzten Anordnungen für den Donnerstag zu treffen, mit welchem die glorreiche Doppelwoche der Erscheinungen abschließt. Die Behörden erleben Stunden schwerer Besorgnis. Die Heilung des Kindes Bouhouhorts dürfte den Zustrom verdoppeln und verdreifachen. Die Gendarmeriebrigaden von Saint Pé de Bigorre, Augun, Lauruns, Eaux Bonnes, Begnères de Bigorre, Pierrefitte-Nestalas, Luz, um nur die größeren Orte zu nennen, melden Anstalten der ganzen Bevölkerung, sich bereits Mittwoch nachts auf die Wallfahrt nach Lourdes zu begeben. Nun ist die Aufrechterhaltung der Ordnung wirklich ein technisches Problem erster Güte geworden. Unter Vorsitz Duboës finden mehrere Beratungen in der Mairie statt. Der Militärkommandant des Städtchens wird hinzugezogen. Man beschließt, für den ominösen Tag die Truppen zu konsignieren und in Bereitschaft zu halten, falls militärische Assistenz vonnöten sein sollte. Gemäß den Befehlen Baron Massys an die Gendarmerie sollen auch die Truppen nicht feldmäßig, sondern parademäßig ausgerüstet sein. Niemand bedenkt, daß damit die Dame zum erstenmal die Armee Frankreichs in die Schranken ruft.

Zugleich erhält der kaiserliche Staatsanwalt Dutour eine Schnellpost von seinem Vorgesetzten Falconnet aus Pau. Dem Dienststück ist auch die Abschrift eines Briefes von Justizminister Delangle beigeschlossen sowie eine Anzahl von Zeitungsausschnitten. Ein Teil der Pariser Presse erwartet tolle Überraschungen von den nächsten Apparitionen. Eine Machenschaft liege vor, wie sie seit den Zeiten der betrügerischen Isis-Priester in den Tempeln Roms nicht mehr gewagt worden sei. Ein Coup de Théâtre ohnegleichen werde vorbereitet für den großen Donnerstag. Das unwissende Volk der Bergbewohner dürfte leibhaftige Zaubermirakel zu sehen bekommen. Eine funkensprühende Elektrisiermaschine in Verbindung mit einer geschickt aufgestellten Laterna Magica werde Bernadettens »Erscheinung« zum mindesten dem törichten Haufen sichtbar machen, der sie täglich begleitet. Wenn etwas die Unfähigkeit der Lourder Beamtenschaft erweise, so sei es dieser plumpe Theaterschwindel, der zu gewärtigen sei. Minister Delangle, durch die Zeitungsnachrichten beunruhigt, jagt grollende Befehle nach unten, man möge doch die technischen Befehle des Wunders rechtzeitig konfiszieren. Dies aber ist noch lange nicht alles. Gewisse Umstände weisen auf ein Komplott, das ziemlich weit zurückliegt. Die rührende Geschichte vom einfältigen Hirtenkinde entpuppe sich bei näherem Zusehn als eine dekorative Erfindung der Propaganda. Bernadette Soubirous sei gar kein Landmädchen, sondern eine höchst gewandte Städterin der untersten Bevölkerungsklasse – so schreibt der »Amsterdamsche Courant« – voll jener moralischen Gebrechen, die in der Hefe der Gesellschaft daheim sind. Schon das Verhör bei der Polizei ergab, daß sie ein hinterlistiger, nur auf Gewinn und Nutzen bedachter Charakter ist. Dieses Wesensbild sei auch der Grund, warum man gerade diese Person zur Heldin des Mirakelspiels erwählt habe, zu welchem sie in einem gewissen Frauenkloster nahe von Pau vorbereitet und eingeübt worden sei. Die Generalprobe fand genau einen Monat vor der ersten »Erscheinung« statt.

Nach all dem ordnet Baron Massy durch eine neue Depesche an, daß die Grotte Massabielle bei Tag und Nacht einer peinlichen Bewachung durch Staatsanwaltschaft, Polizei und Bürgermeisteramt zu unterwerfen sei. Wohl oder übel müssen daraufhin die Vertreter der hohen Obrigkeit in der Grotte herumkraxeln und nach verborgenen Elektrisiermaschinen und Laterna Magicas zum Gaudium der Leute fahnden.

Der Zuzug des Landvolkes beginnt schon um Mitternacht. Es ist bitterkalt. Die einzelnen Dorfgemeinden, die viele Stunden im Freien kampieren müssen, tragen Holz zusammen und zünden große Feuer an. Bald gleicht das weite Tal um den Spelunkenberg an beiden Ufern des Gave einem Heerlager. Immer mehr Kamp-Feuer glühen auf in der mondlosen Nacht. Weithin erhellen sie die Chalet-Wiese, die Ribères-Wiese, das Saillet-Wäldchen und das ganze Land vom Pont Vieux bis gegen die Höhen von Bétharram. Wer vom Kastell oder von den Hängen bei Vicennes ins Tal sieht, müßte eine wachsende Feuersbrunst vermuten. Nur die Grotte von Massabielle selbst ist stockdunkel. In Vollziehung der Befehle des Präfekten hat Jacomet nicht nur den Altar der Madame Millet mit Bildern und Weihgeschenken beschlagnahmt, sondern auch all die vielen Kerzen, die dort Tag und Nacht brannten. Die einzigen Lichter, die jetzt von Zeit zu Zeit in der Grotte aufblitzen, sind die Diebslaternen der Gendarmen, die einander im Nachtdienst ablösen und eifrig darüber wachen, daß keine Zauberapparate eingeschmuggelt werden. Einige fliegende Händler aus Lourdes sind bereits am Platz. Sie verkaufen Salami, gebratene Kastanien, Mandelbäckerei, Kandiszucker, Kräuterteufel und Wein. Ihre Einnahmen sind so glänzend, daß sie sogar das Geschäft der Jahrmärkte und Fêtes Locales im Sommer übersteigen. Im übrigen herrscht weniger eine kirchlich mystische als eine festliche Vorvergnügtheit. Auch diese gehobene, aber freimütige Stimmung dürfte zurückzuführen sein auf die lebendige Natürlichkeit der Dame in Bernadettens Darstellung. Sie, die von den blitzenden Diebslaternen der Gendarmen bewacht wird wie eine Staatsverräterin, ist längst schon zur intimen Freundin des Volkes von Bigorre geworden. Die wunderschöne Dame von Massabielle, man spricht von ihr nicht wie von einer Erscheinung, sondern wie von der höchsten Königin der Welt, der zu begegnen man selbstverständlich nicht auserkoren ist, deren persönlichkeitserfülltes Bild man aber in jeder Einzelheit beschreiben und überliefern kann. Der kleinen Bernadette Soubirous ist gelungen, was nur den allergrößten Dichtern gelingt: was durch des Himmels Gnade ihre Augen schauen, geht um in ihrem Volk als Wirklichkeit.

Auch heute, wie am letzten Donnerstag des großen Ärgernisses, sind die Wundersüchtigen auf Ungeheures gefaßt. Einige versteigen sich sogar zur Hoffnung, die Dame werde sich an diesem Tage dem ganzen Volke herrlich entschleiern. Jedermann werde sie sehen dürfen, diesem Geschlechte zum Jubel und den künftigen Geschlechtern zu bleibendem Zeichen. Andre wieder meinen, der Tag des Lebewohls sei gekommen, und wenn nichts Größeres geschehe, so werde mindestens die wilde Rose aufblühen zum Abschiedsgeschenk. Dieses Bauernvolk, das da die ganze Nacht anrückt, Trupp hinter Trupp, ist ein herrlicher Wärmeleiter des Wunders. Wahrhaftig, hätte es die Kraft, zu einer einzigen Persönlichkeit zu verschmelzen, wie Bernadette eine ist, dann würde es mit Augen schauen dürfen. Und dennoch, nicht mehr wie am Donnerstag des Ärgernisses ist dieses Volk enttäuschbar. Sein Glaube ist nicht mehr abhängig von dem, was sich heute ereignen oder nicht ereignen wird. Ist die Heilung des Kindes Bouhouhorts nicht Wunder genug? Die Zeiten des Evangeliums scheinen erneuert zu sein.

In der ersten Morgendämmerung um fünf Uhr zählt Jacomet sieben- bis achttausend Menschen. Um sechs sind es zwölf-, und um sieben Uhr über zwanzigtausend. Die ganze Niederung ist schwarz, oder besser, bunt von der Menge. Es sind herabgestiegen von den Almweilern der Pyrenäen, in schwarze Mäntel gehüllt, die Bergbauern und Hirten, ausgetrocknete Uralte darunter, denen der eisenspitzige Alpstock in den Händen zittert. Es sind herangeströmt die Mädchen der Provence, ernst und ruhevoll wie die Jungfrauen der römischen Campagna, die ja dieselben Ahnen haben. Viele tragen irdene Krüge auf dem Kopf, um vom Wasser der Gnadenquelle zu schöpfen. Auch der Ackermann von Bigorre mit dem runden Kopf und plumpen Hals gleicht den römischen Cäsaren. Der Bauer aus dem Béarnischen hingegen ist gallischer mit seinem flink belebten Profil. Wo aber der Baske eingepflanzt steht, der weder Gallier ist noch Römer, sondern älter und fremdartiger als beide, da rührt er sich nicht mehr. Stundenlang kann er so verweilen, die Brust vorgewölbt, das spitze Kinn erhoben, die strengen Augen im hageren Gesicht auf einen einzigen Punkt gerichtet. Viele Spanier sind gekommen über die Grenze, einzeln und in Gruppen. In den komplizierten Schwung ihrer braunen Manteldecken gewickelt, stehen sie hochmütig abseits. Die roten und weißen Capulets der Frauen, die hellblauen Mützen der Männer von Béarn, die dunklen Mützen der Basken, die Uniformen der Dragoner, das alles wirkt, von der Höhe gesehen, wie eine blumige Menschen-Au im Frühling Gottes.

Der Polizeikommissär trägt seine beste Uniform und weiße Glacéhandschuhe. Die Gendarmerie marschiert auf, mehrere Brigaden stark, in Parade und Handschuhen, wie befohlen. Am Pont Vieux hat ein Leutnant mit einer Halbkompagnie des zweiundvierzigsten Linienregiments Aufstellung genommen. Er hat gewissermaßen den Brückenkopf der Aufklärung gegen die Dame zu verteidigen. Im übrigen haben sogar Aufklärung und Fortschritt ihre neugierigen Boten entsandt. Beinahe das ganze Café Français ist ausgerückt, bis auf Duran und Lafite. Die einzige Macht, die zu Hause bleibt, ist der Klerus.

Ein Teil der Landleute ist zu Pferd und Wagen gekommen. Die Reiter treiben ihre Gäule in den Gave hinein, um der Grotte näher zu sein. Ein paar der Leiterwagen brechen unterm Gewicht zusammen, das man ihnen zumutet. Die Menschen sitzen auf Bäumen, auf den Felsen, und doch ist nur für die wenigsten Hoffnung vorhanden, deutlich zu sehen. Die mehreren aber, die keine Sicht haben, sind unaussprechlich bereit, durch die Augen der wenigen das Wunder zu schauen.

Als Bernadette naht, geht ein Beifallssturm durch die Massen, vom einen Ende zum andern, wie er den Kaiser nur nach einer gewonnenen Schlacht empfangen würde. Die Gendarmen von Lourdes, die unter dem Kommando d'Anglas das Mädchen als Wächter begleiten, sind wider Willen zu einer Art fürstlicher Leibgarde geworden. Der Polizeikommissär ist zu seiner Beschämung gezwungen, als Herold und Hofmarschall dieser Närrin, die ganz Frankreich närrisch macht, den Weg zur Bühne ihrer Narrheit zu bahnen. Dabei ist diese Närrin so närrisch, daß sie nicht einmal ihren Ruhm zu genießen scheint. Hat jemals, seitdem die Welt steht, ein Mädel zwischen vierzehn und fünfzehn einen Ehrentag genossen wie diesen? »Oh, du Hochgesegnete«, schrein die Menschen. »Oh, du Begnadete«, und werfen sich vor ihr nieder und berühren ihre Pantinen und tasten ihre Hände ab und haschen nach dem verblichenen Capulet. Sie aber blickt sorgenvoll drein, und ihr Gesicht verzieht sich weinerlich, wenn die Belästigung zu arg wird. Oh, strenge Dame, warum gewähren Sie Ihrem Schützling nicht eine Spur von den süßen Freuden der Eitelkeit?

Bernadettens Herz ist viel zu voll von Angst, als daß es für eine andere Regung Platz hätte. Wird dieser Donnerstag der letzte Tag sein? Geht die Liebesbegnadung heute schon dem Ende zu? Sie steht im leeren Raum, nur von ihrem Gefolge umgeben. Etwa fünfzig Menschen sind's, die von der Gendarmerie ein Laissez-passer bekommen haben, die Familie, die Nachbarsfrauen, Dozous, Estrade, Clarens und so weiter. Schon liegt Bernadette auf den Knien. Die Dame ist da. Auf die Knie! Als erschalle ein unhörbares Kommando, werfen die Zwanzigtausend dort sich auf ihre Knie. Zögernd folgen die Gendarmen, einer nach dem andern. Auf seinen Beinen steht nur noch der Polizeikommissär, ein Verkehrsschutzmann des Mysteriums, der sich sehr unbehaglich fühlt. Bernadette grüßt, lächelt, schlägt das große Kreuz. Da läßt Jacomet sich langsam auf ein Knie nieder, was einen dünnen Regenschauer von Spottgelächter in der Menge wachruft.

Nichts geschieht an diesem Donnerstag, was die ungeheure Erwartung der Menge befriedigen könnte. Die Dame ist ebensowenig eine Schauspielernatur wie Bernadette, um durch Bereitschaft der Zuschauer hingerissen zu werden. Die Dame geht großen Effekten immer wieder aus dem Wege. Es bleibt beim üblichen Offizium: Kräuter-Essen, Waschen, Trinken, Rosenkranzgebet, Grüßen, Lächeln, Erschrockensein, Erleichtertsein, Lauschen, Flüstern. Nach einer halben Stunde ist alles zu Ende, ohne daß die Zwanzigtausend auf die Kosten ihrer Sehnsucht gekommen wären. Und dennoch ist der Beifallssturm nachher nicht geringer, als er vorher gewesen ist. Bernadette erhebt sich. Ihr Antlitz strahlt vor Glück. Die Mutter, die Schwester, die Tanten, die Millet, die Baup, die Peyret, Jeanne Abadie, Madeleine Hillot, alle dringen mit Fragen auf sie ein:

»Was hat sie zu dir gesprochen ...? Wird sie wiederkommen ...? War's das letztemal ...? Sollst du weiter zur Grotte gehn ...?«

Bernadette steht gefällig Rede, wie immer:

»O ja, sie wird wiederkommen. Aber zur Grotte soll ich jetzt nicht mehr gehn ...«

»Nie mehr sollst du zur Grotte gehn?«

»O nein, wenn sie kommen wird, soll ich wieder zur Grotte gehn.«

»Und wann wird sie wiederkommen?«

»Oh, sie wird es mich wissen lassen«, sagt Bernadette, als handle es sich um eine für kurze Zeit Verreisende, die ihre Rückkehr durch einen Brief anzeigen kann.

»Und wie wird sie dich's wissen lassen?« fragt Bernarde Casterot.

»Das weiß ich selbst nicht, Tante.«

Die Seligkeit Bernadettens ist vollkommen. Gerade durch den Urlaub, den die Dame sich nimmt und ihr gibt, kommt eine Ruhe über sie, die nichts anderes ist als die betrachtende Stetigkeit der erfüllten Freude. Die große Doppelwoche hat an Bernadettens Kräften gezehrt. Es ist klar, daß die Dame ihr eine Pause vergönnt, in der sie sich sammeln, in der sie die Ernte dieser Tage bergen kann. Gut ist diese Pause, fühlt Bernadette. Die Dame hat auswärts zu tun. Gewiß ist auch sie müde von dem vielen Erscheinen. Es gibt Trennungen, die selbst die Trautliebenden begrüßen, weil sie ein Atemholen der Liebe sind.

Die Place Marcadale und die engen Gassen Lourdes' hallen von dem Fest der Zwanzigtausend wider. Lebensmittel und Getränke drohen auszugehn. Cazenave muß einen Lastwagen nach Tarbes schicken, um mehrere Fässer Wein und andre Waren herbeizuschaffen. Der Cafétier Duran ist gezwungen, einen Aushilfskellner von der Straße weg einzustellen. Vor den Wirtshäusern stehn die Hungrigen und Durstigen in Prozessionen. Die Geschäftsleute von Lourdes, die fortgeschrittenen nicht minder als die zurückgebliebenen, beginnen der Dame von Massabielle auf den Geschmack zu kommen.

Auf dem Heimweg wird Bernadette von ihrem Gefolge in die Mitte genommen, sonst würde sie die Liebe des bigorrischen Bauernvolkes in Stücke reißen. Jeder möchte sie abherzen. Nur mit großer Müh gelingt's, in den Cachot zu schlüpfen. Erst dort enthüllt sich das größte Ereignis des Tages, denn für Bernadette ist es gar nicht so wichtig. Mutter Nicolau forscht:

»Hat dir die Dame ihren Namen noch immer nicht genannt?«

Bernadette wird sofort nachdenklich. Dann erzählt sie:

»Ich hab nicht laut gefragt. Aber sie hat gespürt, daß ich frage. Da ist sie auf einmal ein bißchen rot geworden und hat gesagt, ich konnt's kaum hören ...«

»Nun? Los! Was? Du hast es doch nicht vergessen?«

»Nein, ich hab's auf dem Heimweg immer wiederholt, um es auswendig zu lernen. Sie hat gesagt ...«

»Sie hat gesagt? Warum zögerst du?«

»Sie hat gesagt: Què soy l'immaculada Councepciou.«

»Wie hat sie's gesagt? Wiederhol's noch einmal ...«

»Què soy l'immaculada Councepciou.«

»L'immaculada Councepciou ...« Mit brennenden Augen geht die Nicolau davon. Sie erzählt's der Germaine Raval, die sie beim Bügeln antrifft. Germaine läßt ihre Wäsche liegen und erzählt's ihrer Freundin Joséphine Ourous, die Teppiche klopft. Joséphine Ourous erzählt es der Kammerzofe Rosalie von Madame Baup, jener Rosalie, die auch Gesichte hat, im Augenblick aber, wo die Ourous sie überrascht, in der Speisekammer von Madame Eingemachtes nascht. Rosalie erzählt's ihrer Herrin Baup. Diese läuft zu Madame Millet, wo man beschließt, den Abbé Pomian unverzüglich zu verständigen. Abbé Pomian begibt sich darauf pflichtgemäß zum Dechanten Peyramale.

 

»Mein Vater und mein Großvater waren Ärzte und Naturforscher«, sagt Marie Dominique Peyramale, der in seinem behaglichen Studierzimmer auf und ab geht, während sich Abbé Pomian am Kaminfeuer wärmt. Es ist fünf Uhr vorüber und die Lampen sind angezündet. »Wenn ich Gott für die Gnade meines Glaubens danken muß, so danke ich meinen Vätern für den kritischen Verstand, den sie mir vererbt haben. Kritischer Verstand ist gar nicht schlecht, mein lieber Pomian, das wissen wir beide recht genau.«

»Und welche Beschlüsse haben Sie gefaßt, Monsieur le Curé?«

»Gar keine, mein Lieber. Die Kleine wird in wenigen Minuten hier sein. Ich bitte Sie, so lange zu bleiben, bis ich Ihnen ein Zeichen geben werde. Dann lassen Sie uns allein.«

Bernadette hat ihre Furcht vor dem Dechanten noch immer nicht überwunden. Ihre Hände sind eiskalt und zittern, als man sie ins Studierzimmer führt, das freilich kein so gefährlicher Raum ist wie der frostige Empfangssaal unten. Wie sie aber die beiden Geistlichen gewahrt, erschrickt sie, und das Herz beginnt ihr zu klopfen.

»Komm näher, mon cher enfant«, sagt Peyramale, der sich großer Freundlichkeit befleißigt, obwohl in den ersten Minuten des Gespräches der alte, unmotivierte Zorn in ihm wetterleuchtet. »Komm, setz dich hin zum Feuer! Soll ich dir was zum Essen oder Trinken bringen lassen?«

»O nein, danke, Monsieur le Curé!«

»Also, mach dir's nur recht bequem. Wir, dein Katechet und ich, haben einige Fragen an dich zu richten. Willst du sie wahrheitsgemäß beantworten?«

»O ja, Monsieur le Curé.«

Peyramale schiebt einen Holzstuhl ganz dicht zu Bernadette heran, die mit steifem Rücken am Kamin sitzt. Er betrachtet sie aus nächster Nähe wie der Arzt einen Patienten: »Was also hat die Dame zu dir gesagt heute?« fragt er.

»Què soy l'immaculada Councepciou«, erwidert sie mit sichtlicher Anstrengung des Gedächtnisses.

»Und weißt du, was das bedeutet: Ich bin die Unbefleckte Empfängnis?«

»O nein, das weiß ich nicht ...«

»Weißt du vielleicht, was das bedeutet: Unbefleckt?«

»O ja, das weiß ich. Unbefleckt ist etwas, das rein ist ...«

»Gut! Und Empfängnis?«

Bernadette senkt den Kopf und antwortet nicht.

»Nun, lassen wir das«, weicht der Pfarrer aus. »Kannst du mir sagen, was du über die Muttergottes weißt? Davon hat euch der Herr Katechet hier gewiß so manches erzählt.«

»O ja«, stammelt Bernadette und läßt ihre Finger knacken, eine schlechte Schülerin, die wenig Zutrauen zu ihrem vernagelten Kopf hat. »O ja, die Muttergottes hat das Christkind zur Welt gebracht. Im Stall von Bethlehem auf Stroh ist sie gelegen. Und links hat das Öchslein zugeschaut und rechts das Eselchen, auf dem sie in den Stall geritten kam. Das Öchslein hat geschnaubt. Und dann kamen die Hirten und die Heiligen Drei Könige. Und dann hat die Muttergottes sehr, sehr viel Unglück im Leben gehabt und sieben Schwerter im Herzen, weil ihr Sohn, der Heiland, ans Kreuz geschlagen wurde ...«

»Nun, das ist alles ganz richtig, mein Kind«, nickt der Dechant. »Hat euch aber der Herr Katechet nicht mehr erzählt? Hat er niemals von der Unbefleckten Empfängnis gesprochen?«

Hier nimmt Abbé Pomian das Wort:

»Ich bin überzeugt davon, Herr Dechant, daß ich dieses Dogma nie erwähnt habe. Es gehört ja gar nicht in den Lehrstoff einer Elementarklasse.«

»Aber vielleicht hat die Lehrerin Sœur Vauzous davon gesprochen?«

»So gut wie ausgeschlossen«, schüttelt Pomian den Kopf.

Der Dechant blickt dem Mädchen beinahe gramvoll in die Augen. Er denkt an die Worte des Direktors Clarens, der ihm heute gesagt hat, daß Bernadettens größte Kraft im Gespräch ihre Gleichgültigkeit sei. Er neigt sich noch weiter vor:

»Irgendwo mußt du diesen Ausdruck doch gehört haben. Denk jetzt gut nach, wer zu dir von der Unbefleckten Empfängnis gesprochen hat. Oder leugnest du, je etwas davon vernommen zu haben?«

Bernadette schließt die Augen, um auf Befehl des Pfarrers ehrlich nachzudenken. Nach einer Weile sagt sie mit entschuldigender Stimme:

»Es ist möglich, daß ich etwas davon gehört habe. Ich weiß es aber nicht mehr.«

Peyramale erhebt sich jetzt und tritt hinter Bernadette:

»Dann will ich dir sagen, liebe Kleine, was es für Bewandtnis hat mit dieser Immaculada Councepciou. Vor vier Jahren, am achten Dezember, hat unser Heiliger Vater, Papst Pius in Rom, der Welt die Lehre verkündet, daß die Allerseligste Jungfrau Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins im Mutterleibe von allem Makel der Erbsünde bewahrt worden ist durch die Gnade und Bevorzugung Gottes im Hinblick auf die Verdienste Jesu Christi ... Verstehst du das, Bernadette?«

Bernadette schüttelt langsam den Kopf:

»Wie kann ich das verstehn, Monsieur le Curé?«

»Das glaub ich dir wohl, mein Kind, wie könntest du das verstehn? Das ist keine Sache für das Verständnis der Welt. Darüber haben sich die Gelehrten den Kopf zu zerbrechen. Aber einst wirst vielleicht auch du kapieren: Wenn die Allerseligste Jungfrau Maria wirklich spräche, so könnte sie von sich nur sagen: Ich bin die Frucht der Unbefleckten Empfängnis. Nicht aber kann sie sagen: Ich bin die Unbefleckte Empfängnis. Geburt und Empfängnis, das sind Geschehnisse. Eine Person aber ist kein Geschehnis. Niemand kann von sich sagen: ich bin die Geburt meiner Mutter. Hein? ...«

Bernadette sieht Peyramale schweigend und teilnahmslos an. In der verschleierten Rauheit seiner Stimme grollt es:

»Deine Dame hat also einen unverzeihlichen Schnitzer gemacht. Gibst du das zu?«

Bernadette runzelt die Stirn unterm Capulet, das sie nicht abgelegt hat:

»Die Dame«, sagt sie nach einer Minute Nachsinnens, »ist doch eine Fremde hier. Mir kommt vor, manchmal kann sie sich nicht ganz leicht ausdrücken ...«

Bei diesen Worten kann Abbé Pomian ein Lächeln nicht verheimlichen. Der Dechant gibt ihm unmerklich einen Wink. Leise zieht sich der Kaplan zurück. Bernadette wünscht, der ihr vertrautere Katechet wäre nicht gegangen. Jetzt ist sie so unheimlich allein mit Peyramale. Dieser seufzt aus tiefster Brust auf:

»Es ist eine sehr ernste Stunde, mein teures Kind. Bedenke das. In wenigen Wochen sollst du das erstemal an den Tisch des Herrn treten. Ich bin verantwortlich für dich. Ich sorge mich sehr um deine Seele. Was soll ich anfangen mit dir? Du schaust glaubwürdig drein. Du sprichst glaubwürdig. Aber ich kann und kann dir nicht glauben. Und heut weniger denn je. Du bereitest mir Qualen, Bernadette. Ich bitte dich jetzt, als dein Seelsorger, so als säße ich im Beichtstuhl: gib die Lüge auf! Gestehe: die Madame Millet, die Madame Baup, die Madame Cénac oder Gott weiß wer haben mir das mit der Immaculada Councepciou eingeflüstert, damit ich groß vor den Leuten dastehe ...«

»Das kann ich ja gar nicht eingestehn«, sagt Bernadette traurig. »Es ist nicht wahr. Keine dieser Damen hat mir je etwas eingeflüstert.«

Der Dechant verbohrt seine Augen in den apathischen Blick des Mädchens:

»Der alte Pfarrer Ader, den du aus Bartrès kennst, soll dich gegen meinen Willen besucht haben. Besinn dich einmal! Hat er dich nicht, ohne es zu wollen, auf diesen Einfall gebracht?«

Gelassen entgegnet Bernadette:

»Der Herr Pfarrer Ader hat gar nicht mit mir allein gesprochen. Es waren die Eltern dabei und Tante Bernarde und Tante Lucille und Tante Sajou, und von einer solchen Sache war überhaupt nicht die Rede ...«

Peyramale sagt darauf nichts mehr, sondern setzt sich an den Schreibtisch, wo er in einem Buch zu blättern beginnt. Nach einer langen Pause erst kommt von dorther eine ganz verwandelte Stimme, weich, matt, tief:

»Wie denkst du dir dein Leben, deine Zukunft, liebes Mädchen?«

»Wie die Zukunft von allen Mädeln hier«, entgegnet Bernadette rasch und unbefangen.

Peyramale hebt die Augen nicht, sondern spricht in das Buch hinein:

»Du bist ein erwachsenes Frauenzimmer, beinah ein rechtes Weib, könnte man sagen. Alle Mädchen nach der Erstkommunion haben ihre erlaubten Vergnügungen. Sie gehen zum Tanz, sie lernen die jungen Leute kennen, es gibt so manchen Spaß; will's Gott, kriegen sie einen anständigen Mann. Du bist ein Müllerskind. Bei dir könnt's ein Müller sein. Dann kommen Kinder. Denk an deine Mutter! Man hat mehr Plag als Freud, weiß Gott. Aber das Leben ist das Leben. Und der Herrgott hat kein anderes geschaffen. Möchtest du nicht auch tanzen gehn? Möchtest du nicht auch so etwas werden wie deine Mutter? Sag selbst!«

Bernadette errötet und wird recht lebhaft:

»Natürlich möcht ich auch tanzen gehn, Herr Pfarrer, und einmal einen Mann kriegen, wie die andern ...«

Der Riese geht mit seinen knarrenden Schuhen auf das Mädchen zu und legt ihm die geballten Fäuste auf die Schultern:

»Dann wach auf, du! Sonst ist es aus mit dem Leben. Denn du spielst mit dem Feuer, o Bernadette!«


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