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Zweites Kapitel.
Zuflucht in Bauerbach

Ein Fremder von Stuttgardt der vor einer halben Stunde hier eintraf, und Ihnen vielleicht schon bekannt ist, wünscht das Vergnügen zu haben Sie zu sprechen; weil er aber wegen Sicherheit seiner Person in kognito bleiben muß, so werden Sie so gütig seyn zu bestimmen, wo wir beide am ruhigsten beieinander sind. Ich höre, Sie haben die Kost aus dem Hirsch, ich bin also so frey Sie auf ein Mittagessen zu bitten.«

Es war der in Meiningen als »Secretarius« bei der herzoglichen Bibliothek angestellte Wilh. Friedr. Hermann Reinwald, dem aus dem dortigen Gasthof zum Hirsch diese Zeilen zugingen; der sie aber schrieb, war der Dichter der »Räuber« und des »Fiesko«. Das Datum »1782 gegen den 7. Xbr.« (Dezember) hat Reinwald in späterer Zeit dem gleich der Mehrzahl der Bauerbacher Briefe Schillers heute im Weimarischen Goethe- und Schillerarchiv aufbewahrten Billet beigefügt. Jetzt fand er in dem am Meininger Marktplatz gelegenen Gasthof sich ein und gab dem des Landes völlig Unkundigen, der durch Frau Henriette von Wolzogen an ihn gewiesen worden war, die für das Nächste nötige Auskunft. Schiller hatte eine überaus beschwerliche und ermüdende Reise hinter sich; man rechnete von Worms her mehr als 60 Stunden, und zu dieser Strecke, die in besserer Jahreszeit oder mit Eilfahrt in vier Tagen zurückgelegt werden konnte, hatte der Postwagen, dessen er sich bediente, nahezu eine Woche gebraucht. Um sein Reiseziel, Bauerbach, zu erreichen, hatte er von Meiningen noch zwei Stunden zu gehen; in der Mitte zwischen beiden Orten liegt Untermaßfeld, wohin die Straße im Werratal führt, von da aber zog sich seitwärts ein schlechter Weg über einen waldigen Berghang. Da Reinwalds Vermerk »gegen den 7. Dezember« wenig bestimmt lautet, so ist nicht ausgeschlossen, daß Schillers Ankunft in Meiningen schon am 6. Dezember erfolgt war und er sich fürs erste einen wohlverdienten Rasttag gönnte; seine immerhin verwunderlich lange Postfahrt würde bei dieser Annahme um einen Tag kürzer, und auch die zur sofortigen Aufnahme fertige Zurüstung, in der er die ihm bestimmte Wohnung im Hause der Frau von Wolzogen antraf, könnte dafür sprechen, daß er einen Tag zuvor aus Meiningen sein Eintreffen gemeldet hatte. Indessen ist, und zwar durch Schillers eigene Briefe, nur soviel bezeugt, daß er am Abend des 7. Dezember, einem Samstag, in Bauerbach anlangte. Er hatte, die Kürze des Wintertages nicht bedenkend, sich zu spät auf den Weg gemacht, so daß ihn die Dunkelheit überraschte: »tiefer Schnee bedeckte die Gegend, schon sank die Nacht auf das Tal; aus den einsamen zerstreuten Hütten flackerte hie und da ein Licht auf, dem beklommenen Wanderer Zuflucht versprechend«. Erzählt, wohl nach der Erinnerung des Dichters, von Charlotte v. Schiller in ihrem biographischen Aufsatz »Schillers Leben bis 1787« (Charlotte von Schiller und ihre Freunde, herausgeg. von Urlichs, I, 77 ff.) und von Karoline von Wolzogen, Schillers Leben S. 65. Nachdem er bei Herrn Wendel-Voigt, dem Gutsverwalter der Frau von Wolzogen, der zugleich der Schulmeister des Ortes war, seine »Briefe« aufgezeigt hatte, wurde er in die Wohnung der Gutsherrschaft, wo man, seiner Ankunft gewärtig, schon »alles aufgepuzt, eingeheizt« und ein Bett herbeigeschafft hatte, »feierlich abgeholt«. Er kam sich vor »wie ein Schiffbrüchiger, der sich mühsam aus den Wellen gekämpft hat,« schrieb er am nächsten Tage an Schwan, und noch mitteilsamer schilderte ein Brief an Freund Streicher, gleichfalls vom 8. Dezember, seine ersten Eindrücke: »Endlich bin ich hier, glüklich und vergnügt, daß ich einmal am Ufer bin. Ich traf alles noch über meine Wünsche; keine Bedürfnisse ängstigen mich mehr, kein Querstrich von außen soll meine dichterischen Träume, meine idealischen Täuschungen stören.« Er habe, fährt er fort, »alle Bequemlichkeit«; Kost, Bedienung, Wäsche und Feuerung ihm zu besorgen, seien die Leute des Dorfes voll guten Willens. Es ist das rechte Wort, was Minor hinzusetzt: »So wohl war es dem armen Flüchtling lang nicht geworden«. Siehe Anhang Nr. 19.

Bauerbach liegt südlich von Meiningen und nahe der Grenze des bayrischen Kreises Unterfranken zwischen den Höhenzügen der Rhön und dem Thüringerwald. »Sächsisch« kann man die Gegend nur nennen, insofern Bauerbach zum Herzogtum Sachsen-Meiningen gehört, und »thüringisch« nur, insofern die sächsischen Herzogtümer Bestandteile des alten Thüringen sind; wenn aber Charlotte v. Schiller in ihrem biographischen Aufsatz schreibt, Schiller habe sich 1782 in die »Berge des Thüringerwaldes« zurückgezogen, so ist das ein geographischer Schnitzer. Denn der Thüringerwald streicht bekanntlich erst nördlich von Meiningen von West nach Ost, und erst rechts vom Werratal ist Thüringerland, wogegen das Hügelland von Henneberg und Bauerbach orographisch und geognostisch zur Vorderrhön gerechnet wird. Auch seine geschichtlich-territoriale Vergangenheit weist nach Süden: mit der gefürsteten Grafschaft Henneberg gehörte Bauerbach zum alten fränkischen Reichskreise und zum fränkischen Ritter-Kanton Rhön-Werra. Heute erreicht man Bauerbach am bequemsten von Ritschenhausen aus, einem südlich von Untermaßfeld gelegenen Halteort der Meiningen-Würzburger Eisenbahnlinie; hier führt die Straße am Zehnerberg hin und auf eine längere Strecke durch einen Föhrenwald. Das kleine aus zumeist ärmlichen Häusern und einer winzigen Kirche bestehende Dorf Bauerbach zählt nur ein paar hundert, zum nicht geringen Teil jüdische, Einwohner. Landschaftlich betrachtet, ist seine Umgebung nicht ohne bescheidene Anmut; es liegt, umschlossen von sanft ansteigenden Hügelzügen in einer weiten Wiesenmulde, durch die sich ein mit Erlen- und Weidengebüschen bestandener Bach schlängelt. Im Westen sieht man auf den Heiligenberg und auf den etwa eine halbe Stunde entfernten Bergkegel, der die von Bäumen fast verdeckte Burgruine Henneberg trägt; in dieser Richtung zeigt sich auch im Wald bei den »Katzenlöchern« eine felsige Kuppe. Die Hügelzüge im Norden und Nordosten, der Fritzenberg und der Eilskopf, haben teils Laub-, teils Nadelholz, während im Süden, wo ein Höhenzug das offenere Grabfeld mit Nordheim von der Bauerbacher Mulde abtrennt, große Nadelholzwaldungen, Föhren und Fichten, sich ausbreiten. Nach dieser Seite hin hat die Umgebung von Bauerbach etwas sonderlich Einsames und Düsteres; Weltabgeschiedenheit und Stille ist aber der Charakter der ganzen Gegend, die schon durch die elende Beschaffenheit ihrer Ortsstraßen und die Rauheit ihres Klimas fremde Besucher nicht anlockt. Für Schiller aber bot sie ein Versteck, wie er ein besseres nicht finden konnte, und das Gefühl der Geborgenheit oder Geschütztheit mußte den Flüchtling um so stärker überkommen, als es hier die Gutsherrschaft war, die in Ausübung reichsritterschaftlicher Rechte die Obrigkeit bildete.

Die freiherrliche Familie von Wolzogen, nicht von ältestem Adel, ursprünglich in den Vierteln am Wiener Wald seßhaft und mit Ämtern im kaiserlichen Postdienst betraut, sodann aber infolge löblichen Festhaltens am Protestantismus aus Österreich ausgewandert, hatte im Jahre 1701 das Rittergut Bauerbach als Erblehen erworben: damals überließ es Herzog Bernhard I. von Sachsen-Meiningen um eine geringe Geldsumme seinem übermächtigen Günstling, dem kaiserlichen Reichshofrat und Meiningischen Geheimratsdirektor und Premierminister Hans Christoph II. von Wolzogen. Nicht lange nachher erkaufte dieser auch das in der Nähe von Mellrichstadt gelegene Rittergut Mühlfeld, und da er daselbst ein schönes Schloß baute und es zum wohlausgestatteten, mit Vorliebe gepflegten Familiensitz machte, so geriet das Gutsgebäude in Bauerbach darüber in Vernachlässigung. Den testamentarischen Bestimmungen Hans Christophs gemäß wurden die Kinder aus seiner ersten Ehe die Erben Mühlfelds, die aus seiner zweiten dagegen erhielten Bauerbach nebst dem Hofe Oberharles und einem Hofe im Dorf Henneberg. Alleinerbe letzterer Besitzungen und damit eigentlicher Stifter der Bauerbacher Linie wurde nach dem Tode zweier Brüder Ernst Ludwig Freiherr von Wolzogen. Er war 1723 geboren, studierte in Jena und Halle und vermählte sich im Januar 1762 mit dem Freifräulein Henriette Marschalk von Ostheim aus dem Hause Marisfeld, der Tochter eines meiningischen Kammerjunkers und hennebergischen Erbmarschalls. Herr von Wolzogen führte ein stilles Leben zu Meiningen, pflegte seinen Garten, erhielt, »obwohl er wirkliche Staatsdienste niemals geleistet hat«, Alfred v. Wolzogen, Geschichte des reichsfreiherrlich von Wolzogen'schen Geschlechts (Leipzig 1859, bei Brockhaus), II, 121. den Titel eines herzoglich hildburghausischen Geheimen Legationsrates und starb im Juli 1774. Frau Henriette von Wolzogen, am 18. Juni 1745 zu Marisfeld geboren, war bei seinem Tode erst 29 Jahre alt; er hinterließ ihr außer dem Rittergut Bauerbach und dem Edelhof Oberharles ein Wohnhaus in Meiningen, einige Hopfen- und Weinberge daselbst und in Gold und Silber 7000 Gulden (den Hof in Henneberg hatte er zur Tilgung einer Schuld verkauft). Das Rittergut Bauerbach wurde damals zu 18 000 rhein. Gulden taxirt. Der an die Witwe gelangte Besitz war um so mäßiger, als Frau Henriette für die Erziehung von 4 Söhnen und einer Tochter zu sorgen hatte; eine Aufgabe, die ihr allerdings durch fürstliche Huld erleichtert wurde. Durch Vermittlung der Gräfin Franziska von Hohenheim, mit der sie durch ihren Bruder Dietrich Marschalk von Ostheim näher bekannt geworden war, hatten nämlich ihre Söhne Wilhelm, Karl, August und Ludwig gegen ein sehr ermäßigtes jährliches Kostgeld Aufnahme in der Stuttgarter Militärakademie gefunden, während für die Erziehung ihrer Tochter Charlotte in einer Pension in Hildburghausen die Patin derselben, die Herzogin Marie Charlotte von Gotha, einen namhaften Geldbeitrag gab. Immerhin behielt Frau Henriette von Wolzogen für sich selbst und ihre Tochter nur 479 Gulden, da ihre jährlichen Einnahmen nach des Gatten Tode nicht mehr als 839 rheinische Gulden betrugen. Siehe Alfred v. Wolzogen a. a. O. II, 124–127 und 222. Um in der Nähe ihrer Söhne zu sein, verweilte sie häufig in Stuttgart. Da das alte und wenig geräumige Bauerbacher Gutsgebäude mehr und mehr in Verfall geraten war, so überließ sie es mietweise an Judenfamilien und kaufte, um bei der Verwaltung ihres Besitzes einige Bequemlichkeit zu haben, in Bauerbach ein anderes Haus. Ebenda S. 133. Dieses ist es, worin Schiller ihre Gastfreundschaft genoß. Es steht an der nach Henneberg führenden Dorfstraße, nicht weit vom Wirtshaus »Zum braunen Roß« und dem ihm gegenüber liegenden Kirchlein, hat nur ein Stockwerk über dem Erdgeschoß und sieht kaum besser aus als ein ordentlich gehaltenes Bauernhaus. Die Langseite mit der Haustüre geht auf den offenen Hof, die schmälere gegen die Straße gerichtete Seite, über der ein hoher Dachgiebel aufsteigt, hat ein umzäuntes Gärtchen vor sich, das durch zwei schlanke Pappeln auffällt. Am rückwärts gelegenen Hinterhof stehen Stall und Scheune. Der ehedem seitlich vom Vorderhof befindliche Garten ist jetzt verbaut, doch erstreckt sich hinter den Gebäulichkeiten noch ein größerer Garten, und ihn schmücken vier nahe beieinanderstehende große Linden, zwischen denen einst eine von Schiller gern besuchte Laube gewesen sein soll. Hier blickt man über das Feld hinüber auf den an der freundlicheren Talseite sich erstreckenden Fritzenberg, zu dem nach der Überlieferung der Dichter häufig seinen Weg nahm. Im unteren Stockwerk des Hauses befanden sich die Räume für Bedienung und Küche, im oberen war gegen die Dorfstraße und den vorderen Hof zu die Wolzogensche Familienwohnung, aus einer größeren, mit breitem Kachelofen ausgestatteten Stube und ein paar Nebengemächern bestehend; dahinter aber, auf der Rückseite des Hauses, war das für Schiller bestimmte Gelaß, eine Stube, deren zwei kleine Fenster in den hinteren Hof gehen, nebst einem Schlafzimmerchen. Niedrig sind alle diese Räume. Zur Stube Schillers gehörte ein Lehnstuhl und ein auf gewundenem Bein ruhender kleiner Tisch, welche beide Stücke sich noch heute dort befinden; die beiden Ölgemälde aber, Bildnisse der Herzogin Charlotte Amalie und des jugendlichen Herzogs Georg von Meiningen, hingen früher in der Wolzogenschen Stube. Auf dem Gang hängen mehrere verdunkelte Familienbilder. Das ganze Anwesen ging 1853 in den Besitz der Familie v. Türcke über. Vgl. Brückner, Schiller in Bauerbach (Meiningen 1856), S. 4 f. Abbildungen des Schillerhauses und Schillerzimmers bei A. Diezmann, Ein Dichterasyl. Gartenlaube 1860, S. 731 ff. Vgl. auch Anhang Nr. 20.

Am Tag nach seiner Ankunft beeilte sich Schiller, nach Mannheim Nachricht zu geben; andere, uns nicht erhaltene Briefe, die er gleichzeitig schrieb, werden der Frau von Wolzogen, seinen Eltern und Stuttgarter Freunden gegolten haben. Im Brief an Streicher fragt Schiller nach dem in Mannheim so unheimlich aufgetauchten württembergischen Offizier und läßt sich den zurückgelassenen Freunden Schwan, Meyer, Cranz, Gern und Derain, auch dem Steinschen Hause und dem Viehhof in Oggersheim empfehlen. Dem bitteren Worte, das dem vom Schicksal Enttäuschten dabei in die Feder kommt, Siehe oben S. 89. gesellt sich im Briefe an Schwan der Satz, daß er in Mannheim »Gelegenheit genug« gefunden habe, seine Freunde »auf die Probe zu stellen«; eine Äußerung, die ihre Spitze hauptsächlich gegen Dalberg kehrt. Doch hat ihm so viel Widriges die Schaffenslust nicht zu verkümmern vermocht: »entsezlich viel arbeiten« will er vielmehr in seiner neuen friedlichen Existenz, ja »die Ostermesse mag sich Angst darauf seyn lassen«. Er sei nunmehr in der Verfassung, ganz seiner Seele zu leben, er habe eine Zeitlang für nichts zu sorgen, als sich »zu einem großen Plan vollends auszubilden«; diesen Winter müsse und wolle er »nur Dichter« sein, da er auf keinem anderen Wege seine Umstände »schneller rangieren« könne, alsdann aber wolle er »ganz« in sein »Handwerk« (in die Ausübung seines ärztlichen Berufes) »versinken«. Zugleich verspricht er die Vorrede und die Widmung zur »Verschwörung des Fiesko« in längstens vierzehn Tagen zu liefern. Dies wird also, da Schiller den Druck seines Trauerspiels beschleunigt wünschte, seine erste Arbeit in Bauerbach gewesen sein. Aber schon sind seine Blicke auf Anderes und Neues gerichtet: da ihm der Meininger Bibliothekarius die Versorgung mit literarischen Hilfsmitteln zugesagt hatte, stellt Schillers Brief an Reinwald vom 9. Dezember in langer Liste diejenigen Bücher zusammen, deren er zunächst bedürfe, und in ihr nennt er Shakespeares Othello und Romeo und Julia (»Juliette«) – wegen seines Stückes »Louise Millerin« –, Robertsons Geschichte von Schottland und Humes Geschichte Karls I. von England – wegen eines Planes zu einem Trauerspiel Maria Stuart – und von den Schriften des Abbé St. Real »denjenigen Theil, wo die Geschichte des Don Carlos von Spanien vorkommt« – wegen eines Planes zu einem Trauerspiel »Don Karlos«. Er hatte also den Kopf voll von Entwürfen. Eine Reihe anderer, gleichzeitig genannter Bücher, Lessings Hamburgische Dramaturgie und sonstige kritische Schriften, Homes Grundsätze der Kritik, Batteux-Ramlers Einleitung in die schönen Wissenschaften (im Brief unrichtig betitelt), Smiths Theorie der Empfindungen, Gerards Bücher über das Genie und den Geschmack, Mendelssohns, Garves und Sulzers Schriften sollten dem Bedürfnis des Dichters nach Klärung seiner kunstkritischen und philosophisch-psychologischen Ansichten dienen. Nebenbei bat er sich Wielands Agathon und Bücher mit Reisebeschreibungen aus. Ärmlich genug kommt bei dieser Wunschliste sein medizinisches »Handwerk« weg: Zimmermanns Buch von der »Erfahrung in der Arzneikunst« ist das einzige, das er in diesem Fache anführt. So geschwellt aber sind seine Hoffnungen auf die Gunst der Muse, daß er schon am 17. Dezember an Reinwald schreibt, nach Ablauf von zwölf oder vierzehn Tagen bringe er ein neues Trauerspiel zu Stande. Er meinte seine »Louise Millerin«, um deren willen er am 23. d. M. nochmals um Shakespeares Romeo und Julia bittet, da er etwas daraus zu seinem Stücke zu schlagen gedenke. Indem er »ununterbrochen« daran »fortzuarbeiten« wünscht, verzichtet er auf einen Besuch Meiningens während der Weihnachtszeit. Eine neue Zusammenkunft mit Reinwald erbat er sich aber schon im Briefe vom 17. Dezember; denn das Gefühl der Einsamkeit und des Verpflanztseins unter Menschen, die ihm geistig nichts bieten konnten, hatte sich Schillers bald bemächtigt. Er mußte »die Stempel zu Gottes erstem Ebenbild«, wie er sich mit Anspielung auf einen Vers seines Gedichtes »Kastraten und Männer« ausdrückt, in Bauerbach »mühsam zusammensuchen«, und wie er »mit Sehnsucht« auf Mitteilungen aus seiner Heimat wartete, so verlangte ihn auch nach mündlicher Aussprache mit Gleichgesinnten. Aber schon der Umstand, daß er unerkannt bleiben sollte, behemmte ihm den Verkehr. Schiller führte in Bauerbach wieder wie bei der Flucht aus Stuttgart den Namen Friedrich Ritter und hatte mit Reinwald verabredet, daß er seine Briefe an diesen adressiren lassen dürfe. Ein jüdisches Mädchen, das im Hause der Frau von Wolzogen diente, Namens Judith, holte sie ab.

Unterbrochen aber wurde die Gleichmäßigkeit dieses Lebens, unterbrochen auch die Arbeit des Dichters durch den Besuch der Frau Henriette von Wolzogen. Sie kam, begleitet von ihrer jugendlichen Tochter Charlotte, um Neujahr 1783, und Schiller »flog seiner Freundin und Wohltäterin mit Ungeduld entgegen«. Brief vom 14. Jan. 1783. In Bauerbach selbst verweilten die Damen nur wenige Tage; sie gingen über Meiningen nach dem eine Stunde nördlich von dieser Stadt gelegenen Walldorf, wo damals Henriettens Bruder, der als Oberforstmeister zu Urach in württembergischen Diensten stehende Reichsfreiherr Dietrich Marschalk von Ostheim, auf altem Familiengut wohnte. Schiller begleitete sie am 3. oder 4. Januar bis Untermaßfeld. In welcher Gemütserregung er nach Bauerbach zurückkehrte, verrät sein am 4. Januar an Frau von Wolzogen geschriebener Brief in den Worten: »Seit Ihrer Abwesenheit bin ich mir selbst gestolen. Es geht uns mit grosen lebhaften Entzükkungen, wie demjenigen der lange in die Sonne gesehen. Sie steht noch vor ihm, wenn er das Auge längst davon weggewandt. Es ist für jede geringere Stralen verblindet.« Die Begegnung mit Menschen, denen er vertrauen, denen er sich anschließen durfte, hatte diesen Enthusiasmus des Empfindens in Schiller erweckt; lassen doch auch seine nächstfolgenden Worte erkennen, wie sehr er nach den Frankfurter und Oggersheimer Erlebnissen einer solchen Tröstung bedurfte. »Sie glauben nicht,« fährt der Brief fort, »wie nöthig es ist, daß ich edle Menschen finde. Diese müssen mich mit dem ganzen Geschlechte wieder versönen, mit welchem ich mich beinahe abgeworfen hätte. Es ist ein Unglük meine Beste, daß gutherzige Menschen so gern in das Entgegengesezte Ende geworfen werden, den Menschenhaß, wenn einige unwürdige Karaktere ihre warmen Urtheile betrügen. Gerade so ging es mir. Ich hatte die halbe Welt mit der glühendsten Empfindung umfaßt, und am Ende fand ich daß ich einen kalten Eisklumpen in den Armen hatte.« Mancher deutsche Jüngling, dessen idealistisches Erwarten die grobe Wirklichkeit der Dinge zum erstenmal erfahren mußte, wird sich in dieser bildlichen Äußerung mit dem Dichter begegnen.

Der Abrede gemäß besuchte Schiller Frau Henriette von Wolzogen in Walldorf, wo er, wie es scheint, vom 5. bis zum 9. Januar verweilte. Er lernte dort ihren Bruder und den ihr befreundeten Walldorfer Pfarrer Sauerteig kennen, der ihren Sohn Ludwig, bevor dieser auf die Stuttgarter Militärakademie kam, in seinem Hause erzogen hatte. Ein Gedicht für die Hochzeit einer Pflegetochter der Frau von Wolzogen, namens Henriette Sturm, hatte er mitzubringen versprochen, desgleichen einen von ihm aufgesetzten Brief an die Herzogin von Gotha, der sich auf den dem Fräulein von Wolzogen gewährten Erziehungsbeitrag bezog. Daß sich die Damen die Feder des Dichters zu nutze machten, mag gelegentlich um so wünschenswerter gewesen sein, als die Orthographie der Frau Henriette, wie sie selbst sagte, »biter bös« war. Eine Probe gibt Alfred v. Wolzogen in »Schillers Beziehungen zu Eltern« u. s. w. S. 475: »wie gerne Brechte ich Ihr meinen Danck Schriftlich vor die Freute so mir Ihre Briffe gemacht haben, wen meine ortografi nicht so biterbös were«. Schiller sah sich in Walldorf gastlich aufgenommen, seine zuversichtliche Laune erfuhr jedoch eine kleine Dämpfung, da ihm Frau von Wolzogen zu bedenken gab, daß der Herzog von Württemberg an ihren Söhnen Rache nehmen könne, wenn er von der Aufnahme seines ehemaligen Regimentsmedikus in Bauerbach erfahre. Ihrem Wunsche zufolge hatte Schiller schon bei dem Gang nach Walldorf seinen Weg »nicht über Meinungen«, sondern über die Still und Dreißigacker genommen, was zwar der Richtung nach die »gerade« Linie war, aber über Berg und Thal und durch verschneite Wälder führte; es war ihr darum zu tun, daß er sich von der Residenzstadt, wo seine Persönlichkeit auffallen mußte, möglichst fern halte, und sie selbst wollte ein Zusammentreffen mit ihm dort, wo sie von jedermann gekannt war, vermeiden. Daß er sein Inkognito vorsichtiger, als er es bisher getan hatte, wahre, mußte immerhin als ratsam gelten, und Frau von Wolzogen war, wie es scheint, besorgt geworden, da die Hauptmannswitwe Luise Vischer, die einige Zeit zuvor von Schiller einen Brief erhalten hatte, in Stuttgart geplaudert hatte. Vgl. Schillerbiographie, Band I, S. 426. Um Aufdeckungen entgegenzuwirken, kam nun Schiller mit seiner Gönnerin überein, daß er einen Brief fingierten Aufgabeortes und Inhalts, den sie nach Stuttgart mitnehmen und dort vorzeigen könne, an sie abfasse. Dieser Brief, datiert »Hannover den 8. Jenn. 1783«, in der Tat aber in Walldorf geschrieben, liegt uns vor. Er habe, führt Schiller in ihm aus, vor einigen Wochen das leere Gerücht verbreitet, daß er nach Bauerbach gegangen sei. Seine ursprüngliche Absicht aber sei gewesen, nach Berlin zu gehen, wohin ihm die Mannheimer Freunde »edle Offerten« gemacht hätten; davon sei er abgekommen unter anderm aus dem Grunde, weil ihn dorthin ohne Zweifel Streicher hätte begleiten wollen und ihm dies unerwünscht gewesen wäre. Jetzt wende er sich vielleicht nach England oder Nordamerika. »Sie haben mich«, fährt Schiller fort, »in Ihrem lezten Briefe (vom 13. November) gebeten, den Herzog in Schriften zu schonen, weil ich doch (meynen Sie) der Academie viel zu verdanken hätte. Ich will nicht untersuchen, wie weit dem so ist, aber mein Wort haben Sie, daß ich den Herzog von Wirtemberg niemals verkleinern will. Im Gegentheil habe ich Seine Parthie gegen Ausländer (Franken und Hannoveraner besonders) schon hizig genommen.« Gegen den Schluß ist von der »Hauptmann Vischerin« und ihrer »Indiskrezion« die Rede. Daß mit der Fälschung der Tatsachen, wie sie durch diesen Brief geht, die Mystifikation bedenklich weit getrieben war, wird nicht in Abrede zu stellen sein. Es berührt nicht angenehm, daß sogar auf Kosten Streichers gelogen ist, und wie Schiller seiner besseren Natur entgegen bei der Abfassung des Schreibens in einen leichtfertigen und renommistischen Ton verfiel (»ich möchte gern in dieser holperichten Welt einige Sprünge machen, von denen man erzählen soll«), so setzte sich Frau von Wolzogen, wenn sie bei der Gräfin Franziska und dem Herzog Karl, dem Wohltäter ihrer Söhne, von dem Briefe wirklich Gebrauch machte, der Möglichkeit aus, eines groben Betruges geziehen zu werden.

Bei der Rückkehr von Walldorf vermied Schiller, dem Wind und Regen trotzend, abermals die bequemere Landstraße. Schon am 10. Januar, einem Freitag, schrieb er wieder an Frau von Wolzogen und erinnerte sie, daß sie ihm für den »Anfang der nächsten Woche« eine Zusammenkunft in M. – wohl in Maßfeld – versprochen habe. Mit Freude, aber auch mit Schmerz, da die baldige Abreise der Damen aus dem Meiningischen schon ihre Schatten vorauswarf, ersehnte er dieses Wiedersehen, und aus seinem gepreßten Herzen kamen die Worte: »Es ist schröklich ohne Menschen ohne eine mitfühlende Seele zu leben, aber es ist auch eben so schröklich sich an irgend ein Herz zu hängen, wo man, weil doch auf der Welt nichts Bestand hat, nothwendig einmal sich losreissen, und verbluten mus.« Mit einem Gruß an die »gute Lotte« schließt der Brief. Die Begegnung scheint am 13. stattgefunden zu haben, in Zusammenhang mit ihr aber steht der seltsam lautende Brief, den der Dichter am 14. Januar an Streicher richtete, aus Bauerbach ohne Zweifel, aber, um irre zu führen, mit der Ortsbezeichnung »H.«. Augenscheinlich hatte ihm Frau von Wolzogen noch einmal ans Herz gelegt, Vorsicht und Verstellung zu üben. Wie weit dem Inhalt dieses neuen »ostensiblen Täuschungsbriefes« Wahres beigemengt ist, läßt sich, wie Jonas Schillers Briefe, Kritische Gesamtausgabe I, S. 473. richtig bemerkt, schwer entscheiden. Er sei, wenn Streicher den Brief empfange, nicht mehr in Bauerbach, sagt Schiller im Eingang. Er fällt jedoch schon in den nächsten Zeilen aus seiner Rolle; denn indem er den Zusatz macht: »Frau von Wolzogen ist wieder hier«, konnte nur Bauerbach als Aufgabeort des Briefes verstanden werden. Einige emphatische Redensarten wie die, daß der Dichter »der Narr des Schicksals« und die Freundschaft der Menschen ein das Suchen nicht verlohnendes Ding sei, begleiten diese Eröffnung, worauf von einem »Verdruß mit der Wolzogen« erzählt wird: »Die gnädige Frau«, heißt es, »versicherte mich zwar, wie sehr sie gewünscht hätte ein Werkzeug in dem Plane meines künftigen Glükes zu seyn – aber – ich werde selbst so viel Einsicht haben, daß ihre Pflichten gegen ihre Kinder vorgingen, und diese müßten es unstreitig entgelten, wenn der Herzog von W. Wind bekäme; das war mir genug. So schreklich es mir auch ist, mich wiederum in einem Menschen geirrt zu haben, so angenehm ist mir wieder dieser Zuwachs an Kenntniß des menschlichen Herzens.« Der Ton, in welchem hier Schiller von Henriette von Wolzogen spricht, stammte nicht aus seinem Herzen, etwas ihm zu Ohren Gesagtes aber liegt seiner Erzählung wohl zu Grund. Unbedenklich und ziemlich abgeschmackt erfunden ist dagegen das weiterhin Folgende: »Durch die Bemühung des Bibliothekars Reinwald, meines sehr erprobten Freundes,« fährt Schiller fort, »bin ich einem jungen Hrn. von Wrmb bekannt geworden, der meine Räuber auswendig kann, und vielleicht eine Fortsezung liefern wird. Er war beim ersten Anblik mein Busenfreund. Seine Seele schmolz in die meinige. Endlich hat er eine Schwester! – Hören Sie, Freund, wenn ich nicht dieses Jahr als ein Dichter vom ersten Range figurire, so erscheine ich wenigstens als Narr, und nunmehr ist das für mich Eins. Ich soll mit meinem Wrmb diesen Winter auf sein Gut, ein Dorf im Thüringerwalde, dort ganz mir selbst, und – der Freundschaft leben, und was das Beste ist, schießen lernen, denn mein Freund hat dort hohe Jagd. Ich hoffe, daß das eine glükliche Revolution in meinem Kopf und Herzen machen soll.« Am Schlusse seines Briefes schreibt Schiller: »Mein neues Trauerspiel, Louise Millerin genannt, ist fertig.« Diese der Wahrheit nicht entsprechende Angabe sollte vielleicht ein Lockvogel für die Mannheimer sein; vielleicht aber bedeutete Schillers »fertig« nur ein »im Kopfe fertig«, wobei man sich einer in späteren Jahren gemachten Äußerung des Dichters erinnern könnte. Nach einem Gespräche mit Schiller verzeichnete Joh. Gottfried Gruber: »Alles, was er darzustellen sich vorgenommen hatte, arbeitete er erst völlig im Kopfe aus, ehe er eine Zeile niederschrieb. Fertig war ihm ein Werk, welches sein völliges Dasein in seinem Geiste hatte, und daher mag es wohl auch kommen, daß oft im Publikum das Gerücht erscholl, Schiller habe dieses oder jenes vollendet.« Aus Grubers Schillerbiographie (1805) aufgenommen in »Schillers Gespräche« von Julius Petersen (Insel-Verlag zu Leipzig 1911), S. 318, wie schon in »Schillers Persönlichkeit« (Weimar 1909, Gesellschaft der Bibliophilen), III, S. 160.

Mit dem in Schillers Brief an Streicher genannten Herrn »von Wrmb« ist der Hauptmann und Kammerjunker Ludwig von Wurmb gemeint, der nämliche, der in Schillers noch in Stuttgart veröffentlichter Erzählung »Eine großmüthige Handlung, aus der neusten Geschichte« eine Rolle spielt. Vgl. Schillerbiographie, Band I, S. 601. Mit andern irrend habe ich dort von »Freiherrn v. Wurmb« gesprochen, während die Familie v. Wurmb nur einfach adelig ist. Er hatte ein Gut bei Wolkramshausen, das aber nicht »im Thüringerwald«, sondern bei Nordhausen am Harz liegt, und war ein Neffe der Frau Henriette von Wolzogen, da seine Mutter eine geborene von Wolzogen und die Schwester des Gatten der Frau Henriette war. Seit 1780 lebte er in zweiter Ehe, nachdem seine erste Frau, das ehemalige Fräulein von Werthern, die Heldin der von Schiller angeblich nach der Wirklichkeit erzählten Liebesgeschichte, gestorben war. Was aber die Schöne betrifft, von der Schiller den Mannheimer Freund glauben machen will, daß sie als stärkster Magnet ihn nach Wolkramshausen ziehe, so müssen wir, als die Wissenden, bei ihrer Anpreisung lächeln. Denn die Schwester Ludwig v. Wurmbs, Luise mit Namen, war ja keine andere als die in Rudolstadt lebende damals 42jährige und schon im Witwenstand befindliche Frau von Lengefeld, Schillers nachherige Schwiegermutter. Man hat, um dem Verfasser des Briefes zu Hilfe zu kommen, an eine illegitime »Halbschwester« Ludwig v. Wurmbs, eine Madame » Grivet née de Wurmb«, gedacht; aber diese lebte in Aubonne nahe dem Genfersee und hatte Töchter und Schwiegersöhne. Fielitz »Schiller und Lotte«, Briefwechsel, 3. Aufl. I, S. 288. wird wohl Recht haben: es handelt sich um nichts als um eine Fiktion Schillers. Eine Fiktion ist seine geplante Übersiedelung nach Wolkramshausen überhaupt, und recht Unerquickliches müssen wir dabei in den Kauf nehmen; sinkt doch Schiller mit der Äußerung, daß er, was »das Beste« sei, dort schießen lerne, unter sich selbst herab! Ludwig v. Wurmb hatte poetische Neigungen und stand mit dem Dichter Günther v. Gökingk und auch mit Reinwald in Freundschaftsverhältnis; er verweilte öfters in Walldorf als Gast, ob ihn aber Schiller dort durch Frau von Wolzogen oder in Meiningen durch Reinwald kennen lernte, ist fraglich. Der Enthusiasmus, mit dem sich Schillers Brief über die neue Bekanntschaft ausspricht, dürfte eher der Absicht, seine Übersiedelung nach Wolkramshausen in Mannheim glaublich zu machen, zuzuschreiben sein als der entzündeten Einbildungskraft oder dem nach Freundschaft lechzenden Herzen des Dichters; zum mindesten gibt der Umstand, daß ein näheres Verhältnis zwischen Schiller und v. Wurmb ausgeblieben ist, keinen Grund ab, diesem einen Vorwurf zu machen. Gegenüber der ganz törichten Unterstellung G. Brückners, als habe Schiller im Sekretär Wurm seines Trauerspiels »Kabale und Liebe« seinen »sittlichen Unmut« gegen L. v. Wurmb abgelagert, siehe Ludwig Bechstein, Mitteilungen aus dem Leben der Herzoge zu Sachsen-Meiningen (Halle 1856) S. 201 ff. Aus seinen Briefen an Reinwald wird erkennbar, daß er das Leben eines schlichten Landedelmanns führte, ein Freund der Natur und ein Mann warmen Herzens war. Seine geistige Richtung war verstiegenen Phantasien abhold; Thomson und Sterne, mit denen er »auf der Erde herum wandeln« konnte, waren seine Führer, wogegen er mit den »Klopstockianern« manchen Strauß hatte und die Schlachten und Kanonaden der Engels- und Teufelsarmeen bei Milton »unverdaulich« fand. Einen gewissen reifen Realismus der Lebensauffassung verrät eine Briefstelle vom 25. Jan. 1784, in der er auf Schiller zu sprechen kommt. Er erwähnt, daß ihm dieser im Sommer 1783 seinen »Fiesko« geschickt habe, und fährt fort: »Seit der Zeit habe ich aber nichts wieder von ihm gehört. Mehr Erfahrung, dann kälteres Blut werden ihn hoffentlich zum brauchbaren Mann und stätigeren Freunde machen. Es ist eine Folge unserer gegenwärtig so hoch gepriesenen Erziehung, daß junge Genies, gleich jungen kraftvollen Füllen, in Gefahr sind, Hals und Beine zu brechen, alles um und neben sich zu zertreten und übern Haufen zu werfen, ehe sie Zaum und Gebiß, die doch hienieden unvermeidlich sind, ertragen lernen. Die wohlthätige Seele des erfahrungsvollen Menschen-Freundes findet indessen Wollust in dem Gedanken, durch freundschaftliches Bemühen der Genius der künftigen Zierden der Menschheit zu werden.« Nach diesen Zeilen scheint es eher, daß Wurmb bei Schiller die Nachhaltigkeit freundschaftlichen Empfindens vermißte, als umgekehrt.

Man sollte meinen, daß Schiller, als er später wieder in Mannheim neben Streicher lebte, die Gelegenheit ergriffen habe, über die Fiktionen oder Unwahrheiten seines Briefes vom 14. Januar den Freund aufzuklären; diesem Opferwilligsten gegenüber konnte sich sein Gewissen doch schon wegen der unzarten Äußerung im Briefe an Frau von Wolzogen nicht ganz frei fühlen, und auch die Rücksicht auf diese verlangte eine Berichtigung oder Aufklärung. Eine solche unterblieb aber, und Streichers Vorstellungen waren noch bei Abfassung seiner Schrift »Schillers Flucht« die nämlichen, die jener Brief in ihm erweckt hatte. Als er sich damals an Schillers Schwester Christophine Reinwald wandte, um über des Dichters Lebensgang in einer Reihe von Punkten sicheren Aufschluß zu erhalten, fügte er seinem Briefe vom 30. August 1826 zweiunddreißig Fragen bei und zwar unter Nr. 26 und 27 die Fragen: »Wohin begab sich Schiller zu Anfang 1783, als ihm Frau von Wolzogen den ferneren Aufenthalt auf ihrem Gut Bauerbach versagte?« »Ging er mit Herrn v. Wrmb und dessen Schwester nach Thüringen?« Christophine ihrerseits erinnerte sich des wahren Sachverhaltes so wenig, daß sie auf die erste Frage antwortete: »Nach Dresden zu Körner« und auf die zweite: »Das weiß ich nicht«. Nach den Handschriften im Marbacher Schillermuseum; bei Speidel und Wittmann, Bilder aus der Schillerzeit, S. 22 ff., ist der Brief Streichers gedruckt, doch ohne die Fragen. [Christophinens Antwort vom 16. Sept. 1826 bei Minor, Neue Freie Presse 16 241 vom 7. Nov. 1909. Danach Schillers Persönlichkeit Bd. 3, S. 359 ff. Streichers Auffassung der Bauerbacher Verhältnisse blieb aber auch beeinflußt von einem Briefe, den Reinwald unter dem 24. Mai 1783 an Christophine Schiller gerichtet hatte und den ihm diese für seinen biographischen Zweck überließ. Streicher veröffentlichte ihn denn auch in seinem Büchlein »Schillers Flucht«, jedoch unter Weglassung mehrerer Stellen, die, weil sie Urteile über Frau Henriette von Wolzogen enthalten, nicht ganz unwichtig sind, obwohl sie mit Vorbehalt gelesen sein wollen. Siehe Schillers Flucht S. 151. Einen vollständigen und authentischen Abdruck des Briefes nach der im Marbacher Schillermuseum befindlichen Handschrift hat erst Otto Güntter im Marbacher Schillerbuch II (1907), S. 383 ff. gegeben. Reinwald ließ auf den dritten Absatz seines Briefes die Stelle folgen: »Sie finden unter andern Räthsel in dem Bezeigen der Fr. v. W. – Ich kenne diese Dame einigermaßen von verschiedenen Jaren her: aber ganz wird man sie nicht leicht faßen, denn sie ist unbeständig in vielen Dingen und schwach; doch auch gut, und hat schon vielen Menschen gedient, viele froh und manche glücklich gemacht. Niemand ist mer geneigt, allen Zwang, um des Vergnügens willen, zu verschmähen: aber nach meiner Einsicht hat sie oft für das Hergebrachte nicht Achtung genug, läßt oft den Wolstand seitwärts liegen, und schilt die, so sich dran ärgern, als bösartig oder schadenfroh, trennt sich von ihnen und flieht aufs Land, wo sie dann von der Neugierde noch ungestümer verfolgt wird. Lebten wir noch das alte Schäferleben, uns würde das ihrige minder anstößig seyn und wir wollten bald hier, bald da, wo gute Weide wäre, unser Zelt aufschlagen. Aber nach unsrer jetzigen Einrichtung gestimmt, kommen uns diese Arkadier wie halbe Wilde vor. Der, den ich liebe, kann zwar Freundschaft, Menschenliebe und Gutthätigkeit bei der Fr. v. W. lernen, aber Ordnung und Beständigkeit lern er woanders!« »Mir ist es selbst Räthsel,« fährt Reinwald fort, »warum sie so ser Verrathung fürchtet, und daß sie auf die Veränderung von unsers Freundes Aufenthalt dringen soll; viele Umstände scheinen dem Letztern zu widersprechen; es müsse denn seyn daß sie aus Beweggründen der Sparsamkeit handelte, die sie oft übertrieben anwandelt.« Reinwald hegt sogar Zweifel, ob es der Frau Henriette mit dem Verlangen, daß sich Schiller an einen andern Ort begeben solle, ernst sei: Schiller, schreibt er weiterhin, scheine »ganz an seine Wohlthäterin gefeßelt«, die ihn »von der Seite seines guten und dankbaren Herzens eingenommen« habe, und vielleicht seien ihre »Furchtsamkeits-Äußerungen und besonders ihre Wünsche, daß er wo anders hingehen möchte, Verstellungen«.

Bei der Spärlichkeit der Aussagen, die wir von Mitlebenden über den Charakter und die Denkweise der Frau Henriette von Wolzogen haben, werden wir diese Äußerungen nicht unbeachtet lassen; für die Prüfung ihres Wahrheitsgehaltes fällt jedoch ins Gewicht, daß sie von einem Zeugen herrühren, dessen redliche Meinung zwar nicht zu bezweifeln ist, dessen Urteil aber von Hypochondrie und Engherzigkeit beeinflußt war. Ganz ungegründet ist der von Reinwald ausgesprochene Verdacht, daß Frau von Wolzogens Besorgnis, durch Schillers Aufnahme in Bauerbach sich beim Herzog von Württemberg zu schaden, »Verstellung« gewesen sei; einer solchen Annahme steht als gewissermaßen urkundliches Zeugnis der vertrauliche Brief, den sie nach Pfingsten 1783 an ihren Sohn schrieb, entgegen. Der Vorwurf, daß sie öfters den »Wolstand« – Reinwald wollte sagen die Wohlanständigkeit oder den strengen Anstand – »seitwärts liegen« lasse, dürfte darauf zurückzuführen sein, daß ihre das Ungezwungene liebende und das Vornehmtun verschmähende Verkehrsart dem steifen, ängstlichen und philiströsen Manne nicht zusagte. Auch Klatsch mag bei diesem Teile seiner Schilderung mitunterlaufen, der sich zudem, wenn von »Arkadiern« als »halben Wilden« die Rede ist, nicht auf Frau von Wolzogen allein, sondern auf ihre Umgebung, ihren Verwandtenkreis mitzubeziehen scheint; was aber mit diesem Vorhalt gemeint ist, wissen wir nicht. Bei G. Brückner, der als Meininger unterrichtet gewesen sein mag, stößt man auf den Satz, Schiller habe nicht vermocht, »hinter der äußern Freundlichkeit in eleganteren Häusern die daselbst wuchernden sittlichen Gebrechen zu ahnen«, wie sie »in Walldorf« zu finden gewesen seien; aber es bleibt bei dieser dunklen Andeutung, und zu Gunsten der Frau Henriette wird gerade hervorgehoben, daß sie »frühzeitig durch wüste Züge ihrer häuslichen Umgebung« das Laster hassen gelernt habe. Alfred von Wolzogen erwähnt in seiner Geschichte des von Wolzogenschen Geschlechtes Schillerbiographie, Band II, S. 126 Anm. nebenher, die zwei Töchter des Oberforstmeisters Dietrich Marschalk von Ostheim hätten sich »unter ihrem Stande« verheiratet, und von den vier Schwestern der Frau Henriette von Wolzogen hätten die zwei jüngsten »unebenbürtige Ehen geschlossen«; damit ist aber von »sittlichen Gebrechen« noch nichts gesagt. Auf alle Fälle fehlt jeder Anhaltspunkt, die Sittenreinheit der Frau Henriette zu bezweifeln, und wenn sich diese in ihrem Benehmen gerne gehen ließ, so stand sie doch in allgemeiner Achtung. Übereinstimmend wird ihre Herzensgüte gerühmt; gegen Familienangehörige, Freunde und Untertanen hilfreich und wohltätig zu sein, war, wie Karoline von Wolzogen bezeugt, In Schillers Leben, S. 63. »ihre Natur«. Diese Gemütsart spricht sich auch in ihren Gesichtszügen, die uns ein Ölgemälde überliefert hat, In »Schillers Beziehungen« hinter S. 391 nachgebildet. in dem guten Blick der vollen Augen und dem Edel-Bescheidenen ihrer Erscheinung aus. Ihre geistige Bildung war ohne Zweifel höchst mangelhaft, aber sie besaß, wie wiederum Karoline von Wolzogen hervorhebt, einen natürlichen Sinn für alles Gute und Schöne, der zusammen mit ihrer Lebhaftigkeit ihren Umgang anmutig und erwünscht machte. Das bedeutsamste Urteil über sie hat Charlotte von Kalb abgegeben, die im September 1788 aus Weimar an Charlotte Schiller schrieb: »Frau von Wolzogen starb eines sanften Todes; sie wäre eine vorzügliche Frau gewesen, wenn ihr Kopf so gut gewesen wäre, als ihr Herz.« Bemerkenswert sind noch zwei auf sie bezügliche Äußerungen des alten Schiller, des Vaters des Dichters. Einmal, in einem Briefe an den Sohn vom 7. Apr. 1785, erzählt er, daß sie »aus lauter Gutheit« ihrem Bruder ein schweres Geldopfer gebracht habe. Mißmutig dagegen lautet die andere, einem Briefe vom 19. Februar 1784 angehörige Stelle; »die von Wolzogen«, heißt es hier, »ist auch eine von den Personen, die Ihn zu Seinem Derangement veranlaßt haben«. Das ist in einer Zeit geschrieben, in der die Schulden dem Sohne über den Kopf zu schlagen drohten, und der alte Schiller spielt darauf an, daß Henriette von Wolzogen an der schlimmen Lage des Dichters mit schuld sei, indem sie dessen Flucht aus Stuttgart unterstützt habe. Aber aus den Fesseln des Herzogs von Württemberg hätte sich Schiller auch ohne die Aussicht auf eine Zuflucht in Bauerbach befreit und befreien müssen, und indem Frau von Wolzogen ihre ihm gegebene Zusage zur Wahrheit machte, wurde sie tatsächlich seine Retterin in der größten Not und Gefahr. Dieses geschichtliche Verdienst bleibt ihr, wenn auch die Art, in der sie sich um ihn annahm, mehr Plan oder Überlegung und mehr Folgerichtigkeit hätte aufzeigen können.

Henriette von Wolzogen war befreundet mit der Freifrau von Wechmar zu Roßdorf (das nördlich von Walldorf liegt), sie hatte auch, da die Mutter ihres Vaters eine geborene Freiin von Bibra und der Meiningische Oberhofmeister Ludwig Karl von Bibra der Mitvormund ihrer Kinder war, Beziehungen zu dieser den fränkischen Ritterkantonen angehörenden, seit alters im Henneberger Land begüterten und im südöstlich von Bauerbach gelegenen Dorfe Bibra ihr Stammhaus besitzenden Familie. Die Namen Roßdorf und Bibra werden in Schillers Bauerbacher Briefen, wenn auch noch nicht zu Anfang des Jahres 1783, genannt, von einer Einführung des Flüchtlings in dieses oder jenes Haus aber wird Frau von Wolzogen schon darum abgesehen haben, weil sie die Nennung seines Namens auf das Nötigste beschränkt wissen wollte. Wohl aber erweckte sie in ihm damals durch Erzählungen ein lebhaftes Interesse für gleichzeitige Vorgänge auf dem Schlosse zu Nordheim. Nordheim, zubenannt »im Grabfeld« (zum Unterschied von »Nordheim vor der Rhön«), liegt östlich von Mellrichstadt, im Meiningischen, doch nächst der unterfränkischen Grenze; von Bauerbach liegt es in gerader Linie nur 1½ Stunden entfernt. Dort saß der Ritterrat und Kammerherr Reichsfreiherr Philipp von Stein zu Nordheim, der Abkömmling eines alten fränkischen Adelsgeschlechtes und das gebietende Haupt einer vielköpfigen Familie, vermählt mit Susanne Wilhelmine, einer geborenen Freiin von der Tann. Er war ein Mann »von schöner und großer Gestalt, von Weltkenntnis« und ritterlichem Gebahren, aber herrischen Sinnes und ein Schwelger in Genuß und Pracht. Auf seinem stattlichen Landsitz gab er den ununterbrochen wechselnden vornehmen Gästen Feste um Feste. Er »ließ sich gerne den Fürsten der Rhön nennen und schickte das vom Kaiser ihm übersendete Grafendiplom mit dem stolzen Worte zurück, daß er lieber ein alter Freiherr als ein neuer Graf sein wolle«. Bei der Kaiserkrönung zu Frankfurt, zu der er mit 6 Pferden gefahren war, verbrauchte er nicht weniger als 50 000 Gulden. Zu dieser aus der Schrift des Meininger Historikers Brückner in die Schillerbiographien übergegangenen Charakterschilderung stimmt der briefliche Bericht Schillers selbst, der, im Jahre 1787 von einem Besuche Nordheims kommend, an Körner schrieb: Dort »wohnt der Kammerherr von Stein ... mit einer Frau und neun Kindern auf einem hochtrabenden fürstlichen Fuß ... Die Frau ein vaporöses, falsches, intriguantes Geschöpf, dabei aber häßlich wie die Falschheit und übrigens voll guten französischen Tons« ... »Herr von Stein ist ein imposanter Mensch von sehr viel guten und glänzenden Eigenschaften, voll Unterhaltung und Anstand, dabei ein Libertin in hohem Grade.«

Auf dem Schlosse zu Nordheim traf Frau Henriette von Wolzogen zeitweise auch Angehörige des Adelsgeschlechtes, aus dem sie selbst stammte. Eine Schwester des Herrn von Stein, Rosina Wilhelmine mit Namen, hatte den Freiherrn Philipp Marschalk von Ostheim geheiratet, und dieser Ehe waren die Kinder Friedrich, Charlotte, Wilhelmine, Eleonore und Karoline entsproßt. Zwar war die Verwandtschaft, in der Frau Henriette von Wolzogen zu ihnen und ihren Eltern stand, eine sehr weitläufige, denn diese gehörten der Waltershauser Linie der Marschalke von Ostheim an, während sie selbst durch ihren Vater aus der Marisfeld-Walldorfer Linie stammte, die sich von der Waltershauser schon im 14. Jahrhundert getrennt hatte; immerhin waren es Blutsverwandte. Was aber Frau von Wolzogen dem Dichter von Vorgängen in Nordheim erzählte, betrifft gerade die eben genannten Kinder, und unter ihnen ist Charlotte die in die Lebensgeschichte Schillers für immer verflochtene nachherige Frau von Kalb, eine durch ihre Geschicke, nicht minder aber durch die Eigenschaften ihres Geistes merkwürdige Frau. Siehe Anhang Nr. 21.

Sophie Juliana Charlotte Reichsfreiin Marschalk von Ostheim, durch Eltern und Heimat süddeutsch-fränkischen Blutes, wurde am 25. Juli 1761 im Schlosse zu Waltershausen im Grabfeld, das im heutigen bayrischen Kreise Unterfranken und im Bezirk Königshofen liegt, geboren. In Waltershausen und in dem gleichfalls zum Familienbesitze gehörigen Schlosse Dankenfeld bei Eltmann nächst Bamberg verlebte sie ihre erste Kindheit. Im Oktober 1768 starb der Vater, der die Würde eines Ritterrates beim Kanton Steigerwald und eines kurpfälzischen und bambergischen Geheimrates bekleidet, auch den Titel eines Kaiserlichen Wirklichen Rates geführt hatte, im April 1769 folgte ihm im Tode die Mutter, als noch sämtliche Kinder unmündig waren. Zunächst im Hause ihres Oheims zu Nordheim untergebracht, kam Charlotte, das älteste von ihnen, mit ihren Schwestern im Sommer 1770 in die Obhut ihrer Patin, der Frau Luise von Türck, einer geborenen von Bibra, der Gattin des Kammerpräsidenten von Türck zu Meiningen, während der Bruder Friedrich das Gymnasium zu Koburg und sodann die Ritterakademie zu Braunschweig besuchte. Schon damals wurden die Marschalkschen Mädchen mit Frau Henriette von Wolzogen bekannt, da sie des Sonntags ihr Haus in Meiningen zu besuchen pflegten, um mit den Wolzogenschen Kindern zu spielen. Als Frau von Türck, die geliebte Pflegemutter Charlottens, im September 1779 starb, kamen die Marschalkschen Schwestern in die Obhut der gleichfalls zu Meiningen lebenden Geheimratswitwe Sophie von Erffa, doch brachte Charlotte, die jetzt achtzehn Jahre alt war, die nächsten Wochen auf dem Erffaschen Rittergut Unterlind, die Herbst- und Wintermonate aber auf Einladung der Gattin des baireuthischen Ministers Joh. Wilh. Friedrich von Seckendorff-Aberdar auf dem Schlosse Unterleinleiter bei Ebermannstadt und in Baireuth zu. Besuche der Plassenburg bei Kulmbach, Streitbergs und Erlangens, wo Charlotte ihren Bruder als Studierenden der Universität traf, waren mit dieser Reise verbunden. Nach dem Pfingstfest des Jahres 1780 kehrte Charlotte nach Meiningen zurück und lebte, mit den Schwestern wieder vereint, nun bald hier, bald bei den mütterlichen Verwandten in Nordheim. »Die Geschwister«, erzählt Charlotte selbst in ihren Gedenkblättern, »waren wohl wie vormals gegen einander gesinnt, doch wie von einem Trauerflor war der jugendliche Muth bewölkt, der Freimuth dahin«; »die wiederholte Mahnung: ihr müsset bald euch trennen« wurde schon in der Gegenwart als Trennung empfunden. Sie waren abhängig von der Vormundschaft, die nach dem Jahre 1774 aus dem ansbachischen Legationsrat Friedrich Albrecht von Wechmar zu Roßdorf und dem Herrn von Stein zu Nordheim bestand. Nur zu bald und herb genug wurde Gefürchtetes zur Wirklichkeit: »auf Befehl der Vormundschaft ... eine Liebesneigung zu dem damaligen meiningischen Konsistorialrat Ludwig Heim in sich begrabend« Klarmann S. 150. reichte am 3. Januar 1782 die zweitälteste der Marschalkschen Schwestern, Wilhelmine, dem Freiherrn Gottfried Waldner von Freundstein, Herrn auf Schweighausen im Elsaß, die Hand. »Er hatte gewählt, ehe er sah, ersucht, genommen ohne gewonnen«, mit diesen lapidaren Worten kennzeichnet Charlotte die Rohheit des Vorgangs, indem sie noch hinzufügt: »Durch gütiger Rede Wohlklang, durch holde Gesänge ward die Verbindung nicht gefeiert«. In Nordheim fand die Trauung statt. Als die Neuvermählte ein paar Tage nachher von ihren Schwestern Abschied nehmen sollte, »sank sie ohnmächtig nieder ... noch nicht zum Bewußtsein gelangt, wurde sie die Treppe herab zum Wagen gebracht; dann rollte er unter den Thorweg, wie ein Trauerwagen die Straße hinab«. Charlotte. Gedenkblätter, hsg. v. E. Palleske. Stuttgart 1879, S.90f. Im Spätherbst des Jahres 1782 weilten Charlotte und Eleonore Marschalk von Ostheim wieder auf dem Schlosse ihres Oheims; noch war ihnen »nicht klar, warum man sie dorthin berufen, doch vermuthlich zu einer möglichen Verlobung«. Ebenda S. 97. Und es war also. Seit dem 9. November 1782 befand sich in Nordheim der Kammerpräsident a. D. Johann August von Kalb. Es ist der nämliche, über den bekanntlich Goethe gesagt hat, daß er »sich als Geschäftsmann mittelmäßig, als politischer Mensch schlecht und als Mensch abscheulich aufgeführt« habe. Johann August von Kalb war im Juni 1782 aus dem weimarischen Staatsdienst entlassen worden. In erster Ehe mit der Reichsfreiin Auguste von Künsberg aus der Wernstein-Schmailsdorfer Linie vermählt, war er im November 1779 Witwer geworden, worauf er sich baldigst auf die Suche nach einer zweiten reichen Heirat begab, durch die er seine zerrütteten Vermögensverhältnisse wiederherstellen könnte. Auch auf die Verbindung mit einer altadeligen Familie hatte er es wie bei seiner ersten Heirat abgesehen. Seine Bekanntschaft mit den Marschalkschen Geschwistern, zunächst mit Friedrich, war durch die Seckendorffische Familie eingeleitet worden, mit welcher Kalb in mehrfachen verwandtschaftlichen Beziehungen stand: war doch die Mutter seiner ersten Frau eine geborene von Seckendorff und seine eigene Schwester Sophie seit 1779 mit dem zu Weimar lebenden Siegmund von Seckendorff-Aberdar, dem Sohne des baireuthischen Ministers, vermählt. Im August 1782 verweilten Seckendorff, Friedrich Marschalk, seine Schwester Charlotte und Johann August Kalb als Kurgäste im Bad Brückenau. Klarmann, S. 161. Vgl. den Brief Friedrichs an seine Schwester vom Sept. 1782 bei Palleske, Charlotte S. 256. Kalb, dem nicht entgangen war, daß die Marschalkschen Mädchen zu den reichsten Erbinnen des Frankenlandes zählten, richtete seine Wünsche auf die drittälteste der Schwestern, auf Eleonore; um sie kennen zu lernen, reiste er mit Seckendorffischem Zutun im Oktober nach Völkershausen, einem Steinschen Gute, und indem er Eleonorens Oheim über den wahren Stand seiner Vermögensverhältnisse belog, Siehe Klarmann S. 166. wußte er die Zustimmung desselben zu gewinnen: am 20. November 1782 zeigte er aus Nordheim seinem Freunde Knebel seine Verlobung mit Eleonore Marschalk von Ostheim an. »Gleichgültigkeit würde zu schwach ihre Abneigung bezeichnen«, mit diesen Worten gedenkt Charlotte des Verlobtwerdens ihrer Schwester; die liebliche Lore, die ob ihrer Anmut in der Familie »das Feenkind« genannt wurde, war das Opfer fremder Interessen und ihrer eigenen Unselbständigkeit geworden. Am nämlichen Tage, an welchem Kalb diesen Erfolg seiner Heiratsspekulationen nach Weimar meldete, starb in Göttingen der Bruder der Braut, Friedrich, der letzte männliche Sprosse der Waltershauser Linie der Marschalk von Ostheim, der Stolz und die Hoffnung seiner Familie. Er hatte im Oktober 1781 die dortige Universität bezogen, wo er, um sich für die Verwaltung seines großen Güterbesitzes vorzubereiten, eifrig Rechts- und kameralistische Wissenschaften studierte. Am 20. November erlag der mit ritterlichen Eigenschaften, mit Vorzügen des Körpers wie der Seele ausgestattete Jüngling einer Krankheit von wenigen Tagen, dem Gerüchte nach der Folge eines Duells, nach Angabe der Akten jedoch einer Darmentzündung oder Darmverschlingung. »Uns Schwestern«, schrieb Charlotte in hohem Alter, Palleske, Charlotte S. 102. »ist der Stachel des Schmerzes über den verlornen geliebten Bruder nie aus der Seele gewichen.« Am 21. November hatte eine Staffette die Todesnachricht nach Nordheim gebracht. Mit unschicklicher Eile wurde gleichwohl die Vermählung Joh. August von Kalbs mit Eleonore betrieben: schon am 28. Dezember 1782 fand im Steinschen Schlosse zu Nordheim die Vermählung statt. Die Angehörigen der Braut erschienen bei der Hochzeit in Trauerkleidern. Klarmann S. 166, Anm. Des Leides aber war noch kein Ende. Im Dezember Mutter eines Knaben geworden, der die Geburt nur um einige Stunden überlebte, starb Wilhelmine, die Gattin Waldners von Freundstein, am 6. Januar 1783 im Alter von erst zwanzig Jahren. Vgl. Klarmann S. 150 f. Anm. und S. 229 f. Anm.

In solcher Häufung spielten sich in der Nachbarschaft Bauerbachs erschütternde Familienereignisse ab während der ersten Wochen, welche Schiller dort zubrachte. Mußten sie bei der Schwere des Unglücks, das eine hervorragende Familie gänzlich zu vernichten drohte, vielen Zungen im Meininger Lande zu reden geben, so erweckten sie bei den Näherstehenden herzliches Mitgefühl, und zu ihnen gehörte Frau Henriette von Wolzogen. Es ist von Charlotte selbst bezeugt, daß Frau von Wolzogen sie damals öfter besuchte und daß »die traurigen Ereignisse«, welche die Marschalksche Familie betroffen hatten, »auch der Gegenstand ihrer Unterhaltung mit Ritter (wie Schiller sich damals nannte) waren«. Palleske, Charlotte S. 105. Minor, Schiller II, 99, läßt Henriette von Wolzogen bei der Hochzeit Eleonorens in Nordheim zugegen sein, wie Viehoffs Schillerbiographie, Ausg. von 1874, S. 217 angegeben hatte; nach gef. Mitteilung des Nordheimer Pfarrers Wolf an mich findet sich aber weder im Kirchenbuch von Nordheim noch im von Steinschen Familienarchiv irgend eine Nachricht von der Anwesenheit der Frau von Wolzogen bei der Trauung am 28. Dez. 1782. Den Namen Schiller hatte Charlotte schon vorher gehört, von seinen »Räubern« war ihr »Schreckhaftes« erzählt worden; Frau Henriette von Wolzogen aber hatte ihr, als sie im Spätsommer oder Herbst in Bauerbach weilte, das Buch zum Lesen gegeben und ihr dabei gesagt, sie erwarte »nächstens« die Ankunft eines ihr und ihren Söhnen sehr werten Freundes, und dieses Trauerspiel habe auf sein Schicksal vielen Einfluß gehabt. Palleske, Charlotte S. 95 f. Jetzt, da sie sich abermals in Bauerbach aufhielt, brachte sie die Rede wiederum auf den Dichter. Und eines Tages übergab sie Charlotten die von Schiller geschriebenen Zeilen: »O sehe ich sie, die Trauernden? – ein Trauerflor schmückt höher noch die Grazien, – drei sind es ja – und eine noch – wie nenne ich sie? – Psyche! von ihnen so ersehnt. – Heut' hab' ich ja im Wieland erst gelesen, wie Psyche, von den drei Grazien erflehet, nun fürder wandeln will in ihren Reihen.« Ebenda S. 105. [Minor, Aus d. Schiller-Archiv S. 25 ff. Es waren Worte der Huldigung, veranlaßt durch eine Aufmerksamkeit, welche den in Bauerbach lebenden Dichter überrascht hatte: vier junge Damen, von denen eine Charlotte Marschalk von Ostheim war, hatten ihm einen Lorbeerkranz zugeschickt. Daß ein Vorgang dieser Art stattgefunden hatte, bezeugt ein heute im Weimarischen Schillerarchiv befindlicher und von Minor veröffentlichter, nicht aber von Schiller (wie gemeint wurde), sondern an Schillers Stelle von Reinwald gedichteter Vers, ein Vierzeiler, der mit der Überschrift »Als 4 Fräulens ... mir einen Lorbeerkranz schickten« den Wortlaut hat:

»Vier Musen krönten mich zum König,
Denn teutscher Musen sind noch wenig:
Doch gilt der Krönungsakt für voll,
Denn ihn bestätigten Minerva und Apoll.«

Darunter stehen die Buchstaben »R. d.«, und eine Anmerkung bezeichnet als Minerva und Apoll Frau und Herrn Hofprediger Pfranger (in Meiningen). Auf dem nämlichen Blättchen, das uns diesen Vers überliefert hat, finden sich aber auch, und zwar ihm vorangeschrieben, allerlei Versuche oder Anläufe zur Bildung eines solchen, halbausgeführte und als verunglückt wiederaufgegebene oder ausgestrichene Verszeilen und Strophenstücke, welche sämtlich dem gleichen Anlaß wie der fertig gewordene Vierzeiler entsprungen und nur darum erwähnenswert sind, weil sich aus ihrem Inhalt erweisen läßt, daß diese ganze Versmacherei mit den durch Henriette von Wolzogen an Charlotte übergebenen prosaischen Zeilen in einigem Zusammenhang steht, daß aber Charlotte mit der Anführung derselben nicht etwa, wie Minor meinte, »die Schillerischen Verse auf ihre Weise umschrieben und die Situation entstellt« hat, sondern daß sie wiedergibt, was sie empfangen hatte. Schiller hat einen im Versgestümper Reinwalds enthaltenen Gedanken, nämlich den Hinweis auf Wieland, wornach sich Psyche den Grazien gesellt habe, für seine in Prosa abgefaßten Zeilen mitbenützt. Siehe Anhang Nr. 22.

Wer die drei »Fräuleins« waren, die sich neben Charlotte an der Kranzspendung beteiligt hatten, ist zweifelhaft, aber auch recht gleichgültig: von Charlottens Schwestern kann, da sich Leonore eben vermählt hatte und Wilhelmine in der Ferne gestorben war, nur die jüngste, die damals 16jährige Karoline, in Betracht kommen, und vielleicht ergänzten Lotte von Wolzogen und eine der Töchter von Steins die Vierzahl. Nicht ganz so bedeutungslos aber ist eine andere hier sich aufdrängende Frage: die nämlich, ob Schiller schon während seines Bauerbacher Aufenthaltes Charlotte Marschalk von Ostheim gesehen oder gesprochen hat. War es der Fall, so kann es – was bisher nicht bemerkt wurde – nur um Ende Dezember 1782 oder in der ersten Hälfte des Januar 1783 geschehen sein; denn etwa um Mitte des Januar ging, wie wir erst jetzt durch Klarmanns Werk S. 170. Vgl. Palleske, Charlotte S. 105 ff. genau wissen, Charlotte mit ihrer Schwester Leonore und ihrem Schwager Joh. August von Kalb auf ihre Besitzungen im Steigerwald, nach Schloß Trabelsdorf und Dankenfeld, von wo sie im Frühjahr Bamberg, Baireuth und das Künsbergische Rittergut Schmeilsdorf besuchten, um sodann am 1. Juni nach Dankenfeld zurückzukehren, wo Charlotte bis zum Spätherbst 1783 blieb. Ich halte es aber für sehr unwahrscheinlich, daß Schiller in der Zeit von Ende Dezember 1782 bis Mitte Januar Charlotte zu Gesicht bekommen hat. Die einzigen Autoren, deren Meinungsäußerung in diesem Punkte von Gewicht ist, sind G. Brückner und vornehmlich Joh. Ludwig Klarmann, und von ihnen verneint der erstere eine Begegnung, während Klarmann nicht geradezu in Abrede stellen will, daß sich Schiller und Charlotte »Ende 1782 oder Anfang 1783 zu Nordheim oder Bauerbach flüchtig gesehen haben mögen«. Klarmann S. 239 Anm. Diese Möglichkeit ist jedoch äußerst gering. Denn Charlotte war zwar zur Zeit, als die Nachricht vom Tode ihres Bruders eintraf, in Nordheim (wie ihr an Peter Poel geschriebener Brief vom 28. Nov. 1782 Abgedruckt bei Klarmann S. 471 f. beweist), sie war auch bei der Trauung ihrer Schwester Leonore zugegen, und zwischen diese beiden Ereignisse fällt ja Schillers Ankunft in Bauerbach; ein persönliches Bekanntwerden Schillers mit Charlotte kann aber kaum anders als durch Vermittlung der Frau Henriette von Wolzogen stattgefunden haben, und diese, von deren Kommen Schillers Brief an Reinwald vom 23. Dezember noch gar nichts wußte, traf in Bauerbach erst um Neujahr ein. Am 28. Dezember war im Schlosse zu Nordheim die Hochzeit Eleonorens, und »unmittelbar« darauf begab sich Charlotte mit den Neuvermählten nach Meiningen; Klarmann S. 170. in Meiningen also und nicht in Nordheim, und zwar in der ersten Hälfte des Januar 1782, mußte Schiller Charlotte gesehen haben, wenn es in jenen Tagen überhaupt der Fall war, und von Meiningen aus wird wohl auch die Kranzsendung erfolgt sein, dort aber eine Begegnung Schillers mit Charlotte herbeizuführen, ging wohl wider die Absichten der Frau von Wolzogen, die ja selbst mit ihm in Meiningen zusammenzutreffen nicht wünschte. An eine Begegnung in Bauerbach aber läßt sich noch weniger denken. Charlotte erzählt in ihren Gedenkblättern, daß Lorchen mit ihren Gespielinnen öfters in Bauerbach gewesen sei, daß im Herbst 1782 auch sie selbst von Frau von Wolzogen eingeladen worden sei, sie auf ihrem Landgute zu besuchen; Palleske, Charlotte S. 95 und 105. daß sie aber Folge leistete, verlautet nicht, und als sich Frau Henriette um Neujahr 1783 abermals in der Meininger Gegend einfand, verweilte sie in Bauerbach selbst nur wenige Tage. Charlottens autobiographische Schilderung lautet nicht anders, als habe sie den Dichter bei der Begegnung in Mannheim zum erstenmal gesehen, und dazu stimmt auch die Angabe, welche ihre Tochter, Edda von Kalb, in der Lebensskizze ihrer Mutter Abgedruckt bei Klarmann S. 526 ff. gemacht hat: in Mannheim, sagt sie, »lernte sie Schiller kennen, beide wohl von der Begegnung betroffen, die jeden eine bis dahin ungeahnte geistige Natur erkennen ließ«.

Auf einen Wunsch also, der sich nicht erfüllte, scheint Schillers in Bauerbach gestellte Frage: »O sehe ich sie, die Trauernden?« zu deuten. Wie aber die Begrüßung durch einen Lorbeerkranz in der Fremde den halb verfehmten Dichter nicht gleichgültig lassen konnte, so mußten ihn auch die Erzählungen, die ihm Frau Henriette von Wolzogen von den Vorgängen in Nordheim machte, in besonderer Weise empfänglich finden. Denn mit dem Abschluß seines Trauerspiels »Louise Millerin« beschäftigt, sah er hier in der Nähe, in der Wirklichkeit die Vergewaltigung der Herzen, deren Brandmarkung das Thema seiner Dichtung war, und es ist beinahe selbstverständlich, daß seine Phantasie dadurch einen neuen in der gleichen Richtung wirkenden Anstoß erhielt.

Die Abreise der Wolzogenschen Damen aus dem Meiningischen verzögerte sich bis in das letzte Drittel des Januar, und es ist anzunehmen, daß Schiller sie in Walldorf wiederholt aufsuchte. Für Lotte von Wolzogen scheint er schon in Stuttgart ein Interesse gefaßt zu haben, als er mit den von der Militärakademie her ihm bekannten Brüdern von Wolzogen Frau Henriette und ihre Tochter dort besuchte; ja er hatte, wenn Charlotte von Kalb richtig erzählt, die Tränen, welche Lotte weinte, als sie damals die Rückreise nach Meiningen antreten mußte, auf sich, auf den Abschied von ihm, mitbezogen. Siehe Anhang Nr. 23. In seinen brieflichen Äußerungen vom Januar 1783 ist es zwar nicht die Tochter, sondern die Mutter, an die sich seine vom Glück zärtlicher Freundschaft überströmenden Empfindungen richten, aber schon die Briefe der nächsten Monate verraten hin und wieder, daß eine Neigung zu Lotte von Wolzogen in ihm aufgekeimt war. Am 25. Januar (einem Samstag) scheint er sich von den Damen verabschiedet zu haben, da er am 1. Februar, dem folgenden Samstag, an Frau Henriette schreibt: »Gott sei Dank – eine Woche ohne Sie auf dem Rücken.« Frau von Wolzogen nahm, von Lotte begleitet, ihren Weg über Bamberg, und ebendorthin adressierte Schiller seinen Brief. Auch dieses Schreiben sollte mithelfen, Dritte über seinen Aufenthalt zu täuschen; Schiller unterzeichnete sich »Friderich Chevalier«, und als ob dem Absender der Dichter ein fremder Mann sei, flicht er den Satz ein: »Schreiben Sie mir auch, sobald Sie den Brief vom Doctor Schiller aus Stuttgardt erhalten, und machen Sie mich dann mit dem Manne bekannt.« Die Nachschrift des Briefes verrät freilich, wie sehr ihn selbst dieses Versteckspiel in Verlegenheit brachte: Schiller fragt bei Frau von Wolzogen an, ob er sich nicht in Zukunft Briefe seiner Mannheimer Freunde, an die er ja »die bewußte Lüge« wegen seiner Abreise geschrieben habe, an irgend eine Bamberger Adresse und mittelst dieser an Reinwald schicken lassen dürfe. Der Schluß des Briefes gibt eine Andeutung, aus welcher Ursache Henriette von Wolzogen Bamberg aufgesucht hatte. Schon am 14. Januar hatte Schiller an Streicher geschrieben, der Oberforstmeister von Marschalk habe bei Bamberg »eine Erbschaft von beinahe 200 000 Gulden gethan«; jetzt, im Briefe vom 1. Februar, bedauert er, kein Doktor Juris zu sein, um dem Bruder seiner Gönnerin mit Leib und Seele dienen zu können. Diese Äußerungen werden verständlich, wenn man weiß, daß aus Anlaß des am 20. November 1782 erfolgten Todes Friedrichs, des letzten männlichen Sprossen der Waltershauser Linie der Marschalke von Ostheim, die Marisfeld-Walldorfer Linie für das Rittergut Trabelsdorf bei Bamberg Erbansprüche an die Lehensfolge erhob. Da es zweifelhaft war, inwieweit die fraglichen Güter Mannlehen oder freies Eigentum (Allod) seien, entspann sich ein hartnäckiger Prozeß, der um so verwickelter wurde, als nicht nur durch den Vormund der Schwestern des verstorbenen Friedrich zu Gunsten der letzteren unverzüglich Besitzansprüche geltend gemacht worden waren, sondern auch zwischen den Angehörigen der Marisfeld-Walldorfer Linie selbst, nämlich dem Oberforstmeister Dietrich Marschalk von Ostheim und seinem Oheim, einem bambergischen General, Streit entstand. Aber den Ausgang des mehrere Stadien durchlaufenden Prozesses kann hier nur in Kürze gesagt werden, daß es im November 1801 zu einem sogenannten Freundeskauf kam, durch welchen der Oberforstmeister den Brüdern von Kalb als den Gatten Eleonorens und Charlottens Marschalk von Ostheim seinen Anteil an den Mannlehenstücken in und bei Trabelsdorf gegen eine vierteljährliche Rente von 250 fl. rhein. überließ. Auf einen so mäßigen Ertrag war die Erbschaft, deren Höhe Schiller mit 200 000 fl. angegeben hatte, zusammengeschrumpft, und auch für diese Zusage bestand nach Lage der Verhältnisse keine Sicherung. Alles Nähere über den Verlauf des Prozesses siehe bei Klarmann S. 155–160, 185–198, und 265 ff. In der Tat waren und blieben die pekuniären Umstände des Freiherrn Dietrich Marschalk von Ostheim keine »sonderlich guten«. Er wird ein »etwas wilder Nimrod« genannt und scheint ein schlechter Wirtschafter gewesen zu sein. Nachdem er »aus Eigensinn«, wie Schillers Vater sagt, Brief an den Sohn vom 7. April 1785. Schillers Beziehungen S. 72. schon zu Anfang des Jahres 1785 seinen Abschied aus württembergischen Diensten genommen hatte, lebte er ständig auf seinem Gute in Walldorf und starb im Alter von sechzig Jahren im Juni 1803. Er war mit einer Freiin Schilling von Canstatt vermählt und hinterließ keine männlichen Erben.

Das » Hochzeitgedicht auf die Verbindung Henrietten N. mit N. N.«, wie in der Handschrift der Titel lautet, ist ohne Zweifel im Januar 1783 entstanden, da es Schiller am Anfang des Monats nach Walldorf mitzubringen versprochen hatte. Die Eingangsstrophe erklärt, daß er um dieses Zweckes willen »nach langer Musse« zum erstenmal wieder seinen »Dichterkiel« ergreife, und ein anderes in die Bauerbacher Zeit fallendes Gedicht Schillers wurde mit dem Datum vom 1. Februar veröffentlicht. In den Besitz der Frau von Wolzogen scheint das Hochzeitgedicht indessen erst nach deren Abreise aus dem Meiningischen gelangt zu sein, da eine Seite der Handschrift die zwar nicht von Schiller selbst, »aber gleichzeitig« geschriebene Adresse zeigt: »A Madame la Baronne de Wollzogen nee Baronne Marschall de Ostheim prs. a Urach.« Der Text des Manuskriptes zeigt den für Schillers Schrift charakteristischen höchst willkürlichen Wechsel von deutschen und lateinischen Buchstaben. Henriette Sturm, der dieser Hochzeitsgruß galt, soll das Kind einer »verwilderten Hintersiedlerfamilie« des Bauerbacher Gutes gewesen sein; sie wuchs im Hause der Frau Henriette von Wolzogen heran, heiratete einen Verwalter Schmidt in Walldorf und lebte dort bis zu ihrem Tode. Siehe Anhang Nr. 24. Aus dem Hochzeitgedicht erfahren wir, daß sie durch ihre Wohltäterin in früher Jugend »Pöbelseelen« entrissen und zur Tugend erzogen worden sei und daß sie Gefühl für fremde Leiden gezeigt habe. Auffällig sind mehrere eine gewisse Animosität gegen den Adel als Stand verratende Stellen des Gedichtes, die sich aus der allgemeinen Geistesverfassung des jugendlichen Schiller, aus seinem Freiheitsdurst und Freiheitstrotz, nicht ganz erklären. Zwar geht das »gekrönte Laster«, von dem die dritte Strophe spricht, » in Tirannos«, und »dort oben« d. h. bei den Fürsten anzufragen, fordert in der vierten Strophe der Dichter der »Räuber« und des »Fiesko« auf, wenn zu beweisen sei, daß seine »Leyer« nie schmeichle; gegen den Adel im engeren Sinne aber kehren ihre Spitzen die fünfte, die sechste und die siebente Strophe. Hier hören wir, daß sich die Natur »mühsam durch Rang und Ahnen« freie Bahn suche, daß von Würden, die mit der Ruhe der Seele erkauft seien, »der Grosen kleines Herz« erdrückt werde; hier erklärt der Dichter, daß das »reine Herz« die Braut »geadelt« habe, und bekennt:

»Ich fliege Pracht und Hof vorüber,
Bei einer Seele steh' ich lieber,
Der die Empfindung – Ahnen gab«;

ja noch deutlicher wird er in den folgenden Zeilen, die sich an Henriette mit der eindringlichen Frage wenden, ob sie »des Engels ihrer Jugend«, ihrer Retterin und »Freundin«, gedacht habe, der Frau von Wolzogen nämlich, von der es dann heißt:

»Ihr Adelsbrief – ein schönes Leben!
(den haß' ich, den sie mitgebracht).«

Bei dem Umstand, daß die adelige Dame, von der hier die Rede ist, nach Temperament und Denkart Standeshochmut nicht kannte, daß das Gedicht mit ihrem Wissen oder auf ihre Veranlassung entstand und sie dem bürgerlichen Mädchen, dem es galt, wie eine Mutter gewesen war, möchte man diesen Zornausbruch gegen den Adelsbrief beinahe deplazirt finden. Die Annahme Minors, daß Schiller mit solchen »Seitenhieben« »gegen das Adelsvorurteil, das sich zwischen ihn und Lotte stellen konnte«, geeifert habe, wird nicht gerade abzuweisen sein, wenn es auch fraglich ist, ob der Dichter so frühe – um den Anfang des Januar 1783 – an eine Werbung um Lotte schon dachte. Es hatten aber auch die Besuche, welche Frau von Wolzogen in der Bauerbacher Gegend machte, seine Aufmerksamkeit auf adelige Kreise gelenkt, und indem sich ihm das Gefühl der herrschenden Standesunterschiede dabei verschärfte, hob er gemäß der Gesinnung, die den Dichter von »Kabale und Liebe« beseelte, den höheren Wert einer selbstgeschaffenen edlen Persönlichkeit mit geflissentlichem Nachdruck hervor. Und wenn Frau von Wolzogen sich wundern mochte, daß er gerade in diesem Zusammenhang eine so schroffe Ablehnung des Geburtsadels hervorkehrte, so mußte sie ja doch die Wärme und Verehrung, die er für sie selbst übrig hatte, erkennen; denn als »der Mütter beste« und als die Schöpferin alles äußeren und inneren Glückes der Braut, des gegenwärtigen wie des zukünftigen, sah sie sich gepriesen, und da ein nicht geringer Teil der Strophen und noch der Ausgang des Gedichtes sich mit ihr befaßte, so schien dieses fast mehr um ihretwillen als zu Ehren der Hochzeiterin gemacht zu sein. Das Ganze ist nicht ohne Innigkeit des Tones, fällt aber mit seinen moralischen Lehren und seinen Ausmalungen des mütterlichen Berufes ins Breite und Süßliche, und Stellen wie »du kennst der Gattin Schuldigkeiten« sind oder waren schon damals ein bischen altmodisch. Mit Recht erinnert Minor an die »Kasualgedichte« Schwindrazheims. Die Bemerkung der Caroline von Wolzogen, Schillers Leben S. 132. Schiller selbst habe dem Hochzeitsgedicht keinen poetischen Wert zugeschrieben, hängt wohl damit zusammen, daß Joh. Heinrich Meyer, der das Manuskript der von ihr verfaßten Schillerbiographie zur Durchsicht bekommen hatte, an Karoline die Frage richtete, ob das Gedicht den dem Erwarten entsprechenden »Gehalt« habe? Literarischer Nachlaß der Frau Karoline von Wolzogen II, 256 (Brief Meyers).

Noch vor dem Ablauf des Januar 1783 ließ sich Schillers Muse zu einem zweiten Gelegenheitsgedicht herbei, einem Gedichte politisch-satirischen Inhalts. In Meiningen war im Juli 1782 nach dem Tode des Herzogs Karl sein jüngerer Bruder Georg Alleinregent geworden; er hatte sich im November des gleichen Jahres mit Prinzessin Luise Eleonore von Hohenlohe-Langenburg vermählt, fiel aber nicht lange nachher infolge einer Erkältung auf der Jagd in schwere Krankheit. Die Kunde, daß sein Leben bedroht sei, gelangte an den Hof zu Koburg, woselbst Herzog Ernst Friedrich und seine Mutter augenblicklich militärische Vorbereitungen trafen, um die Erbansprüche, die sie als nächste Verwandte zu haben glaubten, durch Besitzergreifung des Meininger Landes geltend zu machen. Siehe Anhang Nr. 25. Aber der Herzog Georg genas, die Stadt Meiningen konnte sich auf den 4. Februar 1783 zu einem Dank- und Freudefest rüsten, und die nachbarliche Erbgier hatte sich lächerlich gemacht, hatte den ohnehin in Nöten steckenden Staatssäckel Koburgs nur durch einen fruchtlosen Aufwand geschädigt. Diese Vorkommnisse geißelte ein in die »Meiningischen wöchentlichen Nachrichten« vom Sonnabend den 1. Februar 1783 eingerücktes Spottgedicht, das den langatmigen Titel hatte: » Wunderseltsame Historia des berühmten Feldzuges als welchen Hugo Sanherib König von Aßyrien ins Land Juda unternehmen wollte aber unverrichteter Ding wieder einstellen mußte. Aus einer alten Chronika gezogen und in schnakische Reimlein bracht von Simeon Krebsauge. Bakkaur.« Der Verfasser war Schiller, wie durch eine Bemerkung Reinwalds auf der Handschrift des Dichters bezeugt ist; in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar hatte Schiller das Manuskript zur Absendung fertig gemacht und im begleitenden Briefe an Reinwald geschrieben: »Hier, mein lieber Freund, haben Sie das versprochene Gedicht, das, wenn ich es noch einmal überlese, keinen Werth hat als den guten Willen seines Verfaßers.« Daß von diesem Unternehmen auch Frau von Wolzogen unterrichtet war, geht aus dem Briefe vom 1. Februar, dem ersten, den Schiller nach ihrer Abreise an sie richtete, hervor, aus der Bemerkung: »Das satyrische Gedicht, wovon Sie wissen, ist fertig – ich weis aber noch nicht wie es der H. [Herzog] aufgenommen.« Den Abdruck besorgte Reinwald, der jedoch durch Abänderung zahlreicher Stellen, die ihm entweder zu keck schienen oder aus anderen Gründen im Ausdruck nicht paßten, das Gedicht verschlechterte, so daß nur spätere Drucke nach der Handschrift seine wahre Gestalt geben. Im Bänkelsängertone gehalten und die zwanglos travestierende Manier, wie sie Bürger angewandt hatte, nachahmend, ergehen sich seine 21 sechszeiligen Strophen bei flüssiger und glücklich derber Sprache und lebhaften, mehr oder weniger witzigen Schilderungen in behäbig-patriotischer Satire. In ihrer Art trefflich ist, um eine Probe zu geben, die Strophe:

»Ein groser Herre, wie man weißt,
Ist nicht wie unser einer –
Wenn unsre Seele weiter reis't,
Drob kümmert sich wol keiner –
Ein Schnuppen den ein Groser klagt,
Wird in der Welt herumgesagt.«

Die Vorgänge, welche das Gedicht schildert, sind nach Vorderasien und ins jüdische Altertum verlegt; dieser Fiktion gemäß wird der Herzog von Koburg als König Sanherib von Assyrien eingeführt, Herzog Georg von Meiningen heißt Fürst Josaphat, sein Land Juda, seine Hauptstadt Hebron, und wie im 19. Kapitel des zweiten Buches der Könige der Herr der Stadt des Königs Hiskia um Davids, seines Knechtes willen, gegen das Heer Sanheribs hilft, so errettet in der »Wunderseltsamen Historia« Gott den erkrankten Meininger Fürsten, der sein »treuer Knecht« sei, auf daß die Anschläge des Koburger Vetters zu nichte werden. In dieses altertümliche Kostüm will nur die Verbindung des Namens Hugo mit Sanherib nicht passen, während zur Rechtfertigung des absonderlichen Namens Krebsauge geltend gemacht wird, Cotta'sche Säkularausgabe der Werke Schillers II, S. 379. daß er mit dem Inhalt des Gedichtes in Zusammenhang stehe, da der Volksglaube mit gepulvertem Krebsauge einen ins Auge gedrungenen Fremdkörper austreiben wollte. Übrigens ist der ganze, ziemlich geschmacklose Titel wohl nach Vorschlägen Reinwalds entstanden. Statt »unverrichteter Ding« hatte die Handschrift ursprünglich: »mit langer Nase«. Wie die Genesung des Herzogs Georg, der als ein gutmütiger und volksfreundlicher Fürst beliebt war, seine Untertanen vom Alpdruck der Furcht, an Koburg angegliedert zu werden, erlöste, so wurde auch das Gedicht, das diesen Erlebnissen einen belustigenden Ausdruck gab, in Meiningen mit großem Beifall ausgenommen. In Koburg empfand man den Stich, ließ auch im dortigen Wochenblatt Abgedruckt bei Brückner S. 64. – Nach Müller folgte in dem Meininger Blatt wieder eine höchst komische poetische Anerkennung im deutsch-französischen Jargon. eine gereimte Antwort erscheinen, die aber matt ausfiel und schon darum daneben traf, weil sie als den Verfasser der »Wunderseltsamen Historia« den Meiningischen Hofprediger Pfranger nahm. Verwunderlich bleibt bei diesem allen nur die Autorschaft Schillers. Daß in seinem poetischen Organismus eine Ader von Witz und satirischer Neigung war, zeigten zwar schon die Gedichte der »Anthologie«; wie aber kam er dazu, einen Gegenstand zu behandeln, der ihm als einem des Landes Fremden und am staatlichen Leben Meiningens ganz Unbeteiligten innerlich nahezu gleichgültig sein mußte? Indem er das »versprochene« Gedicht an Reinwald absendet, lesen wir freilich zwischen den Zeilen, daß ihn zu diesem Versprechen Andere gedrängt hatten, und Reinwalds Vermerk auf der Handschrift sagt ja sogar ausdrücklich, daß es »auf Angabe« des Meininger Herzogs entstanden sei; gerade hiebei aber drängen sich die Fragen auf: Hat Herzog Georg nur im allgemeinen den Wunsch ausgesprochen, daß die koburgische Niederlage in einem satirischen Gedichte behandelt werde, oder hat er gewußt, daß unter Reinwalds Vermittlung ein in Bauerbach lebender Dichter mit dieser Aufgabe betraut wurde und daß sich hinter den Namen Ritter, den dieser führte, Schiller versteckte? Wenn aber auch letzteres nicht der Fall war, konnte Schiller doch unmöglich darüber in Zweifel sein, daß sein Gedicht am Hofe zu Meiningen und im ganzen Herzogtum Aufsehen erregen müsse, daß man dem Verfasser nachfragen, nachforschen werde – wie nun vertrug sich damit die Wahrung seines Inkognito, auf die er in Bauerbach doch bedacht sein sollte und wollte? Und wie vertrug es sich mit der Vorsicht, welche Frau von Wolzogen für nötig hielt, daß sie die Abfassung des Gedichtes, wie es scheint, billigte? Muß doch Schillers und Reinwalds Vorgehen sogar auf die Vermutung führen, daß der Wunsch oder die Absicht, den Herzog für den Verfasser des Gedichtes zu interessieren, damit verknüpft war; wie denn auch Schillers Äußerung im Briefe an Frau von Wolzogen, er wisse noch nicht, wie der Herzog das Gedicht aufgenommen, den Schluß nahe legt, daß er selbst eine derartige Wirkung erwartete. Reinwald hat nicht lange nachher seinen Bauerbacher Freund auch bestimmt, für eine Theatervorstellung in Meiningen einen Prolog zu dichten, und an Schillers Schwester Christophine schrieb er am 24. Mai 1783 aus Meiningen: »Hier residirt ein Herzog, den der Ihrige nicht im geringsten deshalb züchtigen kann, wenn er jemand da wonen läßt, dem der Würtenbergische Hof ungünstig ist.« Richtete sich diese Äußerung auch zunächst gegen die Ängstlichkeit der Frau Henriette von Wolzogen, so deutet sie doch auf die Möglichkeit eines dem Dichter in Meiningen zu bietenden Asyls. Dabei mag sich Reinwald erinnert haben, daß in den Jahren 1776–1780 in Meiningen ein herzogliches Liebhabertheater bestand, dessen Schauspieler Prinzen und Prinzessinnen und die vornehmsten Herren und Damen des Hofes waren, daß dieses Theater mit Eifer Stücke wie Diderots »Hausvater«, »Lady Johanna Gray« von Wieland und »Julius von Tarent« von Leisewitz aufführte, daß er selbst, der herzogliche Bibliothekgehilfe, als Regisseur Beihilfe leistete und nach 1780 eine vom Hofe begünstigte bürgerliche Liebhabertheater-Gesellschaft diese bildungsfreundlichen Bestrebungen fortsetzte. Scheint es demnach in der Tat, daß Reinwald auf den Gedanken gekommen war, Schiller könne vielleicht in der Meininger Gesellschaft Fuß fassen, Herzog Georg könne vielleicht einen fürstlichen Beschirmer und Gönner des Flüchtlings abgeben, so blieb doch jeder derartige Erfolg aus, und es wird wohl zu Schillers Glück gewesen sein, daß diese Seifenblase rasch zerplatzte. Denn die Verbindung mit einem kleinen Hofe hätte ihm nur die Flügel beschnitten, und um eine Rolle zu spielen wie Goethe neben Karl August, war der 23jährige Jüngling noch zu unfertig. Indessen wird uns Herzog Georg I. von Sachsen-Meiningen in Schillers späterer Lebensgeschichte wieder begegnen.

Nach der Abreise der Wolzogenschen Damen bemächtigte sich Schillers das Gefühl der Vereinsamung mit doppelter Stärke. Er hatte in Mannheim über den Wert des Umgangs mit Menschen verbitternde Erfahrungen gemacht, stand aber noch in Jahren, in denen das übervolle Herz sich aufzuschließen, sich in eine fremde Brust zu ergießen das wiederkehrende Verlangen hat. In Oggersheim hatte ihn der treue Streicher an einen nie versagenden seelischen Widerhall gewöhnt, in der Begegnung mit Frau Henriette von Wolzogen hatten ihn enthusiastische Freundschaftsgefühle wiederum gelabt; jetzt sah er sich auf sich selbst zurückgeworfen, während ihm doch auch für die Freudigkeit des Schaffens Teilnahme empfänglicher Menschen und eine anregende Umgebung von nöten war. Schiller hat das Bedürfnis, über seine im Werden begriffenen dichterischen Arbeiten sich auszusprechen, von der Meinungsäußerung anderer sich vorwärtstreiben oder bestärken zu lassen, zeitlebens empfunden; sehr im Unterschied von Goethe und anderen Dichtern, denen das Bilden und Wachsen der Gedanken im Tiefsten der Seele lieber ein aus geheimer Notwendigkeit entspringender, stiller und unbelauschter Naturprozeß war und ist. So findet er jetzt – in einem Briefe an Reinwald vom 21. Februar –, daß das Genie, wo nicht unterdrückt werde, doch »zurückwachsen, zusammenschrumpfen« könne, wenn ihm der Anstoß von außen fehle; mühsam und oft wider allen Dank müsse er eine dichterische Laune hervorarbeiten, die ihn sonst binnen zehn Minuten bei einem guten denkenden Freunde (auch bei einem trefflichen Buch oder unter offenem Himmel) anwandle, so daß es ihm scheine, Gedanken könnten nur durch Gedanken gelockt werden. Oder, wie er ein anderes Mal sich ausdrückt: »Tausend Ideen schlafen in mir, und warten auf die Magnetnadel, die sie zieht. – Unsere Seelen scheinen, wie die Körper, nur durch Friction Funken zu geben.« Den stärksten Ausdruck findet dieses Empfinden in einem Briefe vom März, der gleichfalls an Reinwald gerichtet ist und die »ganz herrliche Wirkung« schildert, welche dessen unerwarteter »vorgestriger« Besuch auf den Dichter gemacht habe. »Meine Lage in dieser Einsamkeit«, heißt es hier, »hat meiner Seele das Schiksal eines stehenden Waßers zugezogen, das in Fäulung ginge, wenn es nicht je und je in eine kleine Wallung gebracht würde.« Man muß sich, um diese Äußerungen Schillers recht zu verstehen, die Einförmigkeit und Ärmlichkeit seines täglichen Lebens, seiner Umgebung ausmalen: das geringe Dörflein, das zur Winterszeit von aller Kultur abgeschnitten lag, und seine Bewohner, die ihre engen, heißen Zimmer mit den Haustieren teilten Charlotte von Schiller in ihrem biographischen Aufsatz »Schillers Leben bis 1787«. Urlichs, I, 95. und zum Spinnen am Abend ihre Hütten mit Kienspänen notdürftig erhellten. Da gab es, den Verwalter etwa ausgenommen, mit dem Schiller zuweilen einen Spaziergang machte, für ein unterhaltsames Gespräch keine Seele. Auch sonst fehlte äußere Behaglichkeit: die dem Dichter im Wolzogenschen Hause überlassenen Räume boten nur eben das Notwendige, und zu seines Leibes Erquickung mußte sich der aus gesegneten Landstrichen, aus den weinbautreibenden Gegenden Württembergs und der Pfalz Gekommene mit einem dürftigen Wirtshaus (»Zum braunen Roß«) begnügen. Dabei zwang ihn noch Mittellosigkeit, der peinliche Mangel an Geld, in den er bald geriet, zu Einschränkungen; einen Spaziergang nach Meiningen bis zum Ablauf der Weihnachtsfeiertage aufzuschieben, veranlaßt ihn neben anderm der Umstand, daß er nicht mit Kleidung genug versehen ist, um sich »sonntäglich in der Stadt zu producieren«, Brief an Reinwald vom 23. Dez. 1782. und nicht einmal im Besitz einer Uhr scheint er in Bauerbach gewesen zu sein. Vgl. oben S. 72. So ist es kein Wunder, daß das vom Gefühl der Geborgenheit eingegebene Behagen, mit dem er sich in den ersten Tagen über sein neues Asyl geäußert hatte, nicht lange vorhielt; er hat Anwandlungen »finsterer Laune«, klagt über seine »grillenhafte Zelle«, in der er oft »seine tägliche Kost um eine Menschliche Gesellschaft dahingeben möchte«, und gelegentlich kommt ihm der Ausdruck »barbarisches Bauerbach« in die Feder. Briefe vom 10. Januar, 21. Februar und 22. Mai. Indessen verfehlte das Erwachen des Frühlings nicht, ihn für die Reize der ländlichen Natur zu erwärmen; ein schon gegen Ende des Monats März geschriebener Brief an Reinwald gibt der Freude Ausdruck, daß die »herrlichen Zeiten« bald anfangen, »worinn die Schwalben auf unsern Himmel, und Empfindungen in unsere Brust zurückkommen«, und indem Schiller in den folgenden Zeilen die Ursachen der »Melancholie«, in die er geraten ist, aufzählt, gibt er doch auch der Hoffnung Raum, sie zu überwinden: »Einsamkeit, Misvergnügen über mein Schicksal, fehlgeschlagene Hoffnungen und vielleicht auch die veränderte Lebensart haben den Klang meines Gemüths, wenn ich so reden darf, verfälscht und das sonst reine Instrument meiner Empfindung verstimmt. Die Freundschaft und der Mai sollen es, hoff ich, aufs neue in Gang bringen.« Den Empfänger des Briefes, auf den der Dichter dabei rechnete, haben wir nun näher kennen zu lernen.

Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald – der Rufname ist nicht sicher, da sein Träger die Untugend hat, ihn unkenntlich zu machen Siehe Anhang Nr. 26. – wurde am 11. August 1737 zu Wasungen geboren, war also bei seiner ersten Begegnung mit Schiller fast doppelt so alt als dieser. Er verlor seinen Vater, einen herzoglichen Amtmann und Regierungsrat, noch während er das Gymnasium in Meiningen besuchte, und bezog im Jahre 1753 die Universität Jena, wo er der Rechtswissenschaft sich widmete, aber auch literarische und sprachwissenschaftliche Studien trieb. Da seine Mutter durch den Siebenjährigen Krieg einen großen Teil ihres Vermögens einbüßte, nahm ihn deren Bruder, der Hofrat Stieler in Gotha, zu sich und sorgte für seine weitere Ausbildung, ließ ihm auch durch den Tonsetzer Benda Musikunterricht erteilen. Günstige Aussichten für seine Zukunft schienen sich zu eröffnen, als er im Oktober 1762 von dem ihm wohlgesinnten Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen nach Wien geschickt wurde, um in der Eigenschaft als »Geheimer Kanzlist« wöchentliche Berichte über politische und literarische Angelegenheiten zu erstatten. Leider aber dauerte dieser Aufenthalt, der in Reinwalds Leben einen Höhepunkt bezeichnete, nur ein Jahr, da sein fürstlicher Gönner schon Ende 1763 starb und die an Stelle der noch unmündigen Prinzen Karl und Georg die Regentschaft führende Herzogin Charlotte Amalie um der Ersparungen willen, welche die Verschuldung des Landes nötig machte, Reinwald aus Wien zurückrufen ließ. Das Versprechen des Ministers, ihn durch eine andere gute Versorgung zu entschädigen, blieb ohne Erfüllung: Reinwald erhielt 1764 die geringe Stelle eines Kanzlisten bei der herzoglichen Obervormundschaftlichen Regierung und 1768 den ebenso armseligen und doch ein Übermaß von Schreibarbeit fordernden Posten eines Konsistorial-Kanzellisten. Eine dreijährige Augenschwäche war die Folge dieser dienstlichen Ausnützung, während zugleich die Gefühle bitterer Enttäuschung sein Gemüt bedrückten. Erst im Jahre 1776, nachdem Herzog Karl mündig und Regent geworden war, erreichten es Reinwalds Bitten um eine seinen Verstandeskräften angemessenere Verwendung, daß ihm die Aufsicht über die herzogliche Bibliothek übertragen wurde, indem man ihn unter Beilegung des Titels »Secretarius« zum Gehilfen bei derselben ernannte. Seine nächste Aufgabe war, die von Herzog Anton Ulrich gesammelten Kunst- und Literaturschätze zu ordnen; er fand jedoch die ganze Bibliothek in einem völlig verwahrlosten, höchst unwürdigen Zustande und mußte, da ihm in den ersten vier Jahren nicht einmal die Mittel für Heizung seines Arbeitszimmers bewilligt, ein Diener oder Handlanger aber verweigert wurde, seine Gesundheit abermals vernachlässigen, ja sein Augenlicht aufs schwerste gefährden. Dabei wurde an seiner Besoldung aufs schnödeste geknausert; er hatte von den Sporteln oder Kopialgebühren, die ihm seine Kanzlistengeschäfte eintrugen, die Hälfte an einen Stellvertreter abzugeben, und sein bares Einkommen betrug, als ihm die Regierung nach vielen »submissesten« Vorstellungen im Juli 1780 endlich eine Zulage – von ganzen 15 Talern jährlich! – bewilligte, nicht mehr als 127 Taler. Im nächsten Jahr erhielt er eine Zulage von 35 Talern. Aber noch im Jahr 1780 war ihm zum fürstlichen Danke dafür, daß er die Bücherbestände aus der gröbsten Unordnung befreit, einen wissenschaftlichen Katalog auszuarbeiten begonnen und die öffentliche Benützung der Bibliothek ermöglicht hatte, eine grobe Kränkung widerfahren: einem jüngeren Manne, dem von Reisen zurückgekommenen meiningischen Magister Walch, der an Kenntnissen und Eifer hinter ihm zurückstand, wurde unter Verleihung des Rats- und Bibliothekarstitels die Direktion der Bibliothek übertragen, und dieser blieb nun für lange Jahre sein Vorgesetzter. Um seinen Einkünften eine kleine Vermehrung zu verschaffen, schrieb Reinwald seit 1779 Rezensionen für Nicolais »Allgemeine deutsche Bibliothek«, wurde später auch Mitarbeiter an Weißes »Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste«. Er stand in Beziehungen zu Ludwig von Wurmb, dessen Freund Gökingk und dem Gothaer Gotter und kam, als der Meininger Hof sein Liebhabertheater pflegte und die Feder Reinwalds gebrauchen konnte, in einen Briefwechsel mit Leisewitz. Auch versuchte er selbst sich als Dichter; schon im Jahre 1769 hatte er in Meiningen »Poetische Briefe und kleine Gedichte« herausgegeben, und 1782 ließ er in Dessau unter dem Titel »Poetische Launen« eine neue Sammlung von Gedichten drucken.

Während in seine spätere Zeit die verdienstvollen Vorbereitungen für eine Ausgabe des Heliand fallen, hatte er bereits 1776 seine erste sprachwissenschaftliche Schrift »Briefe über die Elemente der germanischen Sprache« veröffentlicht.

Solchergestalt waren die Geschicke des nunmehr 45jährigen Mannes, bevor sich der Bauerbacher Flüchtling ihm näherte. Wenig mehr als Misère, Dürftigkeit und Gedrücktheit war sein Leben gewesen; dauernde Entbehrungen und ein lange währender Frondienst hatten seinen Körper geschwächt, unverdiente Zurücksetzungen in sein Inneres Mißmut geworfen. Daß ihm die Natur ein »finsteres«, unliebenswürdiges Gesicht, ein »Gramgesicht« gegeben habe, klagt er selbst, und ein Zug zum Pedantischen lag ihm wohl schon im Blute; so wirkte eines mit dem andern zusammen, um hypochondrische Stimmungen in ihm großzuziehen und ihn zu einem griesgrämigen, kränklichen, kleinlichen, launischen und mißtrauischen Manne zu machen. Einen fleißigen, nicht ganz ungeschickten Philister hat ihn Schiller in späteren Jahren genannt im Brief an Goethe vom 25. Juni 1799. Vgl. den Brief vom 18. Juni desselben Jahres. und er war es, bei Gott, war, gealtert, ein Erzphilister geworden. Daß er hin und wieder den Pegasus ritt, ändert an dieser Qualifikation nichts; denn wenn Reinwalds Gedichte auch die biedere Denkart ihres Verfassers und seinen unter beamtenhafter Unterwürfigkeit versteckten Freimut erkennen lassen, so sind sie doch in der Mehrzahl schulmeisterliche Reimereien, trockene Betrachtungen moralisierenden und didaktischen Inhalts und, wo sie komisch oder satirisch sein wollen, dürrer Witz und läppisches Geleier. Hagedorn, Uz und Gellert waren etwa Reinwalds Muster, aber die Heimat seiner Phantasie war das Hausbackene, und in der Regel blieb er darin stecken. Da gibt es ein »Frisörslied«, ein Schneiderlied (»Schneidri, Schneidra, Schneidrum« u. s. w.) und ähnliche Abgeschmacktheiten, da wird in langen Ausführungen der Mensch oder das menschliche Leben bald mit einem Messer, bald mit einem Sauerbrunnen (!), bald mit einem Hering verglichen, wobei es, um eine Probe zu kosten, am Anfang heißt:

»So laßt uns denn den Hering schlachten,
Und erstlich sehen, wie er schmeckt;
Zum andern wollen wir betrachten
Die Weisheit, die im Hering steckt,«

und am Schlusse:

»In Kummersalz, im Tränenmeere,
Schwimmt klein und groß und arm und reich;
Wir nehmen draus die güldne Lehre:
Der Mensch ist einem Hering gleich

Wenn nun aber Schiller den Verfertiger solcher Verse als einen Bruder in Apollo unmöglich begrüßen konnte, so fand er in Reinwald doch einen aufrichtigen Bewunderer und einen wohlmeinenden, an Erfahrung ihm überlegenen Freund, mit dem zu verkehren dem Bauerbacher Einsiedler in mancherlei Weise nützlich und tröstlich wurde. Nützlich vor allem schon darum, weil ihn Reinwald mit Büchern aus der Meininger Bibliothek versorgte: nicht nur, was Schiller selbst verlangt, schickt er ihm zu, sondern er sucht auch für die dramatischen Stoffe, die den Dichter beschäftigen, Materialien zusammen und versieht ihn überdies zur Ausfüllung leerer Stunden mit Lektüre. Wieviel schwerer Schiller ohne diese Hilfe seine Verbannung ertragen hätte, verraten seine brieflichen Äußerungen: »Haben Sie unter der Hand ein gutes Buch zu meiner Belehrung und Unterhaltung entdeckt, so werden Sie ein dürres Erdreich begießen, wenn Sie mir solches kommunizieren« – »Können Sie nicht, mein Lieber, einige Bücher zu meiner Lectüre zurücklaßen, weil ich sonst in Ihrer Abwesenheit darben und verderben mus!« Aber auch bei allerlei kleinen Bedürfnissen, die aus einem städtischen Kaufladen zu decken waren, mochte es nun ein »guter Schnupftobak« oder Rauchtabak oder Tinte oder Postpapier oder »gutes Schreibpapier« sein, machte Reinwald den Helfer: immer wieder kommt die Bötin Judith mit Aufträgen Schillers zu ihm, und dieser besorgt das Gewünschte. Dabei gehen die Briefe, welche Schiller aus dem elterlichen Hause und von Freunden empfängt, in der Regel unter Reinwalds Adresse, und durch dessen Mitteilungen bleibt der Dichter auch über die Vorkommnisse in der literarischen Welt einigermaßen auf dem Laufenden. Es ist selbstverständlich, daß Schiller, der dem Theater seine bürgerliche Existenz geopfert hatte, jetzt mit gespannter Seele an Nachrichten über die Wirkung seiner Stücke, über seine Geltung beim Publikum hing und daß er das Abreißen alles persönlichen Zusammenhanges mit der Öffentlichkeit als eine der übelsten Folgen seiner Flucht in ein dörfliches Versteck empfand; da war es wiederum nur der mit literarischen Dingen vertraute Reinwald, der einen Vermittler abgeben konnte. Schon am 17. Dezember spricht Schiller gegen ihn den Wunsch aus, daß er ihn in Gotters Bekanntschaft bringen möge; zugleich erbittet er sich das neue Stück von Reichards »Theater-Journal für Deutschland«, da er (irrtümlicher Weise) vermutete, daß darin von seinen »Räubern« die Rede sei. Auch nach den »Gothaischen gelehrten Zeitungen«, in denen unter dem 10. August 1782 das erste Stück seines »Wirtembergischen Repertoriums« rezensirt worden war, verlangt ihn; »wenn ich meinen Namen in der Zeitung lese,« setzt er bei, »so erfahre ich doch daß ich noch lebe«. Insonderheit ist ihm daran gelegen, eine Ode »An Schiller« zu Gesicht zu bekommen, die in Boies »Deutschem Museum« erschienen war; in drei Briefen an Reinwald, zuletzt in peremtorischer Kürze am 27. März, ersucht er um die Herbeischaffung dieser Zeitschrift. Die Ode, im Septemberstück des Jahrgangs 1782 des »Deutschen Museums« gedruckt, war von dem zu Hanau geborenen, mit Schiller nahezu gleichalterigen Franz Wilhelm Jung verfaßt und führte hohen Schwunges den Gedanken aus, daß der Genius des Trauerspieles, nachdem er lange »über Shakespears heiliger Asche« getrauert, staunend und entzückt in Schiller »Shakespeare« wiedergefunden habe. Der Verleger des »Deutschen Museums«, der Leipziger Weygand, war es wohl, der Schillers Aufmerksamkeit zuerst auf die Ode gelenkt hatte, und von ihm empfing der Dichter zugleich eine andere sein Selbstgefühl belebende Nachricht: Der Herzog von Württemberg, schrieb ihm Weygand, habe ihn bei seiner Durchreise durch Leipzig besucht, wobei er Sr. Durchlaucht den Verfasser der »Räuber« als seinen »berühmten Unterthanen« gepriesen habe. Als den »größten Spaß« meldet Schiller um Anfang März dieses Vorkommnis an Reinwald, und auch in den begleitenden Worten »denken Sie Bester, was der H. v. Wirtemberg da mag gemacht haben« malt sich sein Behagen. Weygand, der durch Vermittlung Reinwalds mit Schiller verkehrte, hatte diesen in Stuttgart vermutet. Wiederum aber ist es der »Secretarius Rheinwald zu Meinungen« (wie Schiller in der Regel die Adresse schreibt), bei dem sich des Dichters Ungeduld Luft macht, als er noch Ende März auf gedruckte Exemplare seines »Fiesko« sehnlich wartet; ob das Stück in den Gothaischen Zeitungen nicht angekündigt worden sei, möchte er nun zum mindesten wissen. Später, nachdem Schiller im April den gedruckten »Fiesko« erhalten hat, soll Reinwald Rezensionen des Stückes einsammeln und ihm zuschicken, aber auch nach den »Räubern« und der »Anthologie« fragen; »mit Commissionen sind Sie überhäuft genug«, muß Schiller gelegentlich selbst gestehen. Soviel ersichtlich wird, hat Reinwald gegenüber dieser Fülle von Zumutungen, die auch häufig kleine Geldauslagen erforderten, keine Verdrossenheit herausgekehrt, und nur einmal, nach dem Briefe Schillers vom 12. April zu urteilen, ist er unwirsch geworden, als ihn der von Barschaft entblößte Dichter um eine Geldsumme anging und Reinwald seine eigene Mittellosigkeit gestehen mußte. Bewegten Herzens nahm Schiller damals den bezeigten guten Willen des andern für die Tat; daß er mit einiger Großsprecherei hinzusetzt, er habe bisher immer von seinen »Revenüen« gelebt und nur den Fehler gemacht, nicht rechtzeitig nach Hause zu schreiben, wird als Verlegenheitsrede zu entschuldigen sein. Hie und da mag des Dichters Unpünktlichkeit dem Bibliothekbeamten Schwierigkeiten gemacht haben; Schiller muß sich mahnen lassen, Scheine für die entliehenen Bücher oder ein Verzeichnis derselben einzusenden, und als er von Bauerbach schließlich weggeht, versäumt er es, an die Zurückgabe der Bücher zu denken. Einmal hatte Reinwald den Theater-Kalender zurückgefordert und dabei, wie es scheint, betont, daß ihn »eine Exzellenz« zu haben wünsche; Schiller schickt ihn ein, denkt aber Seiner Gnaden den Götzischen Gruß zu. Daß Reinwald das Hypochondrische seines Wesens oder die Anwandlungen seiner Kränklichkeit im Verkehr mit Schiller ganz verleugnet hätte, kann man nicht erwarten, und ein paar Spuren davon verraten auch die Briefe; die Schillerischen nämlich, denn die von Reinwald nach Bauerbach geschriebenen hat der Dichter beinahe sämtlich verschleudert. Als sich im April Reinwald einmal beklagt hatte, daß ihn Schiller vernachlässige, während diesen nur die Arbeit an der »Louise Millerin« fernhielt, empfängt er die kräftige Zurechtweisung: »Weg mit Ihrem ohrenbläserischen Dämon mein Lieber. Solche Gäste bewirth ich nicht.« Ein andermal gedenkt Schiller der »bösen Milz- und Lebergnomen« Reinwalds und wünscht, daß eine Reise sie ablenken möge. Mochte nun aber aus der einen oder andern Ursache das gute Einvernehmen beider flüchtig gestört werden, zu einem Freundschaftsverhältnis erwuchsen ihre Beziehungen doch immer mehr. Schiller bedurfte Reinwalds, und dieser erkannte wohl, daß der fremde Vogel, der sich in Bauerbach niedergelassen hatte, ein Adler war; er faßte eine Zuneigung zu dem Jüngling und fühlte sich gerne als Mentor des Unberatenen. Als der Ort ihrer Zusammenkünfte diente in der Regel Unter– Maßfeld, ein großes Dorf, dessen Häuser einen braunen, mit niedrigen Ecktürmen versehenen Burgbau umschließen; einst Sitz der Grafen von Henneberg, heute als Landeszuchthaus dienend, ist er geschichtlich auch dadurch merkwürdig, daß dort Wolfram von Eschenbach zum Ritter geschlagen wurde. Vgl. dazu jetzt Alb. Schreiber, Neue Bausteine zu einer Lebensgeschichte Wolframs von Eschenbach. Frankfurt a. M. 1922, S. 72 ff. So lange der Winter dauerte, traf man sich freilich spärlich; es kam vor, daß Reinwald einen Fehlgang machte, weil Schiller wegen Schneegestöbers hatte umkehren müssen, wie auch, daß Schiller vergeblich auf Reinwald wartete; drei starke Stunden habe er in der oberen Wirtsstube »unter erbärmlichen Alltagsmenschen hinseufzen« müssen, lautet dann die Klage an Reinwald. Einen leidlichen Ersatz gewährte aber der schriftliche Austausch, der von Seite des Dichters vom März, vollends vom April an einen wärmeren Ton annimmt. Seinen Brief vom 14. April schließt Schiller mit den auch um ihrer Selbstschilderung willen bemerkenswerten Worten: »Ihr lezter Brief, mein Bester hat Ihnen in meinem Herzen ein unvergeßliches Denkmal gesetzt. Sie sind der edle Mann, der mir so lange gefehlt hat, der es werth ist, daß er mich mit samt allen meinen Schwächen und zertrümmerten Tugenden besize, denn er wird jene dulden, und diese mit einer Träne ehren. Theurer Freund! Ich bin nicht, was ich gewis hätte werden können. Ich hätte vielleicht gros werden können, aber das Schicksal stritte zu früh wider mich. Lieben und schäzen Sie mich wegen dem, was ich unter beßern Sternen geworden wäre, und ehren Sie die Absicht in mir die die Vorsicht in mir verfehlt hat. Aber bleiben Sie Mein!« Um diese Zeit scheint Reinwald in sein Tagebuch den Eintrag gemacht zu haben: »Heute schloß er mir sein Herz auf, der junge Mann – Schiller – der so früh schon die Schule des Lebens durchgemacht, und ich habe ihn würdig befunden, mein Freund zu heißen. Ich glaube nicht, daß ich mein Vertrauen einem Unwürdigen geschenkt habe, es müßte denn Alles mich trügen. Es wohnt ein außerordentlicher Geist in ihm, und ich glaube, Deutschland wird einst seinen Namen mit Stolz nennen. Ich habe die Funken gesehen, die diese vom Schicksal umdüsterten Augen sprühn und den reichen Geist erkannt, den sie ahnen lassen. Fleischmann ist derselben Meinung. Auch er ahnt den kostbaren Schatz, den der Neid mit seinen Schlacken zu begraben trachtete; aber das Genie bricht sich Bahn und sollten alle Leiden der Welt es überfluthen!« Zuerst veröffentlicht durch Ludwig Köhler in der Dresden-Leipziger »Abend-Zeitung« vom 19. Sept. 1839, wiederabgedruckt von v. Maltzahn in »Schillers Briefwechsel mit seiner Schwester Christophine« u. s. w. S. XV-XVI. Die nämliche zukunftssichere Einschätzung spricht ein von Reinwald verfaßtes warmes und stimmungsvolles Gedicht aus, das den Titel hat: » An Friedrich Schiller, bei seinem ländlichen Aufenthalt in meiner Gegend, 1783.« Zuerst gedruckt, doch ohne Nennung des Verfassers und vielleicht auf Veranlassung Wilhelm Petersens, im »Stuttgarter Morgenblatt«, Nr. 82 vom 5. April 1811, wiederholt (nach der Urschrift) von v. Maltzahn in »Schillers Briefwechsel mit seiner Schwester Christophine« u. s. w. S. 295 f. Die Eingangsstrophe:

»Freund! hier getrennt von Welt und Wonne,
Von Waldgebirgen rings umthürmt;
Erheiternd wie die Frühlingssonne,
Indeß in Dir Begeistrung stürmt«

könnte in Ausdruck und Fassung geschickter sein, von den folgenden Strophen aber malen mehrere gut die große und besondere Aufgabe, deren Erfüllung Reinwald im Namen von Tausenden von Schillers Talent und Geistesart erwartete; so, wenn es heißt:

»Verschmähe nicht die fromme Bitte,
Der Sorge Deines Ruhms geweiht:
Verlaß die Bahn mit keinem Schritte,
Die du begannst zur Ewigkeit:

Die Bahn auf die ein Gott Dich leitet,
Melpomenens verwachs'nen Pfad,
Ihr Feld, von Britten neu bereitet,
Besä mit edler deutscher Saat!

Doch gleite mit zu raschem Witze
Nicht in des Sittenzweiflers Nacht;
Sey Tugendlehrer, sey die Stütze
Der Wahrheit die uns glücklich macht.

Erschüttre, wie Cherusker Tannen,
Wie Zedern auf dem Libanon
Der Odem Gottes, die Tyrannen
Und ihre Starken um den Thron.

Der Menschheit Schlangen, Drachen, Molche,
Den Geisterpöbel der uns drängt: –
Denn Deine Worte sind wie Dolche,
Wie Feuer, das den Marmor sprengt.«

Indem diese Verse bekunden, daß es Reinwald bei der Poesie vornehmlich auf moralische und freiheitlich-politische Wirkungen ankam, berührten sie eine Saite, die im Herzen des jugendlichen Schiller miterklingen mußte. So gibt denn ein Brief des Dichters vom 3. Mai der Sehnsucht nach dem Freunde den lebhaftesten Ausdruck: »Wir beide«, schreibt Schiller im Gedränge seiner Arbeit, »leben jetzt in einem Verhältniß zu einander, als wenn wir uns kasteyten, oder wie 2 Eheleute die ein Gelübde gethan, nicht bey einander zu schlafen. Ist meine L. M. [Louise Millerin] erst fertig, mein Karlos soll mich niemals abhalten, zu Ihnen zu fliegen.« Schon am 24. April hatte er den Meininger Sekretarius und den Hofprediger Pfranger eingeladen, in ungefähr acht Tagen nach Bauerbach zu kommen und bei ihm zu Mittag zu essen; »ich traktiere Sie mit Hühnern, daß Sie sich verwundern sollen«, setzt er hinzu und unterzeichnet den Brief mit »Ihr treuer Ritter«. Dieser Besuch fand, wie wir aus einem Briefe Schillers an Frau von Wolzogen vom 8. Mai ersehen, am 9. Mai statt; auch Pfrangers Gattin kam mit, und zur Bewirtung mußte eine (Wolzogensche) »Zinshenne bluten«. Der 11. Mai ist ein für Schillers spätere Beziehungen zu Reinwald wichtiges Datum. An diesem Tage war er in Meiningen, kehrte aber, ohne sich von dem Freunde zu verabschieden, nach Bauerbach zurück, weil er »unfrisiert und ohne weise Wasch« sich am Sonntag in der Stadt nicht sehen lassen wollte, auch nach Hause zu eilen Ursache hatte. So schreibt er am Abend des II. Mai an Reinwald und fügt bei: »Meinen Fiesco und was ich sonst hinterlaßen geben Sie der Judith.« Allem Anschein nach war unter diesen zurückgebliebenen Sachen ein Brief, den Christophine Schiller im Auftrag ihrer Eltern an den Dichter geschrieben hatte. Reinwald fand in seiner Wohnung die Brieftasche des Freundes und las außer andern darin enthaltenen Papieren auch diesen Brief. Das erzählt er selbst in einem unter dem 24. Mai 1783 an Schillers Schwester gerichteten Brief, Vgl. den authentischen Abdruck des Briefes im Marbacher Schillerbuch II, S. 383 ff. und Christophine bestätigte es in ihren 1845 niedergeschriebenen »Notizen über meine Familie«. Siehe Anhang Nr. 27.] Über das Empfinden, eine Taktlosigkeit begangen zu haben, scheint Reinwald durch die Annahme, »wohl nicht Sorglosigkeit allein, sondern auch Vertrauen« habe das Zurücklassen des Briefes verschuldet, hinweggekommen zu sein. Erfreut über die so verständige Denkweise als herzliche Besorgtheit, die sich in Christophinens Zeilen kundgab, las er ihren Brief wiederholt, schrieb ihn sogar ab und säumte mit der Zurückgabe – muß ihn doch Schiller noch am 22. Mai erinnern, daß er seinen »Fiesko« bei ihm habe liegen lassen. Auf Reinwalds ersten Brief folgten aber weitere, und so wurde das Vorkommnis vom 11. Mai der Anlaß zu Beziehungen, die im Jahre 1785 zur Verlobung Reinwalds mit Schillers Schwester Christophine führten.

Zu Reinwalds Meininger Freunden gehörten die Brüder Christian und Georg Fleischmann, von denen besonders der erstere ihm nahe stand. Er zählte damals erst 24 Jahre, hatte bereits die Stelle eines Bibliotheksekretärs in Göttingen bekleidet, war aber seiner Nervenschwäche wegen 1782 nach Meiningen zurückgekehrt. In späteren Jahren heiratete er ein Mädchen aus Bauerbach und lebte als Anwalt, zuletzt mit dem Titel Hofrat, in Meiningen. Er wird als eine idealistisch angelegte Natur geschildert. Durch Reinwald wurde auch Schiller mit den beiden Fleischmann bekannt: mit dem Buchstaben F. ist im angeführten Tagebuch-Eintrag Reinwalds ohne Zweifel Christian Fleischmann gemeint, und daß Schiller von diesem Bücher entlieh, auch Fleischmanns Exemplar der »Hamburgischen Dramaturgie« aus Bauerbach nach Mannheim mitnahm, bezeugen Briefstellen. Ein anderer Meininger Freund Reinwalds, der Hofprediger Pfranger, ist uns im Verkehr mit Schiller bereits begegnet. Joh. Georg Pfranger, im Jahre 1745 zu Hildburghausen geboren, hatte in Jena Theologie studiert und zuerst im Dorfe Stressenhausen ein Pfarramt bekleidet. Durch ein schon im Jahre 1772 veröffentlichtes Lehrgedicht »Die Vorsehung« wie auch durch seine Predigten erregte er die Aufmerksamkeit des Herzogs Karl, der ihn 1777 als Hofprediger nach Meiningen berief. Im Jahre 1782 ließ Pfranger in Dessau ein Schauspiel »Der Mönch vom Libanon« drucken, das vom christlich-gläubigen Standpunkt aus ein Gegenstück oder, wie der Untertitel besagte, einen »Nachtrag« zu Lessings Nathan bilden sollte, warmen Empfindens und auch milder Gesinnung nicht entbehrte, aber doch nur den Beweis eines ganz unzulänglichen poetischen Vermögens abgab. Wertlose Gedichte Pfrangers wurden nach seinem schon 1790 erfolgten Tode von einem Römhilder Pfarrer herausgegeben. Im Werratal, dessen protestantische Geistliche als Söhne einer aufgeklärten und nach Wahrheit eifrig suchenden Zeit nahezu sämtlich Verehrer Lessings waren, mußte der »Mönch vom Libanon« viel von sich reden machen; doch verlautet in Schillers Briefen von diesem Kampfe der Meinungen nichts, obwohl das Schauspiel kurz vor seiner Ankunft in Bauerbach erschienen war Müller berichtet, daß Schiller mit Pfranger über Lessings Nathan in Streit geraten sei und sich dabei gegen den Vorwurf der Freigeisterei verwahrt habe. 25. Jahresbericht des Schwäb. Schillervereins 1921, S. 67. Schiller scheint sich an das Gewinnende der edlen Persönlichkeit Pfrangers gehalten zu haben, wie er ihn denn in einem Briefe vom 14. Febr. 1783 einen »lieben braven Mann« nennt. Von andern Pfarrern der Umgegend, mit denen er mehr und mehr in Verkehr kam, sind die beiden Freißlich zu Bibra und Sauerteig zu Walldorf hervorzuheben. Pfarrer zu Bibra war der aus Salzungen gebürtige Christian Emanuel Freißlich, der jedoch damals schon im siebzigsten Lebensjahre stand und darum seinen Sohn Karl Christoph Freißlich als Hilfsgeistlichen bei sich hatte. Beide werden als patriarchalisch gesinnte und charaktertüchtige Männer geschildert. Da Bauerbach Filiale von Bibra war und die Entfernung dieses südöstlich von Bauerbach gelegenen Dorfes wenig mehr als eine Stunde beträgt, so konnte es an Begegnungen nicht fehlen. Am 23. April schreibt Schiller an Frau Henriette von Wolzogen: »Ihre Pfarrer zu Bibra, Vater und Sohn, kenne ich ser gut, und beide lieben mich wie ich sie von Herzen. Den jungen helfe ich Ihnen gewis zum Vortheil bilden, sowie er mich in vielen, Ihnen auch sehr wichtigen Stüken, befestigen soll.« Schiller soll öfters bis tief in die Nacht in Bibra verweilt haben, und freundliche Erinnerungen an dort verlebte Stunden bewahrend, flicht er noch aus Mannheim, im September 1783, seinem Briefe an Frau von Wolzogen einen Gruß an den »guten Biberischen Pfarrer« ein. In das Geheimnis des Namens Ritter soll der Walldorfer Pfarrer Kaspar Friedrich Sauerteig eingeweiht gewesen sein. Nach der handschriftlichen Angabe des Meininger Archidiakonus A. W. Müller. [Minor, Aus d. Schillerarchiv, S. 28f.] Vgl. Anhang Nr. 18. Sowohl sein Charakter als seine theologische und philosophische Bildung wird gerühmt. Noch werden durch die örtliche Überlieferung zwei Pfarrer genannt, mit denen Schiller bekannt wurde: der ausgezeichnete Numismatiker Magister Johann Christoph Rasche zu Untermaßfeld Siehe über ihn Ludwig Bechstein, Mitteilungen aus dem Leben der Herzoge zu Sachsen-Meiningen, S. 63-67. und der wegen seiner vielseitigen Bildung, zumal seiner entomologischen Kenntnisse, geschätzte Scharfenberg zu Ritschenhausen, bei dem Schiller gleichfalls zuweilen bis in die Nacht geblieben sein soll. Nach Brückner, Schiller in Bauerbach, S. 81 u. 82.

Mit den Bewohnern Bauerbachs stellte sich Schiller auf einen freundlichen Fuß; indem er an ihren Schicksalen Anteil nahm und ihnen zu raten suchte, wo er konnte, erwarb er ihre ehrerbietige Zuneigung und ihr Vertrauen. Vgl. Charlotte von Schiller in ihrem biographischen Aufsatz »Schillers Leben bis 1787«. Urlichs I, 95. Er soll auch ein Kegelspiel mit den Bauern am Abend nicht verschmäht haben, nachdem er selbst im Garten beim Wolzogenschen Hause eine Kegelbahn angelegt hatte. Mit dem Gutsverwalter und Schulmeister Wendel-Voigt übte er sich im Schachspiel; Ebenda. Darnach Karoline von Wolzogen, Schillers Leben S. 67. mit dem Juden Madech spielte er Karten. Am liebsten aber schweifte er, sobald es die Witterung erlaubte, in der freien Natur umher, in der ländlichen Stille seinen Phantasien nachhängend. Nördlich von Meiningen erstreckt sich ein Berghang, auf dem bis zum Waldsaum hinauf Obstgärten angelegt sind, deren einen Reinwald 1783 mietweise und später als Eigentum besaß; Nach der handschriftlichen Angabe des Meininger Archidiakonus A. W. Müller. zu diesem eine schöne Aussicht über die Werrawiesen und die Stadt Meiningen bis zum Dolmar und dem Thüringerwald bietenden Höhenzug soll Schiller, wenn die noch heute in Meiningen bestehende Tradition Richtiges enthält, von Bauerbach aus manchmal gewandert sein und in dem in Reinwalds Berggarten versteckten Häuschen am »Don Carlos« gedichtet haben. Das Berghäuschen, das 1843 in den Besitz des Majors von Plänkner überging, enthielt auf der Innenseite einer Schranktür eine Bleistiftzeichnung von vier Frauengestalten. Müller wollte nach einer, angeblich auf Christophine Reinwald zurückgehenden Überlieferung darin Schillers Hand und die Darstellung einer Szene aus dem »Don Carlos« ( IV, 19) erblicken. Eher wäre an einen Zusammenhang mit den oben S. 126 erwähnten Versen zu denken. Vgl. Anhang Nr. 22. Auch auf dem nächst Bauerbach sich erstreckenden Fritzenberg hatte er, wie mir dort erzählt wurde, Müller: »Auf der Höhe des Fritzenberges stand zur Asylzeit ein von Buchen umgebener Tisch mit Bänken. Dort rastete der Dichter meist auf seinen Wanderungen, öfters trank er auch dort mit der Familie von Wolzogen den Kaffee.« einen Sitz.

Oft war der Verwalter der Begleiter seiner Spaziergänge. An einen dieser Gänge knüpft sich ein Erlebnis, das dem Dichter noch in späteren Jahren merkwürdig erschien. Nach der Erzählung der Witwe Schillers Im biographischen Aufsatz »Schillers Leben bis 1787«. Urlichs I, 96. hatte er sich »auf einer Wanderung ... in einer unwegsamen Gegend etwas von dem Verwalter entfernt; die Steinmassen mit den Tannen, die aus ihren Klüften hervorsproßten, gaben einen seltsamen schaurigen Eindruck. Auf einmal wurde Schillers Gefühl von der Vorstellung lebhaft ergriffen, daß an einer erhöhten Stelle ein Todter begraben sei. Der Verwalter holte ihn ein, und unter den Gesprächen, die sich anknüpften über die Öde der Gegend, erzählte er Schiller, daß ein Grab hier zu finden sei und bezeichnete denselben Ort, wo Schiller die Ahnung hatte.« Vor Jahren sei an dieser Stelle ein reisender Fuhrmann erschlagen und sein Leichnam hier eingescharrt worden, setzte Karoline von Wolzogen in ihrer Schillerbiographie S. 67 der 1. Aufl. [A. W. Müller hat im Winter 1829 in Jena auch eine mündliche Erzählung aus dem Munde Karolinens gehört und noch am selben Abend in sein Tagebuch niedergeschrieben. Er bezeichnet die Stelle genauer als »das Ende eines damals noch dichten und düstern Tannenhochwaldes in der Nähe des Punktes, wo die alte Wein- oder Hochstraße den Weg nach Bibra durchkreuzt.« hinzu, indem sie im übrigen den Vorgang wie ihre Schwester erzählt. Abweichend in den Einzelheiten dagegen ist die Schilderung, welche Charlotte von Marschalk-Kalb in ihren Gedenkblättern S. 38. gegeben hat. Auch sie hatte ohne Zweifel aus Schillers Mund von dem Vorkommnis gehört, und ihre Darstellung ist nicht nur lebendiger und unmittelbarer, sondern verdient auch darum die größere Beachtung, weil Charlotte mit den Örtlichkeiten vertraut war und den Mörder, der auf ihrem väterlichen Gute Waltershausen Dienste getan hatte, kannte, ja von seiner Hinrichtung in ihrer Jugend einen nachhaltig erschreckenden Eindruck empfangen hatte. Sie nennt ihn Velten Tost. Ihre Schilderung lautet: »Einst ging Schiller durch die Waldung, wo, wie man sagte, der Mord geschehen war, einige Buchen durchkreuzen den Pfad; ich ging allein, sagte er, heftig bewegten sich die Äste; wie Klage und Ächzen war das Rauschen der Zweige umher. Bei der Rückkehr nach Bauerbach folgte mir ein Bote, dieser hielt bei den Bäumen an, faßte meinen Arm, deutete nieder mit den Worten: ›Hier lag Martin erschlagen!‹« Okkultistische Lehre mag in diesem Vorgang ihren Glauben an Ahnungen, an das Empfinden der geheimen Nähe eines Toten bestätigt finden; aber abgesehen davon, daß Schillers von Grund aus rationalistische Denkweise auf ein solches inneres Erleben nicht angelegt war, reichen die erkennbaren Umstände für eine natürliche Erklärung wohl zu. Der Mord war »auf der alten Hochstraße, die an Bauerbach vorbei nach Kätzerode führte«, vorgefallen, und nach dieser Seite, nach Norden hin, hat, wie früher bemerkt, die Waldung der Gegend etwas Düsteres und beinahe Unheimlich-Einsames, wobei noch unerwartet auftretende Fels- und Klüftebildung das Auge überrascht und die Phantasie erregt. Fährt an einer solchen Stelle ein Windstoß plötzlich in die Baumäste, so daß von ihrem Rauschen und Knarren die tiefe Stille seltsam unterbrochen wird, so empfängt das Gemüt leicht den Eindruck einer geisterhaften Nähe und Bewegung. Hinzu kommt, daß Schiller von der Mordtat, die in der Erinnerung der Leute lebte, vielleicht schon zuvor gehört hatte. Siehe Anhang Nr. 28.

Alles in allem gerechnet, hatte sich Schiller mit seinem Aufenthalt in Bauerbach nachgerade ausgesöhnt; mußten die äußeren Verhältnisse, unter denen er lebte, bei ihrer Mischung von Anregendem und Drückendem wechselnde Stimmungen in ihm hervorrufen, so empfand er doch die unmittelbare Nähe der vom Frühling geschmückten Natur und die ländliche Stille und Abgeschiedenheit, die einem Zuge seines Gemütes entsprach, als Beglückung. Es waren aber auch die Monate vom Februar bis zum Mai 1783 seinem dichterischen Schaffen zu statten gekommen. Das nächste, was ihm nach der Abreise der Wolzogenschen Damen und der Verfertigung der beiden Gelegenheitsgedichte am Herzen lag, war die Vollendung des dramatischen Werkes, das sein Brief an Streicher vom 14. Januar schon als »fertig« bezeichnet hatte. »Meine L. Millerin geht mir im Kopf herum«, schreibt er mit Übersendung der »Wunderseltsamen Historia« an Reinwald, indem er von dem Zwang spricht, den ihn das Sichversetzen »in eine andere Dichtart« gekostet habe, und hinzufügt, daß er »wirklich« sehr fleißig sei und seines Tagwerks sich freue. So stand denn in den nächsten Wochen die Arbeit an seinem Trauerspiel unter einem guten Stern und rückte stetig vor: am 14. Februar bestellt er sich durch Reinwald gutes Schreibpapier, um seine »Louise Millerin« darauf abzuschreiben, und am 21. kehrt er auf dem verschneiten Wege nach Maßfeld um so lieber um, als er sein Schauspiel »gern expediert hätte«. Er hatte Lust, es der Dessauischen Verlagskasse, einer zum Zweck der Herstellung und des Vertriebes von Büchern damals gegründeten Aktiengesellschaft, anzubieten, falls es von dieser bald gedruckt würde, verhandelte aber zugleich mit dem Leipziger Verleger Weygand und ist um Anfang März dem Abschluß eines Vertrages mit ihm nahe, wobei ihm nur der Umstand mißlich ist, daß Weygand das Stück »erst auf Ostern« haben wollte. In einer Gestalt, die nicht »mehr« vorhanden ist Nur ein Bruchstück der Szene zwischen Ferdinand und Lady ( II 3) hat sich aus der Bauerbacher Fassung erhalten, es ist in Goedekes Hist.-Krit. Ausgabe Bd. 3. S. X f. abgedruckt., scheint also das Trauerspiel »Louise Millerin« zu dieser Zeit fertig geworden zu sein. Dafür spricht auch, daß er sich um den Anfang des März neuen dramatischen Aufgaben zuwandte. Er hatte den Stoff der Maria Stuart schon in den ersten Tagen seines Bauerbacher Aufenthaltes ins Auge gefaßt; jetzt schreibt er an Reinwald, daß er wegen dieses Stückes den englischen Historiker Camden, der »herrlich« sei, gelesen habe, aber noch weitere Schriften brauche, und berichtet zugleich, daß er dem Buchhändler Weygand zur »Louise Millerin« seine »Maria Stuart« versprochen habe. Aber ein anderer dramatischer Plan drängt sich alsbald dazwischen: aus dem nächsten Briefe an Reinwald erfahren wir, daß Schiller »nunmehr mit starken Schritten« auf »seinen« » Friderich Imhof los gehen will« und die baldigste Zusendung von Schriften aus der Meininger Bibliothek, die er zu diesem Zwecke nötig habe, wünscht. Ein neuer, gleich den vorigen undatierter, aber ebenfalls in den März zu setzender Brief an Reinwald zeigt Schiller mit sich uneinig: »Meine Maria Stuart«, heißt es hier, »ist noch nicht so glücklich, unanimia zu haben. Ich bin wirklich in einer höchst verdrüßlichen Lage, weil ich gern an ein Stück gienge und noch zu keinem entschloßen bin. Ich glaube mein Imhof erhält sich auf dem Brett.« Erst der drittnächste Brief an Reinwald – er hat die Tugend, ein Datum zu haben und zwar das vom 27. März – läßt uns die Beendigung dieser Unentschiedenheit wissen: Schiller erklärt, daß er, um seines »langen Hin und Her Schwankens« zwischen Imhof und Maria Stuart ledig zu sein, »beide, bis auf weitere Ordre, zurückgelegt« habe und »nunmehr entschlossen und fest auf einen Dom Karlos zu arbeite«. Er rühmt dabei die Vorteile dieses Stoffes, zieht zur Charakterzeichnung der Hauptpersonen einige Linien und bittet Reinwald dringlichst um Unterstützung seiner Studien durch Bücher, da er mit dem Nationalcharakter, den Sitten und Staatseinrichtungen des spanischen Volkes sich notwendig bekannt machen müsse und, ehe das der Fall sei, seinen Plan nicht vollenden, geschweige eine Ausführung »auf gerathewol« wagen könne; Brantomes Geschichte Philipps II. nennt er als eines der in den Gegenstand schlagenden Werke sogleich. So hören wir denn nichts mehr von Imhof und von Maria Stuart, von der, wie Reinwald an zwei Stellen bezeugt hat Im »Neuen Literarischen Anzeiger« von 1807 (»Berichtigungen Friedrichs von Schillers Jugendgeschichte betreffend«, abgedruckt in Schillers Briefwechsel mit seiner Schwester Christophine und seinem Schwager Reinwald, S. 332) und in einem handschriftlichen Zusatz, welchen Reinwald einem Briefe seiner Gattin an Körner vom 28. Mai 1811 machte (abgedruckt bei Minor, Aus dem Schiller-Archiv, S. 2)., in Bauerbach nur »einige Scenen« entstanden waren; die Versenkung in den Stoff und Plan des Don Carlos beherrscht die nächsten Wochen.

Welchen Stoff Schillers »Friedrich Imhof« hatte behandeln wollen, entzieht sich bis heute unserer Kenntnis. Der Name Imhof (Imhoff) kommt in Deutschland und in der Schweiz vor, er gehört auch einer alten, gliederreichen und insbesondere in Franken, Schwaben, auch in Thüringen und Sachsen verbreiteten adeligen Familie an, und Schiller hörte ihn wohl schon in der Militärakademie nennen, da ein Karl Friedr. Alexander v. Imhof, der in späteren Jahren Kaplan war, bis 1774 ihr als Zögling angehörte; alles Lebensgeschichtliche aber, was von Trägern dieses Namens (deren das Gothaische Genealogische Taschenbuch der freiherrlichen Häuser vom Jahr 1860 eine Legion aufzeigt) bekannt ist, bietet für die Frage nach dem von Schiller ergriffenen Stoffe keinen Anhaltspunkt, und wenn es nicht wahrscheinlich ist, so wäre es doch möglich, daß erfundene Geschicke den Plan des Stückes abgaben. Nur auf die Richtung, in der dieser Stoff oder diese Erfindung lag, gestattet uns die Literatur, welche Schiller für die Ausführung von Reinwald zu erhalten wünschte, einige Schlüsse. Indem nämlich Schiller Bücher verlangt, in denen von Jesuiten, von Religionsveränderungen, von Bigottismus – und seltenen Verderbnissen des Charakters, setzt er in einem Atem hinzu – auch von der Inquisition gehandelt wird, scheint es, daß Konflikte mit den kirchlichen Gewalten oder Entartungen und Mißbräuche des religiösen Empfindens das Thema der Dichtung bilden sollten. Wenn Schiller dazu noch eine »Geschichte der Bastille« und Bücher, »worinn von den unglüklichen Opfern des Spiels Meldung geschieht«, als »ganz vortrefflich« in seinen Plan passend zu lesen wünschte, so mag er von einer Schilderung des berüchtigten Pariser Staatsgefängnisses erwartet haben, daß sie ihm Bilder schreckhafter Verfolgungen liefere, während die Leidenschaft des Spiels vielleicht als diejenige gedacht war, die seinen Helden zu Fall, d. h. in die Gewalt der kirchlichen Seelenfänger bringen sollte. Damit hätte »Friedrich Imhof« allerdings mehrere Motive enthalten, die in Schillers Roman »Der Geisterseher« wiederkehren, insofern ja der Prinz dieser epischen Dichtung zu einer Religionsveränderung gebracht werden und seine Spielverluste dazu mitdienen sollen; gleichwohl dürfte der von Goedeke und Minor gebrauchte Ausdruck, wornach man in Imhof »die Anfänge zum Geisterseher« zu suchen habe, nicht glücklich sein, da bei der Entstehung dieses Romans ein bewußtes Zurückgreifen auf den Stoff oder Personenkreis des »Imhof« unseres Wissens nicht stattfand, vielmehr die Geschicke des Prinzen eine neue und erst während der Arbeit am »Geisterseher« sich bildende und fortspinnende Erfindung des Dichters waren. Es kann auch gar nicht zweifelhaft sein, daß »Friedrich Imhof« als ein Drama (und nicht etwa als eine Erzählung) geplant war; spricht Schiller doch an zwei Stellen seiner Briefe vom März von ihm als einem »Stücke«. Dagegen wird es richtig sein, was schon Viehoff S. 202 seiner Bearbeitung der Hoffmeisterschen Schillerbiographie (Stuttgart 1874). vermutete: daß nämlich Schiller mit Imhof beabsichtigt habe, »in den Kreis der Polemik, worin sich seine ... Dramen bewegen, nun auch die religiösen Mißstände hereinzuziehen«, daß er aber von Imhof abgestanden sei, »als er sah, daß auch Don Karlos dazu Gelegenheit bot«. In der Tat, es ist, wie wir alsbald hören werden, gerade die rächende »Darstellung der Inquisition«, welche sich Schiller bei seinem Don Karlos zur Pflicht machen wollte, so daß er offensichtlich aus dem Gedankenkreise, der ihn beim Plane des Imhof beschäftigte, ein Stück in seine neue Aufgabe herübernahm. Indem er im Briefe an Reinwald vom 27. März die Vorteile abwägt, die ihm gegenüber den fallen gelassenen Plänen des Imhof und der Maria Stuart ein »Dom Karlos« biete, hebt er hervor, daß man einen Mangel an Theaterstücken habe, welche »grose Staatspersonen behandeln«; demnach scheint es, daß sein Imhof dieser letzteren Eigenschaft entbehrte und in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hätte. Im geschichtlichen Stoffe des Don Karlos dagegen fand Schiller für die Ideen, die ihn damals bewegten, den lockenden größeren Rahmen.

Daß »eine Szene vom Dom Karlos« schon bis zur nächsten Zusammenkunft mit Reinwald fertig werden und dieser darüber »richten« solle, hatte Schiller noch im eben genannten Briefe bemerkt. Am 12. April schreibt er, daß Reinwald in 8-10 Tagen in Maßfeld den ersten Akt des Don Karlos hören solle, und setzt hinzu, dieser könne sein bestes Stück werden. Am 14. April folgt sodann, geschrieben beim »herrlichen Hauche« eines Morgens in der Bauerbacher »Gartenhütte«, jene lange und vielgerühmte Epistel an Reinwald, in der sich Schiller, sein volles Herz ausschüttend, in philosophischen Reflexionen über das seelische Verhältnis des Dichters zu seinem Stoffe ergeht, um hierauf die Anwendung auf die Beschäftigung mit seinem Don Karlos zu machen und von den künstlerischen Absichten und Hoffnungen, die er damit verknüpfte, ein Bekenntnis abzulegen. Der Brief ist biographisch interessant, er ist eine Selbstspiegelung des jugendlichen Schiller, eine Art von Selbstgespräch, das aber einen Hörer zu haben wünscht, seinem geistigen Gehalte nach gewiß der bedeutendste Brief, den wir aus Schillers Bauerbacher Zeit besitzen. Seinen theoretischen Wert braucht man darum nicht zu überschätzen: wenn ein Verfertiger von Einleitungen zu Schiller-Ausgaben sagt, diese »Herzensergießung« gebe »mehr Aufschluß über dichterisches Schaffen als ganze Systeme der Ästhetik«, so ist das bedientenhafte Dichterverehrung und Schwachsinn. Man merkt dem Briefe wohl an, daß er einer enthusiastischen Augenblicks-Aufwallung entsprungen ist; die logische Entwicklung ist sprunghaft, und der Ausdruck hätte da und dort eines Nachfeilens bedurft. Der gedankliche Inhalt berührt sich mit Vorstellungen und Bildern der akademischen Dissertationen Schillers, insbesondere seiner »Philosophie der Physiologie«, aber auch mit Ausführungen der in ihrem Ursprung auf die Stuttgarter Zeit zurückgehenden, wenn auch in eine spätere Veröffentlichung eingeschalteten und zu diesem Zweck überarbeiteten »Theosophie des Julius«. Dies gilt insbesondere von den Auseinandersetzungen des Begriffes »Liebe«, zum Teil auch von denen des Begriffes »Gott«. Der Gedankengang des Briefes stellt an die Spitze den Satz: »Jede Dichtung ist nichts anderes, als eine enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unsers Kopfes ... Gleichwie aus einem einfachen weisen Stral, je nachdem er auf Flächen fällt, tausend und wieder tausend Farben entstehen, so bin ich zu glauben geneigt daß in unsrer Seele alle Karaktere nach ihren Urstoffen schlafen, und durch Wirklichkeit und Natur oder künstliche Täuschung ein dauerndes oder nur illusorisch- und augenblickliches Dasein gewinnen. Alle Geburten unsrer Phantasie wären also zuletzt nur Wir selbst.« Mit der unmittelbar folgenden Frage: »Aber was ist Freundschaft oder platonische Liebe denn anders, als eine wollüstige Verwechslung der Wesen? Oder die Anschauung unserer Selbst in einem andern Glase?« kommt Schiller auf sein zweites Argument, wobei schon in der Form der Anknüpfung die Behauptung der Wesensgleichheit von Freundschaft und Dichtung liegt. Der nächste Abschnitt will der Begründung der bisher vorgetragenen Sätze dienen, die Gedanken gehen aber dabei nach Schillers eigenem Ausdruck »durch eine Krümmung«, indem sie zu einer Untersuchung des Begriffes Liebe ausladen. Liebe, heißt es, »das grose unfehlbare Band der empfindenden Schöpfung«, – »die grosse Kette der empfindenden Natur«, war in der »Philosophie der Physiologie« gesagt – sei zuletzt »nur ein glüklicher Betrug« da wir nicht für ein fremdes, »uns ewig nie eigen werdendes« Geschöpf erglühen und erschrecken, sondern dieses alles nur für uns, nur für das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf sei, leiden. Auch Gott, fügt Schiller bei, sei von diesem Verhalten nicht auszunehmen; Gott liebe den Seraph so wenig wie den Wurm, er sehe sein Bild aus der ganzen Ökonomie des Erschaffenen wie aus einem Spiegel zurückgeworfen und liebe sich in dem Abriß. Diese Vorstellung von Gott ist nicht ganz die nämliche, der das Gedicht »die Freundschaft« einen so hinreißenden Ausdruck gegeben hatte; in ihm war »der grose Weltenmeister« als »freundlos« und darum »Mangel« fühlend und Geister schaffend geschildert. Indessen lenkt der Brief im Folgenden wieder ein, indem Schiller (mit einem Gedankensprung) auf einen »reineren Begriff der Liebe« zu sprechen kommt: wie keine Vollkommenheit einzeln existieren könne, sondern nur »in einer gewisen Relation auf einen allgemeinen Zwek« diesen Namen verdiene, so könne keine denkende Seele sich in sich selbst zurückziehen und mit sich begnügen, ein ewiger innerer Hang, die zerstreuten Züge der Schönheit, die Glieder der Vollkommenheit in einen Leib anzusammeln, das Nebengeschöpf also an sich zu reißen, in es überzugehen, bestehe, und dies sei Liebe – wie denn alle Erscheinungen der Freundschaft und Liebe Äußerungen eines zur Vermischung strebenden Wesens seien. Hiemit ist Schiller an seinen Ausgangspunkt zurückgelangt und glaubt nun schließen zu dürfen: »Wenn Freundschaft und platonische Liebe nur eine Verwechslung eines fremden Wesens mit dem unsrigen, nur eine heftige Begehrung seiner Eigenschaften sind« (diesen Zusatz hat er durch seine ergänzende Bestimmung des Liebesbegriffes gewonnen), »so sind beide gewisermasen nur eine andere Wirkung der Dichtungskraft.« Richtig formuliert sollte dieser Schluß freilich lauten: so haben beide (Freundschaft und Liebe) den nämlichen Ursprung wie die Dichtung, oder: so haben beide die nämliche Wirkung wie die Dichtungskraft. Denn Freundschaft und Liebe entspringen ja nicht aus der Dichtungskraft, sondern Dichtung (Geburten unserer Phantasie) und Freundschaft oder Liebe entstehen – nach Schiller – aus dem Bedürfnis der Verwechslung unseres Selbst. Um sich, wie er sagt, »besser« auszudrücken, fährt Schiller denn auch fort: »Das was wir für einen Freund, und was wir für einen Helden unsrer Dichtung empfinden ist eben das (das Nämliche). In beiden Fällen führen wir uns durch neue Lagen und Bahnen, wir brechen uns auf anderen Flächen, wir sehen uns unter andern Farben, wir leiden für uns unter andern Leibern.«

Bis hierher sind die Erörterungen allgemeiner, psychologisch-theoretischer Natur. Sie enthalten Wahres, übertreiben aber durch die doktrinäre Zuspitzung ihrer Sätze. Wären alle Geburten unsrer Phantasie zuletzt nur wir selbst, so wären auch der Präsident und der Sekretär Wurm in »Kabale und Liebe« der Dichter selbst; weil Schiller bei dem »Helden« einer Dichtung nur an einen solchen denkt, für den er persönlich schwärmen kann, fehlt in seiner Formulierung jede Unterscheidung eines mehr objektiven und eines mehr subjektiven Verhaltens des Dichters zu seinem Stoffe, jede Unterscheidung des Grades, in welchem die Seele des Dichters von ihrem Persönlichen in die künstlerische Schöpfung hinübergibt. Es hält aber auch die Schilderung der Liebe als eines Empfindens, bei welchem wir »uns« auf andern Flächen brechen, »für uns« unter andern Leibern leiden u. s. w. den nächstfolgenden Behauptungen des Briefes nicht Stich; denn indem nun Schiller zur Anwendung seiner Sätze auf die dichterische Praxis übergeht, findet er, daß wir die »Freunde unserer Helden« sein müssen, »wenn wir in ihnen zittern, aufwallen, weinen und verzweifeln sollen – daß wir sie als Menschen außer uns denken müßen, die uns ihre geheimsten Gefüle vertrauen, und ihre Leiden und Freuden in unsern Busen ausschütten«, womit er zu dem Ausspruch kommt, unsere Empfindung sei » Refraktion, keine ursprüngliche sondern sympathetische Empfindung«. Dies ist aber etwas anderes als die einseitige Spiegelung unserer selbst in einem andern. Und gerade auf das Sympathisieren mit dem Helden kommt es Schiller an, der überzeugt ist, daß der Dichter um so mehr rühre und erschüttere und entflamme, je mehr er selbst Furcht und Mitleid für seinen Helden gefühlt habe. Auf den Nachweis der Berechtigung dieses Sympathiegefühles des Dichters läuft die ganze Auseinandersetzung des Briefes hinaus, und wenn Reinwald durch alles zuvor Gesagte überzeugt werden sollte, daß Freundschaftsempfindung und Dichtungskraft im Grunde dasselbe seien, so spielt jetzt der Verfasser des Briefes mit dem Satze, der Dichter müsse weniger Maler seines Helden als dessen »Mädchen«, dessen »Busenfreund« sein, seinen Trumpf aus. Der Anteil des Liebenden, fährt Schiller fort, fange »tausend feine Nuancen mehr als der scharfsinnigste Beobachter« auf; darum habe ihn »Julius von Tarent« mehr gerührt als Lessings »Aemilia«, wenngleich Lessing »unendlich besser« als Leisewitz beobachte.

Mit dieser Lobpreisung eines schwärmerischen Freundschaftsverhältnisses des Dichters zu seinem Helden hat Schiller den in ungewöhnlichem Grade subjektiven Charakter seiner Jugenddramen selbst gekennzeichnet, wie denn in der Tat in Karl Moor, in Fiesko und Verrina, in Ferdinand von Walter, in Don Karlos und Posa wesentliche Stücke seines seelischen Ich stecken. Von ihm geliebt, sind sie auch ihm selbst zuliebe gestaltet und sprechen mit ihren Lippen sein eigenes ethisches und politisches Wollen aus: er läßt die »Freunde« für sich reden, und seine Theorie gibt ihm dazu von der Dichtkunst aus das Recht. Da es große Gedanken und ein flammendes Pathos sind, zu deren Gefäßen sie werden, so entstehen Gestalten von großer und hinreißender Wirkung; aber auch der Gefahr, über dem Schwelgen in Empfindungen und Gefühlen des eigenen Herzens die Bedingungen des Kunstwerks, des dramatischen Ganzen hintanzusetzen, begegnete Schiller auf diesem Wege, und er unterlag ihr zuweilen.

Sehr interessant in biographischer Hinsicht sowohl wie für die erste Veranlagung seines neuen Dramas ist nun, was Schiller gegen den Schluß des Briefes hin über seine Beschäftigung mit dem Don Karlos sagt. »Ich habe ihn gewisermaßen statt meines Mädchens,« gesteht er dem Meininger Freunde, »ich trage ihn auf meinem Busen – ich schwärme mit ihm durch die Gegend um – um Bauerbach herum.« Sein Karlos, glaubt er versichern zu können, habe von Shakespeares Hamlet »die Seele«, von Leisewitz' Julius »Blut und Nerven«, den »Puls« aber von ihm. Mit Blut und Nerven wird die Lebensfülle gemeint sein, der Puls aber geht auf das Feuer des Empfindens, auf den temperamentvollen Gang der Handlung, auf die Leidenschaftlichkeit des Inhalts. Mit diesen Eigenschaften hofft seine Dichtung neben dem bewunderten Stücke des Leisewitz bestehen zu können. Und nun fügt Schiller Sätze hinzu, die uns über die ursprüngliche Absicht, die er mit der Don Karlos-Dichtung hatte, den bedeutsamsten und unumwundensten Aufschluß geben: »Außerdem will ich es mir in diesem Schauspiel zur Pflicht machen in Darstellung der Inquisition die prostituirte Menschheit zu rächen, und ihre Schandfleken fürchterlich an den Pranger zu stellen. Ich will – und solte mein Karlos dadurch auch für das Theater verloren gehen – einer Menschenart, welche der Dolch der Tragödie biß jezt nur gestreift hat, auf die Seele stoßen.« »Ich will,« setzt er mit einem abbrechenden Satze hinzu, als ob er befürchte, daß die Größe und Kühnheit dieser Absicht den Meininger Freund klein finde, »– Gott bewahre, daß Sie mich nicht auslachen.«

So war denn Schiller in der ersten Hälfte des April 1783 mit voller Seele an seinem »Don Karlos«. Allzufrühe aber sollte diese Arbeit unterbrochen werden. Schon einige Wochen zuvor hatten ihm »die Mannheimer« mit »Anträgen« wegen seiner »Louise Millerin« zugesetzt, ja Dalberg hatte ihm »auf eine verbindliche Art über seine Untreue Entschuldigung gethan«. Schiller berichtet dies in einem Briefe vom 27. März an Henriette von Wolzogen. Da sein nächster Satz davon spricht, daß er »also« bis zum Ausgang des Mai soviel bar Geld zusammenbringen könne, um nach Berlin reisen zu können, so scheint es, daß ihm Dalberg eine Bezahlung für sein neues Stück in Aussicht gestellt hatte. Über dessen Plan hatten die Mitglieder des Mannheimer Theaterausschusses durch Streicher manches Verlockende in Erfahrung gebracht. Auch hatte der Mannheimer Intendant nachgerade Gewißheit, daß der Herzog von Württemberg eine Verfolgung seines ehemaligen Zöglings nicht im Sinne habe, während ihm selbst eine Ausnützung des Schillerschen Talentes Gewinn versprach. Leider ist der Brief Dalbergs nicht erhalten – gleich so vielen Dokumenten aus seiner Jugendzeit hat ihn der Dichter, der erst in späteren Jahren ein Aufheber von Briefen wurde, verschleudert. Eine willkommene Ergänzung aber der Mitteilung an Frau von Wolzogen gibt ein am gleichen Tage an Reinwald gerichteter Brief Schillers. Hier erwähnt der Dichter zuerst, daß er mit Weygand fertig sei, bezweifelt aber, ob wegen der Louise Millerin ein erquicklicher Handel mit Dalberg zu Stande komme; die »gothische Vermischung von Komischem und Tragischem, die allzufreie Darstellung einiger mächtigen Narrenarten und die zerstreuende Mannichfaltigkeit des Details« seien Eigenschaften des Stückes, denen der Geschmack Dalbergs widerstreben werde. Schiller war stolz genug, den unzuverlässigen Gönner lange auf Antwort warten zu lassen, und schrieb ihm erst unter dem 3. April. Dieser Brief, aus »S. Meinungen« datiert, ist um so bemerkenswerter, als er den Dichter, was in der Bauerbacher Zeit nicht immer der Fall ist, charaktervoll und auch weltklug zeigt. Nachdem Schiller im Eingang erwähnt hat, daß er sich über den Preis seiner »Louise Millerin« mit Weygand nicht habe einigen können und er ihm darum das Stück nicht gebe, fährt er, im Ausdruck so höflich als zurückhaltend, fort: »Daß Eure Exzellenz mich auch in der Entfernung noch in gnädigem Andenken tragen, kann mir nicht anders als schmeichelhaft seyn. Sie wünschten zu hören wie ich lebe? – Wenn Verbannung der Sorgen, Befriedigung der Lieblingsneigung, und einige Freunde von Geschmak einen Menschen glüklich machen können, so kann ich mich rühmen es zu seyn.« Mit den eines ironischen Untertones nicht entbehrenden Worten: »E. E. scheinen, ungeachtet meines kürzlich mißlungenen Versuchs noch einiges Zutrauen zu meiner dramatischen Feder zu haben«, nimmt der Brief nun den »Übergang« zur Louise Millerin; Schiller zählt »mit Absicht«, da er sich der Gefahr, die Erwartung des Intendanten zu hintergehen, »nicht neuerdings aussezen« wolle, die »Fehler« des Stückes auf, hebt abermals neben der »vielleicht allzufreien Satyre und Verspottung einer vornehmen Narren- und Schurkenart« u. a. die Vermischung von Schrecklichem und Lustigem hervor und versichert, daß, wenn dies auf der Bühne anstößig sei, alles übrige, wenn es auch noch so vortrefflich wäre, für Dalbergs Endzweck unbrauchbar sein werde, er in diesem Falle das Stück also besser zurückbehalte. Mit einer kurzen Benachrichtigung, daß er gegenwärtig mit »einem Dom Karlos«, einem »Sujet«, das ihm sehr fruchtbar zu sein scheine und das er Seiner Exzellenz verdanke, beschäftigt sei und »dazwischen« an einem Trauerspiel von Prinz Konradin arbeiten wolle, schließt Schiller den Brief.

Von einer Absicht des Dichters, an einem »Konradin« zu schreiben, verlautet während der Bauerbacher Zeit sonst nirgends; Vgl. Schillerbiographie, Band I, S. 569 u. 573. Schiller hielt sich an seinen Don Karlos, und erst als ein zweites Schreiben Dalbergs eintraf, gab er dem Verlangen des Mannheimer Intendanten nach. Sein Wunsch, diesem zu zeigen, wie wenig er sich ihm aufdringen wolle, hatte keine Abschreckung bewirkt: Dalberg antwortete, die geschilderten »Fehler« der »Louise Millerin« seien »Tugenden für die Bühne«, und bat um unverzügliche Einsendung des Stückes. Wir erfahren dies aus einem Briefe Schillers an Reinwald, der auf die große, enthusiastische Auseinandersetzung vom 14. April noch im nämlichen Monat folgte. »Karlos bleibt also liegen biß L. M. fertig ist«, mit diesen Worten kündigte Schiller dem Meininger Bibliothekar seinen Entschluß an.

Den nämlichen Brief begleitete ein » Prolog«, dessen Abfassung Reinwald veranlaßt hatte. Die Unlust, mit der Schiller an diese Aufgabe gegangen war, gibt ihm das witzige Kraftwort ein: »Sie glauben nicht wie wunderlich es mir vorkömmt aus 2 Schauspielen großen Inhalts herauszutreten und Prologen für Kinderstücke zu machen. Nicht anders, als wenn einer aus der Schlacht kommt und Flöhe fangen mus.« Reinwald hatte von seinem dichterischen Freunde auch einen »Epilog« gewünscht; eine Zumutung, welche Schiller jedoch ablehnte, da ein Epilog auf das Stück, das gespielt werde, Bezug haben müsse und ihnen beiden von demselben nichts bekannt sei. Daß der »Prolog« für das »Wiegenfest« eines Mannes, das ein Kreis von Kindern feiern sollte, geschrieben ist, sagen seine Verse selbst, wir wissen aber nicht, welchem »Vater« und welchem Anlaß er galt. Die älteren Biographen, aber auch noch Minor, nahmen an, daß er für das zum 4. Februar 1783, den Geburtstag des Herzogs Georg von Meiningen, veranstaltete »Genesungs- und Freudenfest« bestimmt gewesen sei; die Irrigkeit dieser Datierung steht jedoch außer Zweifel, seit Fritz Jonas Schillers Briefe, Kritische Gesamtausgabe I, S. 477. nachwies, daß der Prolog zu dem Briefe gehört, der die Einstellung der Arbeit am Don Karlos berichtet und begründet, einem Briefe also, der sowohl Schillers Schreiben an Dalberg vom 3. April als auch das an Reinwald vom 14. April voraussetzt: er nimmt in der Handschrift Schillers die ersten 2½ Seiten eines halben Bogens ein, auf dessen folgenden 1¼ Seiten der von der Einstellung der Arbeit am Don Karlos erzählende Brief steht. Was den dichterischen Gehalt des Prologes anlangt, so fehlt es nicht an Spuren, daß sich Schiller bei der ihm unbequemen Arbeit gehen ließ: er mutete den Meiningern zu, nach schwäbischer Sprechweise Thräne – Harlekine und Winke – Geschenke als Reime zu hören, Vgl. Schillerbiographie, Band I, S. 555 f. nahm aus dem Hochzeitsgedicht auf Henriette Sturm die Stelle von den drückenden

»Gewichten
Des Kummers und der Bürgerpflichten«

herüber und gestattete sich den ungeschickten Ausdruck, die Muse in das »Herz« der Jugend für die ernstere Schwester Tugend »Pfade graben« zu lassen. Auch der Satzbau ist lässig genug: in den Eingangszeilen konnten bei flüchtigem Lesen die Partizipialprädikate »hervorgewälzt« und »vorgerissen« auf »Sie« (die Kunst, das Subjekt des Satzes) bezogen werden, sie beziehen sich aber auf »der Menschheit Ungeheuer« (das Objekt). Die erste Strophe hat dadurch in der Sprachform etwas Schwülstiges. Im übrigen sind die sittlichen, bildenden und erheiternden Wirkungen der Komödie sachgemäß, gefällig und mit einem gewissen Reichtum der Vorstellungen geschildert, wobei nur der Vorwurf der Unzeitigkeit bleibt, da der Prolog für ein Kindertheater gedichtet war und, wie es scheint, eine Person kindlichen Alters ihn zu sprechen hatte, der Ernst des Gedankens also, der durch die erste Hälfte der Verse geht, viel zu schwer, zu wichtig ist.

Zu einer Wiederaufnahme seiner Arbeit am »Don Karlos« ist Schiller in Bauerbach nicht mehr gelangt, und das einzige, was aus dieser Zeit von ihr übrig blieb, ist der früheste Plan der Dichtung, von seiner Hand auf vier Quartseiten geschrieben und aus dem Nachlaß Reinwalds uns überliefert. Das Trauerspiel »Louise Millerin« aber, um dessen willen Don Karlos jetzt weichen mußte, nahm zu seiner endgültigen Ausführung einen weit größeren Zeitraum in Anspruch, als Schiller erwartete. Zwar schreibt er am 24. April an Reinwald, daß er die Louise Millerin »endlich gern aus dem Kopfe hätte«, um Herrn von Dalberg, der ihn dränge, befriedigen und sich wieder in seinen Don Karlos versenken zu können, er glaubt, »in ohngefähr 8 Tagen« werde sie »großentheils fertig« sein, und hofft, daß Reinwald bei dem Mittagessen, zu dem er diesen und Pfranger einlädt, das Stück vorlesen könne; aber die Nachschrift eben dieses Briefes verrät in den Worten: »Meine Louise Millerin hab ich sehr verändert. Das ist etwas verhaßtes schon gemachte Sachen zernichten zu müßen«, in welchen Schwierigkeiten er steckte. Am 3. Mai hören wir von den Nöten der Arbeit mehr: »Meine L. M.«, schreibt er an Reinwald, »jagt mich schon um 5 Uhr aus dem Bette. Da siz ich, spize Federn und käue Gedanken. Es ist gewis und wahrhaftig, daß der Zwang dem Geist alle Flügel abschneidet. So ängstlich für das Theater – so hastig, weil ich pressiert bin, und doch ohne Tadel zu schreiben ist eine Kunst. Doch gewinnt meine Millerin das fül ich. Vor Veränderungen beben Sie nicht mehr.« Seine Lady (Lady Milford), setzt er hinzu, interessiere ihn fast so sehr als seine »Dulzinea in Stuttgardt« – womit Lotte von Wolzogen gemeint ist. Er will, sich »kasteiend«, dem Verkehr mit Reinwald entsagen, bis Louise Millerin fertig sei; erst am 10. Mai ist er wieder mit ihm in Meiningen zusammen. Am folgenden Tage bittet er Reinwald brieflich, über Zweifel und Fragen, die er ihm wegen des Stückes mit nächstem vorlegen werde, »mit aller kritischen Schärfe zu entscheiden«. Dann aber tritt, schon vor Mitte des Mai, von außen her eine neue Störung ein: mit der Rückkehr der Frau Henriette von Wolzogen und ihrer Tochter nach Bauerbach kommt die Arbeit an der Louise Millerin wieder auf Wochen ins Stocken.

Schon am 27. März hatte Schiller an Reinwald melden können, daß Frau von Wolzogen nebst ihrer Tochter am 17. Mai ihre Reise von Stuttgart nach Bauerbach antreten werde, am gleichen Tage schrieb er ihr aber auch selbst; sie hatte in ihre Benachrichtigung einfließen lassen, daß Herr von Winckelmann die Damen begleiten werde, und mit Bestürzung und Verdruß hatte Schiller diese Ankündigung gelesen. Franz Karl Phil. von Winckelmann, der Sohn eines Kammerjunkers zu Meiningen, war mit Schiller gleichzeitig Zögling der Stuttgarter Militärakademie gewesen und diente seit dem März 1780 dem Herzog von Württemberg als Leutnant der Nobel-Garde und Hofjunker; er war ein Vetter und Freund Wilhelms, des Sohnes der Frau Henriette von Wolzogen. Mit Schillers Person und Schicksalen bekannt, war Winckelmann allerdings, wenn er jetzt wirklich die Reise mitmachte, ohneweiters im stande, die neugierigen Meininger aufzuklären, wer sich hinter dem Doktor Ritter verberge. So setzt denn der Dichter in seinem Briefe vom 27. März seiner Gönnerin aufs eindringlichste auseinander, wie nahe diese Gefahr liege, der er sich doch unmöglich preisgeben dürfe. Daß Winckelmann in das Geheimnis gezogen werde, könne er niemals zugeben; darum möge sie sich überlegen, ob die Sache nicht noch rückgängig gemacht werden könne. Wenn Winckelmann mitkomme, müsse er Bauerbach verlassen, so schwer ihn dies ankomme, müsse er die Empfindungen treuer Freundschaft und manche schöne Hoffnung seinem Stolz, seiner Ehre aufopfern. Bis Ende Mai werde er soviel bares Geld zusammenbringen, um nach Berlin reisen zu können, wo er sein Auskommen bald finden werde. Frau von Wolzogen solle frei handeln; vermöge sie es aber, ohne ihren und eines anderen Nachteil zu bewirken, daß er in Bauerbach bleiben könne, so mache sie niemanden größere Freude als ihm. In solchen Ausführungen ergeht sich Schillers Brief des breiten; die tiefere Ursache seines Widerstrebens gegen ein Zusammentreffen mit Winckelmann war aber aufsteigende Eifersucht, war die Befürchtung oder Ahnung, daß Winckelmann um Lotte von Wolzogen werbe, und Schiller verrät dieses Motiv seines Verhaltens selbst durch die Beifügung der Worte: »Ich will ihm [Winckelmann] durchaus nichts von seinem Werthe benehmen, denn er hat wirklich einige schäzbare Seiten – aber mein Freund wird er nicht mehr, oder gewise 2 Personen müßten mir gleichgültig werden, die mir so theuer als mein Leben sind.«

In der Tat hatte sich in Stuttgart zwischen Winckelmann und Lotte von Wolzogen ein Verhältnis entsponnen; der junge Mann, der dunkelgelockt und von schlanker Gestalt, auch empfindsamen Naturells war, hatte Eindruck auf ihr Herz gemacht. Nach Schillers eigener Schilderung d. h. den Worten, die ihm Charlotte von Kalb in ihrer Erzählung »Das Mahl«, Gedenkblätter S. 221, in den Mund legt. Vgl. Anhang Nr. 23. Was Henriette von Wolzogen auf Schillers Brief erwiderte, können wir nur mittelbar aus des Dichters Antwort vom 27. April schließen. Demnach hatte sie seine Besorgnisse wegen des Mitkommens Winckelmanns »beinahe alle« hinweggeräumt, hatte ihn durch ihren Brief aber auch mehr »gedemütigt«, als er verdient zu haben glaubte, indem sie es nun auch ihrerseits ihm anheimstellte, Bauerbach zu verlassen, wenn dies sein Glück wolle. Augenscheinlich und mit Recht hatte sie das Entweder – Oder seines Briefes verstimmt, und der »Schrecken«, den ihr dieser einflößte, wird wohl die Wahrnehmung, wie nahe sich Schiller mit seinen Gedanken an ihre Tochter herandränge, zur Ursache gehabt haben. So hält es denn Schiller jetzt für nötig, sich gegen einen Zweifel an seiner Freundschaftstreue und Dankbarkeit in beredten Worten zu wehren, und er versteigt sich dabei zu dem beinahe einen Mißbrauch des heiligen Namens Mutter in sich schließenden Satze: »Weis ich doch fest und gewis, daß sie [Sie] mich lieben wie keine Mutter mehr lieben kann. Aber glauben Sie mir doch endlich einmal, daß Sie keinen unwürdigen Sohn haben!« Nachdem er nun aber ein Wiedersehen im Monat Mai für gesichert halten darf, will er Frau von Wolzogen auch überzeugen, daß örtlicher Verhältnisse halber ihre baldige Anwesenheit in Bauerbach notwendig sei, und will ihr zugleich beweisen, mit wieviel Eifer und wieviel Verständigkeit er sich inzwischen ihrer gutsherrschaftlichen Pflichten angenommen habe. So folgt im Brief eine umständliche Schilderung, die uns in unerbauliche Zustände hineinblicken läßt: ganz Bauerbach war in Aufregung, seit der Gutsverwalter das Verbot erlassen hatte, die Schafherden auf die Wiesen zu treiben, die Gerichte hatten sich vergeblich ins Mittel gelegt, gegen den Verwalter stand der Wirt mit anderen, und es war schon zu groben Tätlichkeiten gekommen. Er selbst, fügt Schiller bei, habe beide Parteien gehört und müsse der Gutsherrin raten, ihren Verwalter, wenn dieser auch »nicht rein« sei, in Schutz zu nehmen, aber auch der Gemeinde gegen ihn Sicherheit zu geben. Schließlich nennt der Brief flüchtig »Fräulein Lotte«: Schiller hat den Wunsch, daß sie ihm schreibe, ob sie das Schachspiel gelernt habe. Der folgende Brief des Dichters an Henriette von Wolzogen, deren Abreise aus Stuttgart nun nahe bevorstand, ist vom 8. Mai datiert und enthält unter anderm die Bitte, daß sie einen eingeschlossenen Brief durch Eilboten nach der Solitude schicke, ihm aber nach Bauerbach mancherlei mitbringe: seinen Shakespeare, der von Leutnant Scharffenstein unverzüglich zu holen sei, das Exemplar seiner »Räuber«, das der Schauspieler Haller habe, außerdem aber auch etliche Buch Briefpapier und ein paar Pfund Maroccoschnupftobak, der ihm »schon 6 Monate nicht zu Nase gekommen« sei; endlich solle sie, wenn nötig durch List, sein von Scharffenstein gemaltes Porträt zu bekommen suchen. Wegen Lottens Herzensangelegenheit war Schiller im Augenblick ohne Sorgen; denn scherzend bemerkt er, Fräulein Lotte sei, wie es in Meiningen heiße, Braut mit einem Herrn von Pfaffenrath, und er »gratulire per Abschlag«. Der aus Meiningen gebürtige Forstmeister von Pfaffenrath war, wie aus einem Briefe Wilhelm von Wolzogens an Lottchen von Lengefeld vom Juni 1783 hervorgeht, in Stuttgart zu Besuch gewesen, hatte aber durch seine Manieren gründlich mißfallen.

Die Ankunft der Wolzogenschen Damen in Bauerbach erfolgte um den 20. Mai. Schiller hatte, mit seiner Zeit nicht sparend, eine Einzugsfeier vorbereitet, hatte Haus und Garten in stand setzen, im Hof eine Ehrenpforte von Fichtenzweigen errichten, von den Untertanen durch die Dorfstraße eine Allee von Maibäumen anlegen lassen und war überall mittätig gewesen: neun bis zehn Tage, schreibt er am 22. Mai an Reinwald, sei er »mit lauter Kleinigkeiten überhäuft« gewesen. Daß über diesen Zerstreuungen seine Louise Millerin liegen blieb, gesteht der nämliche Brief; dafür hören wir, daß es bei Musik, Schießen und einer vom Bibraer Pfarrer gehaltenen Einzugsrede einen »sehr angenehmen Abend« gab. Frau von Wolzogen hielt es aber nunmehr für ihre Pflicht, dem Dichter über das Verhältnis ihrer Tochter zu Herrn von Winckelmann offene Mitteilung zu machen, und hiemit erfuhr Schiller, daß dieser Lotte liebe und Lotte ihn liebe »wie ein Mädchen, das zum erstenmal liebt«. So schreibt er selbst am 25. Mai an ihren Bruder, Wilhelm von Wolzogen, der ihm in einem Briefe eben dieser Tage Lotte »anvertraut« hatte. In die Rolle eines von der Familie zu Rate gezogenen Freundes versetzt, möchte nun Schiller seinem Rivalen gerechte Anerkennung nicht versagen; daß es mit einigen sauersüßen Worten geschieht, ist begreiflich. Winckelmann, bemerkt er, habe gewisse auffallende Schwachheiten, sei aber ein sehr guter und edler Mensch, sei Lottens nicht unwert und werde auch sein Glück in der Welt machen; er schätze ihn, wenn er auch zur Zeit kein Freund von ihm heißen könne. Sich selbst von Lotte völlig abdrängen zu lassen, ist gleichwohl nicht Schillers Meinung; er kenne sie »ganz«, versichert er den Bruder, der auf seine »Sorgfalt für ihre Bildung« rechnen dürfe – in diesem Sinne also hatte Wilhelm von Wolzogen ihm seine Schwester »anvertraut«. Indem Schiller hinzusetzt, er fürchte sich beinahe vor der ihm obliegenden Aufgabe, »weil der Schritt von Achtung und feurigem Antheil zu andern Empfindungen so schnell gethan« sei, verrät er freilich, was der Brief im übrigen zu verhüllen beflissen ist. Mit der Schwärmerei des Verliebten, die aber in diesem Falle nicht gerade irreging, spricht er von Lottens Person und Charakter: sie sei »noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste weichste empfindsamste Seele und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnisses am lautern Spiegel ihres Gemüths« – so kenne er Lotte, »und wehe demjenigen, der eine Wolke über diese unschuldige Seele« ziehe! Von der Gloriole, in der die Geliebte gesehen wird, fällt auch ein Strahlenglanz auf den Bruder, der als »Anlage zur Seligkeit« ein großes und warmes Herz habe. So lange sie in der Militärakademie neben einander gelebt hätten, fährt der Brief fort, seien sie sich gleichgültig gewesen, und »dieses beiderseitige Ausweichen« sei »vielleicht das Werk einer weiseren Vorsicht«; denn beide hätten sie erst vollkommener und gegenseitiger Achtung, des »unfehlbaren Bandes« der Freundschaft, würdig werden müssen, ehe es ihnen beschieden war, sich kennen zu lernen. Vgl. Schillerbiographie, Band I, S. 421. Es wird erlaubt sein, zu der pädagogischen Rolle, welche diese Ausführungen naiven Glaubens der Vorsehung zuschreiben, zu lächeln; hatte doch in Wahrheit ein Mädchengesicht die plötzliche Erwärmung Schillers für Wilhelm verursacht. Es ist aber in allem, was der Dichter hier wie an andern Stellen des Briefes über seine Person und sein Verhalten als Freund sagt, viel Berechnendes, und auch die Schreibart erhält dadurch etwas klug Zurechtgemachtes und akademisch Geglättetes. Bemerkenswert ist eine verächtliche Äußerung, welche nebenher über die »Festivitäten« der Militärakademie fällt, bei denen Schiller als Zögling doch selbst in hervorragendem Maße mitgewirkt hatte: mit einer »garstigen Assoziazion« hätten sie auch zukünftige ihnen ähnliche Geburtstagsfeiern »angestekt«.

Am 28. Mai stellte sich Henriette von Wolzogen mit ihrer Tochter in Meiningen bei der Herzogin Marie Charlotte von Gotha vor. Wie schon erwähnt, zahlte diese, eine geborene Prinzessin von Meiningen, wegen verschiedener Dienste, die ihr der Geheime Legationsrat von Wolzogen geleistet hatte, einen Unterhaltsbeitrag, mit dessen Hilfe seine Tochter in einer Pension in Hildburghausen erzogen wurde. Dem jungen Fräulein aber gefiel dieser Aufenthalt nicht, sie suchte sich ihm »so viel als möglich zu entziehen« Bemerkt in »Schillers Beziehungen« S. 413. und hatte im Januar 1783 die Reise mit ihrer Mutter nach Stuttgart ohne die Einwilligung der Herzogin unternommen. Nach der Rückkehr der Damen nach Bauerbach im Mai war sie bei einer Amtmannsfrau in der Nachbarschaft, wohl in Maßfeld, untergebracht worden, und nun galt es zunächst, eine Verständigung mit ihrer fürstlichen Wohltäterin zu suchen. Schiller, der sehnlichst wünschte, Lottens Gesellschaft in Bauerbach zu haben, bot alle Beredsamkeit auf, um Frau von Wolzogen zu bestimmen, daß sie Lotte »von der Amtmännin erlöse«, es bei der Herzogin aber auch darauf anlege, »mit guter Art« von der Pension »loszukommen«; »denken Sie daran, daß Sie nichts als elende hundert Thaler dransezen«, schreibt er in der Frühe des 28. Mai nach Meiningen, »aber für Sich und die Lotte und auch für mich alles zu gewinnen haben. Sagen Sie die ganze Pension ab, so will ich alle Jahr eine Tragödie mehr schreiben und auf den Titel sezen: › Trauerspiel für die Lotte‹.« Blumen für »die Lotte« begleiteten diesen Brief. Man hatte verabredet, Abends um 7 Uhr bei der Pachterin in Maßfeld zusammenzutreffen, und Schiller verbrachte den Tag in ungeduldigem Harren; aber Frau von Wolzogen fand sich nicht ein. Sie schrieb dem Dichter, die Herzogin von Gotha sei »kurz angebunden« gewesen, und stellte ihm erst für den Anfang des Juni ein Wiedersehen in Aussicht; Lotte aber mußte in das Haus der Amtmannsfrau zurückkehren. Ergänzendes erfahren wir aus einem kurz nach Pfingsten geschriebenen Briefe der Frau von Wolzogen an ihren Sohn Wilhelm: demnach hatte die Herzogin von Gotha in der Audienz unwillig erklärt, daß sie sich von der Versorgung Lottens ganz lossage, also den Unterhaltsbeitrag von hundert Talern zurückziehe, und Frau Henriette machte daraufhin Pläne, ihre Tochter anderwärts unentgeltlich unterzubringen, trug auch ihrem Sohn auf, an den Mitvormund ihrer Kinder, den Meiningischen Reisemarschall Ludwig Karl von Bibra, zu schreiben, damit dieser einwillige, daß Lotte den Sommer bei ihr in Bauerbach zubringe, im Winter aber zur Erlernung der Haushaltung wieder zur Amtmannsfrau komme.

Schillers Antwort an Frau von Wolzogen trägt das Datum des 30. Mai und ist biographisch nicht unwichtig. Wie es scheint, hatte die Baronin am Meininger Hof eine »Assemblée« mitgemacht, und die Mißstimmung, in der sie sich wegen der ungnädigen Aufnahme bei der Herzogin von Gotha befand, war dabei nicht vermindert worden; so hatte sie jetzt an Schiller geschrieben, daß ihr »das Hofleben ekelhaft« vorkomme. Das hörte der Dichter der Louise Millerin »sehr gerne«, und um so lieber, als dabei geschrieben stand, daß sie sich nach Bauerbach sehne; ihm selbst, meint er mit einem Anflug sarkastischen Humors, würde die Wahl zwischen (der Festung) Spandau und einer Assemblée nicht schwer fallen. Der Brief der Frau von Wolzogen hatte ihn aber auch wissen lassen, daß er in Meiningen »erkannt« sei, und diese Mitteilung versetzt ihn in nicht geringe Aufregung: er müsse, schreibt er, denjenigen hassen, der ihm diesen Dienst getan habe, selbst wenn es sein erster Freund wäre, und lieber wolle er ein Auge verloren haben, als daß ihn die Meininger kennen. Eine hochmütig oder renommistisch lautende Äußerung läuft im folgenden mit unter: »Bin ich wirklich entdeckt,« fährt er fort, »so kann ich nicht mehr inkognito bleiben oder ich mache mich lächerlich. Ich mus unter meinem Namen in Gesellschaften gehen, und den Dumköpfen die so hoch aufgelauscht haben, Impertinenzien sagen. Es ligt mir an dem Respekt, der meinem Namen gebührt, und diesen mus ich notwendig behaubten.« Man versteht kaum, daß Schiller hier von der Entdeckung seines wahren Namens so sehr überrascht sein will. Durch seine »Wunderseltsame Historia« und seinen Kindertheater-Prolog hatte er doch selbst die Nachfrage nach der Person des Autors erweckt, und noch im Brief vom 27. März, als es sich darum handelte, Winckelmann fernzuhalten, hatte er an Frau von Wolzogen geschrieben, ganz Meiningen wisse, daß sich ein Württemberger in Bauerbach aufhalte, daß dieser ein Freund der Gutsherrin sei und sich schriftstellerisch beschäftige; ganz Meiningen vermute, daß dieser »Ritter« nicht der sei, für den er sich ausgebe, daß er vielleicht genötigt sei, seinen wahren Namen zu verschweigen; die Neugier suche ihm schon lange auf die Spur zu kommen und habe schon einigemale auf das Wahre geraten. Nimmt man hinzu, daß die persönliche Erscheinung Friedrich Schillers, die hochaufgeschossene Gestalt mit der ungewöhnlichen Gesichtsbildung und den rötlichen Haaren, auffällig genug war und daß sich die Frage, zu welchem Zweck der Jüngling einen ganzen Winter in einem abgelegenen Dörflein verbringe, vielen auf die Lippen drängen mußte, so ist wahrlich nichts verwunderlicher, als daß sich sein Inkognito so lange hielt. Indessen sind es nicht diese Dinge, die den Hauptinhalt des Briefes ausmachen; stürmische Herzensergüsse eines Verliebten sind es vielmehr, die ihn erfüllen. Schiller findet es »schröklich«, daß er noch einmal warten, 48 Stunden warten müsse, bis er Frau von Wolzogen wiedersehe; nie sei er ihrer Gegenwart so bedürftig gewesen, und weit und breit sei keine Seele, die seiner »zerstörten wilden Phantasie zu Hilfe käme«. Er wisse nichts, als ihr zu schreiben, und fürchte sich doch vor sich selbst in seinen Briefen, da er darin entweder zu wenig sage oder mehr, als sie hören oder er verantworten könne. Gerne schriebe er der Lotte, scheue aber das Schicksal seines vorigen, in die Hände der Amtmannsfrau geratenen Briefes und vermöge doch in einem für diese berechneten Tone nicht zu schreiben. Er wolle Gott danken, wenn die Herzogin von Gotha »recht sehr grob« würde, da auf diese Art doch Frau von Wolzogen »ein übriges thun« d. h. einen bestimmten Entschluß wegen einer andern Unterbringung Lottens fassen müsse. »Es bleibt dabei,« setzt er hinzu, »ich schreibe eine Tragödie mehr, sobald die H. ihre Pension zurüknimmt, und die Lotte soll die praenumerazion davon haben.« An den Ernst dieses Arbeitsvorsatzes ließ freilich Schiller selbst die Empfängerin des Briefes nicht glauben; denn nach der wenige Zeilen weiter unten folgenden Erklärung, daß er den Respekt, der seinem Namen gebühre, behaupten müsse, fährt er unmittelbar fort: »Doch ich bin wohl ein Thor. Jezt ligt mir auch an diesem nichts mehr. Es war eine Zeit, wo mich die Hoffnung eines unsterblichen Ruhmes so gut, als eine Galanterie ein Frauenzimmer gekizelt hat. Jezt gilt mir alles gleich, und ich schenke Ihnen meinen dichterischen Lorbeer in die nächste Boeuf à la Mode, und trete Ihnen meine tragische Muse zu einer Stallmagd ab, wenn Sie Sich Vieh halten. Wie klein ist doch die höchste Gröse eines Dichters gegen den Gedanken glüklich zu leben. Ich möchte mit meiner Leonore sprechen: ›Lass uns fliehen – Lass in den Staub uns werfen all dieses pralende Nichts. Lass in romantischen Fluren ganz der Freundschaft uns leben. Unsere Seelen, klar wie über uns das heitere Himmelsblau, nehmen dann den schwarzen Hauch des Grams nicht mehr an. Unser Leben rinnt dann melodisch wie die flötende Quelle zum Schöpfer.‹« Mit einem schwachen Reste von Behutsamkeit hatte Schiller in diesem Zitat aus dem vierten Akte seines »Fiesko« das Wort »Liebe« in »Freundschaft« verwandelt; wie sehr aber sein Sinnen und Begehren darauf ging, aus der poetischen Vorstellung Wirklichkeit zu machen, verraten die nächstfolgenden Zeilen seines Briefes: »Mit meinen vormaligen Planen ist es aus Beste Freundin ... Dass ich bei Ihnen bleibe und wo möglich begraben werde, versteht sich. Ich werde es auch wol bleiben laßen, mich von Ihnen zu trennen, da mir drei Tage schon unerträglich sind. Nur das ist die Frage wie ich bei Ihnen auf die Dauer meine Glükseligkeit gründen kann. Aber gründen will ich sie, oder nicht leben, und jezt vergleiche ich mein Herz und meine Kraft mit der ungeheuersten Hinderniß, und ich weis es, ich überwinde sie.« Das war unzweideutig gesprochen, und Schiller selbst erschrak einen Augenblick über ein solches Geständnis seiner Wünsche: »ich überlese was ich geschrieben habe,« fährt er fort, »es ist ein toller Brief. Aber Sie verzeihen mir ihn. Wenn ich mündlich ein Narr bin« – das scheint ihm Frau von Wolzogen einmal freundschaftlich gesagt zu haben – »so werde ich schriftlich wol nicht viel weiseres seyn«. Hätte es aber noch einen Zweifel gegeben, welcher Magnet es sei, der Schiller an Bauerbach fessele, so besorgte der Schluß des Briefes seine Vertreibung gründlich. Ein Bauerbacher Junge hatte erzählt, daß ein Stuttgarter Herr in Meiningen angelangt sei und sich nach Frau von Wolzogen erkundigt habe. Sofort bricht Schillers Eifersucht hervor; er vermutet, daß es »Pfaffenrath – oder Winkelmann« sei, und erklärt kategorisch: »Sollte der leztere es seyn, so schiken Sie mir einen Expressen. Ich gehe nach Weimar.«

Das Fräulein Charlotte von Wolzogen, das eine solche Verwirrung im Herzen des Dichters angerichtet hatte, war im April 1783 siebenzehn Jahre alt geworden. Ihr Pastellbild zeigt ein schmächtiges Figürchen und keine Schönheit oder Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge; aber etwas Schlichtes und auch Verständiges kann man in ihnen wohl finden. Siehe die Abbildung in »Schillers Beziehungen« nach S. 462. Die hoch hinaufgekämmten Haare werden blond genannt. Palleske, Charlotte S. 221. Nach der Charakterschilderung, welche die Gedenkblätter der Charlotte von Kalb in Schillers Mund legen, war der Tochter der Henriette von Wolzogen »ein selbstbestimmtes Betragen eigen; was irgend im Benehmen einer Übertreibung, nichtigem Affekt ähnlich war, wurde von ihr scherzhaft verspottet, ihre Gegenwart zügelte oft das Überschwängliche« der Reden der Jünglinge. Zu diesen eine Zeichnung von scharfem Umriß gebenden Worten stimmt, was Karoline von Wolzogen Schillers Leben, S. 132. von ihr bemerkt: »Sie war von ruhigem Charakter, in dem Besonnenheit und Empfindung im Gleichgewicht lagen.« Damit will nicht gesagt sein, daß Lotte von Wolzogen eines innigen Gefühles nicht fähig gewesen wäre; gemeint ist nur, daß ihr Empfinden einen kritischen Zug hatte und daß sie auf eine leidenschaftlich starke Behauptung ihrer Wünsche nicht angelegt war. Aber ein gutes Gemüt war ihr Erbteil, und daß sie, wie sie selbst sagt, die stillen und einfachen Vergnügungen den rauschenden vorzog, glaubt man ihr gerne. Eine geistig bedeutende Natur war sie nicht, doch besaß sie die übliche Bildung eines adeligen Fräuleins ihrer Zeit und schrieb sogar ein beinahe richtiges Deutsch. Von ihren Briefen an Schiller kennen wir drei, und der eine von ihnen, im Jahr 1788 nach dem Tod ihrer Mutter geschrieben, Veröffentlicht von Otto Braym, Schiller I, 259. ist von der schönsten Herzlichkeit; die beiden andern stammen aus dem Jahre 1786 und sind ein anspruchsloses Geplauder, das auf einen freundschaftlich warmen Ton gestimmt ist. Lotte, damals in Hildburghausen und gewiß schon etwas reifer als in der Bauerbacher Zeit, erinnert den Dichter an die »so vergnügt miteinander zugebrachten« Stunden und fragt angelegentlich nach seinen Schriften. Daß sie, wie Karoline von Wolzogen glauben möchte, Schillers Neigung nicht bemerkt hatte, ist wenig wahrscheinlich; für dergleichen ist ein Weib selten blind, und des Dichters ganzes Gebaren – man denke nur an den Brief, den die Amtmannsfrau nicht hätte lesen sollen – schloß eine Selbsttäuschung aus. Es scheint auch nicht, daß die Wolzogensche Familie ein Geheimnis aus seinen Empfindungen machte; zum mindesten wußte Schillers Vater zu Anfang des Jahres 1785, daß der Sohn um »ein gewisses Fräulein«, d. h. um Lotte von Wolzogen, »angesucht« hatte, und eine Kunde davon kann ihm nur aus dem Wolzogenschen Kreise geworden sein. Daß die Gefühle des Jünglings niemals Erwiderung fanden, von einem Liebesverhältnis zwischen Schiller und Lotte also gar nicht gesprochen werden kann, muß aber sogleich gesagt werden.

Erquickliches oder Anmutendes ist an Schillers Bauerbacher Herzensroman nicht viel. Zwar erweckt eine »Dichterliebe« sogar bei gesetzten Leuten zuweilen Backfischbegeisterung, und die Schönrednerei, die sich in den Schriften über Schiller so maßlos breit macht, bekundet auch an diesem Punkte seines Lebens Entzücken; aber eine geschichtlich-sachliche Betrachtung läßt davon wenig übrig. Den vollen Glückstraum jugendlicher Liebe hat Schiller in Bauerbach schon darum nicht kennen gelernt, weil die Gegenseitigkeit des Empfindens ausblieb, und bei seiner Neigung zu Lotte von Wolzogen von einer ersten Liebe zu schwärmen, geht auch nicht an; denn wenn seine Gefühle für diese von einer ungleich natürlicheren und reineren Art waren, als er sie für Frau Luise Vischer hegte, so läßt sich die Stuttgarter Hauptmannswitwe aus seinem Leben doch nicht ganz ausschalten. Es ist die Sprache eines ins Leidenschaftliche gesteigerten Herzenszustandes, die wir in Schillers späteren Bauerbacher Briefen vernehmen, und sichtlich war zu einer lodernden Flamme jetzt ausgeschlagen, was zuvor nur geglimmt hatte; daß diese Liebe aber nicht tief ging, daß sie nicht von der großen, die ganze Seele verzehrenden Art war, zeigt sich an ihrer ziemlich raschen Vergänglichkeit. Ein bißchen Heiratsspekulation wird dabei gewesen sein, wie sie dem Dichter auch in seinen nächsten Lebensjahren nicht eben fremd war: der Gedanke, als Angehöriger der Wolzogenschen Familie, der Bauerbacher Gutsherrschaft, von gesichertem Port aus geistig zu schaffen, konnte locken. Wenn es aber das Recht der Jugend war, sich zu verlieben und sogar Hoffnungen nachzuhängen, die man in diesem Falle wohl mit Minor als töricht bezeichnen darf, so ist doch der Vorwurf nicht unberechtigt, daß Schillers Verhalten des Taktes entbehrte. Wie die Dinge lagen, mußte er mit der Äußerung seiner Gefühle zurückhaltender sein. Die Bemerkung der zur Schönfärberei und Glättung nur allzu geneigten Karoline von Wolzogen: »Schiller war zu redlich und zartfühlend, um in seiner ungewissen Lage Wünsche auszusprechen, die das Glück des liebenswürdigen Mädchens nicht gründen konnten und denen ihre Familie entgegen seyn mußte. So blieb das Verhältniß in Schweigen verhüllt« Schillers Leben, S. 132. – steht mit den Tatsachen wie den von ihr selbst veröffentlichten Briefen in Widerspruch, und auch der Satz ihrer nächsten Zeile: »Nur halb im Scherz spricht er in einem folgenden Brief diese Idee aus« gibt, wie wir sehen werden, nicht das Richtige. Frau Henriette von Wolzogen hatte den Dichter unterrichtet, daß zwischen ihrer Tochter und Herrn von Winckelmann eine Neigung bestehe; nicht belehrt von diesem absichtlichen Wink und verzichtend auf männlichen Stolz, drängt sich Schiller mit seinem Briefe vom 30. Mai dennoch dazwischen. Und er war Gast der Frau von Wolzogen, er genoß den Schutz ihres Hauses; so stand es ihm schlecht an, ihr vorzuschreiben, wen sie mitbringen wolle, oder sie zum mindesten vor die Wahl zu stellen, entweder auf Pläne zu Gunsten ihrer eigenen Familie zu verzichten oder ihn selbst in eine ungewisse Ferne zu treiben. Sie tat, wie er wünschte, ohne ihn darum rücksichtsvoll zu finden: so, wie er sich gab, als von leidenschaftlichen Empfindungen bewegt und die Nähe von Mutter und Tochter jede Stunde suchend, mußte er Frau von Wolzogen, die doch ihre Tochter auch in Bauerbach bei sich zu sehen wünschte, in Verlegenheit setzen. Kann man von diesem allen keinen gefälligen Eindruck haben, so enthalten auch die Briefe, welche Schiller damals schrieb, im einzelnen Unerquickliches. Von seinem Anerbieten, den Pränumerationsertrag für ein neu zu fertigendes Trauerspiel dem Fräulein Lotte zuwenden zu wollen, läßt sich beim besten Willen nur sagen, daß es ein Reden ins Blaue hinein war; steckte er doch selbst in grimmiger Geldnot und war mit Schulden belastet! Die Stellen aber vom dichterischen Lorbeer, den er seiner Gönnerin in das nächste » Boeuf à la Mode« schenke, Ein Motiv aus Heinr. Leop. Wagners Satire »Voltaire am Abend seiner Apotheose«. Vgl. Boxberger, Archiv f. Litg. IX, 259. und von seiner tragischen Muse, die er ihr »zu einer Stallmagd« abtrete, wenn sie sich Vieh halte, sind auch in Anrechnung der exaltierten Stimmung, in der er sich befand, eine arge Geschmacklosigkeit, und in das nämliche Fahrwasser hatte sich Schiller schon verirrt, als er im vorausgegangenen Briefe den Vorsatz aussprach, wenn Frau von Wolzogen die Pension für Lotte aufsage, »alle Jahr eine Tragödie mehr« zu schreiben und auf den Titel zu setzen – diese Worte unterstreicht er noch! – »Trauerspiel für die Lotte«. »So sehr fühlte er damals durch die Liebe auch seine Schaffenskraft gehoben«, sagt zu dieser Briefstelle ein Schillerbiograph; in Wahrheit aber stockte Schillers poetische Produktion in jenen Wochen gänzlich, für die Lyrik fiel gar nichts ab, und von der Arbeit an seiner »Louise Millerin« muß Schiller, so sehr Dalberg auf ihre Einsendung gedrängt hatte, in einem Briefe an Reinwald vom 14. Juni bekennen: »Gott dem Allmächtigen will ich danken, wenn ich fertig bin. Ganze 14 Tage ist kaum was daran gethan worden.«

Eine allgemeinere Bemerkung ist in diesem Zusammenhang wohl am Platze. Verständige Schillerverehrung kann sich nicht beunruhigt fühlen, wenn ihr Held einen Anteil an menschlicher Schwäche zeigt; denn sie haftet am Großen im Leben und Dichten des Mannes und weiß sich, indem sie dieses in scharfes Licht stellt, auf festem Grunde. Ein Idol, ein allen Mängeln entrücktes Wesen vermag keine Biographie, der die Wahrhaftigkeit Gesetz ist, aus dem Dichter zu machen, und in der Bauerbacher Zeit war Schiller auch noch kein Fertiger; es sind Entwicklungsjahre, mit denen wir es vorerst zu tun haben, und sie sind von einem gelegentlichen Mangel an Haltung, auch von Unausgeglichenheit des Selbstgefühles nicht frei. Solche Unsicherheit ist der Jugend eigen, und sie wird bei Schiller miterklärt durch den Zwang und Druck seiner Erziehung, durch die gewaltsamen Schicksale, die er bei seinen ersten Schritten in die Öffentlichkeit zu erleiden hatte, und durch sein Kämpfen mit Armut und Not. Dauernde Zustände dieser Art hemmen die harmonische Bildung der Persönlichkeit, und leicht kommt bei dem einer zuverlässigen bürgerlichen Existenz Beraubten, bei dem Flüchtling, dem »Unbehausten« auch in das gesellschaftliche oder moralische Gebaren etwas Ungeordnetes oder Unfolgerichtiges. Aber auch Dissonanzen in sich selbst, in seinem Innern hatte der jugendliche Schiller zu überwinden, und gerade die Jahre, die auf seinen Austritt aus der Akademie unmittelbar folgten, bilden für ihn eine Übergangszeit. Seine ursprüngliche Gemütsanlage ging auf das Zarte, Sanfte, Idealisch-Schwärmerische; der tumultuarische Freiheitsdrang aber, mit dem er seine Dichtung erfüllte, hatte auch auf seine Lebensführung abgefärbt, und ins studentisch Verwilderte, Ungezügelte, ja bisweilen Rohe und Wüste war das Treiben des Stuttgarter Regimentsmedikus geraten. In seinem Reisetagebuch vom Jahr 1782 erzählt Lavater, daß er während seines Stuttgarter Aufenthaltes mit Winckelmann – dem nämlichen, den Lotte von Wolzogen liebte – ein Stück Weges gegangen sei und sie dabei von Schiller, einem »etwas wilden poetischen Genie«, gesprochen hätten. Mitgeteilt in der Zeitschrift »Euphorion« 1905, S. 422. Diese Bezeichnung meinte wohl zunächst den Dichter der »Räuber« und der »Anthologie«, war aber auch auf Sitten und Gebaren des Jünglings anwendbar. Entgleisungen auf diesem Gebiet bedeuteten wenig neben der Macht des ihm innewohnenden Ideenlebens und neben der vom leidenschaftlichsten Wollen begleiteten Erkenntnis seines dichterischen Berufes; aber eine Schule guter Umgangsformen war die Gesellschaft, in der der Stuttgarter Regimentsmedikus verkehrte, nicht; an der Ordnung seiner innern wie äußern Zustände, an seiner Selbsterziehung hatte Schiller noch während des zweiten Aufenthaltes in Mannheim zu arbeiten, und wenn in Bauerbach enthusiastische Empfindungen der Freundschaft und Liebe seine bessere Natur an die Oberfläche drängten, so haftete an ihren Äußerungen doch noch vieles jugendliche Ungestüm und die Ungeschicktheit des Weltlosen.

Das Pfingstfest des Jahres 1783 fiel auf den 8. und 9. Juni, und es war Reinwalds Absicht gewesen, seinen Freund in diesen Tagen auf eine Reise nach Gotha und Weimar mitzunehmen; er hoffte ihn dort, wo er Bekannte und Verwandte hatte, zu Gelehrten zu führen und ihn wieder an Welt und Gesellschaft zu gewöhnen, die er in seiner jetzigen Stimmung beinahe scheute. So berichtet Reinwald selbst in seinem schon erwähnten ersten Brief an die Schwester des Dichters. Aber Schiller, setzt er hinzu, finde keinen Geschmack mehr daran, so geneigt er im Anfang dem Vorschlag gewesen war. Was den Dichter in Bauerbach festhielt, erfahren wir aus andern Briefen, aus seinem eigenen am 9. Juni begonnenen, am 16. aber erst beendeten an Reinwald und aus dem gleichzeitigen Briefe der Frau Henriette von Wolzogen an ihren Sohn Wilhelm: Lotte brachte die Pfingsttage in Bauerbach zu und blieb beinahe zwei Wochen dort. Auch »Mina«, Fräulein Wilhelmine Marschalk von Ostheim-Walldorf, eine Schwester der Frau Henriette, war aus Wasungen, wo sie als Stiftsdame lebte, herbeigekommen. Man verbrachte »lustige« Tage, im Hof wurde »recht getanzt«, und noch am Dienstag sprangen bei einem Eimer Bier die alten Bauern mit, ja Frau Henriette selbst scheint sich an diesem Vergnügen beteiligt zu haben. Dazwischen spielte Schiller mit Lotte Schach, man hatte auch Tarockkarten, Damenspiel und eine Kegelbahn – »ein ganzes Paradies« also, wie Frau von Wolzogen meinte; ein solches war es aber vorzüglich für Schiller, der nun der Nähe der Geliebten sich reichlichst erfreuen konnte. »Fräulein Mine und Lotte ... machen mir das Leben sehr angenehm. Die letztere ist ein wahres Studium für mich,« schreibt er an Reinwald. Jetzt war ihm Bauerbach »keine Barbarei«, er entdeckt sogar »Feinheiten« an den Bauern, die er der »rohen Natur« nicht zugetraut hätte. Daß er aber alle Dinge in so rosigem Lichte sah, war wesentlich mitverursacht durch einen Umstand, der den Hoffnungen seines Herzens schmeichelte: eben damals hatte die Zuneigung Lottens zu Winckelmann einen Stoß erlitten. Dieser scheint gegen einen an der Karlsschule zu Stuttgart angestellten Musiklehrer, namens Weber, der bei dem Verhältnis zwischen Winckelmann und Lotte eine Art Vermittlerrolle spielte, die Äußerung getan zu haben, er werde Lotte, da ihre Liebe zur Leidenschaft geworden und sie von Melancholie erfaßt sei, nicht verlassen; eine Ungeschicklichkeit, die durch Weber wiederum zu Ohren des ihm befreundeten Wilhelm von Wolzogen gelangte. Die Frauen, die davon erfuhren, fühlten ihren Stolz verletzt, und wenn schon Wilhelm an Weber einen erregten Brief geschrieben hatte, so glaubte nun auch die Mutter für ihre Tochter Verwahrung einlegen und dem »guten Weber« begreiflich machen zu müssen, daß man sich wegen der vermeintlichen »Leidenschaft« unnötige Sorgen mache. Schiller vollends war Feuer und Flamme; in einer dem Briefe der Frau von Wolzogen an Wilhelm beigefügten Nachschrift läßt er sich um den 20. Juni über das Vorkommnis aus, stempelt die Äußerung Winckelmanns zur »Impertinenz« eines »Unwürdigen« und versichert auch seinerseits, Lotte sei so melancholisch nicht, als die Eigenliebe gewisse Personen glauben lasse. Mit dem größten Vergnügen, setzt er hinzu, habe er beobachtet, »daß eine ansehnliche Provinz ihres Herzens dem bewußten Gözen noch nicht erb- und eigenthümlich« gehöre. Siehe Anhang Nr. 29. Hinsichtlich des Vorteils, den er im Stillen dabei für sich herausrechnete, war er freilich im Irrtum; denn wenn auch Winckelmann der Gatte Lottens nicht wurde, so war es doch nicht die in Rede stehende Indiskretion, die seinem Liebesverhältnis mit ihr ein Ende machte. Vielmehr scheint er im Sommer 1783 zwei Monate hindurch der Gast der Familie von Wolzogen in Bauerbach gewesen zu sein.

Der am 9. Juni begonnene Brief, an Reinwald ist mit fünfmaligem Abbrechen zu Ende geschrieben und verrät schon darin die zerstreute Stimmung, in der sich Schiller befand; bunt genug ist auch sein Inhalt, von dem wir schon mehreres kennen. Der Reise Reinwalds ist gedacht, doch ohne daß Schiller über den Verzicht auf seine Beteiligung ein Wort äußert, so begierig er auf die Neuigkeiten sei, welche Reinwald mit nach Hause bringen werde. Vorerst aber wird diesem ans Herz gelegt, über den »schimmernden Genies«, denen er begegnen werde, über Wieland, Goethe und andern den »armen« Bauerbacher Freund nicht zu vergessen; gewahre er dessen »ungeheuren Abstand« von jenen, so habe er an ihm doch wenigstens einen guten Menschen und einen warmen Freund. Reinwald möge zur Probe in Wieland nicht den Dichter, sondern den Menschen studieren, möge von Wieland aber auch über den bestmöglichen Verkauf von Schriften wie der »Louise Millerin« etwas zu erfahren suchen. Als Ursache des Stockens seiner Arbeit an diesem Stücke nennt Schiller, daß er immer geschwankt und seine »streitenden Gedanken« nicht habe vereinigen können. Nachdem Reinwald, flüchtig genug, den Auftrag erhalten hat, Nachrichten über des Dichters andere Schriften einzuziehen und ihm, wenn es möglich wäre, »einen tüchtigen Mitarbeiter zu einem Theaterjournal« zu verschaffen, erzählt Schiller, daß er den Oberhofmeister von Bibra kennen gelernt habe, der ihm nicht übel gefalle, verbindlich seine Freundschaft gesucht habe und ihm »Goethes Trauerspiel« vorlesen wolle. Gemeint ist der aus der Irmelshauser Linie seiner Familie stammende, damals 33jährige Freiherr Karl von Bibra, der zuvor Reisemarschall des Prinzen Georg von Meiningen gewesen war, in späteren Jahren die Würden eines Geheimen Rates, Ritterhauptmanns des Kantons Rhön-Werra und Obersten bekleidete und in mehrfachen Beziehungen zur Familie von Wolzogen stand; Vgl. oben S. 117 und Klarmann, Geschichte der Familie von Kalb S. 182. »ein gar guter und rechtschaffener Mensch«, wie ihn Goethe, der im April 1782 sein Gast in Meiningen gewesen war, nannte. Unter Goethes Trauerspiel könnten Iphigenie in Prosa oder Egmont gemeint sein. Mit Bibras Erwähnung, der ihm Wieland als einen »Egoisten« geschildert habe, kommt Schiller wieder auf den Dichter des Musarion zu sprechen, um sodann nach Musäus, dem Verfasser der Physiognomischen Reisen, zu fragen, dem ja Reinwald gleichfalls begegnen werde.

Wenige Tage, nachdem dieses Schreiben vom Stapel gelassen war, am 19. Juni, verfaßte Schiller wieder einen jener irreführenden und mit Fiktionen erfüllten Briefe, die dazu bestimmt waren, bei Nachforschungen in Stuttgart über seinen wahren Aufenthalt und seine wirklichen Absichten zu täuschen. Der Brief ist aus Frankfurt a. Main datiert und, wie es scheint, an Wilhelm von Wolzogen gerichtet. Siehe Anhang Nr. 30. Da sich dieser noch in der Karlsschule befand, so war anzunehmen, daß der dort einlaufende Brief viele Leser finden und wohl auch dem Herzog Karl zu Gesicht kommen werde. Der Inhalt besteht aus plumpen Erfindungen – man spürt wohl, mit wie wenig Neigung diese Täuschungsbriefe abgefaßt wurden: Schiller gibt vor, mit Wieland in Mannheim zusammengetroffen zu sein und jetzt nach Amerika gehen zu wollen. Er habe, setzt er, in diesem Punkte ganz unwahr, hinzu, seine Medizin nicht vernachlässigt, vielleicht aber könne er dort auch die Philosophie als Professor lehren, wenn er sich nicht etwa ins Politische einlasse. Der einzige Satz, der aus seinem Innern kam, steht vor dem Schlusse: »Aber Trauerspiele werde ich deswegen nicht aufhören zu schreiben – Du weist, daß mein ganzes Ich daran hangt.« Wie es scheint, war der Abfassung dieses Briefes wiederum ein Gespräch mit der Frau Henriette von Wolzogen vorausgegangen. Bei dem Umstand, daß man Ritters wahren Namen in Meiningen entdeckt haben wollte (wenn man auch »noch zweifelhaft« sei, bemerkt sie), waren ihr neue Sorgen aufgestiegen, ob ihr ein Nachteil daraus erwachsen könne. »Schreibe mir doch,« fordert sie in dem nach Pfingsten geschriebenen Briefe ihren Sohn Wilhelm auf, »ob wir wohl Gefahr laufen, wenn es auch in St. [«Stuttgart] entdeckt würde. Den Herzog mag ich um aller Welt willen vor seine vielen Wohlthaten nicht beleidigen.« Schiller spreche bei aller Gelegenheit sehr gut vom Herzog, und seiner eigenen Ruhe wegen liege ihm daran, ganz mit ihm ausgesöhnt zu sein. Er wolle »von Frankfurt« noch einmal um seinen Abschied schreiben, damit er ungestört in Bauerbach bleiben könne; hier könne er arbeiten, ohne in der großen Welt zu sein, nur wolle er sie gesichert wissen. In diesen Äußerungen spricht sich gewiß die wahre Ansicht der Frau von Wolzogen aus. Sie gibt ihrem Sohne noch für den Fall, daß er vom Herzog über Schiller befragt werde, den Rat, »ganz ungescheut« zu sagen, daß dieser in Meiningen bei einem Gelehrten namens Reinwald und von Mannheim dorthin empfohlen worden sei. Dabei wahrt sie in ihrem Briefe immerhin die Vorsicht, für den Namen Schiller den Buchstaben R [Ritter] zu setzen, sie wagt auch nicht, dem in diesen Tagen nach Stuttgart reisenden Herrn von Künsberg ihren Brief mitzugeben, sondern will ihn lieber der Post anvertrauen; »dem Künsberg« solle Wilhelm das Gerücht von Schillers Aufenthalt in Bauerbach »ausreden«. Gemeint ist der Meiningische Regierungsrat und spätere Geheimrat und Kanzler Freiherr Karl Konstantin von Künsberg, der, wie es scheint, unter den Personen war, die wegen »Ritters« Verdacht geschöpft hatten.

Zwischen dem Beginn des letzten Drittels des Juni und dem 10. Juli ist in Schillers Briefen eine Lücke, in diesen Zeitraum fällt aber eine bedeutsame Wendung seiner Geschicke: der Entschluß, von Bauerbach abzureisen. Zu unserer Überraschung macht der Dichter am 10. Juli davon nach Gotha Mitteilung an Reinwald: er gehe »in längstens 12 Tagen« weg, um mit seinem »Oncle aus London«, der sich jetzt in Schwaben befinde, an der Grenze zusammenzutreffen; vor sechs bis sieben Wochen werde er schwerlich zurückkommen. Der Oncle oder »Vetter«, wie ihn Schiller in der nächsten Zeile richtiger nennt, habe sich als Übersetzer englischer Schriftsteller »nicht unrühmlich« bekannt gemacht und gebe vielleicht den Kanal ab, durch den auch er in England bekannt werde. Etwas näher spricht sich Schiller in einem vom 22. Juli datierten Briefe an Reinwald aus, der inzwischen nach Meiningen zurückgekehrt war: Schiller wolle, heißt es hier, auf vier oder sechs Wochen nach Frankfurt oder an die württembergische Grenze reisen, da er seinen zur Zeit in Schwaben sich aufhaltenden Vetter »aus Tausend Gründen nicht gern entwischen laßen möchte«. Es sei der nämliche, der »Robertsohns« [Robertsons] Amerikanische Geschichte und auch mehrere englische Reisebeschreibungen ins Deutsche übersetzt habe, und vielleicht sei es möglich, daß er durch diesen Vetter das Bürgerrecht auf dem Theater zu Drurylane erhalte, da er selbst »nach englischen Mustern gebildet« sei und also hoffen dürfe, daß sich seine Arbeiten dem Geschmack der englischen Nation mehr näherten als dem deutschen.

In der Tat befand sich der »Vetter«, d. h. der aus Steinheim a. d. Murr gebürtige Johann Friedrich Schiller, dessen Großvater ein Bruder des Großvaters des Dichters war, damals im Württembergischen. Er war nach 22jährigem Aufenthalt im Ausland um Pfingsten 1783 in seine Heimat zurückgekommen und hielt sich in Steinheim und dem nahen Bottwar »über ½ Jahr« auf, bevor er sich nach Mainz wandte. Vgl. über ihn Schillerbiographie, Band I, S. 753-759 und S. 860 f., sowie S. 59-61 und S. 102 meines Buches »Schillers Ahnen« (Weimar 1907) nebst der dortigen Stammtafel IV; siehe auch Anhang Nr. 31 dieses Buches. »Über ½ Jahr« ist der Ausdruck in dem bei v. Schloßberger (Neuaufgefundene Urkunden über Schiller und seine Familie, S. 55) gedruckten Schreiben des Steinheimer Amtmanns Neuffer. Ebendaselbst ist von Joh. Friedr. Schillers 22 jährigem Aufenthalt »in London« die Rede, wofür genauer zu sagen sein wird »im Ausland«, da sich der Genannte innerhalb dieser Zeit auch in Holland aufhielt. Daß der Vater des Dichters bei der kontraktlichen Auseinandersetzung, welche Johann Friedrich Schiller wegen des Verkaufes seines von den Eltern stammenden Güterbesitzes damals mit seinem Schwager Voßhardt in Steinheim hatte, den Beisteher des »Vetters« abgab, wissen wir bereits, und ohne Zweifel hat der Hauptmann Schiller, der ja große Stücke auf ihn hielt, seinen Sohn von diesen Vorgängen in Kenntnis gesetzt, hat ihm wohl auch den Rat gegeben, eine Begegnung mit dem Vetter zu suchen. Zu einer solchen aber ist es nicht gekommen, und es ist fraglich, ob sie von Seite des Dichters überhaupt ernstlich geplant wurde; ja es hat fast den Anschein, als ob Schiller in den Briefen an Reinwald die Absicht, mit dem aus England Zurückgekehrten zusammenzutreffen, nur vorgeschützt habe, um die wahren oder doch die stärkeren Gründe für seine Abreise von Bauerbach nicht nennen zu müssen. Denn der Entschluß zu dieser wurde auf einem Spaziergang im Walde, den Frau Henriette von Wolzogen mit dem Dichter machte, gefaßt, und augenscheinlich war sie es, die den Vorschlag ausgesprochen hatte; vom Vetter ist in den Briefen, welche Schiller nach seiner Abreise an Frau von Wolzogen schrieb, mit keiner Silbe die Rede, wohl aber enthält sein Mannheimer Brief vom 7. Juni 1784 die Stelle: »Wenn ich jezt ernsthaft über meine Schiksale nachdenke, so finde ich mich seltsam und sonderbar geführt. Nie kann ich ohne Bewegung der Seele an den Spaziergang in Ihrem Wald zurükdenken, wo es beschlossen wurde, dass ich eine Zeitlang verreißen solle. Wer hätte damals gedacht, dass ein ohngefehrer Gedanke soviel, soviel in meinem Schiksal verändern würde? – und doch hat dieser Gedanke vielleicht für mein ganzes Leben entschieden. War mein Aufenthalt in Bauerbach etwa nur eine schöne Laune meines Schiksals, die nie wieder kommen wird? War es ein Gebüsch, wo ich auf meiner Wanderung hangen blieb, um desto stärker wieder mitten in den Strom gerissen zu werden?«

Der »ohngefehre Gedanke«, wenn auch plötzlich geäußert, wird doch wohl aus einer längeren Erwägung der Frau von Wolzogen hervorgegangen sein. Denn das mußte sie sich ja schon seit geraumer Zeit gestehen, daß der Aufenthalt in Bauerbach dem Dichter zu einer Hemmung seiner Kräfte geworden sei, daß er sich einer unfruchtbaren Liebesneigung überlasse und diese seelische Ablenkung ein Vorrücken seiner Arbeiten verzögere. Wenn sie ihn veranlaßte, auf etwa 1½ Monate nach Mannheim zu reisen, so konnte sie hoffen, daß ihm die Nähe des Theaters neue und starke Impulse für die Ausführung seiner dramatischen Pläne geben, daß er die für ein Übereinkommen mit Dalberg jetzt eben günstige Zeit benützen und über diesem allen die romantischen Luftschlösser, die er sich im Gedanken an eine Verbindung mit ihrer Familie gebaut hatte, vergessen werde. Ihr selbst auch, der Mutter, war damit eine Erleichterung geschaffen; denn das enge Zusammenwohnen mit dem ungeduldigen jungen Manne, der ihre Tochter liebte, mußte ihr auf die Dauer peinlich werden, in ihrer Geselligkeit, ihrem Familienverkehr Fesseln auflegen. Und wenn sie bei dem Wunsche, daß er sich auf einige Zeit entfernen und für eine Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz Schritte tun möge, ihre eigene ökonomische Lage miterwog, so kann ihr das niemand verdenken. Sie hatte dem Flüchtling eine Zufluchtsstätte angeboten, als er Verfolgung durch den Herzog von Württemberg befürchten zu müssen glaubte; aber eine Gefahr von dieser Seite her bestand jetzt nicht mehr, und daß er für immer, wie er neuerdings plante, in Bauerbach bleiben werde, konnte nicht ihre Meinung gewesen sein. Auf die Dauer, auf nicht absehbare Zeit ihm den Unterhalt zu gewähren, konnte sie, die zur Erziehung ihrer eigenen Söhne fremder Unterstützung bedurfte, sich nicht zumuten. Welche Verabredungen zwischen ihnen getroffen wurden, als er die Reise nach Bauerbach antrat, wissen wir nicht; wenn aber die Erinnerung der Schwester Schillers, Christophinens, zutreffend ist, so hatte ihm Frau von Wolzogen, als er noch in der Militärakademie war, gesagt, wenn er einmal »an einem Ort recht ruhig und wohlfeil leben« wolle, so solle er sich auf ihr Gut in Bauerbach begeben. Christophine in ihren »Notizen über meine Familie«, geschrieben im Oktober 1845, abgedruckt in »Schillers Briefwechsel mit seiner Schwester Christophine« u. s. w. S. 337 ff. Das war doch so zu verstehen, daß er zwar in ihrem Hause unentgeltlich wohnen könne, im übrigen aber für seinen Unterhalt selbst sorgen werde. Indessen war die geringe Barschaft, welche Schiller von Oggersheim mitgebracht hatte, bald aufgebraucht, literarischer Verdienst fehlte ihm in Bauerbach gänzlich, und von seinem elterlichen Hause erfuhr er in diesen Monaten keine oder doch keine nennenswerte Unterstützung; so war er genötigt, beim Wirt, wo er das Essen nahm, aber auch beim Verwalter und bei Reinwald, der viele kleine Auslagen deckte, Schulden zu machen, und wie die Dinge lagen, hatte schließlich Frau von Wolzogen für dieses alles aufzukommen. Wir wissen von Schiller selbst, Durch des Dichters Brief an Wilhelm v. Wolzogen vom 1. Sept. 1788. Jonas II, 111 f. daß er ihr während seines Aufenthaltes in Bauerbach im Ganzen 540 rheinische Gulden schuldig wurde; eine Summe, bei der Zinsen nicht mitberechnet waren und deren fast wunderliche Höhe erst deutlich wird, wenn man dem heutigen Geldwert entsprechend ihre Ziffer vervierfacht, [So im Jahr 1908; und heute?] Unter den Lesern des vorliegenden Buches sind wohl wenige, denen es bei einem solchen Gaste nicht bange geworden wäre.

Allem Anschein nach ist Schiller auf den Vorschlag, den ihm Frau von Wolzogen machte, unverzüglich eingegangen, sei es, daß der Gedanke, beim Mannheimer Theater ein Entgegenkommen zu finden, seinen Schaffensdrang aufrüttelte, oder weil ihm nachgerade bewußt werden mußte, daß er mit seinen Wünschen und Hoffnungen bei Lotte nicht um eine Linie vorrücke. Vielleicht hatte ihm Frau Henriette, um ihn auf eine Trennung vorzubereiten, gerade jetzt das Gedenk- oder Tagebuch ihrer Tochter zu lesen gegeben, wobei er sich überzeugen mußte, daß Lottens Herz, so unsicher auch ihr die Zukunft erschien, an Winckelmann hänge; zum mindesten bringt die Erzählung der Frau von Kalb Schillers Abreise von Bauerbach mit seinem Einblick in diese Bekenntnisse des Mädchens in Zusammenhang. Siehe Anhang Nr. 32. Was aber immer den Ausschlag für seinen Entschluß gegeben haben mag, irrig wäre es anzunehmen, daß er von einer Verstimmung zwischen ihm und Frau von Wolzogen begleitet gewesen sei. Das Freundschaftsverhältnis beider blieb und behielt auf Seite Schillers auch die Farbe schwärmerischer Innigkeit, Zutraulichkeit und Zutulichkeit eine Zeit lang noch bei. Von Natur aus schwankend und beweglich in ihren Entschlüssen, hatte Frau von Wolzogen sicherlich mit sich gekämpft, bevor sie den Vorschlag einer Trennung aussprach; ihr gutes Herz ließ schwer von dem Gedanken, daß Friedrich Schiller ihr Schützling sei, und sie hatte sich an den Verkehr mit ihm gewöhnt, hatte die geistige Anregung, die von ihm ausging, als wohltätig empfunden – war er doch auch bedacht gewesen, nebenbei ihre Bildung zu heben, und hatte noch zuletzt sie mit Ossian und Klopstocks Messias bekannt machen wollen. Was aber ihnen beiden die Trennung erleichterte, war der aufs bestimmteste ausgesprochene Vorsatz, daß sein Verweilen in Mannheim nur auf sechs Wochen bemessen sein solle; das Versprechen, sodann nach Bauerbach zurückzukehren, wurde von Schiller feierlich gegeben und von Frau Henriette warmen Sinnes angenommen. Die Ahnung, daß es anders kommen könne, beschlich sie freilich; der Dichter aber fühlte sich seines Wortes so sicher, daß er die Zurückgabe entliehener Bücher auf seine Wiederkehr verschob und nur einen Teil seiner Kleider einpackte.

Die Abreise wurde mit Hast betrieben, und sogar zu einem Zusammentreffen mit Reinwald kam es nicht mehr. Er sei »voll Arbeit«, schrieb ihm Schiller, ziemlich kurz sich entschuldigend, am 22. Juli, indem er noch beifügte, Reinwald möge die »ausgestreute Erfindung«, daß er nach Stuttgart gereist sei, unterstützen und die Rechnung für alles, was er an Porto und sonstigem für ihn ausgelegt habe, vorläufig an Frau von Wolzogen nach Bauerbach schicken. Täglich erwarte er Reisegeld von Haus, hatte er schon am 10. Juli geschrieben; in der Tat aber stand es um seine Börse so, daß ihm ein Bauerbacher Jude, Namens Israel Isaac heißt der Jude, wohl aus Versehen, bei Minor II, S. 110; mir wurde in Bauerbach erzählt, ein Jude, Namens Madig, habe dem Dichter aus seinen häufigen Geldverlegenheiten geholfen. [Über diesen vgl. oben S. 162 und 25. Jahresb. d. Schwäb. Schillervereins S. 66. – Müller, der von Mattich wohl wußte, hält in seinen auf Bauerbacher Erkundigungen beruhenden Aufzeichnungen an dem Namen Israel, den Schiller selbst (Jonas I, 178) nennt, fest: »Schiller mußte übrigens in Bauerbach seine Zuflucht zu Juden nehmen. Israel borgte ihm unter Bürgschaft der Frau von Wolzogen einige 100 fl., die ihn später sehr drückten. Die Summe belief sich gegen 600 fl. eine Summe Geldes vorstrecken mußte, wobei Frau von Wolzogen Bürgschaft leistete. Reinwald erwiderte noch mit einigen Zeilen: er legte dem Freunde ans Herz, bei Schwan in Mannheim die Absendung von 6 Exemplaren des »Fiesko«, welche Charlotte Marschalk von Ostheim (edelmütig) bestellt und schon bezahlt habe, sowie eines siebenten für ihn selbst zu betreiben. Von der angekündigten Begegnung mit dem »Onkel« urteilte Reinwald ganz richtig, daß England zu Schillers »Hauptentzweck wenig beitragen« könne. Daß aber ein dauerndes Verweilen in Bauerbach diesem nicht zum Nutzen sei, hatte er schon früher erkannt. »Ihr Herr Bruder«, heißt es in seinem Briefe an Christophine vom 24. Mai, »muß menschliche Charaktere viel kennen, weil er sie auf der Büne schildern soll, item, er muß sich durch Gespräche über Natur und Kunst, durch freundschaftliche, innige Unterhaltung aufheitern, wenn durch Denken und Niederschreiben das Mark seines Geistes vertrocknet ist. Die Gegend wo er sich izt aufhält, und die nur im Sommer ein wenig von der Seite lächelt, gleicht mer der Gegend, wo Ixions Rad sich immer auf einem Orte herumdreht, als einer Dichter Insel; und einen zweiten Winter dazugebracht, wird H. D. S. [Herrn Doktor Schiller] völlig hypochondrisch machen.«

Vom Trauerspiel »Louise Millerin« ist in des Dichters Bauerbacher Briefen zuletzt am 14. Juni, 10. und 22. Juli die Rede. Am erstgenannten Tage hatte Schiller an Reinwald, als dieser nach Gotha ging, geschrieben, er müsse ihm das Stück »im Original« mitgeben, denn schwerlich werde soviel Zeit übrig bleiben, um es abschreiben zu lassen; auch werde Reinwald »mehr als 2 oder 3 Akte« kaum mitbekommen. Darauf folgt der schon erwähnte Zusatz: »Gott dem Allmächtigen will ich danken, wenn ich fertig bin« u. s. w. Am 10. Juli schreibt Schiller an Reinwald, daß er selbst eine Reise antrete und sich darum seiner L. Millerin jetzt nicht entäußern könne, da er sie mitnehmen müsse und noch nicht wisse, wann er gehe oder wann Reinwald von der Reise zurück sei. Im Brief an Reinwald vom 22. Juli endlich wiederholt Schiller, daß er seine Louise Millerin mitnehme, um sie seinem Vetter zu zeigen; »vielleicht«, setzt er hinzu, da er nicht wisse, wo ihn seine Reise umtreibe, verschaffe er ihr »sonst ein Obdach«.

Am Vorabend seines Abschiedes von Bauerbach soll Schiller die ihm befreundeten Pfarrer Freißlich in Bibra, denen er noch immer Ritter hieß, besucht haben. Auf seine Frage an den älteren Pfarrer, ob er die »Räuber« kenne, habe dieser geantwortet, er halte nicht viel von dem Stück, da zuviel jugendliche Phantasie darin herrsche, die Situationen übertrieben, die Charaktere zu schroff gezeichnet seien. Schiller erwiderte, er habe Recht, aber die Tendenz des Stückes sei doch edel und gut. Wie des weiteren erzählt wird, blieb Schiller bis spät in die Nacht, worauf ihn der jüngere Freißlich, wie oftmals, ein Stück des Weges begleitete. Am Kirchhof des Dorfes blieb Schiller stehen, zitierte im Mondschein den Anfang der »Leichenphantasie« und fragte seinen Begleiter, ob er das Gedicht kenne. Er habe es in der »Anthologie« gelesen, erwiderte dieser, »es soll von Schiller sein«. »Ja, es ist von Schiller,« gab der andre zurück, »und ich selbst bin Schiller. Leben Sie wohl mit Ihrem ganzen Hause!« Nach der handschriftlichen Erzählung des Meininger Archidiakonus A. W. Müller. Siehe Anhang Nr. 18.

Am 24. Juli 1783 reiste Schiller von Bauerbach ab. Lotte von Wolzogen scheint zum Abschied für einige Stunden von Maßfeld herübergekommen zu sein, am Abend aber war Frau Henriette allein. Der von ihr bestellte Wagen nahm den Weg über Henneberg und die Schanze und erreichte am ersten Abend den fünfzehn Stunden von Bauerbach entfernten kleinen Ort Wernarz oder Wernerz bei Brückenau im Unterfränkischen. Wernarz ist die amtliche bayrische Schreibung. Schiller selbst und alle Biographien schrieben unrichtig »Wernerts«. Falsch war Alfred v. Wolzogens »Werneck«. Von da gab Schiller am andern Morgen einem nach Jüchsen bei Bibra gehenden Manne einige Zeilen an Frau von Wolzogen mit, um ihr unter anderm zu sagen: »O meine Beste! wie herzlich froh bin ich, daß der Abschied überstanden ist, und wie herzlich vergnügt wäre mir die Nachricht, daß Sie ihn verschmerzt hätten. Liebste zärtlichste Freundin, der Verdacht, daß ich Sie verlaßen könnte, wäre bei meiner jezigen Gemüthslage Gotteslästerung. Glauben Sie mirs, meine Theuerste, je tiefer ich die Welt kennen lerne, und je mehr ich unter Menschen gehe, desto tiefer graben Sie Sich in mein Herz, und desto theurer werden Sie mir.« Die Fortsetzung der Reise führte vermutlich über Zeitlofs, Gelnhausen und Hanau und brachte den Dichter am dritten Abend nach Frankfurt am Main. Am 26. Juli, sofort nach der Ankunft, richtete Schiller einen zweiten Brief an Frau Henriette. Er klagt über den Straßenstaub und die Hitze, die er unterwegs habe ausstehen müssen, will es aber dem Kutscher Kepp überlassen, ihr bei seiner Heimkehr von den Einzelheiten der Reise zu erzählen. Sein Herz ist noch in Bauerbach: daß er sich ungleich mehr auf die Wiederankunft in ihrem Dorfe als auf die Tage in Mannheim freue, steht gleich im Eingang des Briefes, und mitten zwischen das folgende schiebt sich der Seufzer: »O meine beste liebste Freundin, unter dem erschröklichen Gewühl von Menschen fällt mir unsere Hütte im Garten ein. – Wär ich schon wieder dort!« Von einem Nachfragen nach dem englischen Vetter ist mit keiner Silbe die Rede, der Wunsch des eben Angekommenen ist vielmehr, noch in der Nacht und »mit Extrapost« weiterzufahren, damit er von seinem Gelde in Frankfurt nichts brauche und weil er »gern morgen in der Comödie zu Mannheim eintreffen« möchte, um da »eine Überraschung« zu machen. Im Herumstreiten mit drei aufdringlichen Kutschern unschlüssig geworden, übernachtete er indessen im Gasthof, blieb auch die ersten Stunden des folgenden Vormittags noch in Frankfurt. »Matt und erschöpft«, wie er an Henriette von Wolzogen berichtet, kam er am Abend des 27. Juli in Mannheim an. Von seinem Geld waren ihm noch fünfzehn Laubtaler übrig geblieben, von denen er fünf für die Rückreise aufsparen wollte; aber sein Schicksal spann neue Fäden, und die Idylle von Bauerbach kam nicht wieder.


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