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Der alte Löwe hatte Glück. Die Leute des Stammes empfanden einen gewissen Stolz auf ihren Beherrscher, aber das war schließlich alles, was sie an Befriedigung dabei herausschlagen konnten. Er war in eben der Nacht gekommen, da Ugh-lomi Uya den Schlauen erschlagen hatte, und so geschah es, daß sie ihn Uya nannten. Es war das alte Weib, die Feuerhüterin, die ihn zuerst Uya genannt hatte. Ein Regenguß hatte das Feuer niedergeschlagen – es glimmte nur schwach – und hatte die Nacht finster gemacht. Und als sie miteinander sprachen und jeder Mühe hatte, den anderen in dieser Finsternis zu erkennen, und ängstlich warteten, was Uya ihnen im Traum wohl antun werde, jetzt, da er tot war – hörten sie plötzlich, ganz nahe, den anschwellenden Widerhall des Löwengebrülls. Dann war alles wieder still.
Sie hielten den Atem an, so daß das Plätschern des Regens und das Zischen der Regentropfen in der Asche beinahe die einzigen Geräusche waren. Und dann, nach einer endlosen Weile – ein Knacken und ein Angstschrei und ein Brummen. Sie sprangen auf, rufend, schreiend, hierhin und dorthin rennend, aber die verkohlten Zweige wollten nicht brennen, und in einem Augenblick wurde das Opfer durch die Farne fortgeschleppt. Es war Irk, Waus Bruder.
So kam der Löwe.
In der darauffolgenden Nacht – die Farnkräuter waren noch naß vom Regen – kam er wieder und nahm Klick den Rothaarigen. Das genügte für zwei Nächte. Und dann, während der Finsternis, zur Zeit des Neumondes, kam er drei Nächte hintereinander jede Nacht, trotzdem sie ein gutes Feuer hatten. Er war ein alter Löwe mit kurzen Zähnen, aber sehr ruhig und kühl; er hatte die Feuer schon vorher gekannt; es waren das nicht die ersten Menschen, die ihm in seinem langen Leben begegnet waren. In der dritten Nacht kam er zwischen das äußere und das innere Feuer, sprang über den Steinhaufen und warf Irm nieder, den Sohn Irks, der wahrscheinlich Führer geworden wäre. Das war eine furchtbare Nacht; sie hatten nämlich hoch aufgetürmte Farnkräuter hell auflodern lassen und rannten schreiend herum, und der Löwe verfehlte Irm, er bekam ihn schlecht zu fassen; beim Scheine des Feuers sahen sie, wie Irm sich emporarbeitete, ein Stückchen auf sie zurannte, und dann hatte ihn der Löwe mit zwei Sätzen wieder und riß ihn nieder. Das war das Letzte, was sie von Irm gesehen hatten.
Die Furcht kam und alle Freuden des Frühlings schwanden aus ihrem Leben. Schon waren fünf Männer des Stammes dahingegangen und vier Nächte fügten zu dieser Anzahl drei weitere hinzu. Mutlos suchten sie ihre Nahrung, keiner wußte, wer der nächste an der Reihe war, und den ganzen Tag über plagten sich die Frauen, sogar die Lieblingsfrauen, um Streu und Zweige für das Nachtfeuer zu sammeln. Und die Jäger jagten schlecht; während der warmen Frühlingszeit kehrte der Hunger wieder, als wäre es noch Winter. Der Stamm hätte wandern können, wäre ein Führer dagewesen; aber sie hatten keinen Führer, und niemand wußte, wohin man gehen sollte, um von dem Löwen nicht verfolgt zu werden. So wurde der Löwe dick und fett und dankte dem Himmel für das freundliche Menschengeschlecht. Zwei Kinder und ein Jüngling starben noch während der Zeit des Neumondes, und da geschah es, daß die runzelige, alte Feuerhüterin als erste sich in einem Traume an Judina und Ugh-lomi erinnerte und wie Uya erschlagen worden war. Sie war ihr Lebtag in Angst vor Uya gewesen und jetzt lebte sie in Angst vor dem Löwen. Daß Ugh-lomi Uya wirklich getötet haben sollte – Ugh-lomi, dessen Geburt sie miterlebt hatte – das war unmöglich. Es war Uya, der noch immer auf der Suche nach seinem Feind war!
Und dann kam die merkwürdige Rückkehr Ugh-lomis; man hatte ein wunderbares Tier weit drüben auf der anderen Seite des Flusses dahinjagen gesehen, das sich plötzlich in zwei Tiere verwandelte, in ein Pferd und in einen Menschen. Wenn sie dieser Vorbedeutung nachging, der Erscheinung Ugh-lomis auf dem anderen Flußufer ... Ja, es war ihr ganz klar. Uya strafte sie alle, weil sie Ugh-lomi und Judina nicht zu Tode gejagt hatten.
Müde vom Umherstreifen kehrten die Männer heim, den Zufällen der Nacht schon preisgegeben, während die Sonne noch golden am Himmel stand. Mit der Geschichte Ugh-lomis wurden sie empfangen. Das alte Weib führte sie über den Fluß und zeigte ihnen Ugh-lomis Spur, wie er am anderen Ufer gezögert hatte und umgekehrt war. Siß der Fährtensucher kannte Ugh-lomis Tritte. »Uya will Ugh-lomi«, schrie das alte Weib. Sie stand links von der Biegung des Flusses im Scheine der untergehenden Sonne, eine wild gestikulierende Gestalt, flackerndem Kupfer gleich. Ihre Rufe waren eigenartige Töne, hin und her flatternd an dem Grenzlande der Sprache; aber der Sinn, den sie hatten, war der: »Der Löwe will Judina. Er kommt Nacht für Nacht, um Judina und Ugh-lomi zu suchen. Wenn er Judina und Ugh-lomi nicht finden kann, wird er zornig und tötet. Jagt Judina und Ugh-lomi! Judina, die er verfolgte, und Ugh-lomi, über den er das Todeswort sprach! Jagt Judina und Ugh-lomi!«
Sie wandte sich an das ferne Rohrdickicht, so wie sie sich manchesmal an Uya gewendet hatte, da er noch lebte. »Ist es nicht so, mein Herr?« schrie sie. Und wie zur Antwort neigten sich die hohen Schilfgräser im Wehen des Windes.
Weit hallte das Hacken und Schaben vom Siedlungsplatz her in die Dämmerung hinaus. Es waren die Männer, die ihre Eschenholzspeere für die morgige Jagd spitzten. Und in der Nacht, zeitlich, ehe der Mond aufstieg, kam der Löwe und nahm das Mädchen von Siß dem Fährtensucher.
Am Morgen vor Sonnenaufgang brachen sie auf, Siß der Fährtensucher und der Knabe Wau-hau, der jetzt die Steine schärfte, und Einaug und Bo und Schneckenfresser, die beiden rothaarigen Männer und Katzenfell und Schlange und alle Männer, die von den Söhnen Uyas am Leben geblieben waren. Sie nahmen ihre Eschenholzspeere, ihre Wurfsteine und ihre Taschen aus Tiertatzen voll Kieselsteine, und folgten der Spur Ugh-lomis durch das Hagedorngestrüpp, wo Yaaa, das Nashorn, und dessen Brüder fraßen, und weiter hinauf das dürftige Heideland den Buchenwäldern zu.
In dieser Nacht brannten die Feuer hoch und wild, als der zunehmende Mond unterging, und der Löwe ließ die zusammengekauerten Weiber und Kinder in Frieden.
Und am nächsten Tag, da die Sonne noch hoch am Himmel stand, kehrten die Jäger heim – alle bis auf Einaug, der mit zerschlagenem Schädel tot am Fuße des Felsbandes lag. Als Ugh-lomi an diesem Abend zurückkam – er hatte wieder die Pferde beschlichen – fand er die Geier schon an der Arbeit. Und mit sich führten die Jäger Judina, zerschlagen und verwundet, aber lebend. So hatte der seltsame Befehl des runzeligen, alten Weibes gelautet: Sie müsse lebend gebracht werden – »Sie ist nicht unsere Beute. Sie ist für Uya, den Löwen.« Ihre Hände waren mit Riemen gebunden, als wäre sie ein Mann, und sie kam müde und ganz erschöpft – das Haar war voll Blut und fiel ihr übers Gesicht. Sie kamen, Judina in der Mitte, von Zeit zu Zeit lachte Schneckenfresser – dessen Namen sie erfunden hatte – und schlug sie mit seinem Eschenholzspeer. Und jedesmal, wenn er sie mit dem Speere geschlagen hatte, sah er stolz über seine Schulter zurück, wie einer, der eine tollkühne Tat vollbracht hatte. Auch die anderen blickten von Zeit zu Zeit über ihre Schultern zurück und alle hatten es eilig, bis auf Judina. Als das alte Weib sie kommen sah, schrie sie laut auf vor Freude.
Sie ließen Judina trotz der starken Strömung den Fluß mit gebundenen Händen übersetzen; und als sie ausglitt, kreischte das alte Weib zuerst vor Freude und dann aus Angst, daß sie ertrinken könnte. Und als sie Judina ans Ufer gezerrt hatten, konnte sie eine Zeitlang nicht stehen, obwohl die Leute sie schrecklich schlugen. So ließ man sie denn sitzen; ihre Füße berührten das Wasser, ihre Augen starrten vor sich hin und ihre Miene war gefaßt, was immer sie mit ihr tun oder ihr sagen mochten. Alle Leute des Stammes kamen zum Siedlungsplatz, sogar der kleine Lockenkopf Haha, der damals kaum torkeln konnte, und standen herum und starrten Judina und das alte Weib an, so wie wir heute ein verwundetes Tier anstarren würden und den Mann, der es erjagt hat.
Das alte Weib riß Uyas Halskette herunter, die um Judinas Hals war, und nahm sie selbst um – sie war die erste gewesen, die sie getragen hatte. Dann riß sie Judina an den Haaren und nahm den Speer von Siß und schlug sie mit aller Kraft. Und als sie die Glut ihres Herzens an dem Mädchen gekühlt hatte, sah sie ihr von ganz nahe ins Gesicht. Judinas Augen waren geschlossen, ihre Züge waren ruhig und sie lag so still – das alte Weib fürchtete einen Augenblick lang, daß sie tot sei. Da zitterten ihre Nasenlöcher. Daraufhin schlug ihr das alte Weib ins Gesicht und lachte, gab Siß den Speer zurück, ging ein Stückchen weg von ihr und begann in ihrer Art auf sie loszureden und zu spotten.
Das alte Weib hatte mehr Worte als sonst irgend einer im Stamm. Es war etwas Fürchterliches, ihr Gerede anzuhören. Manchmal schrie und jammerte sie unzusammenhängend, und manchmal waren ihre gurgelnden Schreie nur mehr Gedankengespenster. Aber trotzdem brachte sie Judina vieles von den Dingen bei, die jetzt kommen sollten, vom Löwen und von den Qualen, die er ihr antun würde. »Und Ugh-lomi! Ha, ha! Ugh-lomi ist erschlagen?«
Plötzlich öffnete Judina die Augen; setzte sich wieder auf und ihr Blick begegnete dem des alten Weibes, gerade und offen. »Nein,« sagte sie langsam, wie eine, die versucht, sich zu entsinnen, »ich habe meinen Ugh-lomi nicht erschlagen gesehen. Ich habe meinen Ugh-lomi nicht erschlagen gesehen.«
»Erzähl' es ihr«, schrie das alte Weib. »Erzähl' es ihr – du, der du ihn getötet hast. Erzählt ihr, wie Ugh-lomi erschlagen wurde.«
Sie sah umher, und all die Frauen und Kinder da sahen umher von einem Mann zum anderen.
Niemand antwortete ihr. Sie standen da, beschämt und blöde.
»Erzählt es ihr«, sagte das alte Weib. Die Männer sahen einander an.
Judinas Antlitz leuchtete plötzlich auf.
»Erzählt es ihr«, sagte sie. »Erzählt es ihr, ihr mächtigen Männer! Erzählt ihr von dem Tode Ugh-lomis.«
Das alte Weib erhob sich und schlug ihr heftig auf den Mund.
»Wir konnten Ugh-lomi nicht finden«, sagte langsam Siß der Fährtensucher. »Wer zweien nachjagt, tötet keinen.«
Da hüpfte Judinas Herz vor Freude, aber ihr Gesicht blieb ruhig. Es war besser so; denn das alte Weib sah sie scharf an, Haß und Tod in den Augen.
Dann wandte sich das alte Weib keifend den Männern zu, weil sie sich gefürchtet hatten, Ugh-lomi weiter zu verfolgen. Sie hatte vor niemandem Angst, jetzt, da Uya erschlagen war. Sie zankte mit ihnen, wie man Kinder auszankt. Und sie sahen sie mürrisch an und begannen einer den andern zu beschuldigen, bis endlich Siß der Fährtensucher seine Stimme erhob und sie hieß, Ruhe zu geben.
Und so nahmen sie, als die Sonne unterging, Judina und gingen – obwohl ihnen dabei das Herz sank – die Spur entlang, die der alte Löwe in das Schilf getreten hatte. Alle Männer gingen zusammen. An einer Stelle war eine Gruppe von Erlen, und hier banden sie Judina hastig an einen Baum, so daß der Löwe sie leicht finden konnte, wenn er im Zwielicht vorbeikäme. Und als sie fertig waren, eilten sie zurück bis in die Nähe des Siedlungsplatzes. Dann machten sie Halt. Siß blieb als erster stehen und sah nach den Erlen zurück. Sie konnten sogar vom Siedlungsplatz aus ihren Kopf sehen: ein kleiner schwarzer Zottelkopf unter dem Geäst des größten Baumes. Sie waren befriedigt.
Alle Frauen und Kinder standen wartend oben auf dem Erdwall, der um den Siedlungsplatz aufgeworfen war. Und das alte Weib stand da und schrie nach dem Löwen, hieß ihn, sie zu holen, die er suchte, und gab ihm gute Ratschläge für die Qualen, die er ihr antun sollte.
Judina war jetzt sehr müde, betäubt von Schlägen und Erschöpfung und Sorge, und nur die Angst vor dem, was noch kommen sollte, hielt sie aufrecht. Die Sonne hing groß und blutrot zwischen den Stämmen der Kastanien, und der Westen stand im Feuer; der sanfte Abendwind war einer warmen Stille gewichen. Die Luft war erfüllt von Mückenschwärmen, die Fische im nahen Flusse schnellten hie und da übers Wasser empor, hin und wieder summte ein Maikäfer durch die Luft. Judina konnte gerade noch ein Stückchen vom Hügel des Siedlungsplatzes sehen und kleine Gestalten, die dort standen und nach ihr gafften. Und sie konnte – es war ein sehr leiser Ton, aber ganz deutlich – das Schlagen des Feuersteines hören. Dunkel und still und ganz nahe lag das rohrumzäunte Dickicht des Lagers.
Plötzlich hörte das Schlagen des Feuersteines auf. Sie sah nach der Sonne und merkte, daß sie untergegangen war; und über ihr und immer heller werdend, stand der zunehmende Mond. Sie sah nach dem Dickicht des Lagers und suchte Gestalten im Schilf, dann begann sie plötzlich sich zu winden und weinte und rief nach Ugh-lomi.
Aber Ugh-lomi war weit fort. Als sie sahen, wie ihr Kopf sich beim Herumarbeiten hin und her bewegte, schrieen und riefen auf dem Hügel alle zusammen, und sie ließ ab und ward still. Dann kamen die Fledermäuse, und der Stern, der Ugh-lomi glich, kroch hervor aus seinem blauen Versteck im Westen. Sie rief ihm zu, aber ganz leise, aus Angst vor dem Löwen. Und all die Zeit, während die Dämmerung kam, war es im Dickicht ganz still.
So kroch die Finsternis über Judina herauf und der Mond wurde hell, und die Schatten der Dinge, die mit dem Abend über den Hügel geflohen und verschwunden waren, kehrten kurz und schwarz wieder zu den Dingen zurück. Die dunkeln Gestalten im Rohrdickicht und zwischen den Erlen, wo der Löwe lag, sammelten sich, und langsam begann es dort sich zu regen und zu bewegen. Aber es kam nichts hervor, all die Zeit während des Anbruchs der Finsternis.
Judina blickte nach dem Siedlungsplatz und sah das Feuer glühendrot rauchen und die Männer und Frauen hin und her gehen. Auf der anderen Seite, jenseits des Flusses, erhob sich ein weißer Nebel. Dann, ganz aus der Ferne, kam das Winseln junger Füchse und das Schreien einer Hyäne.
Es gab lange Pausen schmerzvollen Wartens. Nach einer langen Zelt plätscherte irgend ein Tier im Wasser und es klang, als setze es über den Fluß, an der Furt unterhalb des Lagers, aber was für ein Tier es war, konnte sie nicht sehen. Von den weitabliegenden Tümpeln, den Trinkplätzen, konnte sie das Spritzen und Lärmen der Elefanten hören – so still war die Nacht.
Die Erde war jetzt nur noch ein farbloses Gemisch; weiße Reflexe standen neben undurchdringlichen Schatten unter dem blauen Himmel. Der silberne Mond war gesprenkelt von dem zarten Gezweige der Kastanienbäume, und über dem dunkeln östlichen Hügel leuchteten immer mehr und mehr Sterne auf. Die Feuer auf dem Erdwall der Siedlung waren jetzt leuchtendrot, und schwarz gegen den grellen Hintergrund standen wartend die dunkeln Gestalten. Sie warteten auf einen Schrei ... Er mußte bald kommen.
Plötzlich schien die Nacht voll Bewegung zu sein. Judina hielt den Atem an. Es ging etwas vorbei – eins, zwei, drei – leise schleichende Schatten ... Schakale.
Dann wieder langes, langes Warten.
Nun plötzlich, scharf sich abhebend gegen all die unbestimmten Geräusche, die sie sich eingebildet hatte, regte es sich im Dickicht, und dann kam eine kräftige Bewegung. Sie hörte es deutlich schnappen. Schwer fiel es auf das krachende Schilfrohr, einmal, zweimal, dreimal – und dann war alles still, bis auf ein regelmäßiges Hin- und Herwälzen. Sie hörte ein leises zitterndes Brummen, und dann war alles wieder still. Die Stille hielt an, länger und immer länger – wollte sie nie enden? Sie wagte nicht zu atmen; sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Dann schwänzelte etwas durch das Unterholz. Unwillkürlich schrie sie auf. Den Antwortschrei vom Erdwall hörte sie nicht.
Sofort erwachte das Dickicht wieder in mächtiger Bewegung. Sie sah im Scheine des untergehenden Mondes die hohen Schäfte des Schilfrohres wogen und die Erlen schwanken. Sie machte einen verzweifelten Versuch sich loszuwinden – den letzten Versuch. Aber nichts kam auf sie zu. Ein Dutzend Ungeheuer schien während einiger Minuten auf diesem kleinen Fleck schnell herumzulaufen und dann war wieder Stille. Der Mond verschwand hinter den fernen Kastanienwäldern und die Nacht ward dunkel.
Dann ein sonderbares Geräusch, wie Stöhnen und Schnaufen, das stärker wurde und wieder schwächer. Jetzt wieder Stille und dann dumpfe Geräusche und das Grunzen irgend eines Tieres.
Alles war wieder still. Ganz in der Ferne, aus dem Osten, klang das Trompeten eines Elefanten, und aus dem Walde drang ein Knurren und Bellen, das bald verklang.
In der langen Zwischenzeit kam der Mond wieder zwischen den Baumstämmen auf dem Bergrücken hervor: er warf zwei helle und einen dunkeln Streifen über das öde Schilfmoor. Dann ein starkes Rauschen, ein Aufspritzen, und das Schilfrohr wurde auseinander gebogen, weiter und immer weiter. Und endlich teilte es sich und ließ den Weg frei, klaffte von den Wurzeln bis zu den Spitzen auseinander ... Das Ende war gekommen.
Sie blickte hin, um das Ding zu sehen, das aus dem Schilf gekommen war. Einen Augenblick lang schien es zweifellos der große Kopf mit dem riesigen Maul zu sein, den sie zu sehen erwartet hatte. Dann aber schrumpfte es ein und veränderte sich. Es war ein kleines dunkles Ding, das ruhig blieb, aber es war nicht der Löwe. Es wurde still – alles wurde still. Sie guckte angestrengt ins Dunkel. Es war wie irgend ein gigantischer Frosch, zwei Glieder und ein schräg gestellter Körper. Der Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, den Schatten suchend ...
Ein Rauschen, und es bewegte sich plump mit einer Art Hüpfen vorwärts. Und wie es sich bewegte, stöhnte es leise.
Das Blut schoß ihr durch die Adern in plötzlicher Freude. »Ugh-lomi«, flüsterte sie.
Das Ding machte Halt. »Judina«, antwortete er leise; seine Stimme zitterte vor Schmerz und seine Augen starrten suchend in das Erlengehölz.
Er bewegte sich wieder vorwärts und kam aus dem Schatten des Schilfrohres hervor in das Mondlicht. Sein ganzer Körper war bedeckt mit Schmutz und Schlamm. Sie sah, daß er seine Beine nachschleppte und daß er seine Axt – die erste Axt – fest mit einer Hand umklammert hielt. Im nächsten Augenblick arbeitete er sich mühsam auf alle vier empor und wankte zu ihr hinüber. »Der Löwe«, sagte er, und seine Stimme klang seltsam gemischt von Frohlocken und Angst. »Wau! Ich habe einen Löwen erschlagen. Mit meinen eigenen Händen. Ebenso wie ich den großen Bären erschlug.« Er erhob sich zur Bekräftigung seiner Worte und brach plötzlich mit einem schwachen Schrei zusammen. Eine Weile lang rührte er sich nicht.
»Mach' mich los«, flüsterte Judina ...
Er antwortete ihr mit keinem Wort, aber er zog sich an dem Stamme der Erle aus seiner kauernden Stellung empor und hackte mit dem scharfen Ende seiner Axt an ihren Banden. Sie hörte ihn bei jedem Schlage stöhnen. Er zerschnitt ihr die Riemen um Brust und Arme und dann fiel seine Hand herab. Seine Brust schlug gegen ihre Schulter, er glitt neben ihr nieder und blieb still liegen.
Nun blieb ihr nicht mehr viel zu tun; sie machte sich sehr schnell los, trat einen Schritt zurück vom Baume – da drehte sich 's ihr im Kopf. Ihre letzte Bewegung bei klarem Bewußstein war auf ihn zu. Sie taumelte und sank nieder. Ihre Hand fiel auf seinen Schenkel. Er war weich und naß und gab nach unter dem Drucke ihrer Hand; er schrie auf bei der Berührung und krümmte sich, dann lag er wieder still.
Jetzt schlich eine dunkle hundeähnliche Gestalt ganz leise durch das Schilf. Sie blieb plötzlich stehen, stand still, schnuppernd und zögernd, kehrte endlich um und zog sich in den Schatten zurück.
Lange Zeit blieben sie so regungslos und das Licht des untergehenden Mondes fiel auf ihre Glieder. Ganz langsam – so langsam, wie der Mond hinabglitt, floß der Schatten des Schilfes gegen den Wall zu, über sie hin. Jetzt waren ihre Beine schon im Dunkel und Ugh-lomi nur noch eine Silberbüste. Der Schatten kroch zu seinem Halse hinauf, kroch über sein Gesicht, und so verschlang sie endlich die Dunkelheit der Nacht.
In dem Schatten begann es sich überall zu regen. Es war ein Trappeln von Füßen und ein schwaches Knurren – der Klang eines Schlages.
In dieser Nacht gab's für die Frauen und Kinder in der Siedlung wenig Schlaf, ehe sie Judinas Aufschrei hörten. Die Männer waren müde und schlummerten sitzend. Als Judina aufschrie, fühlten sie sich gerettet und liefen, um einen Platz möglichst nahe am Feuer zu erwischen. Das alte Weib lachte bei dem Schrei laut auf und lachte nochmals, weil Si, die kleine Freundin Judinas, zu wimmern begann. Als die Dämmerung kam, waren alle sogleich munter und sahen nach den Erlen. Sie konnten sehen, daß Judina geholt worden war. Sie konnten nicht umhin, sich zu freuen, daß Uya nun besänftigt wäre. Aber der Gedanke an Ugh-lomi fiel den Männern wie ein Schatten in den Sinn. Sie konnten das Gefühl der Rache verstehen, denn die Rache war alt in der Welt, aber sie dachten nicht an Rettung. Plötzlich floh eine Hyäne aus dem Dickicht und jagte durch das Schilf. Schnauze und Pfoten waren dunkel gefleckt. Bei diesem Anblick schrien alle Männer auf und griffen nach ihren Wurfsteinen und rannten auf sie los; denn unter allen Tieren gibt es keinen so jämmerlichen Feigling, wie eine Hyäne bei Tag. Alle Männer haßten die Hyänen, weil sie die Kinder raubten und einen bissen, wenn man am Rande der Siedlung schlief. Und Katzenfell, der schnell und sicher warf, traf das Tier böse an der Flanke, worüber alle Leute des Stammes vor Entzücken johlten.
Auf diesen Lärm hin ließen sich von dem Lager des Löwen her Flügelschläge hören und drei weißköpfige Geier stiegen langsam auf, kreisten, und kamen endlich wieder im Gezweige der Erlen, die das Lager überschauten, zur Ruhe. »Unser Herr ist aus dem Hause«, sagte das alte Weib, dorthin weisend. »Die Geier haben ihren Anteil an Judina.« Eine Zeitlang blieben sie dort und dann ließen sie sich, einer nach dem anderen, wieder ins Dickicht hinab.
Dann ergoß sich über die östlichen Wälder, die ganze Welt wie mit Posaunenton zu Leben und Farbe erweckend, das Licht der aufgehenden Sonne. Bei ihrem Anblick schrien die Kinder alle zusammen laut auf, schlugen in die Hände und begannen davonzujagen, hinunter zum Wasser. Nur Klein-Si blieb zurück und blickte traurig-verwundert nach den Erlen, wo sie vergangene Nacht Judinas Kopf gesehen hatte.
Aber Uya, der alte Löwe, war nicht aus dem Hause, sondern daheim; er lag ganz still und ein wenig auf der Seite. Er war nicht in seinem Lager, sondern lag ein Stückchen weit weg, auf einem niedergetrampelten Grasfleck. Unter dem einen Auge war eine kleine Wunde; der kleine, schwache Biß der ersten Axt. Aber der ganze Boden unter seiner Brust war rötlich-braun gefärbt und ein heller Streifen zog sich quer über den Erdboden hin: in seiner Brust war ein kleines Loch, das Ugh-lomis Speer gemacht hatte. Längs der einen Seite und am Halse hatten die Geier ihre Ansprüche bezeichnet. Denn so hatte ihn Ugh-lomi getötet, als er unter seinen Tatzen hingestreckt lag und aufs Geratewohl gegen seine Brust loshämmerte. Er hatte den Speer mit seiner ganzen Kraft hineingetrieben und dem Riesen ins Herz gestoßen. So endete die Herrschaft des Löwen, der zweiten Inkarnation Uyas des Herrn.
Von dem Hügel scholl das wachsende Lärmen der Vorbereitungen, das Hämmern der Speere und Wurfsteine. Keiner nannte den Namen Ugh-lomis, aus Angst, daß dies ihn wiederbringen könnte. Die Männer wollten beieinander bleiben, eng beieinander, für einen Tag oder dergleichen, während sie jagten. Und ihre Jagd sollte Ugh-lomi gelten, damit der nicht käme, sie zu jagen.
Aber Ugh-lomi lag ganz still und ruhig, außerhalb des Löwenlagers, und Judina kauerte neben ihm, den Eschenholzspeer – ganz befleckt vom Löwenblut – mit der Hand umklammernd.