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In den Tagen vor Ugh-lomi hatte es wenig Streit zwischen Pferden und Menschen gegeben. Sie lebten getrennt voneinander – die Menschen in den Flußsümpfen und Dickichten, die Pferde in den weiten, grasbewachsenen Hochländern, zwischen den Kastanien- und Fichtenwäldern. Manchesmal verirrte sich wohl ein Klepper in die schlammigen Sümpfe und gab, nachdem man ihn durch Steinwürfe erschlagen hatte, ein köstliches Mahl; manchesmal auch fanden die Leute des Stammes ein Pferd, die Beute eines Löwen, und schmausten, sobald sie die Schakale fortgejagt hatten, nach Herzenslust, während die Sonne hoch am Himmel stand. Diese Pferde der alten Zeiten hatten plumpe Fesseln, einen struppigen Schweif, einen großen Kopf und waren von schwarzbrauner Färbung. Sie kamen jeden Frühling nordwestwärts ins Land, nach den Schwalben und vor den Flußpferden, wenn das Gras auf den weiten Flächen des Tieflandes hoch aufschoß. Sie kamen nur in kleinen Rudeln so weit und jede Herde – etwa ein Hengst, zwei oder drei Stuten und ein Füllen – hatte ihren eigenen Landstrich; und sie gingen wieder, wenn die Kastanienbäume gelb wurden und die Wölfe von den Bergen herunterkamen.
Sie hatten die Gewohnheit, immer weit draußen im Freien zu grasen, und nur während der größten Hitze des Tages suchten sie Deckung. Sie mieden die weiten Flächen von Dornengestrüpp und Buchenwäldern und zogen vereinzelte Baumgruppen, wo es keinen Hinterhalt geben konnte, vor, so daß es schwer war, an sie heranzukommen. Kämpfer waren sie nie gewesen; ihre Hufe und Zähne brauchten sie nur gegeneinander; aber jagten sie einmal in vollem Galopp über das freie Feld, dann kam ihnen kein lebendes Geschöpf nahe; der Elefant hätte es vielleicht vermocht, wenn er es für notwendig befunden hätte. Und die Menschen schienen in jenen Tagen recht harmlose Geschöpfe zu sein. Kein Flüstern einer prophetischen Eingebung hatte dieser Tierart verraten, welch furchtbare Sklaverei ihr bevorstünde, hatte ihr von der Peitsche erzählt, den Sporen und den Zügeln, von den schweren Lasten, den schlüpfrigen Straßen, dem ungenügenden Futter und von dem Hof des Roßschlächters und all dem, was da kommen sollte statt jenes weiten Wiesenlandes und aller Freiheit der Erde.
Unten in den Sümpfen hatten Ugh-lomi und Judina die Pferde niemals in der Nähe gesehen; aber jetzt sahen sie sie jeden Tag, wenn sie beide zusammen aus ihrem Lager am Felsrande der Schlucht auf Raub auszogen, auf der Jagd nach Nahrung. Als sie Anduh erschlagen hatten, waren sie zu dem Felsband zurückgekehrt; denn vor der Bärin hatten sie keine Angst. Die Bärin hatte vielmehr vor ihnen Angst, und wenn sie von ihnen Witterung bekam, ging sie aus dem Weg. Die beiden waren immer und überall zusammen; denn seitdem sie den Stamm verlassen hatten, war Judina mehr Ugh-lomis Genosse als sein Weib; sie lernte sogar jagen – so gut es ein Weib eben konnte. Sie war wirklich ein wundervolles Weib. Er lag oft stundenlang still, um einem Tier aufzulauern oder um in diesem Zottelkopf, den er nun einmal hatte, Fallen auszuhecken; und dann stand sie neben ihm, ihre hellen Augen auf ihn gerichtet, ohne störende Fragen zu stellen – so still wie ein Mann. Ein herrliches Weib!
Ganz oben auf dem Felsen war eine große freie Wiese und dann ein Buchenwald; durchschritt man diesen Buchenwald, so kam man an den Rand eines hügeligen, grasbewachsenen Platzes und in Sicht der Pferde. Hier am Waldesrand, zwischen den Bäumen und den Farnen, waren die Kaninchenbaue, und hier pflegten Judina und Ugh-lomi in den grünen Blättern zu liegen; sie hielten ihre Wurfsteine bereit und warteten, bis das kleine Volk hervorkäme, um bei untergehender Sonne herumzunagen und zu spielen. Und während Judina, den Bau beobachtend, dasaß, ein stilles Standbild der Wachsamkeit, glitten Ugh-lomis Augen immer und immer wieder ab, über den Rasen, zu jenen wundervollen grasenden Unbekannten.
Dunkel fühlte und schätzte er ihre Grazie und ihre geschmeidig-flinken Bewegungen. Wenn sich abends die Sonne senkte und die Hitze des Tages dahinschwand, wurden sie lebendig, begannen einander zu jagen, wieherten, spielten, schüttelten ihre Mähnen, liefen im großen Bogen herum, manchmal so eng beieinander, daß es über den gestampften Rasen unter ihren Hufen wie rollender Donner dröhnte. Es sah so herrlich aus, daß Ugh-lomi große Lust hatte mitzutun. Und manchmal wälzte sich eines der Pferde auf der Erde und schlug mit seinen vier Hufen himmelwärts, was furchtbar aussah und sicherlich viel weniger verführerisch war.
Dunkle Vorstellungen wälzten sich in Ugh-lomis Kopf, während er so zusah – welchem Umstande zwei Kaninchen ihr Leben verdankten. Wenn er aber schlief, waren seine Gedanken klarer und kühner – denn so war es in jenen Tagen. Er kam den Pferden nahe, träumte er, und kämpfte, Wurfsteine gegen Hufe; aber dann verwandelten sich die Pferde in Menschen oder zumindest in Menschen mit Pferdeköpfen, und er erwachte, in kalten Angstschweiß gebadet.
Des anderen Tages jedoch, als die Pferde grasten, wieherte eine Stute, und da sahen sie Ugh-lomi, der mit dem Winde heraufkam. Sie hörten alle auf zu fressen und beobachteten ihn. Ugh-lomi kam nicht auf sie zu, sondern streifte abschwenkend auf dem Platz umher und sah nach allem in der Welt, nur nicht nach den Pferden. Er hatte drei Farnwedel in den Flechten seines Haares stecken, was seiner Erscheinung etwas Auffallendes gab, und schritt sehr langsam einher. »Na, was ist denn das?« sagte Junker Hengst, ein tüchtiger, aber unerfahrener Geselle.
»Es sieht von allen Dingen der Welt noch am ehesten wie die vordere Hälfte eines Tieres aus«, sagte er. »Vorderbeine sind da, aber keine Hinteren.«
»Es ist nur eines jener rosa Affendinger«, sagte die älteste Stute. »Das ist so eine Art Flußaffe. Sie kommen in den Ebenen sehr häufig vor.«
Ugh-lomi setzte in schräger Richtung seine Annäherung fort. Der ältesten Stute fiel es auf, daß er gar keinen Grund hatte, in dieser Richtung weiterzugehen.
»Narr!« sagte die älteste Stute in ihrer schnell entscheidenden Art. Sie nahm das Grasen wieder auf. Junker Hengst und die zweite Stute folgten ihrem Beispiel.
»Schau! Er ist jetzt näher«, sagte das Füllen mit dem Streifen.
Eines der jüngeren Fohlen machte eine unruhige Bewegung. Ugh-lomi warf sich nieder, saß da und sah die Pferde unverwandt an. Nach einer Weile stellte er zufrieden fest, daß sie weder auf Flucht noch Feindschaft sannen. Er begann über sein nächstes Vorgehen nachzudenken. Er war nicht begierig zu töten, aber er hatte seine Axt mit, und sportlicher Ehrgeiz trieb ihn. »Wie könnte man eines dieser Geschöpfe töten? – Diese großen, schönen Geschöpfe!«
Judina, die ihn mit ängstlicher Bewunderung aus der Deckung der Farnkräuter beobachtete, sah ihn plötzlich auf allen vieren wieder weiter vorgehen. Aber den Pferden war er als Zweifüßler lieber gewesen denn als Vierfüßler, und Junker Hengst warf seinen Kopf zurück und gab das Zeichen zum Aufbruch. Ugh-lomi dachte, daß sie nun endgültig fort wären, aber nachdem sie eine Minute lang galoppiert hatten, kamen sie in weitem Bogen zurück und standen da und witterten nach ihm. Dann, da eine Bodenerhebung ihn verbarg, bildeten sie eine Reihe hintereinander, Junker Hengst an der Spitze, und näherten sich ihm in einer Schwarmlinie.
Er wußte ebensowenig von den Fähigkeiten der Pferde, wie sie von den seinen. Und es schien in diesem Augenblick geradezu, als hätte er große Angst. Er wußte, rotes Wild oder Büffel, wenn man solches Anschleichen fortsetzte, würden zum Angriff übergehen. Jedenfalls sah Judina, wie er aufsprang und, den Farnwedel in der Hand, auf sie zukam.
Sie stand auf, und er grinste, um ihr zu zeigen, daß das Ganze ein Riesenspaß gewesen wäre, daß er genau das getan hätte, was er sich von allem Anfang an zu tun vorgenommen hatte. Somit war dieser Vorfall beendet. Aber den ganzen Tag über war er sehr nachdenklich.
Am nächsten Tag trieb sich dieses närrische, bräunliche Geschöpf mit der Löwenmähne wieder bei den Pferden herum, statt sich um Weide und Jagd zu kümmern, die für ihn paßten. Die älteste Stute war nur für schweigende Verachtung. »Ich vermute, er will etwas von uns lernen«, sagte sie, und, »na, laßt ihn halt!« Den nächsten Tag war er wieder dabei. Junker Hengst entschied, daß er damit gewiß nichts weiter bezwecke. Tatsächlich aber bezweckte Ugh-lomi – der erste aller Menschen, der jenen eigenen Zauber fühlte, mit dem das Pferd uns noch heute fesselt – sehr viel. Es war wohl schon der Keim des Snobs in ihm. Er bewunderte sie vorbehaltlos und er wollte diesen Tieren, deren schöne Linien er bewunderte, nahe sein. Dann wieder war es ein unbestimmtes Verlangen, zu töten, wenn sie ihn nur nahekommen ließen! Aber sie zogen die Grenzlinie, wie er beobachtete, ungefähr fünfzig Ellen weit. Kam er näher, so zogen sie sich zurück – würdevoll. Ich vermute, daß ihn die Erinnerung daran, wie er Anduh geblendet hatte, auf den Einfall brachte, den Pferden auf den Rücken zu springen. Aber obwohl Judina kurze Zeit darauf auch aus dem Wald ins Freie hervorkam und sie unauffällig herumstreiften, blieb es im großen und ganzen dabei, und die Sache ging nicht vorwärts.
Da hatte Ugh-lomi an einem denkwürdigen Tage eine neue Idee. Das Pferd blickt nach unten und geradeaus in die Ebene, aber es blickt niemals aufwärts. Kein Tier blickt aufwärts – sie haben zuviel gesunden Verstand. Nur dieses phantastische Geschöpf – der Mensch – konnte seinen Witz himmelwärts vergeuden. Ugh-lomi zog keine philosophischen Folgerungen, aber er bemerkte, daß die Sache so war. So verbrachte er einen ermüdenden Tag im Schatten einer Buche, die im Freien stand, während Judina herumschlich. Gewöhnlich kamen die Pferde nachmittags während der größten Hitze in den Schatten; aber an diesem Tage war der Himmel bedeckt, und sie wollten nicht, zu Judinas größtem Kummer.
Es war zwei Tage später, als Ugh-lomis Wunsch in Erfüllung ging. Der Tag war glühend heiß und die sich stets vermehrenden Fliegen waren unerträglich. Die Pferde hörten vor Mittag zu grasen auf, kamen in den Schatten seines Baumes und standen schnaubend zu Paaren, Nase an Schwanz.
Junker Hengst verdankte es seinen Hufen, daß er dem Baum am nächsten zu stehen kam. Und plötzlich gab's ein Rascheln, ein Knacken, einen Aufschlag ... Dann traf ihn ein scharfkantiger Stein in die Backe. Junker Hengst strauchelte, fiel ins Knie, sprang wieder auf die Beine und war fort wie der Wind. Die Pferde bäumten sich, und die Luft war erfüllt von wirbelnden Gliedern, schlagenden Hufen und ängstlichem Schnauben. Ugh-lomi wurde fußhoch in die Luft geschleudert, kam wieder herab und wieder hinauf, sein Magen wurde heftig gestoßen und dann faßten seine Knie etwas, was zwischen ihnen war. Er fand von selbst einen Halt mit Knien, Fäusten und Händen und jagte, heftig hin und her geworfen, wild durch die Luft, seine Axt – fort, weiß Gott wo. »Festhalten!« sagte Mutter Instinkt, und das tat er.
Er spürte eine Menge grobe Haare im Gesicht, einige zwischen den Zähnen, und vor seinen Augen floß ein Streifen grüner Wiese vorbei. Er sah die Schulter von Junker Hengst, groß, glatt und weich, und wie sich die Muskeln unter der Haut schnell bewegten. Er gewahrte, daß er die Arme um den Hals des Pferdes geschlungen und daß das heftige Stoßen, das er verspürte, einen gewissen Rhythmus hatte.
Dann befand er sich inmitten wild dahinjagender Baumstämme, dann wieder waren Zweige und Farne ringsumher, und dann wieder offene Wiesenflächen. Ein Strom von Kieselsteinen schoß vorbei, einzelne kleine Steine flogen unter den schnellen Hufschlägen seitwärts, quer darüber. Ugh-lomi fing an, sich schrecklich unwohl und schwindlig zu fühlen, aber es war nicht seine Art, etwas einfach sein zu lassen, weil es unbequem war.
Er wagte es nicht, loszulassen, aber er versuchte, sich's bequemer zu machen. Er umklammerte den Hals des Pferdes nicht mehr so fest und faßte statt dessen in die Mähne. Er schob die Kniee vor, rutschte zurück und kam dort, wo das Hinterteil des Pferdes breiter wird, in eine mehr sitzende Stellung. Es war ein schweres Stück Arbeit, aber er brachte es fertig und zuletzt saß er so ziemlich rittlings auf dem Pferde, atemlos zwar und nicht ganz sicher, aber doch wenigstens befreit von diesem zermalmenden Stoßen.
Langsam kamen die Bruchstücke von Ugh-lomis Denkkraft wieder in Ordnung. Das Tempo schien ihm fürchterlich, aber ein gewisses Frohlocken begann seinen ersten wahnsinnigen Schrecken zu verdrängen. Die Luft strich vorbei, süß und wundervoll, der Rhythmus der Hufschläge wechselte, brach ab und kehrte wieder in sich selbst zurück. Sie waren auf freier Wiese jetzt, einer weiten Lichtung – die Buchenbäume auf beiden Seiten ungefähr hundert Ellen weit entfernt, und ein saftig grünes Band schlängelte sich in der Mitte hinab, sternbesät mit hellen Blüten und hie und da schillernd vom Silberglanz einzelner kleiner Wasserbecken. Weit in der Ferne sah man einen blauen Schimmer des Tales – weit, weit weg. Das Gefühl des Frohlockens wuchs. Es war des Menschen erste Freude am Galopp.
Dann kam eine weite Fläche, gefleckt mit fliehenden Dammhirschen, die hierhin und dorthin stoben, und dann ein paar Schakale, die Ugh-lomi irrtümlich für einen Löwen hielten und hinter ihm herjagten. Und als sie sahen, daß es kein Löwe sei, liefen sie doch noch mit, aus Neugier. Weiter jagte das Pferd; es hatte nur einen Gedanken – zu entkommen; und hinter ihm her die Schakale mit aufgestellten Ohren und kurz bellenden Zurufen. »Wer tötet wen?« sagte der eine Schakal. »Das Pferd ist's, das getötet wird«, sagte der andere. Sie heulten das Signal des Verfolgens und das Pferd antwortete darauf, wie Pferde heute auf die Sporen antworten.
Und so jagten sie, eine kleine Windsbraut, durch den stillen Tag, scheuchten erschrockene Vögel auf, trieben ein Dutzend nichtsahnende Tiere, eiligst Deckung zu suchen, wirbelten Myriaden unwilliger Mistfliegen auf, stampften junge, lieblich blühende Knospen zurück in den väterlichen Wiesengrund. Dann wieder Bäume, und dann, patsch, patsch durch einen Gießbach; dann schoß ein Hase zwischen den Grasbüscheln hervor, unmittelbar unter Junker Hengstens Hufen, und sofort verließen sie die Schakale. So brachen sie endlich wieder ins Freie durch, eine weite grasbewachsene Fläche am Abhang des Hügels – eben dieselben Wiesenhänge, die heutigen Tages nördlich der Rennbahn von Epsom abfallen.
Bei Junker Hengst war der erste heiße Sturm schon lange vorbei. Er fiel in einen abgemessenen Trott, und Ugh-lomi, obwohl er grausam zerschlagen und in großer Ungewißheit über seine nächste Zukunft war, befand sich in einem Zustand ruhmerfüllten Genießens. Und nun begann eine neue Entwicklung. Abermals wurde der Schritt langsamer, Junker Hengst ging um eine jähe Kurve herum und blieb plötzlich mit einem Ruck stehen ...
Ugh-lomi wurde munter. Er wünschte, daß er einen Stein hätte; aber sein Wurfstein, den er an einem Riemen um den Leib getragen hatte, war, ebenso wie die Axt – weiß Gott wo. Junker Hengst wandte den Kopf, und Ugh-lomi gewahrte ein Auge und Zähne. Er schwang sein Bein in Sicherheit zurück und schlug mit der Faust gegen die Backe des Pferdes. Dann ging der Kopf irgendwo hinunter und schien gänzlich zu verschwinden, und der Rücken, auf dem Ugh-lomi saß, flog turmhoch in die Luft. Ugh-lomi wurde wieder ein Geschöpf des Instinktes – er griff zu und hielt fest; er hielt sich mit Knien und Füßen, und sein Kopf schien gegen den Wiesenboden hinabzugleiten. Seine Finger waren fest in der zottigen Mähne verflochten, und das grobe Haar des Pferdes rettete ihn. Die Steile, auf der er sich befand, senkte sich wieder, und dann – »Wupp!« sagte Ugh-lomi erstaunt, denn nun ging es nach der anderen Seite in die Höhe. Aber Ugh-lomi stand dem Ursprung um tausend Generationen näher als der Mensch; kein Affe hätte sich besser festhalten können. Und durch den Löwen war das Pferd in unzähligen Generationen darauf eingeübt, herumzuwirbeln und sich zu bäumen. Und der Junker Hengst konnte ausschlagen wie ein Meister und machte tadellose Bocksprünge. Ugh-lomi lebte in fünf Minuten ein Lebensalter. Er war davon überzeugt, daß das Pferd ihn töten würde, wenn er herunterkäme.
Dann entschloß sich Junker Hengst, wieder seine alte Taktik aufzunehmen, und ging plötzlich im Galopp durch. Er jagte den Abhang hinunter, nahm die steilsten Stellen in vollem Lauf, wich weder rechts noch links aus, und die weiten Flächen des Tales versanken, wie sie hinunterstürmten, und verschwanden hinter den sich nähernden Reihen der Eichbäume und Hagedornbüsche. Diese umsäumten einen plötzlich auftauchenden Wassertümpel, der von einer kleinen Quelle gebildet wurde, mit üppigem Unkraut und Silberbüschen. Der Boden wurde weicher und das Gras höher, und rechts und links standen Weißdornsträucher verstreut umher – noch immer besät mit verspäteten Blüten. Dann wieder wurde das Gebüsch dichter, so daß die Zweige den vorbeisausenden Reiter peitschten und schlugen und kleine Blutstropfen Mann und Pferd bedeckten. Dann wurde der Weg wieder freier.
Und schließlich kam ein wundervolles Abenteuer. Plötzlich erhob sich im Gebüsch ein unmäßig zorniges Geschrei, das Schreien eines Geschöpfes, dem bitteres Unrecht geschehen war. Und hinter ihnen herpolternd, erschien eine große graublaue Gestalt. Es war Yaaa, das großgehörnte Nashorn, in einem seiner Wutanfälle, wenn es nach der Sitte seiner Art mit voller Ladung drauf losging. Es war beim Fraße aufgeschreckt worden, und darum mußte einer, gleichwohl wer immer, aufgeschlitzt und zerstampft werden. Es drang von links her auf sie ein, sein böses, kleines Auge rot vor Wut, sein großes Horn tief am Boden, und sein Schwanz wie ein Notmast hinten hoch aufgestellt. Einen Augenblick lang ging es Ugh-lomi durch den Kopf, herunterzugleiten und zu versuchen durch Zickzacksprünge zu entkommen; aber dann, sieh da! Das Klappern der Hufe wurde schneller und das Nashorn mit seinen kurzen, dicken, eilenden Beinen schien in Ugh-lomis hinterem Augenwinkel zu verschwinden. In zwei Minuten waren sie zwischen den Hagedornbüschen durch und wieder draußen im Freien; es ging schnell. Eine Zeitlang hörte er hinter sich die schweren Schritte des Verfolgers widerhallen, und dann war es genau so, als wäre Yaaa niemals zornig geworden, als hätte Yaaa niemals existiert.
Die Gangart des Pferdes stockte nicht mehr; weiter ritten sie und immer weiter.
Ugh-lomi war jetzt eitel Frohlocken. Frohlocken hieß in jenen Tagen beleidigen und spotten. »Yaaa! Großnase!« rief er und verrenkte sich den Hals, um noch vielleicht ein Pünktchen von dem Verfolger zu sehen. »Warum hast du nicht deinen Wurfstein in der Faust!« schloß er mit einem spöttisch-wilden Schrei.
Aber dieser Spottruf hatte böse Folgen. Er hatte ihn dem Pferd direkt und ganz unerwartet ins Ohr geschrien und es damit ganz ungemein erschreckt. Der Hengst scheute. Ugh-lomi fühlte sich plötzlich wieder recht unbequem. Er hing mit einem Arm und einem Knie an dem Pferde.
Der Rest des Rittes war ehrenvoll, aber unangenehm. Die Aussicht ging meist auf den blauen Himmel, und zwar verbunden mit den unerfreulichsten physischen Empfindungen. Schließlich trafen ihn peitschend die Zweige eines Dornbusches und er ließ los.
Er schlug mit Wange und Schulter auf den Boden, und dann nach einer verwickelten und ungewöhnlich schnellen Bewegung, schlug er nochmals mit dem unteren Ende des Rückgrates auf. Er sah Funken und Sterne vor den Augen. Der Boden schien nun ebenso zu tanzen wie vorher das Pferd. Dann merkte er, daß er sechs Ellen weit hinter dem Busch auf dem Grasboden saß. Ihm gegenüber war eine Wiesenfläche, die immer grüner wurde und grüner, und in der Ferne sah er eine Menge menschlicher Geschöpfe, und das Pferd ging im munteren Galopp, ziemlich weit weg, rechts im Bogen herum.
Die menschlichen Geschöpfe waren am gegenüberliegenden Flußufer, einige noch im Wasser, aber sie liefen alle davon, so schnell sie konnten. Das Auftauchen eines Ungeheuers, das in Stücke auseinanderfiel, gehörte nicht zu jener Art von Neuigkeiten, die sie liebten. Eine ganze Minute lang saß Ugh-lomi da und betrachtete sie wie ein Zuschauer. Die Biegung des Flusses, der Hügel zwischen Schilfrohr und Königsfarnen, die dünnen Rauchsäulen, die zum Himmel aufstiegen – all das war ihm vollkommen vertraut. Es war der Siedlungsplatz der Söhne Uyas, Uyas, vor dem er mit Judina geflohen war und dem er im Kastanienwald aufgelauert, den er mit der ersten Axt erschlagen hatte.
Er sprang auf die Füße, noch schwindlig von seinem Sturz, und als er dies tat, wandten sich die verstreuten Flüchtlinge um und sahen ihn an. Einige zeigten auf das zurückweichende Pferd und schnatterten. Er ging langsam auf sie zu und starrte sie an. Er vergaß das Pferd, er vergaß seine Wunden, so sehr interessierte ihn diese Begegnung. Es waren ihrer weniger als in früherer Zeit – er vermutete, daß die anderen sich wohl versteckt hätten – der Haufen dürrer Farne für das Nachtfeuer war nicht so hoch wie einst. Neben dem Berg von Kieselsteinen mußte Wau sitzen – aber dann erinnerte er sich, daß er Wau erschlagen hatte. So plötzlich in die bekannte Umgebung zurückgeführt, schienen ihm die Schlucht und die Bären und Judina wie weitentfernte Dinge – Dinge, die er geträumt hatte.
Er blieb am Uferrand stehen und betrachtete die Leute des Stammes. Seine mathematischen Kenntnisse waren die denkbar geringsten, aber daß es weniger als früher waren, davon war er überzeugt. Die Männer hätten fort sein können, aber es waren auch weniger Frauen und Kinder. Er stieß den Ruf des Heimkehrenden aus. Sein Streit war mit Uya und Wau gewesen – nicht mit den andern. »Kinder Uyas«, rief er. Sie antworteten mit seinem Namen, etwas zaghaft zwar wegen der befremdenden Art seiner Ankunft.
Eine Weile sprachen sie miteinander. Dann erhob eine alte Frau ihre schrille Stimme und antwortete ihm: »Unser Herr ist ein Löwe.«
Ugh-lomi verstand dies nicht. Da antworteten sie ihm wieder, mehrere zusammen: »Uya kommt wieder. Er kommt als Löwe. Unser Herr ist ein Löwe. Er kommt zur Nacht. Er erschlägt, wen er will. Aber niemand anderer darf uns erschlagen, Ugh-lomi, niemand anderer darf uns erschlagen«.
Noch immer verstand Ugh-lomi nicht.
»Unser Herr ist ein Löwe. Er redet nicht mehr mit Menschen.«
Ugh-lomi stand still und sah sie an. Er hatte Träume gehabt – er wußte, daß Uya noch lebte, obwohl er ihn getötet hatte. Und nun sagten sie ihm, daß Uya ein Löwe sei.
Das runzelige, alte Weib, die Herrin der Feuerhüter, wandte sich plötzlich um und sprach leise zu denen, die ihr zunächst standen. Sie war wirklich ein sehr altes Weib; sie war Uyas erste Frau gewesen, und er hatte sie über das Alter hinaus leben lassen, bis zu dem man sonst schicklicherweise eine Frau leben lassen soll. Sie war von allem Anfang an schlau gewesen, schlau, um Uya zu gefallen und um Essen zu bekommen. Und jetzt war sie groß im Ratschlagen. Sie sprach leise und Ugh-lomi beobachtete vom anderen Flußufer aus ihre runzelige Gestalt mit einem seltsamen Ekelgefühl. Da rief sie laut: »Komm herüber zu uns, Ugh-lomi!«
Plötzlich erhob ein junges Mädchen die Stimme: »Komm herüber zu uns, Ugh-lomi!« rief sie. Und alle fingen sie an zu schreien: »Komm herüber zu uns, Ugh-lomi!«
Es war merkwürdig, wie sie ihr Benehmen änderten, nachdem das alte Weib gerufen hatte.
Er stand ganz still und beobachtete sie alle. Es war nett, gerufen zu werden, und das Mädchen, das zuerst gerufen hatte, war hübsch. Aber sie erinnerte ihn an Judina.
»Komm herüber zu uns, Ugh-lomi!« riefen sie, und man hörte die Stimme des runzeligen, alten Weibes unter allen heraus. Bei dem Klang ihrer Stimme kehrten seine Bedenken wieder.
Er stand am Flußufer, Ugh-lomi – Ugh-lomi, der Denker – und seine Gedanken nahmen langsam Gestalt an. Erst hörte der eine, dann wieder ein anderer auf, um zu sehen, was er tun werde. Er wollte zurückgehen, dann wollte er wieder nicht. Plötzlich behielt seine Angst oder seine Vorsicht die Oberhand. Ohne ihnen zu antworten, drehte er sich um und ging zu dem abseitsstehenden Dornbusch zurück, den Weg, den er gekommen war. Sofort fing der ganze Stamm wieder eifrig an, ihn zu rufen. Er zögerte und drehte sich um, dann ging er wieder weiter, wandte sich abermals um, und dann noch einmal, und sah sie traurig an, als sie ihn riefen. Zuletzt ging er zwei Schritte auf sie zu, bevor seine Furcht ihn wieder zurückhielt. Sie sahen ihn nochmals stehenbleiben und plötzlich den Kopf schütteln und dann zwischen den Hagedornsträuchern verschwinden.
Da erhoben alle Frauen und Kinder zusammen die Stimmen und riefen ihn, mit einer letzten vergeblichen Anstrengung.
Tiefer unten am Fluß bewegte sich das Schilfrohr im Winde, dort, wo der alte Löwe – der sich nun aufs Menschenfressen verlegte – seinen Sitz aufgeschlagen hatte, bequem gelegen für diese neuartige Nahrung.
Dorthin wandte das alte Weib ihr Gesicht und zeigte nach dem Hagedorngestrüpp. »Uya,« schrie sie, »dort geht dein Feind! Dort geht dein Feind, Uya! Warum zerfleischest du uns nächtlich? Wir haben versucht, ihn in die Falle zu locken! Dort geht dein Feind, Uya!«
Aber der Löwe, der dem Stamme nachstellte und ihm seine Kinder raubte, hielt seine Siesta. Der Ruf blieb ungehört. An diesem Tage hatte er eines der dickeren Mädchen verspeist und er befand sich in einem Zustand angenehmer Gelassenheit. Er verstand es wirklich nicht, daß er Uya, oder daß Ugh-lomi sein Feind sein sollte.
So geschah es, daß Ugh-lomi das Pferd ritt und zum erstenmal von Uya, dem Löwen, hörte, der an Stelle Uyas, des Herrn, getreten war und den Stamm auffraß. Und als er zurück zur Schlucht eilte, waren seine Gedanken nicht mehr von dem Pferde erfüllt, sondern davon, daß Uya noch immer lebte, um zu erschlagen und um erschlagen zu werden. Immer und immer wieder sah er die zusammengeschrumpfte Horde von Frauen und Kindern, die riefen, daß Uya ein Löwe sei. Uya war ein Löwe!
Und plötzlich, in der Angst, daß die Dämmerung ihn überraschen könnte, fing Ugh-lomi zu laufen an.