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In jenen Tagen, da Judina und Ugh-lomi vor Uyas Leuten geflohen waren, den fichtenbewachsenen Bergen zu, durch Wälder von süßen Kastanien und grasbewachsenes Kreideland, und sich endlich in der Schlucht des Flusses zwischen Kreidefelsen versteckt hatten, da gab es nur wenig Menschen und ihre Siedlungsplätze lagen weit voneinander entfernt. Im Tal waren ihnen von allen Menschen immer noch jene des Stammes am nächsten – eine ganze Tagereise flußabwärts – und höher oben in den Bergen gab es keine. In jenen uralten Zeiten war der Mensch in diesem Teile der Welt wirklich noch ein Ankömmling, der langsam vom Südwesten her die Flüsse entlang wanderte, eine Generation nach der anderen, von einem Siedlungsplatze zum anderen. Und die Tiere, die das Land besetzt hatten, das Flußpferd und das Nashorn in den Flußtälern, die Pferde in den Wiesen und Ebenen, das Wild und die Schweine in den Wäldern, die grauen Affen in den Zweigen und das Rind in den Hochtälern, die fürchteten ihn sehr wenig – schon gar nicht aber die Mammute in den Bergen und die Elefanten, die im Sommer vom Süden her durch das Land kamen. Und weshalb sollten sie ihn auch fürchten, da doch die roh zugehauenen Steine, die er noch an keinem Heft befestigen und nur schlecht werfen konnte, und die armseligen Spieße aus zugespitztem Holze alle seine Waffen waren, die er gegen Hufe und Hörner, gegen Zähne und Klauen besaß?
Anduh, der riesige Höhlenbär, der oben in einer Höhle der Schlucht hauste, hatte in seinem langen, weisen und achtungswerten Leben einen Menschen noch nicht einmal gesehen, bis er eines Nachts, als er längs des Randes der Klippe die Schlucht hinab umherstreifte, den Schein von Judinas Feuer am Felsenrand erblickte und Judina sah, rot und strahlend, und Ugh-lomi, dessen gigantischer Schatten ihn, auf dem gegenüberliegenden weißen Felsen auf und ab gleitend, zu foppen schien, der seine Haarmähne schüttelte und seine Steinaxt schwang – die erste Steinaxt – während er davon sang, wie er Uya erschlagen, der Höhlenbär war hoch oben in der Schlucht und sah alles nur stark verkürzt und aus der Ferne. Er war so überrascht, daß er ganz still am Rande stand, den neuen Geruch brennender Farne schnuppernd, und sich wunderte, daß die Morgenröte diesmal auf einer falschen Seite aufstieg.
Er war der Herr der Felsen und Höhlen, war der Höhlenbär, so wie sein schwächerer Bruder, der Grizzly, der Herr der dichten Wälder unten war, so wie der gefleckte Löwe – der Löwe war in jenen Tagen gefleckt – Herr der Dornen- und Rohrdickichte und der freien Ebenen war. Er war der größte unter allen Fleischfressern, er kannte keine Angst, keiner stellte ihm nach und keiner ließ sich in einen Kampf mit ihm ein; nur das Nashorn war stärker als er. Sogar das Mammut mied seinen Bereich. Dieser Einbruch verblüffte ihn. Er bemerkte, daß diese neuen Tiere wie Affen aussahen und nur stellenweise behaart waren, wie junge Schweine. »Affen und junge Schweine«, sagte der Höhlenbär. »Das kann gar nicht so schlecht sein. Aber dieses rote Ding, das da herumspringt, und das schwarze, das dort drüben mitspringt! In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas gesehen!«
Er kam langsam über den Felsenrücken auf sie zu, blieb zwei- oder dreimal stehen, um zu schnüffeln und umherzugucken, und der Rauch des Feuers wurde stärker. Zwei Hyänen waren ebenfalls so vertieft in das Ding da unten, daß Anduh, der leicht und leise näherkam, hart bei ihnen war, ehe sie von ihm oder er von ihnen wußte. Sie fuhren schuldbewußt auf, duckten sich und liefen davon. Als sie, etwa hundert Ellen weiter, im Bogen zurückkamen, fingen sie an zu schreien und ihm Schimpfnamen zuzurufen, um sich für den Schrecken zu rächen, »Ya-ha!« schrieen sie. »Wer kann im eigenen Bau das Unkraut nicht ausjäten? Wer frißt Wurzeln wie ein Schwein? ... Ya-ha!« – Denn selbst in jenen Tagen war das Benehmen der Hyänen ebenso frech wie heutzutage.
»Wer wird einer Hyäne antworten?« brummte Anduh, durch die Dunkelheit der Nacht nach ihnen schielend, und dann ging er, um nach dem Felsrand zu sehen.
Da saß Ugh-lomi und erzählte noch immer seine Geschichte, und das Feuer brannte herab, und der Brandgeruch war heiß und stark.
Anduh stand eine Weile am Rande des Kreidefelsens, legte sein schweres Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wiegte seinen Kopf hin und her, mit offenem Maul, mit zuckenden, aufgerichteten Ohren, und schnüffelte, die Nasenlöcher seiner großen, schwarzen Schnauze weit aufgerissen. Er war nämlich sehr neugierig, der Höhlenbär, neugieriger als irgend ein Bär von heutzutage, und das flackernde Feuer und die unverständlichen Bewegungen des Mannes – von dem Eindringen in sein unbestrittenes Gebiet gar nicht zu reden – erregten in ihm die Ahnung von sonderbaren neuen Geschehnissen. Er war diese Nacht hinter roten Rehkälbern her gewesen, denn der Höhlenbär war ein vielseitiger Jäger, aber das da brachte ihn ganz ab von seinem Unternehmen.
»Ya-ha!« schrieen die Hyänen hinten. »Ya-ha-ha!«
Durch die sternhelle Nacht lugend sah Anduh, daß ihrer nur drei oder vier waren, die, auf- und abgehend, sich von der grauen Hügelkette abhoben. »Die werden sich jetzt die ganze Nacht an mich hängen ... bis ich töte«, sagte Anduh. »Dreck der Welt!« Und hauptsächlich, um sie zu ärgern, beschloß er, dem roten Flackern in der Schlucht zuzusehen, bis die Morgendämmerung das Hyänengesindel verscheuchen würde. Und nach einiger Zeit verschwanden sie, und er hörte ihre Stimmen, wie die einer londoner Gesellschaft nach einem festlichen Schmaus, weit weg in den Buchenwäldern. Dann kamen sie wieder herangeschlichen. Anduh gähnte und ging längs der Felsen weiter, und sie folgten. Dann blieb er stehen und ging zurück.
Es war eine wundervolle Nacht, der Himmel voll leuchtender Sternbilder – dieselben Sterne, aber nicht dieselben Sternbilder, die wir kennen; denn seit jenen Tagen hatten all die Sterne Zeit genug, sich an andere Stellen zu bewegen. Weit in der Ferne drüben, jenseits des freien Raumes, dort, wo die kurzschultrigen, dürren Hyänen herumirrten und heulten, war ein Buchenwald, und darüber erhoben sich die Bergrücken wie ein dunkles Mysterium, bis ihre schneegekrönten Spitzen weiß und kalt und klar auftauchten, von den Strahlen des noch unsichtbaren Mondes berührt. Es lag eine weite Stille über dem Lande, außer wenn das grelle Geschrei der Hyänen vorübergehend einen Mißton über diesen Frieden dahinjagte, oder wenn von den Hügeln unten das Trompeten der neu angekommenen Elefanten schwach vom leisen Winde herübergetragen wurde. Das rote Gackern unten hatte allmählich aufgehört, und die Flamme war ruhig und leuchtete in tiefem Rot; Ugh-lomi hatte seine Geschichte beendet und bereitete sich zum Schlafen, und Judina saß und horchte auf die fremden Stimmen der unbekannten Tiere und betrachtete den dunkeln Osthimmel, der sich unter dem Nahen des Mondes langsam erhellte. Tief unten schwätzte der Fluß mit sich selbst, und unsichtbare Dinge gingen hin und wider.
Der Bär ging nach einer Weile fort, aber eine Stunde später war er wieder da. Dann, wie von einem plötzlichen Gedanken getroffen, wandte er sich um und stieg die Schlucht hinauf.
Die Nacht verging und Ugh-lomi schlief weiter. Der bleiche Mond ging auf und erhellte die kahlen, weißen Felsen über dem Schläfer mit einem blassen, unbestimmten Licht. Die Schlucht sank noch tiefer in Schatten und schien noch dunkler. Dann stahl sich langsam und unmerklich der Tag in des Mondes Nachtwache. Judinas Augen wandelten zum Kamm des Felsens über ihrem Haupte – und dann noch einmal. Jedesmal zeichnete sich die Linie klar und scharf gegen den Himmel ab, und doch hatte sie das Gefühl, als ob da etwas herunterspähte. Das Rot des Feuers wurde dunkler und dunkler, graue Schuppen breiteten sich darüber aus, seine aufrechte Rauchsäule wurde immer mehr und mehr sichtbar und oben und unten in der Schlucht traten Dinge, die bisher unsichtbar gewesen waren, in der farblosen Beleuchtung klarer und deutlicher hervor. Judina muß wohl eingeschlafen sein.
Plötzlich fuhr sie aus ihrer kauernden Stellung auf, richtete sich schnell und gerade empor und blickte prüfend den Felsen hinauf und hinunter.
Sie ließ einen kaum vernehmbaren Laut hören, und da war auch Ugh-lomi, der wie ein Tier nur leise schlief, augenblicklich wach. Er ergriff seine Axt und kam geräuschlos an ihre Seite.
Das Licht war noch fahl, die ganze Welt in Schwarz und Grau gehüllt, und nur ein verspäteter Stern stand noch, schwach leuchtend, am Himmel. Der Felssims, auf dem sie sich befanden, war ein kleiner grasbewachsener Fleck, vielleicht sechs Fuß breit und zwanzig Fuß lang, an einer steil abfallenden Felswand, an deren Rand eine Handvoll Sankt-Johns-Kräuter wuchsen. Zur Tiefe zu bildeten die bröckligen, weißen Felsen einen steilen Abhang von etwa fünfzig Fuß Höhe, bis hinab zu den dichten Haselstauden, die den Fluß einsäumten. Flußabwärts wurde dieser Hang immer steiler, bis in einiger Entfernung nur eine dünne Grasschichte ihr Recht bis zur Felsenspitze hinauf behauptete. Droben standen die Felsen, vierzig bis fünfzig Fuß hoch, in große Blöcke zusammengeballt, wie sie für das Kreidegestein so bezeichnend sind. Am Ende der Felswand jedoch war ein Graben, eine tiefeingeschnittene Rinne gebleichten Gesteins, die das Antlitz der Felswand zerriß und armseliges Wachstum kümmerlich Wurzel schlagen ließ, und durch die Judina und Ugh-lomi hinauf- und hinunterstiegen.
Sie standen so still wie aufgeschrecktes Wild, mit allen ihren Sinnen horchend. Eine Minute lang hörten sie nichts, und dann kam ein schwaches Rieseln von Sand und Steinchen die Rinne herab, man hörte das Knacken von Zweigen.
Ugh-lomi ergriff seine Axt und ging zum Rande des Felsens, denn der Kreideblock über ihnen hatte den oberen Teil der Rinne verdeckt. Und plötzlich – das Herz krampfte sich ihm zusammen – sah er den Höhlenbär mitten im Abstieg vom Felskamm, wie er mit seinem plumpen Hinterfuß einen behutsamen Schritt rückwärts machte. Sein Hintergestell war Ugh-lomi zugekehrt, und er klammerte sich an Stein und Buschwerk so fest an, daß es schien, als wäre er am Felsen plattgedrückt. Er sah jedoch darum nicht unscheinbarer aus. Von der feuchtglänzenden Schnauze bis zum kurzen dicken Schwanz war er ein- und einhalbmal so groß wie ein Löwe, er hatte die Länge von zwei großen Männern. Er blickte über die Schulter zurück, sein riesiger Rachen stand offen von der Anstrengung, seinen schweren Körper festzuhalten, und seine Zunge hing heraus.
Er faßte vorsichtig und fest Fuß und kam langsam eine Elle näher.
»Bär«, sagte Ugh-lomi und sah mit einem blassen Gesicht um sich.
Aber Judina deutete mit ganz verstörten Augen den Fels hinunter.
Ugh-lomi riß den Mund vor Schrecken weit auf. Denn tief unten, die großen Vordertatzen gegen den Felsen gestemmt, stand eine andere große braune Masse – die Bärin. Sie war nicht so groß wie Anduh, aber sie war gerade groß genug.
Dann stieß Ugh-lomi plötzlich einen Schrei aus, packte eine Handvoll dürrer Farne, die auf dem Boden verstreut umherlagen, und warf sie in die fahle Asche des Feuers. »Bruder Feuer!« schrie er, »Bruder Feuer!« Und Judina tat wie er. »Bruder Feuer! Hilf, hilf! Bruder Feuer!«
Bruder Feuer war im Herzen noch rot, aber er wurde grau, als sie ihn so zerteilten. »Bruder Feuer!« schrieen sie. Aber er knisterte und verging, und es blieb nichts als Asche. Da tanzte Ugh-lomi vor Zorn und schlug mit den Fäusten in die Asche. Judina aber begann, den Feuerstein gegen einen Kiesel zu schlagen. Und immer wieder mußten die beiden ihre Augen zu dem Graben hin wenden, in dem Anduh herabkletterte. Bruder Feuer!
Plötzlich kamen die riesigen, behaarten Hinterbeine des Bären zum Vorschein, unter dem Felsblock hervor, der ihn verdeckt hatte. Noch immer kletterte er vorsichtig die beinahe senkrechte Wand herab. Sein Kopf war noch nicht zu sehen, aber sie konnten hören, wie er zu sich selbst sprach. »Schwein und Affe«, sagte der Bär. »Es muß wirklich gut sein.«
Judina schlug einen Funken und blies darauf; er leuchtete heller auf und dann – erlosch er. Da warf sie Kiesel und Feuerstein fort und starrte hilflos ins Leere. Dann sprang sie auf und kroch ungefähr eine Elle weit an der Wand über dem Felsband hinauf. Wie sie auch nur einen Augenblick daran hängen konnte, weiß ich nicht; denn der Kreidefels war senkrecht, und nicht einmal ein Affe hätte daran einen Halt finden können. Nach zwei Sekunden war sie mit blutenden Händen wieder auf den Felsensims herabgeglitten.
Ugh-lomi rannte wie wahnsinnig auf dem Felsband herum – jetzt zum Rand, dann wieder zur Rinne. Er wußte nicht, was er tun sollte, er konnte nicht denken. Die Bärin sah kleiner aus als ihr Genosse – viel kleiner. Wenn sie sich beide zugleich auf sie stürzten, könnte einer vielleicht am Leben bleiben. »Ugh?« sagte der Höhlenbär, und Ugh-lomi sah, als er sich wieder umwandte, seine kleinen Augen unter dem Kreideblock hervorlugen.
Judina kauerte am äußersten Ende des Felsbandes und begann zu schreien wie ein Kaninchen, das erwischt worden ist.
Da kam es wie wilder Wahnsinn über Ugh-lomi. Mit lautem Schrei faßte er seine Axt und rannte auf Anduh los. Das Ungeheuer ließ ein Brummen des Erstaunens und der Überraschung hören. In einem Augenblick klammerte sich Ugh-lomi an einen Busch fest, dicht unter dem Bären, und im nächsten hing er, halb begraben im Fell, an seinem Rücken, eine Faust im Haar unterm Kinnbacken festgeklammert. Der Bär war zu erstaunt über diesen wahnwitzigen Angriff, um etwas anderes tun zu können, als untätig festzuhängen. Und dann klang die Axt, die erste aller Äxte, hämmernd an seiner Hirnschale.
Der Bär drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und begann, ärgerlich zu brummen. Die Axt schlug einen Zoll weit unter seinem linken Auge nieder, und das heiße Blut stieg auf und blendete ihn auf dieser Seite. Darüber brüllte das Tier vor Überraschung und Ärger laut auf und seine Zähne knirschten sechs Zoll weit von Ugh-lomis Gesicht. Dann fiel die Axt plump und schwer auf das eine Ende des Rachens nieder.
Der nächste Schlag blendete den Bären auf der rechten Seite und rief ein Brüllen hervor, diesmal war es Schmerz. Judina sah, wie die riesigen platten Füße ausglitten, den Halt verloren, und plötzlich versuchte der Bär einen plumpen Seitensprung, als wollte er auf das Felsband. Dann verging alles, und die Haselstauden krachten, und von unten kam ein Schmerzgebrüll, ein Tumult von Schreien und Brummen.
Judina schrie auf und rannte zum Rand, um hinunterzuspähen. Einen Augenblick lang bildeten Mann und Bär zusammen einen Knäuel; Ugh-lomi war zu oberst; und dann sprang er hervor und kletterte die Rinne hinauf, während die Bären unten zwischen den Haselstauden übereinander kollerten. Aber er hatte seine Axt unten gelassen, und seinen Schenkel hinab liefen drei blutrote Streifen, die von einem Punkt ausgingen. »Hinauf!« schrie er, und in einem Augenblick führte Judina den Weg zur Felsenspitze.
In einer halben Minute waren sie oben, ihre Herzen schlugen hörbar, und Anduh und sein Weibchen waren weit und sicher unter ihnen. Anduh saß auf seinen Schenkeln und war mit beiden Tatzen emsig beschäftigt; er versuchte mit schnellen, erbitterten Bewegungen sich die Blindheit aus den Augen zu wischen. Die Bärin stand auf allen vieren ein wenig abseits, mit etwas zerzaustem Äußeren, und brummte ärgerlich, Ugh-lomi warf sich flach aufs Gras und lag, schnaufend und blutend, das Gesicht auf dem Arm.
Einen Augenblick lang sah Judina den Bären zu, dann kam sie, setzte sich neben Ugh-lomi und sah ihn an ...
Nach einer Weile streckte sie zaghaft ihre Hand aus, berührte ihn und ließ den gurgelnden Laut hören, der sein Name war. Er wandte sich um und stützte sich auf seinen Arm. Sein Gesicht war blaß wie das eines Menschen, der voll Schrecken ist. Er sah sie einen Augenblick lang fest an, und dann lachte er plötzlich auf. »Wauf!« sagte er frohlockend.
»Wauf!« sagte sie – eine einfache aber ausdrucksvolle Unterredung.
Dann kam Ugh-lomi, kniete neben ihr nieder und spähte auf Händen und Knien über den Rand hinunter in die Schlucht. Sein Atem ging jetzt ruhig, und das Blut an seinem Bein hatte zu fließen aufgehört, obwohl die Risse, die die Bärin gemacht hatte, breit und offen waren. Er kauerte nieder und starrte auf die Fußspuren des großen Bären, die in der Rinne zu sehen waren – sie waren so breit wie sein Kopf und zweimal so lang. Dann sprang er auf und ging den Felsen entlang, bis er den Felssims sehen konnte. Dort setzte er sich dann nieder und dachte eine Weile nach, während Judina ihn beobachtete. Plötzlich bemerkte sie, daß die Bären fort waren.
Endlich erhob sich Ugh-lomi wie einer, der nun entschlossen ist. Er wandte sich der Rinne zu, Judina hielt sich dicht neben ihm, und so kletterten sie zusammen zum Felsband hinab. Sie nahmen den Feuerstein und einen Kiesel, und dann ging Ugh-lomi hinunter, sehr vorsichtig, bis zum Fuße des Felsens, und suchte seine Axt. Nachdem er sie gefunden hatte, kehrten sie so leise wie sie nur konnten zum Felsen zurück und machten sich munter auf den Weg. Das Felsband konnte ihnen nicht länger eine Heimstätte sein, da solche Besucher in der Nachbarschaft hausten. Ugh-lomi trug die Axt und Judina den Feuerstein. So einfach war ein paläolithischer Umzug.
Sie gingen stromaufwärts, obwohl sie da vielleicht direkt ins Lager des Höhlenbärs kommen konnten, aber sie hatten keinen anderen Weg. Stromabwärts war der Stamm, und hatte Ugh-lomi nicht Uya und Wau erschlagen? Längs des Stromes mußten sie bleiben – des Trinkens wegen.
So schritten sie durch die Buchenwälder, und die Schlucht wurde immer enger und tiefer, bis der Fluß als schäumender Wasserfall, fünfhundert Fuß unter ihnen, dahinstürzte. Von allen wechselnden Dingen dieser Welt des Wechsels wechselt der Lauf der Flüsse in tiefen Tälern am wenigsten. Dieser Fluß war der Wey, den wir heute noch kennen, und sie schritten gerade an der Stelle vorbei, wo heute Klein Guildford und Godalming stehen – die ersten menschlichen Geschöpfe, die in das Land kamen. Einmal schnatterte ein grauer Affe auf und verschwand wieder, und immerfort den Felsrand entlang lief die Spur des großen Höhlenbären, mächtig und gleichmäßig.
Und dann verschwand die Spur des Bären am Felsen und Ugh-lomi glaubte, daraus erkennen zu können, daß er irgendwoher von links hatte kommen müssen, und sich längs des Felsrandes haltend, standen sie plötzlich am Ende. Sie sahen hinab auf einen großen, halbkreisförmigen Platz, der durch einen Felssturz entstanden war. Der Felsblock war gerade quer über den Fluß in die Schlucht gestürzt, hatte oben das Wasser in einen Teich zurückgedrängt, der in einen Wasserfall überlief. Der Sturz war vor langer Zeit geschehen. Überall war inzwischen Gras gewachsen, nur die Felsen, die um den Halbkreis standen, waren beinahe so frisch und weiß wie an dem Tag, da der Felsen abgebrochen und hinuntergestürzt war. Unten am Fuß der Felsenwand gähnten völlig frei und schwarz die Öffnungen einiger Höhlen. Und als sie dort standen und sich den Ort besahen, nicht sehr geneigt, ihn zu besehen, weil sie glaubten, daß des Bären Lager irgendwo links liegen müsse, in der Richtung, nach der sie gehen müßten, erblickten sie plötzlich erst einen, dann zwei Bären, die rechts den Grasabhang heraufkamen und quer über das Amphitheater auf die Höhlen zugingen. Anduh war voran; er hinkte ein wenig auf dem Vorderfuß und seine Miene war verzagt; die Bärin watschelte hinterdrein.
Judina und Ugh-lomi traten vom Felsen zurück, bis sie eben nur noch über den Rand die Bären sehen konnten. Dann blieb Ugh-lomi stehen. Judina zog ihn am Arm, aber er wandte sich mit einer herrischen Gebärde um, da ließ sie die Hand sinken. Ugh-lomi stand still, die Axt in der Hand, und beobachtete die Bären, bis sie in der Höhle verschwunden waren. Er brummte leise und schwang die Axt gegen den eben verschwindenden Hinterteil der Bärin. Dann legte er sich, zu Judinas Entsetzen, anstatt mit ihr fortzuschleichen, flach auf den Boden und kroch langsam vorwärts, bis er gerade die Höhle sehen konnte. Es waren doch Bären und er tat es so ruhig, als ob es Kaninchen wären, denen er auflauerte!
Er lag still, wie ein Stück Baumrinde, und die Sonne warf durch die Blätter der Bäume helle Flecken auf seinen Körper. Er dachte nach. Und Judina hatte es gelernt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, daß – lag Ugh-lomi einmal still wie jetzt, das Kinn auf die Faust gelegt – sich neue Dinge zu ereignen pflegten.
Eine Stunde verging, ehe er mit dem Denken fertig war; es war Mittag gewesen, als die beiden kleinen Wilden den Weg zum Felsrand gefunden hatten, der die Höhle der Bären überhing. Und den ganzen Nachmittag kämpften sie verzweifelt mit einem großen Kreideblock. Sie wälzten ihn mit Hilfe ihrer starken Muskeln allein aus der Rinne, in der er wie ein loser Zahn gehangen war, auf die Spitze des Felsens. Der Block hatte einen Durchmesser von zwei vollen Ellen, er reichte Judina bis zur Hüfte, er war stumpfwinkelig und mit scharfen Steinen gezähnt. Und als die Sonne unterging, lag er auf seinem Platz: drei Zoll vom Rand, über der Höhle des großen Höhlenbären.
In der Höhle stockte die Unterhaltung an diesem Nachmittag. Die Bärin schlummerte schmollend in einer Ecke – denn Schwein und Affe waren ihre Lieblingsspeisen – und Anduh leckte emsig die eine Seite seiner Tatze und rieb sein Gesicht, um den Schmerz und die Hitze seiner Wunden zu kühlen. Später stand er auf und setzte sich gerade an den Ausgang der Höhle, sah mit dem einen heilen Auge hinaus in die Nachmittagssonne und dachte nach.
»In meinem ganzen Leben war ich noch nie so überrascht«, sagte er schließlich. »Das sind doch die merkwürdigsten Biester. Mich anzugreifen!«
»Ich mag sie nicht«, sagte die Bärin hinten aus dem Dunkel heraus.
»Ich habe noch niemals ein schwächeres Tier gesehen. Ich weiß nicht, wohin das führen soll in der Welt. Dürre, nackte Beine ... Ich möchte nur wissen, wie die sich im Winter warm halten?«
»Wahrscheinlich gar nicht«, sagte die Bärin.
»Ich glaube, es ist eine mißlungene Art von Affen.«
»Es ist eine Abart«, sagte die Bärin.
Pause.
»Das Übergewicht, das er hatte, war rein zufällig«, sagte Anduh. »So etwas kommt vor.«
»Ich versteh' nicht, warum du's stehen gelassen hast«, sagte die Bärin.
Diese Frage war schon vorher erörtert und festgestellt worden. Darum blieb Anduh, als Bär von Erfahrung, eine Zeitlang still. Dann, von einem anderen Gesichtspunkt aus die Sache zusammenfassend: »Er hat eine Art Klaue – eine lange Klaue, die er erst an der einen und dann an der anderen Tatze zu haben schien. Nur eine einzige Klaue. Es gibt sehr merkwürdige Dinge. Auch dieses helle Ding, das sie zu haben schienen – wie jener Schein, der bei Tag am Himmel zu sehen ist – nur springt es herum – wirklich, es ist sehenswert. Es hat auch eine Wurzel – wie Gras, wenn es windig ist.«
»Beißt es?« fragte die Bärin, »wenn es beißt, kann es keine Pflanze sein.«
»Nein – – ich weiß nicht«, sagte Anduh. »Aber immerhin, es ist merkwürdig.«
»Ich möchte doch wissen, ob sie gut zu essen sind!« sagte die Bärin.
»Sie sehen danach aus«, sagte Anduh mit Appetit – denn der Höhlenbär, wie der Polarbär, war ein unverbesserlicher Fleischfresser – Wurzeln oder Honig waren für ihn nichts.
Die beiden Bären verfielen eine Zeitlang in stumme Betrachtungen. Dann nahm Anduh wieder die Pflege seines Auges auf. Das Sonnenlicht über dem grünen Abhang vor der Höhlenöffnung wurde wärmer und immer wärmer im Ton, bis zum Rot des Bernsteins.
»Auch etwas Merkwürdiges – der Tag«, sagte der Höhlenbär, »'s ist viel zu viel davon, glaub ich. Ganz ungeeignet zum Jagen. Blendet mich immer. Ich wittere nicht halb so gut am Tag.«
Die Bärin antwortete nicht, es kam nur ein gemessenes, knirschendes Geräusch aus dem Dunkel. Sie hatte einen Knochen aufgestöbert. Anduh gähnte. »Ja«, sagte er. Dann schlenderte er zum Höhlenausgang, stand da, den Kopf schon im Freien, und überblickte das Amphitheater. Er fand, daß er den Kopf ganz herumdrehen mußte, wenn er die Dinge auf seiner rechten Seite sehen wollte. Hoffentlich wird das Auge morgen wieder ganz in Ordnung sein!
Er gähnte wieder. Da geschah über seinem Kopf ein Schlag, und eine große Masse Kalk flog hervor aus der Felswand, fiel eine Elle weit vor seiner Schnauze nieder und zersplitterte in hundert ungleiche Stücke. Das erschreckte ihn über alle Maßen.
Als er sich ein wenig von seinem Schrecken erholt hatte, ging er hin und schnüffelte neugierig an den übriggebliebenen Stücken des Wurfgeschosses. Sie hatten einen ausgesprochenen Geruch, der merkwürdig an die beiden hellbraunen Tiere vom Felsenband erinnerte. Er setzte sich nieder, betastete einen großen Klumpen mit der Pranke, ging mehrmals um ihn herum und suchte, ob er nicht irgendwo einen Menschen an ihm finden könnte ...
Als die Nacht kam, ging er fort, stromabwärts, um zu sehen, ob er nicht einen der Bewohner des Felsenbandes abschneiden könnte. Das Band war leer, es war keine Spur von dem roten Ding zu sehen; da er aber hungrig war, zauderte er diese Nacht nicht lange, sondern zog weiter, um ein rotes Rehkalb zu finden. Darüber vergaß er die hellbraunen Tiere. Er fand ein Kalb, aber die Hirschkuh war dicht dabei und machte ihm, um des Jungen willen, einen häßlichen Kampf. Anduh mußte vom Kalb ablassen, aber da ihr Blut einmal in Wallung war, hielt sie dem Angriff stand, bis es ihm zuletzt gelang, ihr mit der Tatze einen Schlag auf die Schnauze zu versetzen und sie zu fassen. Mehr Fleisch, aber nicht so fein – und die Bärin, die gefolgt war, erhielt ihren Teil. Am nächsten Nachmittag fiel merkwürdigerweise wieder ein weißer Felsblock herab, der wahre Bruder des ersten, und schlug genau so wie der vorige auf.
Der dritte jedoch, der in der darauffolgenden Nacht fiel, traf sein Ziel besser. Er schlug auf Anduhs nichtsahnenden Kopf mit solcher Wucht auf, daß es die ganze Felswand entlang widerhallte und die weißen Splitter und Stücke nach allen Himmelsrichtungen flogen. Die Bärin, die nachfolgte und ihn neugierig beschnüffelte, fand ihn in einer seltsamen Stellung daliegen, den nassen Kopf ganz formlos. Sie war eine junge, unerfahrene Bärin, und nachdem sie eine Weile an ihm herumgeschnüffelt und ein wenig an ihm geleckt hatte, entschloß sie sich, ihn allein zu lassen, bis die seltsame Laune vorüber wäre; und so ging sie allein auf die Jagd.
Sie spürte dem Rehkalb von der roten Hirschkuh nach, die sie vor zwei Nächten getötet hatten, und fand es auch. Aber es war so einsam, allein zu jagen ohne Anduh, und so kehrte sie vor der Morgendämmerung zur Höhle heim. Der Himmel war grau und bedeckt, die Bäume oben in der Schlucht waren schwarz und unheimlich, und in ihr Bärenherz schlich sich ein dunkles Vorgefühl befremdender und schrecklicher Ereignisse. Sie erhob ihre Stimme und rief Anduh beim Namen. Von den Felswänden der Schlucht hallte es wider.
Als sie sich der Höhle näherte, sah und hörte sie im Halbdunkel, wie zwei Schakale sich eilig davonmachten. Unmittelbar darauf heulte eine Hyäne – ein Dutzend plumpe Steinklumpen kollerten den Abhang herunter – und sie blieb stehen und schrie spottend: »Herr der Felsen und Höhlen – Ya-ha!« So trug es der Wind mit herunter. Das Gefühl des Entsetzens wurde plötzlich heftig in dem Gemüt der Bärin. Sie watschelte quer über das Amphitheater.
»Ya-ha!« sagten die Hyänen zurückweichend, »Ya-ha!«
Der Höhlenbär lag nicht genau in derselben Stellung wie zuvor, weil die Hyänen an der Arbeit gewesen waren, und an einer Stelle schimmerten weiß seine Rippen. Rings um ihn, über den Rasen verstreut, lagen die zerschlagenen Trümmer der drei großen Kreideblöcke. Und die Luft war von Leichengeruch erfüllt.
Die Bärin fuhr zu Tod erschrocken zurück. Sogar jetzt konnte sie es nicht begreifen, daß der große und herrliche Anduh getötet worden wäre. Dann hörte sie hoch über ihrem Kopf ein Geräusch, ein sonderbares Geräusch, ein wenig wie der Schrei einer Hyäne, aber voller und leiser im Ton. Sie blickte empor, ihre kleinen lichtgeblendeten Augen sahen wenig, ihre Nasenlöcher bebten. Und da, oben am Felsrand, hoch über ihr gegen das helle Morgenrot, waren zwei kleine, zottige, schwarze Dinger, die Köpfe Judinas und Ugh-lomis, wie sie spottend auf sie herabschrieen. Aber obwohl sie sie nicht sehr deutlich sehen konnte, konnte sie doch hören, und dunkel begann sie zu begreifen. Ein neues Gefühl, wie von unermeßlichem, fremdem Unglück, drang in ihr Herz.
Sie begann die zerschlagenen Kreidestücke zu untersuchen, die rings um Anduh lagen. Eine Weile stand sie still, sah um sich und gab einen leisen, ununterbrochenen Ton von sich, der beinahe ein Wehklagen war. Dann kehrte sie ungläubig zu Anduh zurück, um noch einen letzten Versuch zu machen, ihn zu wecken.