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In meinen ersten Ausführungen habe ich die Beziehung der heutigen intensiven politischen Störungen der Welt, insbesondere Europas, zum Fortschritt der mechanischen Kenntnisse der letzten 150 Jahre gezeigt. Ich habe gezeigt, dass ohne sehr eingreifende Neuerungen der politischen Ideen und Gewohnheiten sich Europa und der Gesamtwelt die sichere Aussicht anhaltender Konflikte eröffnet, dass ohne diese Neuerungen unsere Zivilisation wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht haben wird und der Prozess des Zerfalls, der seit dem August 1914 begonnen hat, weiter fortschreiten wird.
Diese Neuerungen bedingen unmittelbare Konflikte mit dem vorhandenen Patriotismus. Wir haben uns hier auf eine Streitfrage eingelassen, bei der Erregung und Leidenschaft unvermeidlich scheinen: die Streitfrage der Nationalität. Von Anfang an haben wir den Patriotismus, so wie er in Europa verstanden wird, heftig angegriffen. Und ich halte es für ausgeschlossen, diesen Patriotismus nicht anzugreifen. Wir können uns dem Patriotismus, wie man ihm in Europa begegnet, nicht anpassen und zugleich die allgemeine menschliche Wohlfahrt anstreben. Diese beiden Dinge sind absolute Gegensätze, eins oder das andere muss geopfert werden. Die jetzige politische und soziale Unordnung in Europa verdankt man zum grössten Teil dem Versuch, Patriotismus und das Gesamtwohl Europas zu vereinen. Wollen wir den Patriotismus gänzlich abschaffen? Ich glaube nicht, dass dies zu geschehen hat, ich glaube auch nicht, dass wir es tun könnten, auch wenn wir es wollten. Es ist scheinbar etwas, was für das moralische Leben eines Menschen absolut notwendig ist. Er muss sich einer Gemeinschaft angehörig fühlen und die Gemeinschaft ihm angehörend. Und es ist ebenfalls notwendig, dass diese Gemeinschaft eine einfache, liebenswerte Wirklichkeit sei, von einer gemeinsamen Idee beseelt, mit gemeinsamer Form und gemeinsamen Zielen. Einer der Punkte, die ich in diesen Ausführungen ausdrücklich betonen möchte, ist, dass ein Europäer, der die Vereinigten Staaten besucht, ein neues Staatenbild, stofflich grösser, stofflich weniger beengt als in Europa vorfindet. Und er sieht dort ebenfalls ein stark patriotisches Volk, dessen Patriotismus dem europäischen Patriotismus nicht absolut gleichbedeutend ist. Historisch, praktisch aufgefasst, ist er gewissermassen eine Synthese des europäischen Patriotismus. Er ist ausserdem numerisch grösser, er ist geographisch genommen zehnmal so gross. Er ist synthetisch aus etwas kleinerem entstanden. Man spricht, glaube ich, von 100% Amerikanern, aber die Rothäute ausgenommen, gibt es keine 100% Amerikaner. Es gibt in den Vereinigten Staaten nicht einen weissen Mann, aus dessen Adern nicht ein grosser Teil europäischen Patriotismus hinweggespült ist, um für amerikanischen Patriotismus Raum zu schaffen.
Auf diese Tatsache des amerikanischen Patriotismus, als etwas grösserem, umfangreicheren, als es der europäische Patriotismus ist, stütze ich meine Behauptung. Die Sache ist möglich, sie kann geschehen. Wenn es bei den Europäern und ihren Nachkommen möglich war, die nach Amerika auswanderten, warum sollte es nicht auch bei den Europäern Europas möglich sein? Amerika, der grosse, umfangreiche, schweigsame Erdteil machte es möglich, indem er alle die verschiedenen Nationalitäten aufnahm und sie gezwungen wurden, als ein Volk miteinander zu leben.
Leider können wir nicht die europäischen Nationen aufpacken und sie auf einen neuen grossen Erdteil bringen, damit sie dort politische Einsicht erlernen. Es gibt keinen neuen Erdteil und Europa muss bleiben, wo es ist.
Bei wissenschaftlichen Untersuchungen soll es von Nutzen sein, das Verfahren in der Vorstellung umzudrehen und die Sache von einer anderen Seite zu betrachten. Anstatt über die Erweiterung und Synthese des europäischen Patriotismus zu reden, wollen wir uns für einen Augenblick die Entwicklung begrenzten Patriotismus' in Amerika vorstellen und uns vorstellen, wie er wirken würde. Angenommen es bräche z. B. in Kentucky eine plötzliche Aufwallung von lokalem Patriotismus aus, angenommen die Leute von Kentucky zögen auf einmal ihre eigene Flagge auf, sich auflehnend gegen das, was sie wahrscheinlich den »vagen Internationalismus« des Stern- und Streifenbanners nennen würden. Angenommen sie erhöben Zollschranken gegen ihre Nachbarstaaten. Angenommen, sie schickten sich an, beträchtliche Gebiete Virginias gewaltsam zu annektieren, um eine geschützte strategische Staatengrenze durch die umliegenden Berge zu gewinnen und machten Andeutungen von der Notwendigkeit, einen eigenen Zugang zum Meer zu erhalten. Was würde der amerikanische Staatsbürger von solch einem plötzlichen Aufruhr halten? Er wird wahrscheinlich glauben, dass die Leute in Kentucky verrückt geworden sind. Aber das was uns in Kentucky als ein phantastisches Betragen anmutet, ist genau das, was in Staaten in Europa, die kaum grösser als Kentucky sind, üblich ist. Die Leute sind dort immer so gewesen. Sie sind nicht plötzlich verrückt geworden; sollte es Irrsinn sein, so sind sie irrsinnig geboren und niemals geheilt worden. Ein Vorfall, der in Europa für durchaus normal gilt, würde in den Vereinigten Staaten als ein schwerer Fall lokaler, geistiger Störung betrachtet werden.
Und was für Massnahmen würde nun der amerikanische Staat in solch einem Falle ergreifen? Er würde wahrscheinlich erst mal nachforschen, woher man in Kentucky diese seltsamen Begriffe geschöpft hat. Man würde nach einem Ansteckungsherd suchen, irgend jemand muss dort in diesem Sinne gelehrt, in den Zeitungen geschrieben, den Schulen Unheil gepredigt haben. Ich vermute, dass die Bewohner der Vereinigten Staaten erstlich darnach trachten würden, den Leuten von Kentucky Vernunft beizubringen. Und dies ist genau das, was in Europa zu geschehen hätte. In allen Schulen, Kirchen, in der ganzen nationalen Presse, der hochgradig national gesinnten Literatur wird eine einheitsvernichtende, patriotische Propaganda getrieben. In allen Schulen Europas wird fast ausnahmslos der widerwärtigste Patriotismus gelehrt; alle Kinder Europas wachsen mit einer Intensität von patriotischem Egoismus auf, der sie für internationale Zwecke untauglich macht. Sie kommen nicht patriotisch zur Welt, aber sie werden, sobald sie lesen und schreiben können, mit Patriotismus infiziert. Englische Kinder lernen nichts als die Verherrlichung Englands, in Frankreich wird den Kindern womöglich in noch ungesunderer Weise der Ruhm Frankreichs eingepauckt; in Deutschland erholt man sich eben von den bitteren Folgen vierzigjähriger, intensiv nationaler Erziehung. Und so fort. Jeder Staat hat seine eigenen Sinnfeiner und pflegt die unschöne, törichte, politische Zwangsvorstellung des Wahlspruchs: »Nur wir allein«. »Wir allein« führt aber zu sicherem Konflikt, Unheil, Elend, Gewalttat, Erniedrigung und Tod für uns, unsere Kinder und Kindeskinder – bis zum völligen Aussterben unserer Rasse.
Unsere erste Aufgabe in Europa ist daher, unsere Kinder um jeden Preis von der nationalen Zwangsvorstellung zu befreien, die grosse Masse der Völker ein wenig wahrheitsgetreue Weltgeschichte der Völker zu lehren, um ihnen die Vergangenheit und Zukunft ihres Landes im richtigen Verhältnis darzustellen und ein wenig wahrheitsgetreue Ethnologie, wodurch sie von dem Irrtum geheilt werden würden, sich als ein einzelnes, abgesondertes Volk zu betrachten. Der Geschichtsunterricht ist der Kernpunkt der Sache.
Dies aber ist gewissermassen nur die Nutzanwendung der verschiedenen grossen Einflüsse, die von unserer Kindheit an auf uns wirken, der Einflüsse der Literatur, religiöser Anschauungen und der täglichen Zeitungsnachrichten. Es muss sich ein kolossaler Umschwung im Sinn internationaler Sinneseinstellungen auf moralischem und intellektuellem Gebiet vollziehn, bevor Europa sich weiterentwickeln kann. Kann dies geschehen, dann ist noch Hoffnung für Europa vorhanden. Dann ist auch noch Hoffnung vorhanden für die alte Welt. Geschieht es nicht, so geht sie sicherlich unter, sinkt mit all ihren am Mastbaum gehissten Flaggen. Wir befinden uns auf einem sinkenden Schiff, es gibt nur noch eine Rettung. Wir müssen unsern Patriotismus durch einen grösseren Gedanken überwinden oder untergehn.
Welches ist der grössere Gedanke? Ich schlage vor, Patriotismus durch den Gedanken eines gesamten Weltstaats zu ersetzen. Ich habe bisher nur die Möglichkeit in Betracht gezogen, in Europa den Gedanken der Vereinigten Staaten Europas zu verbreiten. Ich habe bisher unsere Aufmerksamkeit nur auf diesen eitlen, sich in einem Hochstand von Konflikten befindlichen und unter einer Überfüllung leidenden Kontinent gelenkt. Aber tatsächlich gibt es in der alten Welt zwischen Europa, Asien und Afrika keine wirklichen Grenzen. Der gewöhnliche Russe spricht von Europa wie einer, der sich ausserhalb befindet. Europäische Staaten haben sich zu allen Zeiten nach Süd und Ost über die Grenzen Europas ausgebreitet. Denken Sie nur an das alte mazedonische und das römische Reich. Betrachten Sie wie die russische Sprache bis zum Stillen Ozean reicht und der Islam nach drei Erdteilen hin ausstrahlt. Ich führe den Fall nicht weiter aus.
Wenn Sie dieser Tatsachen eingedenk sind, so müssen Sie, meine ich, mit mir übereinstimmen, dass man, wenn man von einem europäischen Staatenbund spricht, praktisch ebensowohl einen Staatenbund der ganzen alten Welt in Betracht ziehen kann. Und sollten wir bei einem Staatenbund der alten Welt stehen bleiben?
Alle sichtbar einenden Kräfte in Amerika weisen zweifellos heutzutage auf eine Vereinigung des gesamten amerikanischen Kontinents hin, dies ist das Naheliegendste.
Aber sollten wir eine Art dualistischer Welt in Betracht ziehn, die neue Welt gegen die alte Welt?
Ich glaube nicht, dass dies auf die Dauer ein befriedigender Zustand wäre. Warum sollten auf einem Planeten zwei Welten entstehen? Wenn wir für eine Einigung in so grossem Stile arbeiten, warum sollten wir nicht auch eine Einigung der ganzen Welt bewirken wollen? Nicht nur in räumlicher Beziehung sind sich London, Rom, New-York näher als Patagonien, und St. Franzisko wird für Japan immer mehr Interesse haben als Paris und Madrid. Ich sehe nirgends einen Grund dafür, dass das unbewusste Einheitsstreben der Völker vor irgend einer politischen oder ökonomischen Schranke Halt machen sollte. Ich sehe auch nirgends Anzeichen dafür, dass unsere jetzigen Transport- und Verkehrsmittel die letztmöglichsten Mittel sein sollen. Wenn wir mit der heutigen Begrenztheit unserer politischen Begriffe brechen, so sprechen keine Gründe und Vorteile dafür, auf einem halben Wege zu einer Welteinigung stehen zu bleiben.
Nach dem, was ich gesagt habe, sind die Gründe warum ich den Gedanken einer Einigung nicht in der Form eines Völkerbundes, sondern in Form eines Weltstaats der Menschheit nahelege, leicht erklärlich.
Ich sehe den ausserordentlich erzieherischen Wert einer Völkerbundspropaganda, den Wert, den der Versuch hat, einen solchen Bund zu bilden, voll und ganz ein. Der Begriff der Welteinigung wurde so der allgemeinen Intelligenz nahegelegt, wie er vielleicht auf anderem Wege nicht hätte verbreitet werden können. Aber ist es das was wir brauchen?
Ich gebe Ihnen zu bedenken, dass das Wort »Volk« oder »Nation« gerade das ist, was hätte vermieden werden sollen, weil darin die Tendenz liegt an den Spaltungen und Verschiedenheiten festzuhalten, die wir um jeden Preis entwerten und verringern sollten, wenn wir weiter bestehen wollen. Es hat einen kleinlichen, gesetzmässigen und streitsüchtigen Beigeschmack. Wieviel Treue und wieviel Hingabe kann eine so vielfältige Gemeinschaft in dem Menschen erwecken? Sie besitzt weder Einheit noch Persönlichkeit. Es ist, als ob man von einem Manne verlangte, irgend ein Mitglied eines Frauenklubs zu lieben, statt seiner Frau.
Ich kann mir vorstellen, dass es Menschen gibt, die für die Menschheit, für die Menscheneinigung, für unser ganzes Geschlecht und für die Weltordnung leben und sterben könnten, aber nicht für eine gemischte Vereinsgesellschaft, die sich niemals einigen kann, nicht einmal in der Benennung. Diese Völkerbundsformel besitzt weder Herz noch zentralen Gedanken. Da wo er fest sein sollte, in der Bekämpfung antagonistischer, separatistischer, nationaler Selbständigkeitsbestrebungen, ist er weich und nachgebend. Wenn er überhaupt einen praktischen Sinn und ein Streben haben soll, so sollte er gerade diese Bestrebungen bekämpfen. Wenn er einen praktischen Wert haben soll, so sollte er zum mindesten die Selbstherrlichkeit aller bestehenden Staaten überwiegen, hat er aber keinen praktischen Sinn, so haben wir überhaupt keine Verwendung für ihn.
Es mag ein viel schwierigeres Unternehmen sein, Nationalität und Nationalismus anzugreifen, als einen Kompromiss in diesen Dingen herzustellen, jedoch auf dem Wege unabhängiger Nationalität liegt keine Hoffnung für Einheit, Frieden und fortschreitende Entwicklung der Menschheit. Wir können diese veraltete Loyalitätsaufspeicherung nicht dulden, weil wir gerade die Loyalitätsfähigkeit, die sich auf diese veralteten Dinge richtet, brauchen, um den Weltfrieden zu erhalten und zu schaffen. So wie vormals der Provinzialpatriotismus einem grösseren Nationalpatriotismus Raum gegeben hat, so müssen wir jetzt die viel zu begrenzt gewordenen Vorstellungen durch weitere, grössere Ideale ersetzen, durch das Ideal eines Gesamtstaates und allgemeinen Weltstaatbanners.
Das Ideal eines Weltstaates ist von der Vorstellung eines Völkerbundes ebenso getrennt, wie der Glaube an einen allmächtigen Gott im Himmel und auf Erden, von einem ganzen Götterhimmel mit Wotan, Baal, Jupiter, Amos Ra, Wumbo Jumbo und allen anderen Stammesgottheiten. Mitteldinge gibt es weder hier noch dort. Durch eine Umgehung der Sache wird nichts gewonnen. Die Aufgabe, die der Menschheit bevorsteht, ist, alle die vielen kleinen Begriffe staatlicher Wohlfahrt, die jetzt vorherrschen, durch einen gemeinsamen weltumfassenden Gedanken zu ersetzen. Wir haben bereits einen Blick auf die nächsten, wahrscheinlichsten Folgen einer solchen Umwälzung geworfen.
Dies ist ein ungeheurer Antrag. Ist es ein unsinniger?
Wir wollen die ungeheure Aufgabe, die in der Gründung eines allgemeinen, die ganze Welt umfassenden Weltstaats besteht, nicht verringern, sondern eingedenk sein, dass, so gross auch diese bevorstehende Aufgabe sein mag, so sehr sie auch an Unmögliches grenzen mag, sie unsere einzige Hoffnung ist, um zunehmenden Kriegswirren, sozialer Auflösung, bis zum endlichen Untergang, zu entgehen.
Ich persönlich bin erschüttert von den in den letzten sieben Jahren in der Welt zutage tretenden Zerstörungen. Ich zweifle daran, dass irgend ein Amerikaner, der nicht im Ausland gewesen ist, sich einen Begriff davon machen kann, wie viel Europa bereits eingebüsst hat, und ich glaube kaum, dass viele Leute sich klar darüber sind, wie rasch Europa hinabgleitet und wie dringend notwendig es ist, alle europäischen Fragen von einer allgemeinen Grundlage ausgehend, zu lösen, wenn die Zivilisation gerettet werden soll.
Und was die Grösse des Projekts betrifft, die allgemeine Loyalitätsgesinnung umzuwerten, Hingabe an das Gesamtwohl der Menschheit anstatt an einige selbstsüchtige und kriegerische Staaten zu fordern, so handelt es sich darum, hundert Millionen Herzen davon zu überzeugen, gewisse begründete Vorstellungen auszutilgen oder durch den neuen Gedanken des allgemeinen Weltwohls zu ergänzen. Wir müssen nicht nur die heute so überaus patriotischen Herzen der Franzosen, Deutschen, Engländer, Iren, Japaner erfassen, sondern auch die sehr viel unnachgiebigeren und uns fremderen Herzen der Araber und Inder und der zahllosen Millionen in China. Haben wir irgend einen Präzedenzfall, der uns zu der Hoffnung berechtigt, dass solch eine Umwandlung möglich ist?
Ich meine wohl. Ich bin der Ansicht, dass man im allgemeinen heutzutage über das was durch Ausbreitung und Lehre zu erreichen ist, viel zu skeptisch denkt. In früheren Zeiten haben sich grosse Umwandlungen in den menschlichen Begriffen vollzogen. Ich brauche kaum an die Ausbreitung des Christentums im westlichen Europa zu erinnern. In wenigen Jahrhunderten hatte sich ganz Westeuropa verwandelt, das wilde Wirrsal streitender Volksstämme, das dem Zusammenbruch des römischen Reichs gefolgt war, hatte sich in eine einzige Gemeinschaft, die Gemeinschaft des Christentums umgewandelt, eine Gemeinschaft, die von solch einem Einheitsgefühl durchdrungen war, dass das ganze Abendland von einem Ende zum andern von der gleichen Kreuzzugsbegeisterung ergriffen werden konnte.
Noch ausserordentlicher war die rasche Umwandlung der Mittelmeervölker, in weniger als einem Jahrhundert, von Spanien bis Zentralasien, in eine islamitische Einheit, eine Einigung, die noch bis zum heutigen Tage dauert. In beiden Fällen war die geistige Umstellung, wenn ich's so nennen darf, eine gewaltige.
Wenn Sie die Verbreitung dieser beiden verwickelten und schwierigen Glaubensbekenntnisse betrachten, und die Mittel, die ihren Verkündern zu Gebote standen, mit den Mitteln vergleichen, die der heutigen Intelligenz zu Gebote stehen, so werden Sie viele Gründe finden, die dafür sprechen, dass die Umformung der menschlichen Vorstellung in den Rahmen eines Weltstaatsgedankens durchaus kein unmögliches Projekt ist.
Diese alten Lehren wurden hauptsächlich mündlich verbreitet. Die Prediger legten lange, gefahrvolle Fussreisen zurück. Ausser in grossen Städten war es schwer, an grosse Volksmassen heranzutreten. Bücher kamen wenig in Betracht, Buchdruck, Papier, Postbeförderung fehlten, ebenso Schulen, ausser für einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung. Und dies alles geschah im Kampf mit einer noch sehr viel erbitterteren Feindschaft und Verfolgung.
Heutzutage haben wir die Möglichkeit, Gedanken und Beweisführungen den Menschen rasch und gleichzeitig über die ganze Erde hin zu vermitteln, etwas was man sich vor hundert Jahren noch nicht hätte träumen lassen. Wir haben nicht nur Bücher und Schriften, wir besitzen im Kinematographen ein Mittel lebhafter und wirksamer Darstellung, ein Mittel, das noch viel zu wenig angewandt wird. Wir haben fast überall Schulen. Und in der Not, die uns dazu treibt den streithaften Patriotismus, der heute die Welt beherrscht, in den Gedanken eines alleinherrschenden, führenden Weltstaats umzuwandeln, in dieser idealen Umstellung, haben wir ein dringendes, treibendes, menschliches Bedürfnis. Wir haben unüberwindliche Gründe und können Nationalismus und Patriotismus, die uns heute im Wege stehn, unwiderlegbare Gründe entgegenhalten.
Ist es nicht unvermeidlich, dass einige von uns sich zusammenschliessen und mit den heutigen modernen Mitteln den Gedanken des Weltstaats verbreiten, der uns vor Untergang bewahren soll? Die Welt geht am Mangel eines einheitlichen, politischen Ideals zugrunde. Aber es ist noch möglich, der Welt dieses fehlende Ideal zu geben, das Ideal eines föderalisierten Weltstaates. Wir können nichts anderes tun, als uns ans Werk zu machen.
Wie ich's bereits ausgeführt habe, sind heutzutage Lehre und Unterricht die wichtigsten Pflichten aller Frauen und Männer. Wir haben erst ein Bild zu geben, um die Möglichkeit denkbar zu machen, und dann die erreichbare Wirklichkeit zu gestalten. Dies ist eine Aufgabe und eine Arbeit, die die Gedanken von Tausenden in Anspruch nehmen muss. Wir haben den Gedanken eines verbündeten Weltstaates, als erreichbare Möglichkeit, in der ganzen Welt zu verbreiten. Um dies zu erreichen, haben wir heutzutage hundert verschiedene Mittel. Wir können es durch die Presse, durch Schule, Vorträge, Universitäten, politische Reden besonderer Organisationen, und endlich, aber nicht letztlich, durch die Kirche. Bedenken Sie doch, dass alle Glaubensbekenntnisse der Welt theoretisch den Universalismus predigen; sie mögen die Spaltung der Menschen dulden, aber sie können sie nicht gutheissen. Wir wollen nicht eine religiöse Revolution, sondern eine religiöse Erneuerung. Wir können Gedanken, Lehren und Eingebungen, mit einer, im Vergleich zum vorigen Jahrhundert, hundertfältigen Geschwindigkeit verbreiten.
Diese Bewegung braucht nicht sogleich in der Politik beginnen; sie liegt im Zukünftigen und ist hauptsächlich eine Sache der jungen und erwachenden Herzen. Sich ausbreitend, wird sie unvermeidlich auch die Politik ergreifen. Aber die heutigen Nationen, Staaten, Königreiche, welche gegeneinander streiten und Ränke schmieden, als wenn sie in alle Ewigkeiten streiten und Ränke schmieden wollten, werden immer augenscheinlicher die Rolle blosser Verweser der Regierungsgewalt spielen; jede Herrschergewalt wird in der Welt immer mehr eine abwartende Rolle einnehmen müssen, während sich der Weltstaat heranbildet. Denn der Weltstaat, auf den die Welt wartet, wird notwendigerweise eine Verschmelzung aller Staatsgewalten und Erbe aller Reiche sein.
Ich habe versucht, den Gedanken eines Weltstaats klarzulegen. Es waren, fürchte ich, sehr abstrakte Erörterungen; ich habe mich dabei streng an die nackte, harte Logik, die sich aus den heutigen menschlichen Zuständen ergibt, gehalten. Gestatten Sie mir jetzt den Versuch, in blossen Umrissen kurz eine konkretere Darstellung zu geben. Wir wollen versuchen, uns vorzustellen, was der Weltstaat bedeuten würde und welche Form er anzunehmen hätte. Ich möchte diese Ausführungen nicht mit einer Phrase beenden, die nicht viel mehr als eine negative Phrase wäre, wenn man ihr nicht einen Inhalt gäbe. An sich bedeutet Weltstaat einfach eine politisch ungeteilte Welt; wir wollen dies bis zum Gedanken eines geeinigten, organisierten Staates, der alle Reiche der Welt umfasst, entwickeln.
Lassen Sie uns versuchen, uns vorzustellen, wie solch eine allgemeine Weltregierung beschaffen sein würde. Ich habe beobachtet, dass wenn die Rede auf den Weltstaat kommt, die Leute sogleich an irgend eine bestehende Regierung denken und dieselbe in einem entsprechenden Mass vergrössern. Sie fragen z. B.: Wo soll der Weltkongress zusammentreten; wie wollen Sie Ihren Weltpräsidenten erwählen; wird dieser Weltpräsident nicht eine ungeheuerliche Persönlichkeit sein? oder wird es einen Weltkönig geben? Dies sind sehr natürliche Fragen. Sind sie aber auch vernünftig und nicht durch falsche Analogien beeinflusst? Der Weltstaat mag in seiner Form ganz anders erstehen, er wird vielleicht ganz etwas anderes sein, als die vergrösserte Übertragung eines der bestehenden Staaten; er wird sich vielleicht diesen Vergleichen garnicht anpassen. Und nun erst, was die Frage eines Königs oder Reichspräsidenten betrifft! Erlauben Sie mir eine Gegenfrage. Ist es denkbar, dass der Weltstaat von einem einzigen Oberhaupt regiert werde? Soll der Weltstaat eine Monarchie sein, eine kurzfristige Wahlmonarchie, ähnlich wie die Vereinigten Staaten oder wie England eine Erbfolgemonarchie?
Es wird viele Leute geben, die sogleich behaupten, es müsse ein Staatsoberhaupt geben; aber muss es dies wirklich? Ist diese Ansicht nicht vielmehr das Vermächtnis früherer Tage, als die Staaten noch kleine Gemeinschaften bildeten, die einen Führer in der Politik und im Kriege nötig hatten? Wir müssen nicht vergessen, dass es im Weltstaat weder Krieg noch Politik als solche geben wird. Ich möchte sogar die Frage aufwerfen: kann ein so grosser moderner Staat durch eine einzige Persönlichkeit repräsentiert werden? Ich glaube in der Tat, dass sich viele in Amerika kürzlich die gleiche Frage gestellt haben. Die Verfassung der Vereinigten Staaten entstand zu der Zeit fast unbeschränkter monarchischer Ideale. Amerika war von der Persönlichkeit George Washingtons überschattet und wie Sie wissen, reiften die monarchischen Ideen in der Zeit nach dem Unabhängigkeitskriege so weit, dass der Gedanke einen deutschen König, einen preussischen Prinzen in Nachahmung der britischen Monarchie aus Europa zu importieren, als Projekt entstehen konnte. Wenn die Vereinigten Staaten heute noch einmal entständen, würde man einer einzigen Persönlichkeit noch einmal so viel Macht und Bedeutung verleihen, wie George Washington und seinen Nachfolgern im Weissen Hause? Ich bezweifle dies.
Es mag eine Grenze geben bis zu welcher Ausdehnung und Beschaffenheit eine staatliche Gemeinschaft von einer einzigen Persönlichkeit geleitet werden kann. Diese Grenze ist von den Vereinigten Staaten, wie auch vielleicht von dem britischen Reich überschritten worden. Es mag für eine einzige Persönlichkeit möglich sein, 10 Millionen oder sogar über 10 Millionen Untertanen zu führen und zu leiten. Aber sollte ein einziges, beschränktes, kurzlebiges Individuum fähig sein, über hunderte Millionen von Leuten in Tausenden von Städten zu herrschen und in irgend einen Kontakt mit ihnen zu treten?
Wir haben kürzlich mit Bewunderung und Anteilnahme die Anstrengungen des Prinzen von Wales betrachtet; sein Händedruck und sein Lächeln sollte die Herzen der gesamten Bevölkerung des britischen Reiches gewinnen, dessen »goldnes Glied« er dermaleinst zu sein bestimmt ist. Trotz äusserster Anstrengungen konnte er wohl kaum der Nachfrage genügen. Ich muss gestehn, dass ich meine Vorstellung des Weltstaats nicht mit einem einzigen menschlichen Oberhaupt vereinigen kann. Die verbindende Einheit des Weltstaats wird wahrscheinlich eher ein Gedanke sein, und nicht ein Individuum.
Sollte es nötig sein, dass eine Persönlichkeit zu irgendeinem Zwecke hervorträte, um den Weltstaat zu vertreten, so würde es vermutlich der Vorsitzende der obersten Gerichtsbehörde, des Staatsrats, der Präsident einer wissenschaftlichen Gesellschaft oder irgendeine ähnliche Persönlichkeit sein, die das Notwendige vollzöge.
Ist nun das Oberhaupt keine einzelne Person, so muss wenigstens ein Rat, ein Parlament an der Spitze stehn. Wird dies nun ähnlich einem Kongresse sein, oder gleich dem englischen Parlament mit einer Regierungspartei, einer Oppositionspartei, die durch Parteitradition und Parteiinteressen beherrscht sind?
Auch darin meine ich, könnten wir uns nur zu leicht von den bestehenden Zuständen irreführen lassen. Ich halte es nicht für notwendig anzunehmen, dass der oberste Rat des Weltstaats eine Versammlung von Parteipolitikern sein werde. Ich halte es für möglich, dass es eine wahre Repräsentationsversammlung sein wird, eine Auslese der Menschheit, die ihre Gedanken und ihr Streben verkörpert und dass eine Parteibildung durch ein besseres Wahlsystem vermieden wird, als es die barbarischen Kunstgriffe sind, die zur Wahl der Mitglieder des britischen Parlaments angewandt werden, Kunstgriffe und Kniffe, die den Parteiorganisatoren in die Hände arbeiten und es ihnen möglich machen, ihre Vorteile aus den Mängeln des politischen Systems zu ziehn. Wird diese beratende Versammlung direkt gewählt werden? Es wird sich dies wahrscheinlich als notwendig ergeben. Und zwar auf der Grundlage weitesten Wahlrechts. Erstens, weil es vor allen Dingen wichtig ist, dass jeder Heranwachsende in persönliche Beziehung zum Weltstaat trete, ein teilnehmendes anerkanntes Glied desselben werde, und zweitens weil, falls der Rat durch eine vermittelnde Körperschaft berufen wird, allerhand lokale und nationale Rücksichten an Stelle der Weltstaatsinteressen treten könnten.
Und was den Rat betrifft: wird er wohl Gelegenheit zu grossen Debatten, wunderbaren Auftritten, Krisen und dergleichen haben, zu all dem, was sich auf einem grossen historischen Gemälde gut macht? Auch hier können wir uns wieder zu leicht durch Vergleiche irreführen lassen. Wir brauchen nur daran zu denken, dass sich die Mitglieder nicht in einer Sprache, die sie mit genügender Leichtigkeit beherrschen, werden verständlich machen können, um von dieser Vermutung abzusehen. Beredsamkeit ist eher bei Indianerfesten am Platze, als da, wo es sich um so schwierige, wichtige Angelegenheiten handelt. Der oberste Rat des Weltstaates wird möglicherweise eine sehr schweigsame Versammlung sein. Er wird vielleicht auch nur selten zusammentreten. Die Mitglieder werden ihre Meinungen grösstenteils schriftlich durch Noten austauschen, die wegen der Übersetzung in andere Sprachen sehr klar und übersichtlich abgefasst sein werden.
Welches werden nun die hauptsächlichsten Instanzen, die Haupttätigkeit und Wirksamkeit des Staates sein? Erstlich der oberste Gerichtshof, der nicht das internationale, sondern das Weltrecht vertritt. Das Weltrecht wird sich dauernd entwickeln und wachsen; es wird eine allgemeine Weltwährung geben, ein allgemeines Post-, Transport- und Verkehrsministerium, ein Handelsministerium zur Pflege der Rohprodukte und Erhaltung der natürlichen Erzeugnisse der Erde, ein Ministerium für soziale und Arbeiterverhältnisse, ein Ministerium zur Aufsicht über die allgemeine Gesundheit, und das wichtigste von allen, ein Unterrichtsministerium zur Überwachung der nationalen und erzieherischen Arbeit, Förderung rückständiger Zustände und dergleichen. Und anstatt eines Kriegsministeriums, eines Militär- und Marinedepartements, werden wir ein Friedensministerium haben, das die kriegerischen Möglichkeiten jeder neuen Entdeckung zu prüfen und jeden bewaffneten Eingriff zu verhüten hat, als oberste Aufsicht über jede bewaffnete Macht, die in der Welt noch besteht. Alle diese Weltstaatsministerien werden von lokalen Behörden unterstützt sein, die die allgemeinen Grundsätze den verschiedenen lokalen Zuständen und Bedürfnissen anzupassen haben. Dies wird wahrscheinlich die ganze Arbeit einer Weltstaatsregierung sein. Ein grosser Teil ihrer Tätigkeit wird nur darin bestehen, das, was durch nationale und lokale Erwägungen ausführlich beraten und vorbereitet wurde, anzuwenden und zu ordnen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass die Leitung einer Weltstaatsregierung grösser und ausgedehnter ist, als z. B. die der Vereinigten Staaten oder Englands. In mancher Hinsicht wird ihre Aufgabe eine ausserordentlich vereinfachte sein. Wir werden keine äusseren Feinde haben, keine ausländische Konkurrenz, keinen Zoll und insofern keine Zollkriege; es wird sich nur darum handeln, die Ordnung aufrecht zu erhalten, äussere Streitigkeiten werden von selbst wegfallen. Ebenso die Notwendigkeit der Geheimhaltung, die streng vertraulichen Kabinettssitzungen und Besprechungen bei geschlossenen Türen, die allgemeine Polizeiaufsicht, ausgenommen die Aufrechterhaltung gemeinsamer Ordnung und Wohlfahrt. Schon in seinem Ursprung muss sich ein Weltrat von jeder nationalen Regierung unterscheiden. Denn jede bestehende Herrschaft ist ihrem Ursprung nach eine militärische und verdankt ihre Begründung militärischer Macht; sie ist ein Offensiv-Defensivorgan. Unsere sozialen und gesetzlichen Traditionen beruhen mehr als man glaubt auf diesem Prinzip. Jedem Zivilrecht haftet überall ein leichter Beigeschmack des gemilderten Belagerungszustands an. Aber die Weltstaatsregierung wird andere Ideale vertreten und anderen Motiven entspringen. Sie ist ursprünglich vor allen Dingen ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung des Friedens.
Betrachten wir nun das Projekt des Weltstaats im Spiegel der Existenzbedingungen des einzelnen Individuums, betrachten wir kurz das Dasein eines gewöhnlichen jungen Mannes in Beziehung zum Weltstaat und vergleichen wir es mit dem durchschnittlichen Dasein von heute.
Geboren ist er in irgend einem der Vereinigten Staaten der Welt, in New-York, Kalifornien, Ontario, Neuseeland, Portugal, Frankreich, Bengalen oder Chan-Si; aber wo auch sein Loos gefallen sein mag, seine Erziehung wird jedenfalls mit dem Unterricht der wunderbaren Menschheitsgeschichte beginnen, von den ersten animalischen Anfängen an, von einer Zeit an, tausende Jahre zurück, als man noch keine Handwerkzeuge kannte, nur holzgeschnitzte, steingeschnittene Geräte, bis zur Erlangung der Kenntnisse und Machtmittel unserer Zeit. Seine Erziehung wird ihm die Anfangsgründe der Sprache, Schriftkunst, der Kultur und Lebenseinstellung weisen. Er wird von den Völkerschaften und Nationen der Vergangenheit hören, wie jede einzelne durch ihre besonderen Anlagen und Gaben das Erbe der Menschheit bereicherte. Er wird vielleicht weniger von Kriegen, grossen Schlachten, Menschengemetzel, Eroberungen, Herrschern und dergleichen unerfreulichen Eingriffen in die menschliche Würde und Wohlfahrt erfahren, dafür umsomehr von Erforschern, Entdeckern, kühnen, freimütigen Männern, und das viel eingehender als es heutzutage geschieht.
Schon als kleinem Knaben werden ihm die grossen Züge menschlicher Erfahrung, menschlichen Erlebens nahegebracht werden, in so greifbarer, lebendiger Darstellung, wie man es sich in unseren heutigen, armseligen Schulen nicht träumen lässt.
Auf dieser breiten Grundlage wird er seine Kenntnisse über die Beschaffenheit und die Vorzüge seines eigenen Landes, seines Volkes und seiner Nation aufbauen; er wird nicht viel von veralteter Feindschaft, Sieg und Rache hören, sondern von dem, was seine eigene Rasse, seine Heimat für das Wohl der Welt getan und was von ihr zu erwarten ist. Durch solche Begriffe wird sein soziales Bewusstsein erweckt werden. Er wird eine Vorstellung aller Kenntnisse der Menschheit erlangen, eine Vorstellung der zauberhaften Reiche erst halb erlangten Wissens und des Ringens nach Weisheit.
Seine Phantasie und Einbildungskraft werden in jeder Weise angeregt und entwickelt werden. Er wird wahrscheinlich bis zu seinem achtzehnten oder neunzehnten Jahr, vielleicht auch bis zu seinem zweiundzwanzigsten oder dreiundzwanzigsten Jahr, fortgesetzt unterrichtet werden. Denn eine Welt, die keine ihrer Daseinsquellen zu Rüstung oder Soldatenspiel vergeudet und alles was sie braucht, in den Gebieten erzeugt, die den betreffenden Erzeugnissen am günstigsten sind, dieselben dem Abnehmer auf direktestem Wege übermittelnd, wird reich genug dazu sein, dass jeder einzelne ihrer Bürger, nicht nur das erste Viertel seines Lebens ausschliesslich seiner Bildung widmet, sondern sich auch sein ganzes Leben hindurch fortbildet. Selbstverständlich wird die Schule, die unser junger Weltstaatsbürger besucht, sehr verschieden sein von den heutigen, groben, baufälligen, von schlecht bezahlten Lehrern geleiteten Schulen. Etwas von den Reichtümern, die wir heute auf Unterseeboote und weittragende Geschütze verwenden, wird ihnen zugute kommen.
Auch eine kleine Dorfschule wird hübsch und sauber sein, sich in einem netten Häuschen befinden und ungefähr das gleiche kosten, was heute ein grosses Schiffsgeschütz oder ein bombenarmierter Äroplan kostet. Ich weiss, dies erscheint manchen heutigen Lesern eine empörende Verschwendung. Aber im Weltstaat wird die Auffassung eine andere sein.
Ich weiss nicht, wie weit jemand von uns es erfassen kann, was es zu bedeuten hat, wenn wir von einer grösseren erzieherischen Kraft der Zukunft reden. Es bedeutet nichts anderes als umfassendere Bildung und weniger Mühe. Es wird z. B. das bedeuten, dass die meisten Leute drei bis vier Sprachen vollkommen beherrschen; dass sie die Dinge exakt erfassen, mit einer Schnelligkeit und Klarheit erfassen, die uns in Erstaunen setzen würde; dass sich ihr Verstand in vielen Dingen, wo wir uns noch in unwissender Dämmerung undurchdringlichen Nebels befinden, im hellen Tageslicht bewegen werden. Dieser weitsichtige, klardenkende Weltstaatsbürger wird nach den Jahren der Bildung kein mühevolles Arbeitsleben beginnen; es wird gar nicht mehr so viel Mühe und Arbeit in der Welt geben. Denn die Menschheit wird zur Arbeitsleistung über genügende Maschinen und andere Machtmittel verfügen. Haben wir zwischen 1914 bis 18 nicht genug Energie vernichtet, Maschinen zerstört und brauchbares menschliches Gehirn in stinkenden Unrat verwandelt, um hundert Millionen Arbeiter für immer von ihrer Arbeit zu entlasten!
Unser junger Weltbürger wird irgend eine interessante Tätigkeit beginnen, – vielleicht irgend eine schöpferische Tätigkeit. Er wird ungehindert die ganze Welt bereisen können, ohne sich um Pass, Visum und Geldwechsel zu kümmern. Er wird überall zu Hause sein, Leuten begegnen, die obwohl seiner Art verschieden, ihn nicht mit Misstrauen und Feindseligkeit behandeln; er wird überall schöne, blühende, eigenartige Städte antreffen, je nach der Beschaffenheit des Landes; sie werden ihn fremd, aber doch freundschaftlich anmuten.
Die Welt wird sehr viel gesünder sein als sie es heute ist – wohl wird die Menschheit noch Kriege führen – aber keine Kämpfe von Mensch gegen Mensch, sondern Bekämpfung schädlicher Krankheiten, bösartiger Ansteckung, Fieber und dergleichen. Er wird wahrscheinlich nie erfahren was ein Schnupfen ist, nie Kopfschmerzen haben, er wird die Urwälder der Tropen durchstreifen, ohne vom Fieberfrost geschüttelt zu werden, ohne sich mit Präservativmitteln zu überfüttern. Er wird frei zu allen Höhen hinaufsteigen, bis an die Pole der Erde fliegen, wenn es ihm gefällt oder bis in die kühlen, bisher unerforschten Tiefen der Meere tauchen. Es ist jedoch nicht leicht, das Bild seiner Entwicklungsjahre unserer heutigen Auffassung verständlich zu schildern. Es ist nicht leicht, es zu erfassen und noch schwieriger, es überzeugend darzustellen. Wir leben in dieser überfüllten, zänkischen, drängenden, streitenden Welt, sie hat unser Wesen durchtränkt, zu einem Teil ihrer Selbst gemacht. Kaum einer von uns weiss, was wirkliche Bildung ist, dauernde, gute Gesundheit. Den meisten von uns erscheint, von dem zu hören, was die Welt sein könnte, ebenso unwahrscheinlich, als erzählte man einem hoffnungslosen, unglücklichen Branntweinsäufer in seiner Spelunke, von Ruhe, Musse, warmen Bädern und dergleichen angenehmen Dingen. Diese Geschöpfe haben ihre Lebenskraft so sehr eingebüsst, der Schmutz hat sie so verseucht, ein Bad ist ihrer Vorstellung nichts wünschenswertes. Saubere, gute Kleider, das ist für sie wie Hohn oder Geckenhaftigkeit. Hörten sie von schönen, geräumigen Behausungen, so würde dieses in ihnen keinen anderen heftigen Wunsch erregen, als fortzulaufen und sich irgendwo zu verbergen. In Schmutz und Elend ist Streit und Kampf eine Art nervöser Erleichterung. Ein Leben ohne Zank und Streit wäre den meisten von ihnen keine erfreuliche, sondern eher eine langweilige Aussicht.
Unsere gesamte heutige Welt müsste den Menschen einer besseren Zeit wie eine Spelunke erscheinen. Sie würden unsere Welt beurteilen, wie wir heute das neunte oder zehnte Jahrhundert betrachten, wenn wir von den Räubereien, der Unsicherheit, den Seuchen, elenden Behausungen und jeder Reinlichkeitsenthaltung lesen.
Aber unser junger Bürger ist nicht durch die Gemeinheit unserer Welt abgestumpft. Sein Herz und Sinn sind nicht von Schmutz durchtränkt; er ist voll Liebe. Er wird wundervoll lieben; lieben wie es die meisten von uns nur in ihren romantischsten Augenblicken geträumt haben. Er ist von ehrgeizigem Streben erfüllt, denn der Weltstaat wird dem Streben weite Bahnen eröffnen. Er wird sich geschickt und glänzend betätigen als Staatsbeamter, tüchtiger Lehrer, Mediziner oder Nervenarzt oder als schaffender Künstler; er wird vielleicht Schriftsteller werden, Staatsmann seiner engeren Heimat oder Weltstaatsmann. Als Staatsmann kann er Mitglied der föderalistischen Weltregierung werden. Im Jahre 2020 wird es noch immer Politik geben, aber Politik im grossen Stil; anstatt dass die Weltereignisse in verschiedenen auswärtigen Ämtern erledigt werden, die gemein und listig gegen einander Ränke schmieden, Pläne schmieden, sich gegenseitig zu schädigen, werden sie von weitsichtigem Verständnis geleitet sein und dem allgemeinen Besten dienen.
O Gott! erscheint Ihnen dies alles nur ein Unsinn? ich vermute, es ist so. Sie meinen, ich rede von einem Traumland, von unerreichbaren Utopien. Vielleicht ist es so. Wie könnten wir hoffen diese liebe, fidele, alte Welt in ihrem Laufe aufzuhalten, diese Welt des Unrats, der Kriege, Bankerotte, Morde und Gemeinheiten, diese Welt, die das Leben vergeudet und verstümmelt, diese Welt der Krankheiten und des sozialen Niedergangs, der zur endgültigen Katastrophe hinneigt. Welch eine Einbildung, wie unausführbar, wie abgeschmackt und widersinnig! Mich deucht, ich höre ein Zischen in der Ferne.
Bisweilen scheint es mir, dass die Schranken, die den Menschen vom Menschen trennen, fast unüberwindlich sind, dass wir, die wir vom Weltstaat reden, die Vorkämpfer einer grossen Vorwärtsbewegung sind, die sich in den Herzen und Seelen der Menschen vollzieht, die Jahrhunderte dauern kann und – schliesslich doch misslingen muss.
In anderen Stimmungen dagegen erscheinen mir diese Grenzen, Nationalitätenunterschiede, Trennungen, so unlogisch, so veraltet, so grausam und unheilvoll, dass der gesunde Menschenverstand unserer Rasse jederzeit bereit sein müsste, mit ihnen zu brechen.
Wer kann in das tiefste aller Geheimnisse, in die Herzen der Menschen blicken, ihre Wünsche erraten? vielleicht ist es gut für uns, dass wir nicht wissen wie lange dieser Widerstreit noch dauern wird.
Ja, dies ist eine Stimmung, und das ist die andere. Vielleicht sind wir nur zu furchtsam. Vielleicht spüren wir noch, bevor unser Leben zu Ende geht, den Beginn der Morgendämmerung einer grösseren Zeit, sichtbar leuchtend über den schwarzen Schatten und dem künstlichen Lichtglanz dieser traurigen Jahre.