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Anfänglich niedergeschrieben als ein in Amerika abzuhaltender Vortrag.
Ich beabsichtige in diesen Abhandlungen den Gedanken auszuführen, der mein öffentliches Leben hauptsächlich beherrscht und erfüllt – den Gedanken einer politisch geeinigten Welt – einer ständig gesicherten Friedenswelt. Ich beabsichtige das, was ich zu sagen habe, die hauptsächlichsten Beweise dafür, so genau und so einfach als möglich darzulegen, ohne jede Beredsamkeit und Ausschmückung.
Als ich anfänglich diese Abhandlung plante, wählte ich den Titel »Die Utopie eines Weltstaats«, aber in dem Wort Utopie liegt etwas zu nichtiges, wesenloses. Den meisten Leuten gibt das Wort Utopie die Vorstellung eines hochtönenden, politischen, ethischen Ideales, zweifellos sehr schön und erhebend, aber ohne jeden praktischen Wert. Und das, worüber ich heute abend zu sprechen beabsichtige, ist nicht im geringsten traumhaft oder wesenlos, es betrifft wirkliche Gefahren, dringende Notwendigkeiten, es ist ein Projekt und keine Utopie. Es mag ein sehr fern liegendes, unmögliches Projekt sein, ein hoffnungsloses Projekt. Wenn es versagt, so versagt auch unsere Zivilisation. So nannte ich denn die Abhandlung nicht Utopie, sondern »das Projekt des Weltstaats«. Über manche Dinge kann man nicht reden, ohne dass es den Anschein hat, dass man unverschämt aufschneidet und schimpft und doch können diese Dinge in Wirklichkeit die nüchternsten Tatsachen sein. Meine Ansicht ist, dass die Zivilisation, in der wir leben, abwärts taumelt, und ich fürchte sogar: sehr eilig abwärts taumelt; ich glaube, dass es riesiger Anstrengungen bedürfen wird, um sie zu retten; gegenwärtig sind keine Anstrengungen zu bemerken. Ich weiss nicht, ob diese Zeilen dem Leser irgend welche konkreten Begriffe vermitteln können, es gibt Ausführungen, die so ungewohnte Aussichten eröffnen, dass ihnen jeder praktische Sinn zu fehlen scheint; ich fürchte diese könnten solche sein.
Im vergangenen Jahr habe ich Europa bereist. Ich erhielt dabei flüchtige Eindrücke einer neuen Phase unserer Zivilisation – einer Phase, die, wenn jemand vor zehn Jahren davon hätte erzählen wollen, uns wie ein unwahrscheinlicher Traum angemutet hätte. Ich habe eine grosse Stadt von über zwei Millionen Einwohnern besucht, die mit unglaublicher Geschwindigkeit ihrem Ende entgegengeht. Ich war 1914 in St. Petersburg, es war damals eine Stadt, die einen ebenso gesicherten und ordentlichen Eindruck machte wie eine unserer grossen Städte. Ich legte die Reise in bequemen fahrplanmässigen Zügen zurück, lebte in einem Hotel, das ebenso gut geführt und eingerichtet war wie irgend ein Hotel in Amerika, besuchte kultivierte Leute, speiste bei ihnen, wanderte durch Strassen mit glänzenden, erleuchteten, gut ausgestatteten Kaufläden. Das Leben war in der Tat nicht viel anders als Sie es hier zu führen gewohnt sind, ein Bestandteil unserer (damaligen) weltverbreiteten, modernen Zivilisation.
Ich habe die gleiche Stadt im vorigen Sommer wiedergesehn. Es war ein derartiger Anblick des Verfalls wie er Leuten, die ähnliches nie gesehn haben, fast unmöglich zu beschreiben ist. Strassen, in denen sich das Regenwasser in grossen Löchern angesammelt hatte, in denen lange Strecken weit das Holzpflaster zum Verheizen herausgerissen war, Laternenpfosten umgeworfen waren, da lagen, ohne dass der Versuch gemacht wurde, sie wieder aufzurichten, Kaufläden, Marktplätze verlassen, in Ruinen zerfallen; die Geschäfte waren nicht geschlossen, aber von ihren Besitzern aufgegeben, sie sahen ebenso verlassen aus wie ein am Weg liegender alter Stiefel oder Stock; Strassenbahnen ausser Betrieb gesetzt, eine Bevölkerung von einer halben Million, wo früher die Einwohnerzahl zwei Millionen betragen hatte. Eine seltsam unwohnliche Stadt, eine Stadt der Trostlosigkeit und Angst, eine Stadt des Elends und des Sterbens. Das war St. Petersburg im Jahre 1920. Ich weiss, dass es Leute gibt, die eine sehr schnelle und einfache Erklärung für diesen grauenhaften Anblick eines in Zerfall geratenen Reiches haben. Sie sagen der Bolschewismus hat diese Zerstörung verursacht. Ich hoffe jedoch, unter anderem Wichtigerem, beweisen zu können, dass der Bolschewismus nur zum Teil an diesem ungeheueren Zusammenbruch schuld ist. Dass es einer umfassenderen Erklärung bedarf als dieser, dass ein Männchen, namens Lenin, in einer kritischen Zeit der russischen Geschichte, Gelegenheit hatte von Genf nach Russland zu reisen. Es ist auch noch besonders hervorzuheben, dass dieser ungeheuere Verfall des zivilisierten Lebens sich nicht allein auf Russland beschränkt und auf Gebiete unter bolschewistischer Herrschaft. Ungarn und Österreich bieten einen Anblick, der kaum weniger trostlos ist. Im östlichen Deutschland ist ein deutlicher Rückgang zu bemerken. Und auch wenn man nach Frankreich, Italien, Irland kommt, sieht man Städte, Dörfer, ganze weite Gebiete, von denen man sagen kann: dies alles ist seit 1914 zurückgegangen und geht auch noch immer weiter in materieller Hinsicht, Gesundheit und sozialer Ordnung zurück. Sogar in England und Schottland, in Holland, Dänemark und Schweden ist es sehr schwer festzustellen, ob sich die Dinge im Stillstand befinden, ob sie vorwärts oder rückwärts gehn, – sie befinden sich aber sicherlich nicht in jenem Stadium der Fortentwicklung wie vor 1913/14. Das Gefühl, das man in England hat, ist das eines Menschen, der nicht weiss, ob er sich eine leichte Erkältung zugezogen hat oder im Beginn einer ernsten Krankheit befindet. Es ist meine Absicht, die Gründe klarzulegen, warum über die blühende, sich verbreitende Zivilisation, in der wir geboren und auferzogen sind, Schatten von Frost und Rückstand gefallen sind. Ich möchte Ihnen vor Augen halten, was geschehen ist und womit wir es aufzunehmen haben. Ich möchte Ihnen zur eigenen Beurteilung die Ansicht vorlegen, dass diese Überanstrengung, dieser Zusammenbruch und Stillstand der grossen Zivilisation, die sich in den letzten drei Jahrhunderten entwickelt hatte, durch dieselben Kräfte verursacht sind und das logische Ergebnis jener gleichen Kräfte sind, die zum Aufschwung, zu jener gewaltigen Ausbreitung menschlichen Wissens, Macht und Lebens geführt haben. Und dass der Zusammenbruch unvermeidlich ist, falls wir ihm nicht mit einer kolossalen Anstrengung besonderer Art entgegentreten.
Meine Ansicht gipfelt darin: die Zivilisation der letzten Jahrhunderte hat eine kolossale Aufhäufung wissenschaftlicher Kenntnisse hervorgebracht, diese wissenschaftlichen Kenntnisse haben die materiellen Machtmittel der Menschen umgewandelt und die physischen Möglichkeiten enorm erweitert, in den politischen Begriffen der Menschheit hat sich jedoch keine, den neuen Bedingungen entsprechende Anpassung vollzogen. Diese Anpassung ist eine sehr schwierige Aufgabe. Und von der Wahrscheinlichkeit, ob es uns gelingen wird, die Anpassung zu vollziehen, hängt es ab, ob die Ebbe der zivilisatorischen Energie, die gegenwärtige Vernichtung, der Zusammenbruch der modernen Zivilisation, wie er in Russland bereits weit vorgeschritten ist und sich in dem östlichen und zentralen Europa vollzieht, auf die ganze zivilisierte Welt übertragen werden wird.
Gestatten Sie mir eine kurze Darstellung dessen, was die Welt heutzutage erlebt, gestatten Sie mir, dabei einige wichtige Fragen beiseite zu lassen und nur auf die hauptsächlichsten einzugehen: die Umwälzungen, die die Welt in den Verkehrs- und Bewegungsmitteln erlebt hat und die Folgen dieser Umwälzungen. Denn das heutige internationale Problem hängt wesentlich von den Transport- und Verkehrsmöglichkeiten ab. Ich möchte besonders Ihre Aufmerksamkeit auf den Unterschied lenken, der zwischen den amerikanischen und europäischen Verhältnissen besteht.
Man hat bisher noch nicht klar genug erkannt, wie verschieden das amerikanische internationale Problem von dem europäischen internationalen Problem ist, wie unvermeidlich es ist, dass Amerika und Europa das internationale Problem von einem verschiedenen Sehwinkel und in einem anderen Sinne betrachten. Beide Gedanken und Erfahrungsrichtungen leiten, meiner Ansicht nach, schliesslich zum Weltstaat, aber auf anderem Wege und in anderer Weise. Die Vorstellung, dass die Regierung der Vereinigten Staaten unter gleichen Forderungen Seite an Seite mit den Regierungen der alten Welt sich zur Organisation des Weltfriedens zusammenschliessen könnte, ist, glaube ich, eine irrige und unausführbare. Ich möchte behaupten, dass die Regierung der Vereinigten Staaten und die Gesellschaft der Vereinigten Staaten politisch und geistig von denen der Staaten der alten Welt sehr verschieden sind und dass die Rolle, die sie in der Entwicklung des Weltstaats zu spielen haben werden, eine besondersartige ist. Ich möchte versuchen, den Grund dafür klarzulegen, warum das grosszügige und glänzende Projekt eines allgemeinen Völkerbundes, welches in den letzten drei Jahren die Aufmerksamkeit der Welt gefesselt hat, gleichzeitig für eine Beteiligung Amerikas etwas zu viel und für die dringenden Bedürfnisse Europas zu wenig ist. Es ist in Wirklichkeit kein so leicht ausführbarer, vernünftiger Vorschlag, wie es zuerst den Anschein hatte.
Der Gedanke eines Weltstaats ist, wenn er auch als Projekt sehr viel grösser und schwieriger erscheint, in der Ausführung gesünder und hoffnungsvoller.
Lassen Sie mich noch einmal den zentralen Gedanken, auf dem die Beweisführungen meiner Abhandlung beruhen, wiederholen, er ist folgender: – in den letzten hundert Jahren hat sich eine vollständige Wandlung im Bereiche menschlicher Leistungen vollzogen. Die Menschen haben die Möglichkeit, in ausgedehnter Raumentfernung mit einer Schnelligkeit aufeinander einzuwirken, wie sie vor hundert Jahren unvorstellbar war; dies ist besonders für die Bewegungs- und Verkehrsmittel der Fall; ich will Ihnen Tatsachen, die Ihnen bekannt sind, nicht ausführlich ins Gedächtnis rufen: dass zum Beispiel zu Zeiten Napoleons, mit den schnellsten Reisemöglichkeiten der grosse Eroberer selbst durchschnittlich nicht mehr als 4½ Meilen in der Stunde zurücklegen konnte. 107 Meilen täglich während einer Reisedauer von 13 Tagen – die Entfernung, die er auf seiner Flucht von Wilna nach Paris nach dem Unglück von Moskau zurücklegte – wurden damals als ein Triumph der Schnelligkeit angesehen. Es wurde damals ebenfalls als ein Wunder betrachtet, dass es durch die Vermittlung eines Semaphor möglich war, kurze Nachrichten im Laufe einer Stunde von London nach Portsmouth zu vermitteln. Daraus hat sich der Telegraph entwickelt, durch den alle Nachrichten fast gleichzeitig, von einem Ende der Welt zum anderen verbreitet werden können, und eine stetige Entwicklung der Reisemöglichkeiten zeigt, dass, wie es in der zivilen Luftschiffahrtsgesellschaft in London ausgearbeitet wurde, es möglich, wenn auch bisher noch nicht ausführbar wäre, von London nach Australien, um die halbe Welt, in 8 Tagen zu fliegen; ich sagte möglich, wenn auch nicht ausführbar, weil fürs erste die erforderlichen Reiserouten, Landungsplätze, Petroleumsversorgungsstellen und Reserven noch nicht existieren. Ihre Existenz vorausgesetzt, wäre die Reise in der von mir angegebenen Zeit möglich. Die ausserordentlichen Umwälzungen in den Möglichkeiten menschlicher Leistungen schliessen eine Veränderung des politischen Lebens ein, die wir ihren Konsequenzen nach erst jetzt zu begreifen beginnen.
Merkwürdigerweise hat Amerika, das den Verkehrsbeschleunigungsmitteln am meisten verdankt, dieselben am wenigsten empfunden. Die Vereinigten Staaten haben das Dampfboot, die Eisenbahn, den Telegraphen usw. übernommen, als wenn es natürliche Bestandteile ihrer Ausdehnung wären. Diese Dinge traten gerade zur rechten Zeit auf, um Amerikas Einheit zu retten. Die Vereinigten Staaten von heute sind zuerst durch den Flussdampfer, später durch die Eisenbahn geworden; ohne diese Mittel wären die heutigen Vereinigten Staaten undenkbar. Der Bevölkerungszufluss aus dem Westen wäre sehr viel träger gewesen und hätte vielleicht niemals die riesigen, zentralen Ebenen überschreiten können. Sie werden sich erinnern können, dass es fast zwei Jahrhunderte gedauert hat, ehe die Küsten des Missouri dauernd besiedelt wurden. Der erste Staat, der jenseits des Stromes gegründet wurde, war der Dampferstaat Missouri im Jahre 1821. Die Entfernung bis zum Stillen Ozean wurde später in wenigen Jahrzehnten zurückgelegt. Hätten wir hier einen Kinematographen zur Stelle, so könnte man auf einer geographischen Karte Nordamerikas die jährliche Entwicklung, beginnend im Jahre 1600, verfolgen, kleine Punkte würden Hunderte von Bewohnern bezeichnen, jeder Punkt ein Hundert und jeder Stern eine Stadt von 100 000 Einwohnern. Während zweier Jahrhunderte könnten Sie die Pünktchen an den Küstendistrikten und schiffbaren Wasserarmen entlang kriechen sehn, sich nach Indiana, Kentucky und weiterzu ausbreitend. Gegen 1810 würde eine Veränderung eintreten. An den Wasserläufen käme mehr Bewegung in die Sache. Die Pünktchen würden sich ausbreiten und vermehren. Das wäre dann das Dampfboot. Die vordersten Pünktchen würden sich von einer Anzahl Sprungplätzen aus an den grossen Flüssen entlang nach Kansas und Nebraska ausbreiten. Von 1820 an treten dann die schwarzen Streifen der Eisenbahnlinien auf und von da an kriechen die Pünktchen nicht mehr, sondern rasen. Sie verbreiten sich so schnell, als wenn sie mit einer Spritzmaschine ausgesprüht würden. Plötzlich treten dann die ersten Sterne auf und deuten die ersten grossen Städte von 100 000 Einwohnern an. Erst ein oder zwei, dann eine grosse Menge, jede Stadt einen Knoten bildend in dem wachsenden Eisenbahnnetz. Dies sind bekannte Dinge, ich wiederhole sie nur, um zu betonen, dass sich die Entwicklung der Vereinigten Staaten durch einen Prozess vollzogen hat, der in der Weltgeschichte bisher noch nicht dagewesen war; er war als Vorgang etwas neues. Eine solche Staatenvereinigung hätte ohne Eisenbahn nie ins Leben treten können oder doch nur um, bis heute längstens, wieder auseinanderzufallen. Ohne Telegraph und Eisenbahnen wäre es viel leichter, Kalifornien von Peking aus zu regieren, als von Washington. Aber die grosse Bevölkerungszahl der Vereinigten Staaten ist nicht nur übermässig gewachsen, sie ist dabei auch einheitlich geblieben. Nein, vielmehr sie ist einheitlich geworden. Ein Bewohner St. Franziscos ist heutzutage einem Bewohner New Yorks ähnlicher als vor hundert Jahren einer aus Virginia dem aus New England. Und der Assimilationsprozess vollzieht sich ungehindert weiter. Telegraph und Eisenbahnen haben die Vereinigten Staaten zu einer grossen menschlichen Einheit zusammengeschlossen, zu einem innern Einklang, der sich im Reden, Denken, Handeln ausdrückt, und die Luftschiffahrt wird bei diesem Werk bald mithelfen.
Ich wiederhole es, die Vereinigten Staaten sind als Gesamtheit in der Geschichte eine vollständig neue Erscheinung; es hat auch schon früher grosse Reiche gegeben, die eine Bevölkerungszahl von über hundert Millionen besassen, sie vereinigten dann aber verschiedene Völker; ein so grosses, einheitliches Volk hat es noch nie gegeben. Wir brauchen dafür eine neue Bezeichnung. Wir nennen die Vereinigten Staaten ein Land, ganz wie wir Holland oder Frankreich als Land bezeichnen. Aber in Wirklichkeit sind sie eben so verschieden von einander wie ein Automobil und eine einspännige Chaise, sie sind die Schöpfungen verschiedener Zeiten und verschiedener Bedingungen; sie werden in verschiedenem Tempo und in einer ganz verschiedenen Weise wirken. Wollte jemand von Ihnen den Vorschlag machen, und ich vermute, dass einige Anhänger des Völkerbundes fähig wären, solche Vorschläge zu machen – den Weltfrieden durch eine Kombination dieser beiden Arten von Beförderungsmitteln zu betreiben, so wage ich der Befürchtung Raum zu geben, dass der Frieden der Welt sehr beträchtlichen Kraftanstrengungen unterworfen sein würde.
Lassen Sie mich einen kurzen Vergleich ziehn, zwischen den Verhältnissen in Amerika und Europa, in Bezug auf die Existenzfragen der Verkehrs- und Beförderungsmittel. Ich sagte soeben, dass die Vereinigten Staaten den Verkehrsumwälzungen am meisten verdanken und dieselben am wenigsten empfunden haben, Europa dagegen verdankt diesen Verkehrsumwälzungen viel weniger, hat sie jedoch bedeutend mehr empfunden. Zu Beginn der Verkehrsumwälzungen waren die Vereinigten Staaten ein schmaler, bevölkerter Küstenstrich am Rand eines riesigen, jungfräulichen, leeren, fruchtbaren Landes, in das hinein sie sich ausbreiten wollten und ungehindert ausdehnen konnten. Dampfboot und Eisenbahn traten als selbstverständliche Möglichkeiten dieser Ausbreitung auf, ihre Wirkung war ein unbeschränkter Segen. In Westeuropa jedoch wirkten sie nur störend. Die Staaten Europas besassen, mit Ausnahme Russlands, bereits ein festbegründetes, einheitliches System. Sie befanden sich zwischen endgültigen, entscheidenden Grenzen, ohne weitere friedliche Ausbreitungsmöglichkeiten. Die Ausbreitung eines jeden europäischen Staates bedingte einen Krieg, denn es war nur möglich, sich durch Krieg zu erweitern. Und während die Grenzen der Vereinigten Staaten durch Dampfboot und Eisenbahn gezogen wurden, sind die Grenzen der europäischen Staaten bereits zu einer sehr viel früheren Zeit gesteckt. Sie sind durch Pferdekraft, insbesondere durch das Postpferd, begrenzt worden. Wenn Sie eine Anzahl europäischer Karten der letzten zwei Jahrtausende betrachten, so werden Sie erkennen, dass in diesem Zeitraum die Ausdehnungsgrenzen der unabhängigen Staaten endgültig gezogen waren. Und dieses trotz der zwei grossen, vereinigenden Gedanken, die zu dieser Zeit die Herzen Europas beherrschten: der vereinigende Gedanke des Römischen Reiches und des Christentums. Diese beiden Gedanken zielten darauf hin, Europa zu einigen; die Verkehrsschwierigkeiten vereitelten jedoch dieses Streben. Es ist sehr interessant, auf einer Anzahl historischer Karten die Wandlungen zu betrachten, denen erstlich das Römische Reich und dann das Heilige Römische Reich unterworfen waren. Das Reich beginnt sich auszudehnen und zerfällt dann wieder in Stücke; man denkt an die Anstrengungen eines Menschen, ein viel zu grosses Paket in ein nasses Löschpapier zu wickeln. Der Zusammenhalt ist unzureichend. Und so war Europa zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts noch immer in Staaten geteilt, die ich vielleicht als Poststrassen- oder Postkutschenstaaten bezeichnen darf; jeder eine hochentwickelte, ausländische Politik treibend, jeder von einem intensiven, nationalen Geist und starkem traditionellen Widerstand beseelt.
Dann traten die Verkehrsumwälzungen ein, die menschlichen Leistungen um das zehnfache erhöhend. In Amerika war der Erfolg Ausbreitung, in Europa Andrang. Es war als ob ein etwas unbesonnener Wundertäter aus Menschen von gewöhnlichem Mass plötzlich Riesen gemacht hätte und, um dieses Wunder zu vollbringen, sich gerade den Augenblick ausgesucht hätte, wo sie alle, mit Ausnahme des einen, an einen Strassenbahnwagen angebunden waren. Dahin ist unsere moderne Zivilisation geraten, und dies ist das wesentliche Rätsel der modernen Sphinx, das gelöst werden muss, wenn wir leben wollen. Die europäischen Grenzen sind für die modernen Bedingungen viel zu eng, viel zu beschränkt; sie werden noch immer von alter Tradition, patriotischer Leidenschaft aufrecht erhalten ... Das ist die Lage in der wir uns befinden.
Die Bürger der Vereinigten Staaten Amerikas haben in dieser Hinsicht auch ihre Erfahrung gemacht: die Krisis der nationalen Geschichte des amerikanischen Bündnisses, der Krieg zwischen der Union der vereinigten Nordstaaten und den abgefallenen Südstaaten, war wesentlich ein Konflikt des grossen neuen Staates und der lokalen Empfindung einer früheren Epoche, aber die Einigung siegte. Die heutigen Amerikaner haben es schon fast ganz vergessen, dass einmal die Möglichkeit bestand, dass die geographische Karte Nordamerikas sich in ebenso viele verschiedene Teile wie eine Karte Europas zerstückle. Nur im Ausland können die heutigen Amerikaner einen Begriff davon erhalten, unter welchen bedrückenden Einschränkungen die Europäer durch ihre politischen Spaltungen leiden. Lassen Sie mich zum Vergleich die verschiedenen Unbequemlichkeiten anführen, die man in Europa auf einer Reise von etwas über 1000 Meilen erlebt. Sie sind an sich unbedeutend, können aber als ein lebendiges Beispiel dafür dienen, wie sehr ein freies, zivilisiertes Leben in Europa mehr und mehr unmöglich wird.
Nehmen wir den gleichen Fall erst in Amerika an. Ein Amerikaner will von New York nach St. Louis reisen. Er sieht sich den Fahrplan an, packt seinen Koffer, steigt in den Schlafwagen und verlässt denselben am nächsten Morgen, frisch und gut aufgelegt, um seinen Geschäften nachzugehen. Und nun das europäische Gegenstück dazu. Ein Europäer hat die Absicht von London nach Warschau zu reisen. Die Entfernung beträgt 50 oder 60 Meilen weniger als die von New York nach St. Louis. Wird er einfach seinen Koffer packen, in den Zug steigen und reisen können? Gewiss nicht. Er muss sich einen Pass besorgen, und die Besorgung eines Passes schliesst eine Menge langweiliger, kleiner Geschäfte ein. Man muss z. B. erst zum Photographen gehn und sich photographieren lassen, um die Photographie auf den Pass zu kleben. Der Europäer muss sodann seinen Pass zum französischen Konsulat in London tragen, um ein französisches Visum zu erhalten oder falls er durch Belgien reist, muss er das belgische Visum erhalten, darauf um ein deutsches Visum nachkommen; dann muss er zum tschechoslovakischen Konsulate gehen für das tschechoslovakische Visum, zuletzt erhält er das polnische Visum. Jede dieser Genehmigungen bedingt ärgerliche, langweilige Gänge, persönliche Aufmerksamkeit, Photographie, Stempel, Stempelmarken, geheimnisvolle Unterschriften und dergleichen und stete Gebührenzahlung. Sie bedingen ebenfalls stetige Verzögerung. Kürzlich hatte ich Gelegenheit, nach Moskau zu reisen. Ich erfuhr, dass es drei Wochen erfordere, um ein Visum für Finnland zu erhalten, und ebenfalls drei Wochen dauere bis man das esthnische Visum erhalte. Sie sehen daraus, dass man in Europa nicht reisen kann, ohne vorhergehende wochenlange Vorbereitung. Die Vorbereitungen für eine kleine Reise nach Russland nahmen kürzlich drei ganze Tage meines Lebens in Anspruch und kosteten mich an Stempelgebühren etliche Pfund. Fünf Pfund zahlte ich für Bestechung.
Endlich nun kann der brave Europäer sich in Bewegung setzen. In ungefähr einer Stunde erreicht er die französische Grenze und muss eine lange Zolluntersuchung über sich ergehen lassen. Da er sein englisches Geld in Frankreich nicht brauchen kann, muss er einige Francs einwechseln; der Kurs ist in Europa stets wechselnd, und so wird er beim Wechseln sicherlich betrogen. In allen europäischen Staaten – meine Heimat nicht ausgenommen – werden die Reisenden beim Geldwechseln betrogen, dazu ist der Geldkurs da.
Er fährt einige Stunden bis zur deutschen Grenze, dort muss er von neuem sein Bündel aufschnüren. Die Franzosen werden ihm sehr scharf auf die Finger sehen, ob er nicht Geld oder grosse Summen französischer Währung bei sich habe, sodann wird er den Deutschen übergeben. Er erlebt die gleiche Zollrevision und die gleichen Geldgeschichten. Das französische Geld kann er nicht mehr brauchen, er muss deutsches einwechseln. Einige Stunden später erreicht er die böhmische Grenze. Gleiche Durchsuchung nach Geld, Zollrevision und Geldwechsel. Einige weitere Stunden, und er ist in Polen. Durchsuchung nach Geld, Zoll, anderes Geld.
Da die meisten dieser Staaten verschiedene Eisenbahnwesen haben, so wird er wahrscheinlich gezwungen sein, die Züge mehrfach zu wechseln und sein Gepäck drei bis viermal aufzugeben. Die Züge sind möglicherweise so geschickt eingestellt, dass sie nie Verbindung miteinander haben und er einen grösseren Umweg machen muss; er kann sich glücklich schätzen, wenn er Warschau in vier Tagen erreicht.
In Warschau wird er wahrscheinlich eine Aufenthaltsbewilligung benötigen und sicherlich zahllose Passierscheine, um die Stadt wieder verlassen zu können. Welch eine Mühe, welch ein Aufhebens wegen einer unbedeutenden kleinen Reise von 1100 Meilen! Kein Wunder, dass die Reisekosten von London nach Warschau unverhältnismässig grösser sind, als die Reisekosten von New York nach St. Louis. Was ich hier beschrieben habe, sind aber bloss die normalen Schwierigkeiten der Reise, unter Umständen mögen sie noch keineswegs die ernstlichsten sein. Dieselben Hindernisse, die die freie Bewegung des Reisenden hemmen, hemmen noch in viel grösserem Masse den Umsatz der Lebensmittel und anderer Handelsartikel. Überall ist der Handel in Europa durch Tarife erdrosselt, durch den Veitstanz der Kurse gelähmt. Jeder europäische Staat gibt soviel Papiergeld heraus, als es ihm beliebt. Vergangenen Sommer reiste ich nach Prag und wechselte Pfund in Kronen, sie sollten zu 25 stehn; am Montag standen sie 180, am Freitag 169. So sprangen sie zwischen 220 und 150 hin und her; ein jeder ist dadurch beeinträchtigt, bloss nicht die Banken und die Wechsler. Und dieser unsichere Wechselkurs entzieht dem Geschäftsbetrieb beträchtliche Geldsummen und dient nur unfruchtbaren, unheilvollen Kursspekulationen.
Unter den einzelnen dieser eingezwängten europäischen Staaten ist der Nahrungs- und Arbeitsumsatz noch mehr gehemmt und gehindert. Zu allen Schäden nationaler Zolltarife, nationaler Währung, ist Europa ausserdem noch ausserordentlich durch den Mangel einer zentralen Autorität behindert, die die elementaren gemeinsamen Interessen vertreten sollte. So z. B. Bewachung der Laster, Übertragung ansteckender Krankheiten, Unterdrückung internationaler Verbrechen. Europa steht jetzt vor einem neuen Problem, dem Problem der Luftschiffahrt. Soweit ich es überblicke, wird die Luftschiffahrt in Europa durch internationale Schwierigkeiten erdrosselt werden. Man kann jetzt bequem von London nach Paris in zwei bis drei Stunden fliegen, aber die dazu erforderlichen Passvorbereitungen nehmen Tage in Anspruch. Kürzlich wollte ich mich rasch von England nach Reval in Esthland begeben und zurückkommen. Die Entfernung ist ungefähr die gleiche wie von Boston nach Minneapolis und könnte im Flugzeug bequem in 10-12 Stunden zurückgelegt werden. Ich machte der Handley Page Company den Vorschlag, dies für mich zu bewerkstelligen. Sie erklärte jedoch, dass es nicht in ihrer Macht stände, mich weiter als bis Amsterdam zu bringen; dort könnte man einen deutschen Äroplan bis Hamburg nehmen, dann wieder einen dänischen bis Kopenhagen. Jeder Aufenthalt würde Passchwierigkeiten und anderes mitsichbringen. Schliesslich brauchte ich fünf Tage, um hinzufahren und sieben, um von Reval wieder zurückzukommen. Mit den jetzigen Staatengrenzen ist ein Flugdienst in Europa eigentlich ausgeschlossen. Solange er nicht zu einer allgemeinen europäischen Angelegenheit ausgestaltet wird, wird er wert- und zwecklos bleiben. Alles dies sind die normalen Unbequemlichkeiten nationaler Zerstückelungen, unter denen Europa im Frieden zu leiden hat; sie ersticken die Hoffnungen ökonomischer Sanierung. Nur ein einheitliches Streben könnte diese bewirken. Aber in diesen lächerlichen Grenzspaltungen, in die die europäischen Staaten eingezwängt sind, liegt auch die stete Kriegsgefahr. Nationale Unabhängigkeit bedeutet ein Recht auf Kriegserklärung. So ist jeder dieser erdrosselten, zusammengepferchten, europäischen Staaten durch seine gesegnete Unabhängigkeit dazu gezwungen, eine so grosse Streitmacht und militärische Ausrüstung zu unterhalten, als es sein bankerotter Zustand – denn bankerott sind wir alle – gestattet.
Seit dem Ende des grossen Krieges ist nichts Nennenswertes geschehen, um irgendeinen der europäischen Staaten vor drohender Kriegsgefahr zu schützen und nichts wird und kann geschehen, um diese Gefahr zu beseitigen, solange nationale Unabhängigkeit alle anderen Erwägungen überwiegt.
Für jemanden, der an amerikanische Verhältnisse gewöhnt ist, ist es wiederum schwer, sich vorzustellen, was ein moderner Krieg in Europa bedeutet. Keiner dieser unabhängigen europäischen Staaten, die ich eben auf dem Wege von London nach Warschau anführte, ist grösser als der Staat Texas in Nordamerika, und keine der Hauptstädte dieser Staaten könnte nicht 5 bis 6 Stunden nach der Kriegserklärung von feindlichen Luftschiffen äusserst wirksam angegriffen werden.
Wir können von London nach Paris in 2 bis 3 Stunden fliegen. Und ich kann Sie versichern, dass die grössten Bomben von 1918 gegen die heutigen Bomben Knallbonbons sind. Über allen Ländern Europas brütet die unmittelbare Drohung einer Kriegsführung, die die Nerven jedes Einzelnen, Mann, Frau oder Kind in den betroffenen Ländern aufs äusserste anspannen und erregen würde. An einen amerikanischen Bürger kann ohne vorhergehende Anzeichen nichts dergleichen herantreten. Auch der ausgedehnteste Krieg könnte nur die Küsten der Vereinigten Staaten berühren.
Ich verweise auf diese, zwischen Amerika und Europa bestehenden Unterschiede, weil sie im Hinblick auf ein Weltfriedensprojekt, einen Völkerbund, Weltstaat usw. für Amerika und Europa etwas gänzlich Verschiedenes in sich schliessen.
Der Amerikaner lebt in einer politischen Einheit grossen Masstabs. Er kann noch bequem hundert Jahre in dieser Weise weiterleben, bevor er sich in seiner politischen Haut beengt fühlen wird und bevor er sein häusliches Dasein durch unmittelbare Kriegsgefahr bedroht sehen wird. Er glaubt aus Gewohnheit an den Frieden und empfindet nicht die leidenschaftliche Dringlichkeit, ihn zu schaffen. Der Frieden ist, soweit es ihn angeht, für lange Zeit im Voraus gesichert. Ich bezweifle es, dass es für das gewöhnliche tägliche Leben in Kansas City fürs erste noch von einer ernstlichen Bedeutung wäre, wenn, sagen wir, ganz Europa in den nächsten fünf Jahren in eine Wüstenei verwandelt werden würde. Aber andererseits arbeitet der intelligente Europäer Tag und Nacht gegen das Einheitsproblem. Europa kann nicht so fortbestehen. Die europäische Zivilisation kann sich nicht fortentwickeln, so lange nicht das sie erdrosselnde Netz der engen politischen Schranken gelöst ist. Die Schwierigkeiten, die sich durch Sprachverschiedenheit, verbitterte nationale Traditionen und üble politische Angewohnheiten entwickelt haben, sind zweifellos ausserordentlich. Aber so ausserordentlich sie sind, so müssen wir doch der Wahrheit ins Gesicht sehen. Wofern sie nicht überwunden werden, in wenigen Jahren überwunden werden, wird Europa in das Netz seiner eigenen Grenzen verstrickt, von steter Kriegsfurcht bedroht, meiner Überzeugung nach, dem Beispiel Russlands folgen und hoffnungslos, ohne Aussicht auf Genesung, in einen Prozess sozialer Auflösung hinabgleiten, tief und unheilvoll wie der, in welcher das weströmische Reich unterging.
Die amerikanische Intelligenz und die europäische treten daher von einem ganz anderen Gesichtspunkt und von einem gänzlich verschiedenen Geist beseelt, an die Frage des Weltfriedens heran. Für den Amerikaner, in der gesegneten Unbegrenztheit seiner grossen, ungeteilten Heimat, handelt es sich nur darum, die unbegrenzten Sicherheiten, die er geniesst durch ein Bündnis oder dergleichen zu einem weltumfassenden System zu machen. Und ich habe den Eindruck, dass der Amerikaner der Meinung ist, dass in Europa die gleichen Lebensbedingungen herrschen.
Aber nichts derart entspricht dem Problem, wie es sich für die alte Welt darstellt. Die Lage Europas ist insgesamt intensiver, tragischer, als die Amerikas. Europa bedarf keiner Bündnisse und Verträge, sondern einer tief innerlichen Umwälzung. Europa ist von kleinlichem Patriotismus verseucht, wie ein Körper von einer schlimmen erblichen Krankheit verseucht ist. Die Vorstellungen in Europa sind von kleinlichen Ambitionen und veralteter Feindseligkeit beseelt. Ich bin daher überzeugt, dass wegen der tiefinnerlichen Verschiedenheiten für Amerika und Europa ein sofortiger politischer Zusammenschluss und die Organisation des Weltfriedens unmöglich ist.
Das amerikanische Staatenbild und das europäische Staatenbild sind so gänzlich verschieden, dass sie unfähig sind, in wirksame Verbindung zu treten; der Dampfpflug und der Ochse können nicht in der gleichen Furche pflügen. Amerikanische Geistestätigkeit und einzelne Persönlichkeiten können zweifellos am Wiederaufbau, wie er Europa als Aufgabe bevorsteht, eine grosse Rolle spielen, aber nicht die amerikanische förderalistische Regierung, als ein unabhängiger Staat neben gleichen Staaten. Die Vereinigten Staaten stehen eben als Staatenbild auf einer ganz anderen Stufe, als irgend ein Staat der alten Welt. Patriotismus und Nationalismus sind in Amerika sehr viel weitere Begriffe als in Europa.
Irgend ein Völkerbund, der heute Stabilität erstrebt, müsste notwendigerweise bestehende Grenzen, bestehende nationale Begriffe in der Form festhalten. Aber diese Grenzen und diese Begriffe sind es ja gerade, die wir auf jeden Fall los werden müssen. Bevor Europa sich zu der Höhe und zu den gleichen Zielen Amerikas erheben kann, müssen die europäischen Staaten einen Prozess durchmachen, den Amerika – unter sehr viel leichteren Bedingungen, vor eineinhalb Jahrhunderten durchgemacht hat. Sie haben in noch grösserem Masse, gegen noch tiefer eingewurzelte Vorurteile jene Grosstat gegenseitiger Verständigung und Übereinstimmung zu vollbringen, wie das amerikanische Volk in den Jahren 1781 und 88.
Wie Sie sich alle erinnern werden, stellten diese Staaten, nachdem sie sich für gegenseitige Unabhängigkeit entschlossen hatten, gewisse Bündnisartikel auf; es war ein Bündnisabkommen von dreizehn Nationen, Massachusetts, Virginia und Georgia usw. Es waren dreizehn unabhängige, getrennte Staaten. Ihre Einigung war jedoch so lau, dass sie weder im Innern die Ordnung aufrecht erhalten konnte, noch sich nach auswärts Achtung verschaffen. Es kam darauf eine andere Konstitution zustande. Die Unabhängigkeit der verschiedenen, einzelnen Nationen Massachusetts, Virginia, Georgia usw. wurde hinweggefegt und die Einigung auf einer viel weiteren Basis begründet: die Nation der Vereinigten Staaten.
Europa hat etwas ähnliches zu vollbringen, falls es nicht in Anarchie verfallen will. Soll Europa vor endgültigem Unheil bewahrt werden, so muss der Begriff der verschiedenen Nationen aufhören, so muss der Begriff eines europäischen Volkes, wenn nicht eines gesamten zivilisierten Weltvolkes entstehen. Gelingt es uns Europäern nicht, in dieser Weise umzudenken, so ist wenig Hoffnung für uns vorhanden. Nur im Zusammenhang mit der Gesamtheit kann irgend ein Volk Europas gerettet werden. Neue Kriege werden das soziale Gefüge Europas zertrümmern, und die Völker Europas werden im Kampf untergehen.
Manche Leute sind der Meinung, dass es in Europa wenigstens noch ein politisches System gibt, das gleich den Vereinigten Staaten weit und ausgedehnt genug ist, um unter modernen Bedingungen fortzubestehn und beträchtliche Zeit noch fortdauern zu können. Sie meinen, dass das britische Reich als selbsterhaltendes System, sich unabhängig von den übrigen Staaten Europas erhalten könne. Sie glauben, dass England, gleich den Vereinigten Staaten, unabhängig sei und dass diese beiden englisch redenden Staaten sich nur zusammenzuschliessen brauchten, um den Frieden der Welt zu erzwingen und aufrecht zu erhalten. Gestatten Sie mir bei dieser Vorstellung ein wenig zu verweilen. Es ist dies, glaube ich, eine sehr irrige Annahme, eine Ansicht, die, wenn sie weit verbreitet würde, unserer englischen Kultur verderblich werden könnte.
Es ist nicht zu leugnen, dass das System des britischen Reiches seiner Gestalt und Natur nach von dem System der typisch europäischen Staaten, dem Pferd- und Poststrassensystem, wie Frankreich und sagen wir Deutschland, sehr verschieden ist. Auch den Vereinigten Staaten gegenüber ist es etwas anderes. Das heutige britische Reich ist in der Tat ein neueres politisches Erzeugnis als die Vereinigten Staaten. Aber während die Vereinigten Staaten ein homogenes System darstellen, sich gleichartig fortentwickeln, ist das britische Reich in sich ungleich und zeigt wenig Assimilationsvermögen. Und während die Vereinigten Staaten zusammenhängend sind und von einem ernstlichen Antagonismus noch sehr weit entfernt, ist das britische Reich über die ganze Welt verbreitet, von einer Unmenge Widersachern bedrängt und mit ihnen in Streit verwickelt.
Ich habe dargelegt, dass die Ausdehnung und Leitung aller politischen Staaten schliesslich von Beförderungs- und Verkehrsmitteln abhängt; sie dehnen sich bis zu einer Grenze aus, die in diesen Erwägungen begründet ist; ausserhalb dieser Grenze sind sie labil. Lassen Sie uns diesen Gedanken auf das britische Reich anwenden. Ich habe vorhin bewiesen, dass die Vereinigten Staaten politisch eine Schöpfung der Eisenbahnen und Flussdampfer sind. In gleicher Weise ist das heutige britische Reich eine Schöpfung der Ozeandampfer, durch eine starke Flotte geschützt. Das britische Reich ist eine moderne Seemacht, gleich wie die Vereinigten Staaten eine moderne Landmacht sind. Der politische und ökonomische Zusammenhang des britischen Reiches beruht auf einer Bedingung, auf der Bedingung, dass die Schiffahrt das herrschende sichere Transportmittel der Zukunft bleibe. Soll das britische Reich in Zukunft unabhängig und unumschränkt bestehen, so ist Voraussetzung, dass Ozeanverkehr im Frieden vorherrsche und im Kriege unanfechtbar sei. Dies stellt uns vor zwei neue Faktoren, die einen Schatten sowohl auf die Vorherrschaft, wie auch auf die Unanfechtbarkeit werfen. Der eine Faktor ist Luftschiffahrt, der andere Unterseeboot. Die Möglichkeiten der Unterseeboote will ich jetzt nicht weiter verfolgen, sie werden jedem, der die letzten Phasen des grossen Krieges verfolgt hat, bekannt sein. Es ist klar, dass Seemacht nicht mehr die entscheidende Rolle spielt, wie vor dem Auftreten der Unterseeboote. Die Seewege können nicht mehr so ausschliesslich in Beschlag genommen und beherrscht werden. Für keine andere Nation, Japan ausgenommen, ist dies eine so ernste Erwägung, wie für England.
Und wenn wir die Möglichkeiten, die die Luftschiffahrt der Zukunft bietet, betrachten, so werden wir zu der gleichen Schlussfolgerung gezwungen, dass Englands Sicherheit zukünftig nicht mehr ausschliesslich auf seiner Kriegsmacht beruht, sondern in der Aufrechterhaltung des Friedens innerhalb und ausserhalb seiner Grenzen. Ich bin ein Mitglied der Britischen Zivilen Luftschiffahrtsgesellschaft gewesen, wir haben die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten der Luftwege genau und sorgfältig erwogen. Meine Tätigkeit in dieser Angelegenheit hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass für die nächste Zukunft der Luftweg das Haupt-, wenn nicht das einzige Beförderungsmittel für Fernpost, Passagierverkehr und den Transport der wichtigsten Handelsartikel werden wird. Der Seeweg wird wahrscheinlich nur noch für langsame Fahrt, für Stapel- und Frachtgut in Betracht kommen. Meine Beschäftigung mit diesen Dingen hat vielfach dazu beigetragen, mich in meiner Ansicht zu bestärken, dass in kurzer Zeit militärischer Angriff weder zu Land noch zu Wasser, sondern nur in der Luft erfolgen wird. Ich gewann gleichfalls die Überzeugung, dass die hauptsächlichsten Luftwege über den grossen Ebenen der Kontinente liegen werden und es sehr schwierig sein wird, weite Gebirgsgegenden und Meeresflächen zu überfliegen.
Bedenken Sie nur, in welcher Beziehung sich das britische Reich zu den grossen See- und Landoberflächen der Erde befindet. In England hat man von den sogenannten all-roten, d. h. von den all-englischen Luftwegen gesprochen, aber es gibt gar keine all-roten Luftwege. Sie können von England aus keine anderen Teile des britischen Reiches erreichen, ausgenommen vielleicht Kanada, ohne fremdländisches Gebiet zu passieren. Dies ist eine Tatsache, die das englische Volk einsehen und verwinden muss, und je eher sie es einsehen, desto besser für sie. England kann auch im Frieden nicht den Luftweg zur Entfaltung seines Handels, ohne Zustimmung und Mitwirkung seiner Nachbarn, benutzen. Und wenn es sich allein in einen grösseren Krieg einlässt, so wird es sehr bald von seinen See- und Luftschiffahrtsverbindungen abgeschnitten sein.
So ist das britische Reich trotz seiner Grösse und Neuzeitlichkeit, auf sich selbst gestellt, nicht viel besser daran, als andere europäische Staaten. Dass Umfang und Form der europäischen Staaten den Anforderungen neuzeitlicher Verkehrsverbindungen nicht entsprechen und dass diese neuen Mittel notwendigerweise die alten Vorurteile von Unabhängigkeit umstürzen werden (von anderen Folgen abgesehn) bestätigt meine Ausführungen. Es ist eine Notwendigkeit, von der Tod oder Leben abhängt; können sie sich ihr nicht unterwerfen, so werden sie untergehn.