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Wenn wir zu einer grundlegenden Besserung der gegenwärtigen Beziehungen der Staaten gelangen sollen, wenn wir jenen neuen Geist wachrufen sollen, der die grundlegende Voraussetzung für die Aufrichtung eines Weltfriedens ist, dann müssen wir den Tatsachen der internationalen Streitigkeiten gerade ins Gesicht sehen. Es hat keinen Zweck, so zu tun, als ob keine Reibungen bestünden, wenn sie vorhanden sind. Die Weltfriedensbemühungen, deren Mittelpunkt jetzt die Washingtoner Konferenz bildet, haben nicht die Aufgabe, internationale Schwierigkeiten zu übertünchen; sie haben die Aufgabe, sie aufzudecken, zu untersuchen, die Diagnose zu stellen und sie zu heilen.
Nun haben wir hier also diesen französischenglischen Zusammenstoß, eine ganz einfache Zankerei, die sehr peinlich für die amerikanischen Zuschauer ist. Den Amerikanern ist im allgemeinen dieser Zank unangenehm. Sie werden hin und her gezerrt von einer sehr starken traditionellen Liebe für die Franzosen und einer Art von Sympathie für, wenigstens einige, kongeniale Seiten des britischen Wesens. Sie möchten darum am liebsten gar nichts mehr davon hören. Sie möchten ganz einfach Frieden haben. Aber der Streit ist nun einmal da. War es ein unumgänglich notwendiger Streit? War er unvermeidlich? Vielleicht bedeutet er etwas recht Wesentliches und Grundlegendes in der europäischen Lage? Vielleicht, wenn wir ihn analysieren und seine ersten Ursachen ergründen, werden wir etwas erfahren, was mit Rücksicht auf die Zwecke und Ziele der Washingtoner Konferenz der Mühe wert ist.
Nun wollen wir uns vor allem eine sehr wichtige Tatsache klarmachen. Dieser Zusammenstoß ist ein Zusammenstoß zwischen der gegenwärtigen französischen und der gegenwärtigen englischen Regierung, aber er ist kein Zusammenstoß zwischen allen Franzosen und allen Engländern. Es ist kein Ausbruch nationaler Antipathien oder irgendeiner derartigen schauderhaften, nicht wieder gutzumachenden Sache. Es gibt in Frankreich Elemente, welche sich in bezug auf die in diesem Streite zum Austrag gelangten verschiedenen Anschauungen in schärfster Opposition gegen die französische Regierung befinden. Ein Bruchteil der englischen Presse stellt sich in phantastischer Weise auf die französische Seite und ist bitter unzufrieden, sogar mit der öffentlichen Kritik der öffentlichen Reden des französischen Premiers in England. Die Parteipolitik sowohl Frankreichs wie Englands und, was schlimmer ist, jene bittere Feindseligkeit, die sich auf bestimmte politische Persönlichkeiten richtet, hat sich in diesen Streit eingemengt.
Es mag zur Aufklärung der Streitlage dienen, wenn wir die von den beiden Regierungen angenommenen Benennungen der streitenden Parteien außer acht lassen und wenn wir, statt von einer »französischen Partei« und einer »englischen Partei« von einer »Unterdrückt Deutschland« – und einer »Laßt Deutschland die Möglichkeit, sich zu erheben« – Partei reden, oder noch besser, wenn wir sie ganz einfach als die Parteien der »Forderer« bezeichnen, welche von Deutschland die Zahlung der Schuld bis auf den letzten Heller und die Erleidung der Buße bis zum äußersten fordern und die Partei der »Befreier«, welche dies nicht tun.
Es gibt eine sehr mächtige Partei der »Forderer« in Großbritannien. In Frankreich ist die Partei der »Befreier« in stetigem Anwachsen begriffen. Und während Frankreich seit dem Waffenstillstand beständig ein »Forderer« gewesen ist, ist England und die englische Regierung innerhalb des letzten Jahres von der Partei der »Forderer« zu der der »Befreier« übergegangen. Dieser Parteiwechsel hat außergewöhnliche Reibereien und Vorwürfe zwischen den politischen Gruppen und Individualitäten Frankreichs und Englands zur Folge gehabt, wie dies bei einem Gesinnungswechsel naturgemäß immer der Fall sein wird. Solche Zänkereien machen oft viel mehr Lärm als tiefgehende und wesentliche nationale Mißverständnisse, und der intelligente Beobachter, vor allem der amerikanische Beobachter, wird gut daran tun, den Ton des geärgerten Parteimitgliedes von dem Ton des echten patriotischen Zorns zu unterscheiden.
Die jetzigen Schwierigkeiten haben bei der Konferenz von Versailles begonnen. Dort scheinen die einzigen »Befreier« die amerikanischen Vertreter gewesen zu sein. Es waren die Tage der britischen Khakiwahlen, als »Hängt den Kaiser« und »Laßt die Deutschen zahlen« das Kriegsgeschrei waren, welches Lloyd George zur Macht emportrug. Ungefähr vier Monate zogen sich die Streitereien hin über Mäßigung und überwältigende Forderungen. Amerika stand allein auf Seiten der Mäßigung. Die Briten forderten, mindestens ebenso eifrig wie die Franzosen, den letzten Pfennig, und es war noch dazu General Smuts, welcher der unerträglichen Schuldenlast, die damals dem besiegten und ruinierten Deutschland aufgebürdet wurde, den letzten Strohhalm hinzufügte. Sowohl Amerika wie Frankreich stimmten dem Abkommen zu, durch, welches Frankreich die Macht, das Shylockrecht erhielt, in Deutschland einzuschneiden und es weiter zu zerlegen, falls Deutschland nicht imstande sein sollte, die unmöglichen Zahlungen zu leisten, die damals von ihm gefordert wurden.
Die Stellung der französischen Regierung in dieser Sache ist darum eine vollkommen logische und gesetzmäßige. Frankreich kann sich, und Briand sagt, daß es die Absicht hätte, dies zu tun, an den Vertrag von Versailles halten und es kann alle Anwandlungen der Washingtoner Konferenz, diesen Vertrag zu modifizieren oder zu überprüfen, ablehnen und außer acht lassen, und die britische Regierung, die sich in einer hoffnungslos schwierigen und unlogischen Stellung befindet, kann nur an die harte Logik der Wirklichkeit appellieren.
Großbritannien ist viel abhängiger von seinem überseeischen Handel als Frankreich; darum haben die Engländer früher begriffen, welch ungeheuren Schaden der soziale und wirtschaftliche Zusammenbruch Rußlands bedeutet hat und wieviel größer noch der Schaden des Zusammenbruchs der mitteleuropäischen Zivilisation sein wird.
»Ihr habt an sich ganz recht,« sagen diese neubekehrten »Befreier« zu den hartnäckigen »Forderern«, »aber ihr werdet ganz Europa ruinieren.«
Dieser Gedanke der möglichen Vernichtung der Zivilisation ist noch nicht so vielen Menschen in Frankreich wie in England klargeworden. Deutschland ist näher an Frankreich als an England, und die Angst vor einem neu erstarkenden und rachsüchtigen Deutschland ist größer in Frankreich als in England. In der französischen Vorstellung wird die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs binnen ein oder zwei Jahren völlig in den Schatten gestellt von der Möglichkeit eines deutschen Einfalls und einer deutschen Rache in zwanzig Jahren. Die Briten sind dem Zusammenbruch näher und den Deutschen ferner. Das ist der wahre Grund des französisch-englischen Zusammenstoßes.
Auf diesen wirklichen Grund häufen nun üble Laune, Parteigesinnung, persönlicher Groll, unvernünftige Vorurteile eine Unmenge von widerwärtigem Zankstoff auf. Die französische Regierung und die französische nationalistische Mehrheit dringen auf militärische Rüstungen und Vorbereitungen zur See, welche Großbritannien ganz entschieden bedrohen. Es hat keinen Zweck, zu behaupten, daß sie es nicht tun, wenn sie es doch tun. Die französischen Unterseeboote sind gegen England bestimmt.
Leere Höflichkeiten zwischen Frankreich und Großbritannien haben in diesem Falle gar keinen Wert. Beide Länder werden von ihren gottverlassenen Politikern geplagt und beide befinden sich in einem Zustande der finanziellen Not und der überreizten Nerven. Es ist keine Zeit, in der Überlegung und ruhiges Abwägen von Vernunftgründen leicht ist. Wenn wir aber einmal bis zu den Wurzeln der Dinge vordringen, so finden wir, daß die Feindseligkeit zurückzuführen ist auf die beiden folgenden Forderungen, die nicht notwendig unvereinbar sind:
1. daß Deutschland zum besten der ganzen Welt nicht weiter zerstört werde, sondern daß man ihm behilflich sei, sich aufrechtzuerhalten (»Befreier«), und
2. daß Deutschland niemals eine Gefahr für Frankreich werden darf (»Forderer«).
Nun, diese beiden Forderungen sind vollkommen vereinbar und können eine Ausgleichung erfahren durch ein Mittel und nur durch dieses eine Mittel: ein festes Bündnis, das beobachtet und aufrechterhalten wird durch eine ständige Kommission von Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Amerika und möglicherweise von Italien und Spanien, zu dem Zweck, Frankreich und Deutschland gegen weitere Einfälle und innere Einmischungen zu schützen, wenn Frankreich den Mahnungen seiner edleren Natur und den Ratschlägen seiner wahren Bürger folgt, seine unmöglichen Forderungen aufgibt und Deutschland von jetzt ab freiläßt.
Von keinem Lande kann die Initiative wirksamer ergriffen werden als von den Vereinigten Staaten von Amerika, dem allgemeinen Gläubiger, der wie keine andere Macht den Franzosen die Schönheit und Wünschbarkeit finanzieller Barmherzigkeit beweisen kann.
Ich behaupte, daß dies die allgemeinen Richtlinien, die Elemente, das Abc der gegenwärtigen Lage sind und daß nichts zwischen Frankreich und England liegt, das nicht diesem Konflikt zwischen der Forderung und dem Befreienwollen völlig untergeordnet ist und als nebensächlich erscheint.
Und außerdem ist der Zwiespalt zwischen Frankreich im allgemeinen und Großbritannien im allgemeinen ein Zwiespalt, der sich in ähnlicher Gestalt in der ganzen Welt abspielt. Alt-Japan fordert die Ausführung der Bestimmungen von Versailles, Jung-Japan möchte China befreien – wieweit, ist noch nicht festgestellt. In Amerika wogt der Streit zwischen denjenigen, welche energisch die Zahlung der britischen Schulden fordern, und denen, welche durch erleichternde Bedingungen davon befreien möchten. Nirgends ist dies ein Kampf zwischen Völkern und Rassen, es ist überall ein Kampf der bestehenden und traditionellen Theorie mit der humanen und hilfsbereiten Theorie, zwischen der alten Denkweise und der neuen, zwischen dem Buchstaben und dem Geist. Der alte Shylock war der größte aller Forderer, und da Portia die triumphierende Befreierin war, darf man wohl mit Sicherheit hoffen, daß von den ihr Stimmrecht ausübenden Frauen des Frauenbundes von Amerika und Großbritannien der Antrieb zur Befreiung ausgehen wird. Je eher die Befreiung kommt, desto besser, denn hat einmal das Messer Shylocks tief genug ins lebende Fleisch geschnitten, so ist die Sache der Freiheit und der Zivilisation für immer verloren.