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Washington, den 18. November
Wenn wir als leitendes Prinzip den Gedanken annehmen, daß China »der Mühe wert ist«, wenn wir den Entschluß fassen – und es scheint mir, als wäre das amerikanische Volk im Begriff, diesen Entschluß zu fassen –, daß China wieder aufleben und sich als ein großer Bundesstaat unter ausschließlicher chinesischer Verwaltung reorganisieren soll und daß es unter dem gemeinsamen Schutze der Mächte gegen alle äußere Einmischung während der Periode seiner Reorganisation stehen soll, dann ist es klar, daß alle Träume einer Herrschaft in China oder einem Bruchteil von China seitens jeder anderen Macht aufgegeben werden müssen.
Dieser Aufbau eines einigen friedliebenden China durch die bewußte selbstlose Tat der hauptsächlichen Weltmächte ist offenbar unter den gegenwärtigen Umständen die einzige vernünftige Politik, welche den in Washington versammelten Mächten übrigbleibt; aber unglücklicherweise läuft sie aller Tradition nationalistischen Wettbewerbs entgegen. Ich beobachte hier in Washington einen ganz merkwürdigen inneren Konflikt, der in der Weltlage geoffenbarten Vernunftforderung und jener Denk- und Handlungsweise, in der wir alle aufgezogen worden sind. Der Wettbewerb der Nationalitäten und die seit langer Zeit durch die europäische Diplomatie aufrechterhaltene Tradition des Wettbewerbs sind schon auf gutem Wege, die Washingtoner Konferenz zunichte zu machen. Die Tradition ist in uns allen sehr tief eingewurzelt, in jedem einzelnen unter uns. Diese Tradition, diese Auffassung des internationalen Verkehrs als einer Art von Spiel, bei dem es darauf ankommt, den anderen unterzukriegen, haben eine ebenso zähe Lebensfähigkeit wie der Hunger der Wespe, die gierig weiterfrißt, nachdem ihr der Leib abgeschnitten worden ist. Tatsächlich scheinen einige Vertreter der Mächte in Washington immer noch den Ehrgeiz zu hegen, China, oder doch große Teile von China, endlich zu verschlingen – ein Festessen, das sie unmöglich werden verdauen können.
Wenn das so weiter geht, ist eine Fortsetzung der Kriegsrüstungen und ein Wiederbeginn des Krieges und der endliche, vollkommene soziale Zusammenbruch unvermeidlich. Aber angesichts dieser einfachen unabwendbaren Folgeerscheinung unterhalten sich meine diplomatischen Freunde in Washington ruhig weiter über solche hirnverbrannte Projekte, wie die Abtretung der Mandschurei an Japan der ganzen chinesischen Mauer entlang, die Abgabe des tatsächlichen Eigentumsrechtes auf die chinesischen Eisenbahnen an Japan, die Erteilung einer »Kompensation« für die chinesischen Eisenbahnen an Frankreich, die Erlangung dieses oder jenes »Vorteils« für Großbritannien usw. Ich staune überhaupt über die Beamten der auswärtigen Ministerien. Sie haben solche ausgezeichneten, geradezu glänzenden Verstandesgaben, aber diese sind – leider! – so hoch spezialisiert, daß man zuzeiten daran zweifelt, ob sie, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, überhaupt irgendwelche Verstandesgaben besitzen.
Trotz der allgemeinen hoffnungsvollen Stimmung über den Ausgang der Konferenz bin ich von Zweifeln erfüllt. Der Antrag der Abrüstung zur See des Staatssekretärs Hughes war offenbar nur als ein Anfangsvorschlag gedacht, und zwar als ein ganz großartiger Anfang der Verhandlungen. Die folgende Sitzung würde, so glaubte ich, Mr. Balfour, M. Briand und Admiral Kato in beredtem Einverständnis zeigen. Sie würden sagen: »Gewiß, all dies und noch mehr können wir tun unter der Bedingung, daß ein bestimmtes, ausdrückliches, erschöpfendes, dauerndes Abkommen in der Stillen-Ozean-Frage auf dieser Konferenz getroffen werden kann, durch welches dann jeglicher Kriegsgrund aus dem Wege geräumt wäre.« Aber die zweite Sitzung brachte eine große Enttäuschung. Ein Staat nach dem andern war, wie Balfour, jener »erfahrene Parlamentarier «, sagte, »grundsätzlich.« einverstanden. »Aber« – seither spielen wir alle eine Art von vierhändigem Schach mit Vorbehalten über Schiffswerften, Marinestationen, Kreuzer, große Unterseeboote u. dgl. Wir versuchen alle, die eigentliche Abrüstung dem andern zuzuschieben. Unterdessen halten die neun Mächte geheime Sitzungen über die Frage des Stillen Ozeans, und nach den Gerüchten zu urteilen, ist es offenbar, daß dort ebenfalls ein neunhändiges Schachspiel im Gange ist.
Aber die nüchterne Tatsache, die jedem, der nicht in dem diplomatischen Spiel aufgeht, klar genug scheint, ist, daß diese Konferenz eine Gelegenheit zur Großmut und zur Selbstbeschränkung bietet. Es führt kein Weg aus der Verwirrung der Frage des Stillen Ozeans als die Befreiung Chinas aus seinen Fesseln und der Erlaß einer selbstbeschränkenden Vorschrift durch alle beteiligten Mächte, daß jede gehalten sein soll, China in Ruhe zu lassen, während es sein Staatswesen wieder aufbaut. Ich bin der Ansicht, daß sogar Japan, der eifrigste der Schachspieler, gut daran tun wird, sich mit einem solchen Plan einverstanden zu erklären.
Würde ein Weltvertrag, China gegen alle Angriffe zu schützen und ihm den fortschreitenden Abbau der außerterritorialen Privilegien und dieselben unumschränkten Rechte auf seine eigenen Eisenbahnen, seinen Grund und Boden und seine Steuereinnahmen, wie die Amerikaner und Japaner sie besitzen, zu gewährleisten, würde ein solcher Vertrag Japan irgendwie ernstlich schädigen? Würde es Japan nicht aus seiner nachahmenden Laufbahn als Pseudo-England und als Pseudo-Deutschland herausreißen und es in den Stand setzen, seinen eigenen Geschäften nachzugehen, welche sich in vollstem, vollkommenstem und reichstem Maße auf Japan beziehen würden?
Denn schließlich, was will Japan denn? Es will Sicherheit haben, so sagt es – genau wie Frankreich Sicherheit haben will. Es will Sicherheit haben, um Japan zu sein, genau wie Frankreich Sicherheit haben will, um Frankreich zu sein, und England Sicherheit haben will, um England zu sein. Es gibt diese Erklärungen nicht ohne recht triftige Begründungen ab. Dreihundert Jahre lang glaubte Japan diese Sicherheit zu haben, und wir müssen zugeben, daß es damals der ungefährlichste Staat der Welt war. Dreihundert Jahre lang hat Japan keine auswärtigen Kriege geführt. Es war ein friedliebender, selbstgenügsamer Einsiedler. Der amerikanische Unternehmungsgeist war es, der Japan aus seiner Zurückgezogenheit hervorgezerrt hat, es war die Angst vor Europa, die Japan in die moderne imperialistische Politik hineintrieb. Es kämpfte gegen China und bemächtigte sich Koreas, weil ihm Rußland sonst dieses Korea wie eine Pistole auf die Brust gesetzt hätte, es kämpfte gegen Rußland, weil Rußland sonst die Mandschurei und Port Arthur gegen Japan gehalten hätte, es nahm teil am Weltkriege, weil es die Deutschen aus Schantung vertreiben wollte. Es befolgt jetzt eine durchaus »europäische« Politik in China, es intrigiert, um freie Hand in der Mandschurei und Ostsibirien zu behalten, es erschleicht sich Konzessionen und Privilegien, und es ist bemüht, gehorsame Scheinregierungen in einem zerstückelten China einzusetzen; es macht Pläne, die natürlichen Hilfsquellen Chinas für sich auszubeuten, vor allem darum, weil es fürchtet, daß dies alles sonst durch andere konkurrierende Mächte geschieht, welche Japan vom Handel, vom Rohmaterial und von allem Wohlstand abschneiden würden, um es endlich, wenn es genügend geschwächt und ausgehungert wäre, anzugreifen und zu »indisieren«. Dies sind vernünftige und beachtenswerte Befürchtungen. Sie zwingen Japan, gerüstet und angriffsbereit zu bleiben; es ist in einem Zustande der »offensiven Defensive«. Seine vernünftigen und gerechtfertigten Befürchtungen können auf keine andere Weise zur Ruhe gebracht werden als durch einen dauernden bindenden Vertrag der Weltmächte, ein für allemal der wüsten Balgerei um Asien, die vor einem Jahrhundert in Indien zwischen Frankreich und England begonnen hat, ein Ende zu machen. Des weiteren müßten sie offen anerkennen und aussprechen, daß diese Phase der Geschichte beendet sei, und sie müßten sich bemühen, geeignete Mittel zu einer Rückerstattung jetzt und zur Verhinderung weiterer Angriffe in der Zukunft zu finden.
Zweifellos besteht eine militärische Kaste in Japan, die den Krieg will und sogar den modernen Krieg nicht fürchtet. Mit dieser müssen wir rechnen. Wenn wir von Japan eine Freigabe Chinas fordern, so fordern wir etwas, das der japanischen Sinnesweise ganz zuwiderläuft. Sein Militarismus beruht auf uralten Traditionen und jüngsten Erfahrungen. Japan hat große Kriegserfolge zu verzeichnen und hat wenig von der Not des Krieges empfunden. Darum mag das japanische Volk einen Angriffskrieg wohl leichter nehmen als irgendein europäisches Volk. Wenn aber die den Japanern gestellte Alternative einerseits hieße: Abrüstung und selbstbeschränkende Vorschrift seitens der Mächte, oder andererseits Krieg gegen die übrigen Weltmächte, so zweifle ich, ob der Patriotismus auch der kriegsliebendsten Japaner nicht doch stärker wäre als ihre Kriegslust. Ich kann mir aber keine andere Regelung der Lage am Stillen Ozean denken außer durch eine selbstbeschränkende Vorschrift. Es gibt keine andere Möglichkeit, daß Japan, Amerika und die europäischen Mächte sich einigen könnten.
Nun würde Japan, entwaffnet, durch Verträge gebunden und durch Bündnisse von Angriffen auf das Hauptland Asien abgehalten, doch noch unermeßliche Vorteile durch die Befreiung Chinas erlangen. Gerechte und vernünftige Verträge vorausgesetzt, kann es sehr gut ohne Rüstungen bestehen. Seine geographische Lage würde es naturgemäß und selbstverständlich zum ersten Kaufmann und zum ersten Kunden Chinas machen. Es hätte das erste Angebot auf alle Kohlen, Erze und Nahrungsmittel, deren es bedürfte, amerikanische und europäische Waren würden über Tausende von Seemeilen an ihm vorübergeführt werden müssen. Chinesische Waren, die nicht für Japan bestimmt wären, würden anderswohin mit hohen Skala von Frachtgebühren belastet transportiert werden. Es ist eine ganz aus der Luft gegriffene Annahme, daß China sich weigern würde, an seinen nächsten und besten Kunden zu verkaufen. Ferner würde die künstlerische und literarische Kultur Japans, die zugleich so verschieden von der Chinas und dieser doch wieder so homogen ist, eine sehr bedeutende Anregung durch die chinesische Neuwerdung erfahren – wie dies auch in der Vergangenheit schon der Fall gewesen. Japan würde an der Spitze der modernen Zivilisation marschieren, nicht durch eine planlose Nachahmung und Annahme europäischer Gebräuche, zu welcher es bisher durch die Umstände gezwungen war, sondern durch eine natürliche und normale Entwicklung seiner Eigenheiten unter Anwendung kräftesteigernder moderner Hilfsmittel. Ein Vertrag Japans mit anderen Völkern zum Zweck einer den Chinesen gewährten unbedingten Entwicklungsfreiheit würde Japan die gleichen Vorteile sichern. Es wäre eine gegenseitige Friedensversicherung gegen alle Störungen und Gefährdungen.
Es gibt aber eine einzige Tatsache, aber auch nur diese einzige, welche diesem Gedanken eines friedlichen und fortschrittlichen Japans, das ein großartiger Führer der Zivilisation inmitten verbrüderter Völkerschaften wäre, entgegenwirkt. Diese ist die Übervölkerung Japans. Es ist gezwungen, nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch industrielle Rohmaterialien zu importieren und dabei vermehrt sich seine Bevölkerung jährlich um die ungeheure Zahl von einer halben Million. Dieses praktische Bedenken gibt dem aggressiven Imperialismus der Japaner allerdings einen triftigen Grund. Darum sieht es sich nach Ausbreitungsmöglichkeiten in den Gebieten von Ostsibirien um – ein Gebiet, das bei der Konferenz nicht vertreten ist und folglich unbeachtet bleibt; darum fordert es gewisse Vorkaufsrechte auf chinesische Metalle und Mineralien und Nahrungsmittel. Wenn diese fortschreitende Überschwemmung der Welt durch hungrige Lebewesen nicht wäre, so wäre die Forderung: Japan den Japanern, China den Chinesen, England den Engländern, Ostsibirien seiner eigenen Bevölkerung, die einfachste und naturgemäßeste aller Forderungen zur Herstellung des internationalen Friedens. Aber Japan ist am Überlaufen.
Hat nun irgendein Land das Recht, seine Bevölkerung über und jenseits seiner Grenzen auszuschütten, Handel und Nahrung zu verlangen, bloß weil es sich in dieser sorglosen Weise übernimmt? Die Diplomatie ist auffallend prüde in der Behandlung mancher Dinge. Ich habe einem britischen Beamten hier die Schamröte ins Gesicht getrieben durch die Erwähnung einer Geburtenüberwachung, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß dieser unerlaubten Fruchtbarkeit einzelner Völker gesteuert werden muß, so daß die Zunahme der Bevölkerung in entsprechendem Verhältnis zu der Größe des Landes bleibt. Diese Zimperlichkeit und Unschuld, die zu einer ungesunden Volksvermehrung und zu großen Kriegen führt, fordern eine vernünftige Hemmung durch internationale Abkommen.
Japan hat sich in vieler Hinsicht modernisiert, aber seine soziale Organisation, sein Familienleben sind altertümlich und primitiv. Sie erzeugen ungewöhnlich häusliche Frauen und ein Maximum an Säuglingen. Als die sanitären und hygienischen Vorkehrungen in Japan noch etwas Mittelalterliches hatten, war die Säuglingssterblichkeit eine so große, daß eine übermäßige Bevölkerungszunahme verhindert wurde, jetzt aber, da Japan sich auf den meisten Gebieten modernisiert hat, muß es sich auch in dieser Hinsicht modernisieren.
Ich behaupte, daß die Schwierigkeiten, welche durch eine übermäßige Fruchtbarkeit in einem Lande erwachsen, keine Rechtfertigung bilden für eine aggressiv-imperialistische Politik seitens dieses Landes, wohl aber erfordert sie eine innerhalb bestimmter Grenzen ausreichende Geburtenüberwachung.