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Die Äpyornis-Insel

Der Mann mit dem narbigen Gesicht beugte sich über den Tisch und besah sich mein Bündel.

»Orchideen?« fragte er.

»Ein paar,« sagte ich.

»Zypripedien?« sagte er.

»In der Hauptsache,« sagte ich.

»Irgendwas Neues? Nein? Das dacht' ich mir. Ich hab' die Inseln vor fünfundzwanzig – nein, siebenundzwanzig Jahren vorgehabt. Wenn Sie da irgendwas Neues finden – na ja, dann ist's wirklich funkelnagelneu! Viel übriggelassen hab' ich nicht!«

»Ich bin nicht Sammler,« sagte ich.

»Ich war damals noch jung,« fuhr er fort. »Herrgott! Wie bin ich herumgerast!« Es sah aus, als nähme er mein Maß. – »Zwei Jahre war ich in Ostindien und sieben in Brasilien. Dann ging ich nach Madagaskar.«

»Ein paar Forscher kenn' ich dem Namen nach,« sagte ich, mich auf eine weitschweifige Geschichte gefaßt machend. »Für wen haben Sie gesammelt?«

»Die Dawsons. Haben Sie je den Namen Butcher gehört?«

»Butcher? Butcher?« Der Name klang meiner Erinnerung nebelhaft bekannt; dann fiel mir ein – der Fall Butcher gegen Dawsons. – »Donnerwetter!« sagte ich, »Sie sind der Mann, der mit ihnen prozessiert hat – um vier Jahre Gehalt? – Auf eine öde Insel verschlagen worden ...«

»Zu dienen!« sagte der Mann mit der Narbe, indem er sich verbeugte. »Komischer Fall, was? Auf der einen Seite ich, der ich auf besagter Insel ein kleines Vermögen machte und nicht einmal was leistete dafür, und auf der andern Seite sie, einfach außerstande, mir zu kündigen! Der Gedanke hat mir, während ich dort war, oft Spaß gemacht! Ich stellte lange Rechnungen darüber auf – in riesigen, ornamentalen Ziffern – rings über die ganze Insel.«

»Wie ging es denn zu?« sagte ich. »So ganz kann ich mich nicht mehr auf den Fall besinnen.«

»Na, also ... Sie haben vom Äpyornis gehört?«

»Will's meinen! Erst vor einem Monat oder zwei erzählte mir Andrews von einer neuen Spezies, an der er just arbeitete. Gerade eh' ich ausreiste. Sie haben, wie es scheint, einen Schenkelknochen gefunden – fast eine Elle lang. Ein Ungetüm muß es gewesen sein, das Ding!«

»Das will ich Ihnen gern glauben,« sagte der Mann mit der Narbe. – »Es war ein Ungetüm. Sindbads Vogel Rock war nichts als eine Legende davon. Wann haben sie denn die Knochen gefunden?«

»Vor drei oder vier Jahren – 1891, glaub' ich. Warum?«

»Warum? Weil ich sie gefunden hab' – Herrgott, ja! – das ist jetzt fast zwanzig Jahre her. Wenn die Dawsons sich nicht so blödsinnig angestellt hätten wegen des Gehalts, so hätten sie den schönsten Ring darin bilden können ... Meine Schuld war's wahrhaftig nicht, daß das verdammte Boot sich losriß ...«

Er machte eine Pause. – »Ich vermute, es wird derselbe Platz sein. Eine Art Sumpf, ungefähr neunzig Meilen nördlich von Antananarivo. Kennen Sie es vielleicht zufällig? Man muß im Boot an der Küste entlang fahren. Sie erinnern sich nicht mehr zufällig daran?«

»Nein. Ich nicht. Aber ich glaube, Andrews sagte etwas von einem Sumpf.«

»Das muß es sein. An der Ostküste ist es. Und es ist irgendwas im Wasser, was die Dinge vor dem Vermodern bewahrt. Wie Kreosot riecht es. Es erinnerte mich an Trinidad. Haben sie auch noch Eier gefunden? Ein paar von den Eiern, die ich fand, waren anderthalb Fuß lang. Der Sumpf geht rundherum, müssen Sie wissen, und schneidet grade dies Stückchen ab. Meist Salzwasser, übrigens ... Na ja ... War das ein Leben! Die Dinger selber fand ich ganz zufällig. Wir suchten Eier – ich und zwei Eingeborene, in einem von ihren drolligen, zusammengebundenen Kanoes, und dabei fanden wir auch die Knochen. Wir hatten ein Zelt mit und Lebensmittel für vier Tage; und an einer von den festeren Stellen ließen wir uns häuslich nieder. Jetzt noch – wenn ich bloß daran denke – kommt mir der teerige Geruch von damals in die Nase! Eine ganz eigene Art von Arbeit ist es. Man durchsucht den Schlamm mit eisernen Stangen, wissen Sie. Und gewöhnlich zerschlägt man dabei die Eier. Möcht' wissen, wie lang es wohl her ist, daß diese Äpyornisse eigentlich lebten. Die Missionare behaupten, unter den Eingeborenen existierten noch Legenden aus der Zeit, als sie lebten; aber selber hab' ich nie eine derartige Geschichte gehört. Eins ist sicher: die Eier, die wir fanden, waren frisch, als wären sie eben erst gelegt. Frisch! Während wir sie zum Boot hinuntertrugen, ließ einer von meinen Schwarzen eines auf einen Stein fallen, und es zerbrach. Wie hab' ich den Kerl runtergeputzt! Aber es war einfach himmlisch – als wär' es eben erst gelegt – nicht eine Spur von Geruch – – und dabei die Mutter seit – wer weiß – vierhundert Jahren tot! Behauptete, ein Insekt hätt' ihn gebissen. Übrigens – um wieder auf meine Geschichte zu kommen ... Wir hatten den ganzen Tag dazu gebraucht, im Morast zu graben und die paar Eier unzerquetscht herauszukriegen, und wir waren alle ganz überzogen mit scheußlichem, schwarzem Schlamm, und ich war natürlich sehr übler Laune. Soviel ich wußte, waren es die einzigen Eier, die unzerbrochen, ohne auch nur einen Sprung, gefunden worden sind. Später sah ich mir einmal die an, die sie im Naturgeschichtlichen Museum in London haben; alle waren sie voller Sprünge und zusammengeleimt wie eine Mosaik, aus der Stücke fehlen. Meine waren ganz vollständig; und ich wollte schon ein Geschäft mit ihnen machen, wenn ich heimkam! Natürlich ärgerte ich mich über den blödsinnigen Kerl, der die Frucht einer Arbeit von drei Stunden einfach fallen ließ – eines bloßen Insekts wegen. Ich gab's ihm auch ziemlich deutlich zu verstehen.«

Der Mann mit der Narbe zog eine Tonpfeife heraus. Ich schob ihm meinen Tabakbeutel hin. Geistesabwesend stopfte er sich seine Pfeife.

»Und wie war's denn mit den andern? Haben Sie die nach Hause gebracht? Ich erinnere mich nicht mehr ...«

»Das ist eben das Merkwürdige an der Geschichte. Noch drei andere hatte ich. Ganz frische Eier. Na schön! Wir legten sie ins Boot, und ich ging ins Zelt hinauf, um Kaffee zu kochen, und ließ meine beiden Schwarzen drunten am Strand. Der eine machte sich mit seinem Insektenstich zu schaffen, und der andere half ihm dabei. Der Gedanke, daß die Kerle sich die seltsame Lage, in der ich mich befand, zunutze machen und einen Streit vom Zaun brechen würden, kam mir überhaupt nicht. Aber ich denk' mir – das Insektengift und die Hiebe, die ich ihm gegeben hatte, machten den einen wild – er war immer ein rachsüchtiges Biest gewesen – und der überredete den andern.

Ich weiß noch – ich saß da und rauchte und kochte Wasser auf einer Spiritusmaschine, die ich auf derartigen Expeditionen immer mitnahm. Dabei bewunderte ich den Sumpf im Sonnenuntergang. Ganz schwarz und blutigrot war er – lauter Streifen – ein wundervoller Anblick. Dahinter stieg das Land zu Hügeln an – grau und dunstig – darüber ein Himmel, rot, wie der Schlund eines Hochofens. Und fünfzig Meter hinter mir waren diese verfluchten Schwarzen und verabredeten – gänzlich ohne Rücksicht auf das ruhevolle Äußere der Dinge – mit dem Boot durchzugehen und mich einfach zurückzulassen – mit Lebensmitteln auf drei Tage und einem Leinenzelt – und nichts zu trinken – außer einem kleinen Krug Wasser! Ich hörte auf einmal eine Art Bellen hinter mir – und da waren sie auch schon – in ihrem Kanoe – es war kein rechtes Boot – etwa zwanzig Meter vom Land. Ich machte mir ja im Nu klar, was los war. Mein Gewehr war im Zelt – und zudem – ich hatte keine Kugeln – bloß Vogelschrot. Das wußten sie. Aber ich hatte einen kleinen Revolver in der Tasche – und den riß ich heraus, während ich hinunterrannte zum Strand.

›He! Zurück!‹ rief ich, den Revolver schwingend.

Sie plapperten irgendwas, und der Mann, der das Ei zerbrochen hatte, hurrate ganz laut! Ich zielte nach dem andern – weil er unverwundet war und das Ruder führte ... und fehlte ihn. Sie lachten. Trotzdem – ich ließ mich nicht beirren. Ich wußte – ich mußte ruhig bleiben. Ich zielte wieder auf ihn – und diesmal sprang er hoch mit dem Knall! Er lachte auch nicht diesmal. Beim drittenmal traf ich ihn am Kopf – er ging über Bord – und mit ihm das Ruder. Es war ein ganz außergewöhnlich glücklicher Schuß – für einen Revolver. Fünfzig Meter weit muß es immerhin gewesen sein. Er versank in einem Nu. Ob erschossen, oder einfach betäubt und ertrunken, das weiß ich nicht. Dann fing ich an, hinter dem andern Kerl dreinzurufen, er möchte doch zurückkommen; aber er verkroch sich in dem Kanoe und wollte nicht. So schoß ich denn schließlich mit dem Revolver nach ihm ... traf ihn aber nicht ...

Recht wie ein Narr bin ich mir vorgekommen – das kann ich Ihnen sagen! Da stand ich – auf der verfluchten, öden Küste – hinter mir nichts als Sumpf – und vor mir nichts als das flache Meer in seiner Nach-Sonnenuntergangs-Kälte und das schwarze Kanoe, das langsam und sicher seewärts trieb. Ich kann Ihnen sagen – ich habe die Dawsons und Jamrachs und Museen und überhaupt alles zu allen Teufeln gewünscht! Ich brüllte hinter dem Nigger her zurückzukommen, bis meine Stimme nur noch ein Kreischen war.

Es half nichts – ich mußte ihm nachschwimmen und sehen, wie ich mit den Haien fertig wurde. Ich öffnete mein Klappmesser und nahm es in den Mund, zog meine Kleider aus und watete hinein. Sobald ich im Wasser war, verlor ich das Kanoe aus den Augen, aber ich hielt, so gut ich konnte grade darauf zu. Ich hoffte, der Mann drin würde zu dumm sein, ordentlich zu steuern, und es würde in derselben Richtung weitertreiben. Bald kam es auch so ungefähr gegen Südwest wieder über den Horizont herauf. Die Nachglut des Sonnenuntergangs war jetzt vollständig vorüber, und die Schatten der Nacht krochen herauf. Die Sterne kamen durch das Blau. Ich schwamm wie ein Preisschwimmer, so sehr mich auch bald meine Arme und Beine schmerzten.

Na, jedenfalls erreichte ich ihn, als die Sterne alle so nach und nach heraus waren. Als es dunkler wurde, fing ich an, allerhand glühende Körper im Wasser zu sehen – Phosphoreszenz – wissen Sie. Manchmal machte es mich ganz schwindlig. Ich wußte kaum, was Sterne waren und was Phosphoreszenz, und ob ich auf dem Kopf schwamm oder auf den Beinen. Das Kanoe war schwarz wie die Sünde, und das Wellengekräusel unter seinem Bug wie flüssiges Feuer. Natürlich hütete ich mich, gleich hineinzuklettern. Erst mußte ich sehen, was er trieb. Er schien, in einen Klumpen zusammengekauert, im Hinterteil des Boots zu liegen, der Stern ragte ganz aus dem Wasser. Das Ding drehte sich, während es trieb, langsam um sich selber – so eine Art Walzer – wissen Sie. Ich schwamm nach dem Stern und zog ihn herunter – erwartete natürlich, er würde aufwachen. Dann fing ich an hineinzuklettern – immer mit dem Messer in der Hand und auf einen Überfall gefaßt. Aber er regte sich überhaupt nicht. Schließlich saß ich in dem Stern des kleinen Kanoes und trieb über die stille, phosphoreszierende See, über mir das ganze Heer der Sterne, und wartete, daß irgend etwas geschehen würde.

Nach einer langen Weile rief ich ihn beim Namen, aber er antwortete nicht. Ich war zu müde, um mich der Gefahr auszusetzen, zu ihm hinzugehen. So saßen wir eben da. Ich vermute, ich bin ein- oder zweimal eingedöst. Als der Morgen dämmerte, sah ich, daß er mausetot war, wie ein Türnagel, und ganz gedunsen und blaurot. Meine drei Eier und die Knochen lagen mitten im Kanoe, die Wasserflasche und ein bißchen Kaffee und Biskuits in eine Zeitung eingewickelt zu seinen Füßen und eine Zinnflasche mit Methylspiritus unter ihm. Es war kein Ruder da, noch überhaupt irgend etwas außer der Spiritusflasche, was man statt dessen hätte benützen können; ich beschloß also, mich treiben zu lassen, bis man mich auflesen würde. Ich hielt Leichenschau über ihn, riet auf irgendeinen Skorpion oder ein unbekanntes Insekt, und warf ihn dann über Bord.

Darauf trank ich einen Schluck Wasser, aß ein paar Biskuits und sah mich um. Ein Mann, der so herunter ist, wie ich damals, sieht vermutlich überhaupt nicht weit; jedenfalls war keine Spur mehr von Madagaskar, überhaupt von Land mehr zu sehen. Ich sah ein Segel in südwestlicher Richtung gehen – es sah aus wie ein Schoner – aber der Rumpf kam überhaupt nicht herauf. Nach und nach stieg die Sonne immer höher und fing an, auf mich herunterzuprallen. Herrgott! Mir kochte fast das Gehirn! Ich versuchte meinen Kopf ins Wasser zu stecken; aber nach einer Weile fiel mein Blick auf die Zeitung, und ich legte mich flach ins Kanoe und breitete sie über mich. Wundervolle Erfindungen, die Zeitungen! Ich hatte noch nie vorher eine gründlich gelesen; aber es ist merkwürdig, auf was der Mensch alles verfallen kann, wenn er allein ist, wie ich's war. Ich glaube, ich hab' diesen alten, famosen ›Cap-Argus‹ wohl zwanzigmal gelesen. Die Verpichung des Kanoes rauchte geradezu vor Hitze und warf große Blasen.«

»Zehn Tage lang trieb ich so,« sagte der Mann mit der Narbe. »Eine Kleinigkeit, wenn man's so erzählt, nicht? Jeder Tag glich dem vorhergehenden. Außer morgens und abends hielt ich nicht einmal Ausschau – die Hitze war zu höllisch! Nach den ersten drei Tagen sah ich überhaupt kein Segel mehr, und die paar, die ich sah, bemerkten mich gar nicht. Ungefähr in der sechsten Nacht fuhr kaum eine halbe Meile von mir entfernt ein Schiff vorüber, alle Lichter angezündet und die Luken offen – wie eine große Feuerfliege sah es aus. An Bord war Musik. Ich stand auf und schrie und kreischte hinüber. Am zweiten Tag brach ich eins von den Äpyorniseiern an – kratzte an einem Ende die Schale weg, Stück für Stück, und versuchte es und freute mich, als ich fand, daß man es gut essen konnte. Es schmeckte ein bißchen herb – ich meine nicht schlecht, sondern so was von dem Geschmack, den Enteneier haben. Auf der einen Seite des Dotters war eine Art kreisrunder Fleck, ungefähr sechs Zoll im Durchmesser, mit blutigen Streifen drin und einer weißen, leiterartigen Stelle, die mir sonderbar vorkam; aber ich begriff damals nicht, was es bedeutete, und war auch keineswegs geneigt, wählerisch zu sein. Das Ei mit Zwieback und einem Schluck Wasser reichte mir drei Tage lang. Daneben kaute ich Kaffeebohnen – recht erfrischend und belebend. Das zweite Ei öffnete ich ungefähr am achten Tag – und war ganz bestürzt.«

Der Mann mit der Narbe hielt einen Augenblick inne. – »Ja,« sagte er dann – »im Entwickeln begriffen.

»Ich kann mir wohl denken – es wird Ihnen schwer das zu glauben. Mir war's das – trotzdem ich das Ding vor mir sah. Da hatte nun das Ei, in dem kalten, schwarzen Schlamm versunken, gelegen – vielleicht dreihundert Jahre lang. Aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Der – wie heißt es doch gleich? – Embryo war da, mit seinem dicken Kopf und gekrümmten Rücken und dem Herzschlag in der Kehle, und der Dotter ganz zusammengeschrumpft und große Membrane überall innen an der Schale und im Dotter. Da saß ich – und brütete die Eier des größten aller ausgestorbenen Vögel aus – in einem kleinen Kanoe mitten im Indischen Ozean! Wenn der alte Dawson das gewußt hätte! Das war schon vier Jahre Gehalt wert! Was meinen Sie?

Na, einerlei – ich mußte das kostbare Zeug aufessen, bis auf das letzte Bißchen, eh' ich das Riff erblickte; und ein paar von den Bissen waren scheußlich unangenehm. Das dritte ließ ich. Ich hielt es gegen das Licht, aber die Schale war zu dick, als daß ich auch nur einen schwachen Schimmer hätte sehen können von dem, was inwendig vor sich ging. Und obgleich ich mir einbildete, ich hörte Blut pulsieren, so konnte das auch ein Sausen in meinen eigenen Ohren sein, so wie wenn man an einer Muschel horcht.

Dann kam das Atoll. Ganz plötzlich kam es, mitten aus dem Sonnenaufgang, dicht neben mir. Ich trieb geradeswegs darauf zu, bis ich nur noch ungefähr eine halbe Meile vom Ufer entfernt war; dann bog die Strömung ab, und ich mußte mit den Händen und mit Stücken der Äpyorniseierschalen rudern nach Leibeskräften, um ans Land zu kommen. Na, jedenfalls kam ich hin. Es war ein gewöhnliches Atoll, eine Koralleninsel im Umfang von ungefähr vier Meilen, mit ein Paar Bäumen und einer Quelle an einer Stelle, und die Lagune voll von Papageifischen. Ich schaffte das Ei ans Land und legte es an einen geschützten Ort, wo die Flut es nicht erreichte, und die Sonne drauf schien, um ihm jede Möglichkeit zu verschaffen; darauf zog ich das Kanoe auf den Strand und zog auf Entdeckungsreisen aus. Merkwürdig, wie langweilig solch ein Atoll ist! Sobald ich eine Quelle gefunden hatte, schien alles Interesse erschöpft zu sein. Als ich ein Junge war, dachte ich, nichts könnte schöner und abenteuerlicher sein als so eine Robinson-Crusoe-Geschichte; aber das Ding war so einförmig wie ein Predigtbuch. Ich wanderte umher und suchte mir meine Nahrung und dachte dabei an allerhand; aber ich kann Ihnen sagen, ich langweilte mich fast zu Tode, noch eh' der erste Tag um war. Wissen Sie, ich hatte Glück gehabt – noch am selben Tag, als ich landete, schlug das Wetter um. Gegen Norden zog ein Gewitter auf, das auch die Insel streifte; in der Nacht kam ein Platzregen, und der Sturm heulte und tobte über uns hin. Wissen Sie – viel hätte nicht dazu gehört, das Kanoe umzukippen.

Ich schlief unter dem Kanoe, und das Ei lag glücklicherweise weiter oben am Ufer im Sand. Das erste, woran ich mich erinnere, war ein Lärm, als ob hundert Kieselsteine gleichzeitig gegen das Boot prasselten, und ein Sturz Wasser über meinen ganzen Körper. Ich hatte eben von Antananarivo geträumt, und ich richtete mich auf und rief nach Intoshi, um sie zu fragen, was zum Henker denn los wäre, und tastete nach dem Stuhl, wo die Streichhölzer immer lagen. Dann fiel mir ein, wo ich war. Phosphoreszierende Wellen rollten einher, als wollten sie mich auffressen, sonst die Nacht um mich her pechschwarz. Die Luft heulte förmlich. Die Wolken lagen einem fast auf dem Kopf, und der Regen strömte, als ob der Himmel versänke, und sie droben über dem Firmament das Wasser ausschöpften. Eine große Woge kam zischend, wie eine feurige Schlange, auf mich zugerollt; da riß ich aus. Gleich darauf fiel mir das Kanoe ein, und als das Wasser fauchend zurückstürzte, lief ich wieder hinunter; aber das Ding war fort. Darauf kam mir der Gedanke an das Ei, und ich tastete mich dazu hin. Es war völlig in Ordnung und gut außer Bereich der tollsten Wellen; und ich setzte mich daneben und streichelte es wie einen guten Kameraden. Herrgott! War das eine Nacht!

Vor Tagesanbruch war der Sturm vorüber. Auch kein Wolkenfetzchen war mehr am Himmel, als es anfing zu dämmern, und am ganzen Strand entlang lagen Brettertrümmer verstreut – sozusagen das aufgelöste Skelett meines Kanoes. Na, das gab mir jedenfalls was zu tun; ich errichtete unter Zuhilfenahme von zwei oder drei beieinanderstehenden Bäumen mit den Überresten eine Schutzhütte. Und just an diesem Tag war das Ei ausgebrütet.

Ausgebrütet, Verehrtester – während ich meinen Kopf darauf gebettet hatte und schlief! Ich hörte einen Bums und fühlte ein Krachen und fuhr auf, – und da sah ich: das eine Ende des Eis war aufgepickt, und ein sonderbarer kleiner, brauner Kopf guckte mich draus an. – ›Donnerwetter!‹ sagte ich. ›Grüß Gott!‹ Und unter einiger Schwierigkeit kam er heraus.

Er war ein netter, freundlicher, kleiner Kerl, im Anfang – so ungefähr von der Größe einer kleinen Henne – ganz ähnlich wie die meisten jungen Vögel – bloß größer. Sein Gefieder war anfänglich schmutzig-braun – mit einer Art grauer Kruste darauf, die sehr bald abfiel; eigentlich keine Federn – eine Art flaumigen Haars. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich war, als ich ihn sah! Glauben Sie mir – Robinson Crusoe schlachtet seine Einsamkeit lang nicht genug aus! Jedenfalls – es war eine interessante Gesellschaft. Er guckte mich an und kniff ein Auge zu – von vorn nach hinten, wie ein Huhn, und zirpte, und fing an, herumzupicken, als ob das – So-dreihundert-Jahre-zuspät-ausgebrütet-Sein – rein gar nichts wäre! – ›Freu' mich, deine Bekanntschaft zu machen, Mann Freitag!‹ sag' ich. Denn natürlich war es – sobald ich entdeckte, daß das Ei im Kanoe im Zustand der Entwicklung war, eine abgemachte Sache gewesen, daß er Freitag heißen würde, wenn er überhaupt auskröche –. Seine Ernährung machte mir ein bißchen Sorge; ich gab ihm darum gleich ein tüchtiges Stück Papageifisch. Er nahm's und riß den Schnabel auf – wollte mehr! Das freute mich; denn so, wie die Umstände nun einmal lagen – wenn er besonders wählerisch gewesen wäre, hätte ich ihn schließlich eben doch selber aufessen müssen.

Sie können sich gar nicht denken, was für ein interessanter Vogel dies Äpyorniskücken war. Gleich von Anfang an lief er hinter mir drein. Er stand neben mir und wartete, während ich in der Lagune fischte, und nahm sich seinen Anteil von allem, was ich fing. Dabei war er auch ganz verständig. Es gab da gewisse eklige, grüne, warzige Dinger, so ungefähr wie eingemachte Essiggurken, die am Strand herumlagen; und einmal probierte er eins davon, und das schmiß ihn um. Von da ab sah er die Dinger überhaupt nicht mehr an.

Und wachsen tat er! Man sah ihn ordentlich wachsen! Und da ich nie ein besonderer Gesellschaftsmensch gewesen war, so behagte mir seine ruhige, freundliche Art ganz ausgezeichnet. Fast zwei Jahre lang waren wir beide miteinander so glücklich als man überhaupt sein konnte auf unserer Insel. Geschäftssorgen hatte ich nicht – ich wußte ja, mein Gehalt lag und heckte bei den Dawsons. Ab und zu sahen wir ein Segel – aber in unsere Nähe kam nie eines. Ich schaffte mir einen Zeitvertreib, indem ich die Insel mit aus allerhand mannigfaltigen Seesternen und Muscheln gebildeten Ornamenten dekorierte, überall, auf dem ganzen Ort herum, schrieb ich ›Äpyornisinsel‹ – in großen Buchstaben – so ungefähr wie man's an Bahnhöfen in farbigen Steinen sieht drüben in der Heimat – und mit mathematischen Berechnungen und allerhand Zeichnungen. Wie oft lag ich und beobachtete meinen geliebten Vogel, wie er herumstelzte und wuchs – und wuchs; und dachte dabei, wie ich mir ein Vermögen verdienen würde, wenn ich ihn ausstellte – wenn ich überhaupt je wieder von hier wegkäme. Nach der ersten Mauserung fing er an, schön zu werden – mit einem Schopf und einem blauen Bart und einem ganzen Strauß grüner Federn hinten. Dann besann ich mich oft, ob eigentlich die Dawsons ein Recht auf ihn hätten oder nicht. Wenn es stürmisches Wetter war und in der Regenzeit lagen wir gemütlich in der Schutzhütte, die ich aus dem alten Kanoe gemacht hatte, und ich erzählte ihm allerhand Märchen über meine Leute daheim. Und nach dem Sturm wanderten wir miteinander um die Insel herum und sahen, ob irgendwas angetrieben war. Es war so recht ein Idyll – oder wie Sie's nennen wollen. Hätt' ich bloß ein bißchen Tabak gehabt – es wäre einfach ein Paradies gewesen!

Es ging so ungefähr aufs Ende des zweiten Jahres zu – da stimmte die Sache nicht mehr so recht in unserm kleinen Paradies. Freitag war jetzt so ungefähr vierzehn Fuß hoch – bis zum Schnabel – mit einem breiten, großen Kopf – etwa wie das Breitteil einer Picke – und zwei ungeheuren braunen, gelbumränderten Augen, die nebeneinander standen wie Menschenaugen – nicht seitwärts, wie Hühneraugen. Sein Gefieder war prächtig – nicht so etwa im Halbtrauerstil des Strauß, – eher wie das eines Kasuar – – was Farbe und Feinheit anbelangt. Und dann – auf einmal – fing er an, einen Schopf gegen mich zu stellen und sich aufzuplustern und alle Anzeichen eines recht bösen Temperaments zu zeigen ...

Schließlich kam denn eine Zeit, in der ich ziemlich Pech hatte beim Fischen; und da fing er an, mit einem seltsam nachdenklichen Ausdruck um mich herumzulaufen. Ich dachte erst, er hätte vielleicht Seegurken oder sonst was gefressen; aber tatsächlich war es Unzufriedenheit und weiter nichts, was ihn plagte. Ich war selber auch hungrig; und als ich schließlich einmal einen Fisch fing, wollte ich ihn für mich ... Wir waren beide an jenem Morgen nicht in der besten Laune. Er pickte danach und packte ihn – und ich gab ihm einen kleinen Knuff an den Kopf, damit er ihn fahren lassen sollte ... Und da fuhr er auf mich los. Donnerwetter! ...

Das da hat er mir ins Gesicht gehauen!« Und der Mann deutete auf seine Narbe. »Und dann schlug er nach mir aus. Wie ein Fußtritt von einem Pferd war es. Ich stand auf, und weil ich sah, daß noch weiter kommen würde, machte ich, daß ich fortkam – beide Arme überm Gesicht gekreuzt. Aber er rannte auf seinen langen, hageren Beinen schneller als ein Renngaul und hieb dabei immerzu nach mir – wie ein Schmiedehammer – und hämmerte mit seiner Pickaxt unentwegt auf meinen Hinterkopf. Ich lief der Lagune zu und watete schließlich bis an den Hals hinein. Als er ans Wasser kam, blieb er stehen – er vertrug's ums Leben nicht, daß ihm die Füße naß wurden – und hub ein Geschrei an – so ungefähr wie das eines Pfaus, bloß noch unmelodischer. Dann stolzierte er am Ufer auf und ab. Ich muß gestehen – ich kam mir sehr klein vor, als ich sah, wie das liebe Fossilium sich so aufspielte. Kopf und Gesicht bluteten mir und – na ja, mein ganzer Körper war ein einziger Brei von lauter Wunden ...

Ich beschloß, über die Lagune zu schwimmen und ihn eine Weile allein zu lassen, bis die Sache wieder ins Gleichgewicht gekommen wäre. Ich kletterte auf den höchsten Palmbaum, und da saß ich und überlegte mir die Geschichte. Ich glaube, zeit meines Lebens hat mich nichts so gekränkt wie das. Einfach die brutale Undankbarkeit dieses Geschöpfs. Mehr als ein Bruder war ich ihm gewesen. Hatte ihn ausgebrütet, ihn aufgezogen. Ein großer, plumper, vorsintflutlicher Vogel! Und ich – ein menschliches Lebewesen – der Erbe von Jahrtausenden und wer weiß was alles!

Ich dachte, nach einer Weile würde er schon von selbst anfangen, alles auch in diesem Licht zu sehen und sich ein bißchen zu schämen ob seines Benehmens. Ich dachte, wenn ich vielleicht bald ein paar anständige Fische fangen und dann mich ihm so unversehens nähern und sie ihm anbieten würde, so würde er vernünftig sein. Es kostete mich eine ganze Weile, bis ich lernte, wie rachsüchtig und unversöhnlich so ein vorsintflutlicher Vogel sein kann! Einfach aus Bosheit!

Ich will nichts weiter sagen von all den kleinen Anstrengungen, die ich machte, um den Vogel wieder freundlich zu stimmen. Ich kann's einfach nicht. Noch heute werde ich schamrot beim bloßen Gedanken an all die Demütigungen und Zurückweisungen, die dies verdammte Kuriosum mir auferlegte! Ich versuchte es mit Gewalt. Ich warf von sicherer Entfernung aus mit Korallenstücken nach ihm; aber er verschlang sie bloß. Ich schleuderte mein offenes Messer nach ihm und verlor es fast, obwohl es zu groß war, als daß er es hätte verschlucken können. Ich versuchte ihn auszuhungern und hörte auf zu fischen; aber er pickte während der Ebbe den ganzen Strand nach Würmern ab und brachte sich auf die Art durch. Die Hälfte meiner Zeit verbrachte ich bis zum Hals im Wasser und die andere Hälfte auf irgendeiner Palme. Eine davon war nicht hoch genug, und als er mich darauf erwischte, feierte er wahre Orgien an meinen Waden. Es wurde ganz unerträglich. Ich weiß nicht, ob Sie je versucht haben, auf einer Palme zu schlafen. Ich hatte das scheußlichste Alpdrücken dabei. Und dann – bedenken Sie doch – die Schande! Auf der einen Seite dies ausgestorbene Biest, das wie ein ungnädiger Herzog auf der Insel herumstelzte – und auf der andern Seite ich – dem nicht einmal gestattet war, auch nur den Fuß an Land zu setzen! Ich habe oft geweint vor Ärger und Ermüdung! Ich schrie es ihm ins Gesicht, daß ich keine Lust hätte, mich von so einem verdammten Anachronismus auf einer öden Insel schikanieren zu lassen. Ich forderte ihn auf, sich doch einen Seefahrer aus seinem eigenen Zeitalter herauszupicken. Aber er fletschte bloß seinen Schnabel nach mir. Scheußliches, riesiges Biest – nichts als Beine und Hals!

Wie lang das so im ganzen weiterging, möcht' ich gar nicht sagen. Ich hätt' ihn schon eher umgebracht, wenn ich bloß gewußt hätte wie. Na, jedenfalls fand ich schließlich ein Mittel, ihn unschädlich zu machen. Es ist ein südamerikanischer Trick. Ich band alle meine Angelschnüre zusammen – mit Seegras und so was, – und machte so eine Art fester Leine, vielleicht zwölf Meter lang oder noch mehr; und an den Enden befestigte ich zwei Klumpen Korallenklippe. Ich brauchte eine ganze Weile dazu; denn ich mußte dazwischen immer wieder mich in die Lagune oder auf eine Palme flüchten – je nachdem. Schließlich schwang ich die Leine so schnell wie möglich über meinem Kopf und warf sie nach ihm. Das erstemal fehlte ich; aber das zweitemal schlang sich der Strick prächtig um seine Beine, immer wieder und wieder ... Plumps! Er fiel um. Ich stand dabei bis zur Hüfte in der Lagune; und sobald er am Boden lag, war ich auch schon aus dem Wasser und sägte mit meinem Messer an seinem Hals ...

Noch jetzt mag ich gar nicht daran denken. Wie ein Mörder kam ich mir dabei vor, so zornig ich auch auf ihn war. Als ich so über ihn gebückt stand und ihn bluten sah auf dem weißen Sand – und seine schönen, großen Beine im letzten Todeskampf zuckten und schlugen ... Bah!

Mit dieser Tragödie kam die Einsamkeit über mich gleich einem Fluch. Großer Gott! Sie können sich gar keinen Begriff davon machen, wie ich Heimweh hatte nach dem Vogel! Ich saß neben dem Kadaver und betrauerte ihn, und es fröstelte mich ordentlich, wenn ich über das öde, stumme Riff hinblickte! Ich dachte daran, was für ein lustiges, kleines Tier er gewesen war als neuausgekrochenes Kücken, und an tausend heitere Streiche, die er mir gespielt hatte, eh' alles so schief ging. Ich dachte, wenn ich ihn bloß verwundet hätte, so hätt' ich ihm so nach und nach ein besseres Verständnis anpflegen können. Wenn ich irgendwie die Möglichkeit gehabt hätte, die Korallenfelsen aufzugraben, so hätte ich ihn gern beerdigt. Mir war ganz zumute, als war' er etwas Menschliches. Ich konnte, so wie die Verhältnisse lagen, gar nicht daran denken, ihn aufzuessen; so warf ich ihn denn in die Lagune, und die kleinen Fische pickten ihn sauber ab. Nicht einmal die Federn behielt ich zurück. Dann – eines Tages – kam irgendein Kerl, der in einer Jacht draußen herumsegelte, auf den Gedanken, nachzusehen, ob mein Atoll noch existierte ...

Er kam wirklich keinen Augenblick zu früh. Ich war ganz krank vor lauter Verlassenheit und wußte bloß noch nicht, ob ich einfach ins Wasser gehen sollte, um der Sache auf die Art ein Ende zu machen, oder lieber am Land ...

Ich verkaufte dann die Knochen an einen Mann namens Winslow – einen Händler in der Nähe des Britischen Museums – und er behauptet, er hätte sie an den alten Havers weiterverkauft. Havers hat, wie es scheint, gar nicht begriffen, daß sie so besonders groß waren, und so wurde man erst nach seinem Tode auf sie aufmerksam. Man nannte sie dann Äpyornis – wie war es doch?«

» Aepyornis vastus,« sagte ich. »Komisch – vor kurzem noch hat einer meiner Freunde grade davon gesprochen. Als sie einen Äpyornis mit einem meterlangen Schenkelknochen fanden, glaubten sie, sie hätten das Höchste erreicht und nannten ihn Aepyornis maximus. Darauf brachte irgend jemand anders einen vier Fuß und sechs Zoll langen Schenkelknochen – und den nannten sie Aepyornis Titan. Schließlich – nachdem der alte Havers gestorben war, fand man Ihren vastus in seiner Sammlung, und zuletzt tauchte noch ein vastissimus auf.«

»Ja, das hat mir Winslow erzählt,« sagte der Mann mit der Narbe. »Und wenn Sie noch mehr Äpyornisse finden,« meinte er, »wird sicher irgendein Wissenschaftsgigerl einen Schlaganfall kriegen. Immerhin – was? – Es war doch ein merkwürdiges Erlebnis!«


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