Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Da sitzt er – keine zehn Schritt von mir! Ich brauche bloß den Kopf zu drehen, so seh' ich ihn. Und wenn ich seinem Blick begegne – und wann begegnete ich seinem Blick nicht? – so liegt darin ein Ausdruck ... flehend in der Hauptsache. Und doch auch ein wenig mißtrauisch ...
Der Kuckuck hol's, dies Mißtrauen! Wenn ich ihn verklatschen wollte, – ich hätt' es ja längst getan! Aber ich bin kein altes Waschweib ... kann er nicht friedlich sein? Na ja, als ob so ein dicker, fetter Kerl überhaupt friedlich sein könnte! Übrigens – wer würd' mir's überhaupt glauben, wenn ich's erzählte?
Armer alter Kerl! Großer, dicker, ewig unruhiger Wackelpeter! Der fetteste Klubmensch in ganz London!
Da sitzt er – an einem der kleinen Klubtische – in dem großen Erker neben dem Kamin. Und futtert. Was futtert er eigentlich wieder? Ich blicke scharf hinüber und erwische ihn, wie er eben ein großes Stück von einem warmen Butterkuchen abbeißt ... unentwegt den Blick auf mich gerichtet. Der Kuckuck hol' ihn! Immer den Blick auf mich gerichtet!
Aber weißt du, lieber Peycraft, das schlägt denn doch dem Faß den Boden aus! Wenn du einmal so gemein sein mußt, wenn du dich absolut gebärden mußt, als wär' ich kein Mann von Ehre ... na schön! Hier, direkt unter deiner fettumpolsterten Nase will ich die Geschichte auch niederschreiben ... nackt und unverhüllt ... die Geschichte von Peycrafts Kur! Die Geschichte dieses Menschen, dem ich geholfen hab', den ich beschützt hab', und der mir zum Dank dafür meinen Klub verleidet hat – – absolut verleidet! Einfach durch sein ewiges schwammiges Da-Sein! Einfach durch sein ewiges flehentliches Anstarren: Nicht petzen, nein?
Und überhaupt ... warum muß der Kerl immerzu futtern?
Na! Nun aber soll mal die Wahrheit zutage! Die glatte Wahrheit! Und nichts als die Wahrheit!
Also – Peycraft ... Seine Bekanntschaft machte ich eben in diesem Rauchzimmer. Ich war damals ein neues Klubmitglied ... jung ... und nervös ... Und das sah er. Ich saß ganz allein und wünschte, ich kennte doch mehr Menschen hier; da kam er plötzlich auf mich zu ... eine große, fette Masse ... ein Kinn und ein Bauch ... und grunzte irgend etwas und setzte sich auf einen Sessel dicht neben mich. Darauf schnaufte er eine Weile, kratzte mit einem Streichholz herum und redete mich schließlich an. Was er sagte, hab' ich vergessen ... irgendwas wie, daß die Streichhölzer nichts taugten. Und auch später, als er immer weiter sprach, unterbrach er sich, so oft ein Kellner vorbeikam, um sich in seiner dünnen Fistelstimme über die Streichhölzer zu beklagen. Na, jedenfalls – so ungefähr fing unsere Bekanntschaft an. Er redete von wer weiß was allem und kam schließlich auf den Sport. Und von da auf meine Figur und meinen Teint. »Wenn einer, so müßten Sie ein guter Kricketspieler sein!« sagte er. Nun glaub' ich ja, ich bin schlank – so schlank, daß manche es schon hager nennen würden. Und ziemlich brünett bin ich auch, glaub' ich ... Na ja, zu schämen brauch' ich mich ja nicht, daß ich eine Hindu-Urgroßmutter habe. Aber immerhin ... ich lieb' es nicht, wenn landfremde Menschen das so auf den ersten Blick herausfinden. So daß ich wirklich von Anfang an recht gegen Peycraft eingenommen war.
Der aber sprach bloß von mir, um auf sich selbst zu kommen.
»Wahrscheinlich,« sagte er, »machen Sie sich auch nicht mehr Bewegung als ich und essen auch wohl kaum weniger.« (Wie alle ganz besonders gefräßigen Menschen bildete er sich ein, er esse überhaupt nichts.) »Und doch« – er lächelte verschlagen – »sind wir so verschieden.«
Und damit fing er an und sprach von seiner Korpulenz, endlos von seiner Korpulenz; von allem, was er gegen seine Korpulenz tue, und was er noch gegen seine Korpulenz tun wolle, was ihm die Leute geraten hätten, gegen seine Korpulenz zu tun, und was er gehört hätte, daß andere gegen ihre Korpulenz getan hätten. » A priori,« sagte er, »sollte man doch denken, einer Frage der Ernährung könnte man durch Diät beikommen und der Frage der Stoffbildung durch Mittel.« Es war zum Ersticken! Es war zum Platzen. Wie vollgepfropft von festen Mehlklößen kam ich mir vor, wie ich so zuhörte!
So was läßt man sich schließlich, wenn's sein muß, in einem Klub einmal gefallen. Aber es kam eine Zeit, in der ich doch das Gefühl hatte, ich ließe mir zu viel gefallen. Es war zu verdächtig, wie er sich an mich hing! Sobald ich ins Rauchzimmer trat, kam er auch schon auf mich zugequabbelt; und oft, wenn ich frühstückte, kam er auch und wälzte sich um mich herum. Manchmal schien es fast, als klammerte er sich geradezu an mich an. Unausstehlich war der Kerl; wenn sich seine Unausstehlichkeit auch nicht allein auf mich konzentrierte. Aber von Anfang an lag in seinem ganzen Benehmen etwas – ja, fast als wüßte er – als erriete er, daß ich vielleicht – – – daß für ihn in mir eine ganz ferne, außergewöhnliche Möglichkeit lag, die niemand sonst ihm zu bieten hatte ...
»Alles würd' ich geben drum, wenn ich abnehmen könnte,« sagte er immer wieder. »Alles!« Und dabei blinzelte er mich über seine umfangreichen Backen weg an und schnaufte ...
Armer alter Kerl! Eben hat er geklingelt – – jedenfalls um noch einen Butterkuchen zu bestellen!
Eines Tages kam er endlich zur Sache. »Unsere Arzneikunde,« sagte er, »unsere abendländische Arzneikunde hat in der medizinischen Wissenschaft noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Im Orient, hab' ich mir sagen lassen – –«
Er verstummte und stierte mich an. Ich kam mir vor wie in einem Aquarium.
Ein plötzlicher Zorn gegen ihn überkam mich. »Sagen Sie mal,« sagte ich, »wer hat Ihnen von den Rezepten meiner Urgroßmutter erzählt?«
»Wieso?« versuchte er auszuweichen.
»Seit acht Tagen – so oft wir zusammen waren« – sagte ich – »und wir waren oft genug zusammen, wahrhaftig! – haben Sie nichts anderes getan, als auf diesem meinem kleinen Privatgeheimnis herumzureiten!«
»Na schön!« sagte er. »Die Katze ist ja doch einmal aus dem Sack. Also ja – ich geb's zu. Ich weiß es von – –«
»Von Pattison?«
»Indirekt,« sagte er (natürlich war das erlogen!). »Ja.« »Pattison,« sagte ich, »hat das Zeug ganz auf seine eigene Verantwortung hin geschluckt!«
Er kniff die Lippen zusammen und machte mir eine Verbeugung.
»Die Rezepte meiner Urgroßmutter,« fuhr ich fort, »sind wirklich nicht so ganz einfach zu handhaben. Mein Vater war drauf und dran, mir das Versprechen abzunehmen – – –«
»Und hat er's getan?«
»Nein. Aber gewarnt hat er mich. Er hat selber einmal eins gebraucht. Ein einziges Mal.«
»Ah! ... Aber was meinen Sie? – – – Wenn – – wenn also zum Beispiel zufällig eins dabei wäre, das ...«
»Es sind sonderbare Dokumente, die Dinger!« sagte ich. »Schon allein, wie sie riechen ... Nein!«
Aber da er mich nun doch mal so weit hatte, war Peycraft auch ganz entschlossen, mich noch weiter zu treiben. Ich muß gestehen ... in mir steckte immer eine Art Angst, er könnte, wenn ich seine Geduld auf eine gar zu harte Probe stellte, auf einmal über mich herfallen und mich erdrücken. Nun ja, ich war ja feige, ich gesteh's. Aber Peycraft erboste mich auch! Ich war nach und nach so weit gekommen, daß ich die größte Lust hatte zu sagen: »Na, also, so riskieren Sie's doch!« Die kleine Sache mit Pattison, auf die ich angespielt habe, war überhaupt etwas ganz anderes gewesen. Was, das gehört nicht hierher; jedenfalls wußte ich, daß das Rezept, das ich damals anwendete, harmlos war. Von den übrigen wußte ich weiter nicht viel; aber ihre Harmlosigkeit schien mir immerhin mehr als zweifelhaft.
Und doch – schließlich wenn Peycraft sich damit vergiftete – – –
Ich muß gestehen – Peycraft vergiften – das stand vor mir wie ein Riesenunternehmen!
Noch am selben Abend holte ich den merkwürdigen, seltsam duftenden Sandelholzkasten aus meinem Geldschrank und besah mir die raschelnden Pergamente. Der alte Herr, der die Rezepte für meine Urgroßmutter aufschrieb, hatte augenscheinlich eine Schwäche für Tierfelle allerwinzigsten Ursprungs besessen, und seine Schrift war fast unleserlich klein. Ja, manches war tatsächlich vollständig unleserlich für mich, obgleich sich in meiner Familie, durch ihre Beziehungen zum indischen Kolonialdienst, die Kenntnis des Hindostani von Generation zu Generation fortgeerbt hat. Ganz klar und deutlich war überhaupt keins. Trotzdem fand ich das eine, von dessen Vorhandensein ich wußte, bald genug; und eine ganze Weile hockte ich neben meinem Geldschrank auf dem Boden und guckte es an.
»Also – halt!« sagte ich am nächsten Tag zu Peycraft, indem ich das Pergament noch gerade vor seinem gierigen Griff rettete. »So viel ich davon verstehe, ist das ein Rezept für Abnahme von Körpergewicht.« (»Ha!« sagte Peycraft.) »Ganz sicher bin ich nicht. Aber ich glaube, es ist so. Und wenn ich Ihnen gut raten soll, so lassen Sie die Finger davon! Denn sehen Sie, Peycraft – ich schwärze in Ihrem Interesse nur mein eigen Fleisch und Blut an! – meine Vorfahren nach der Seite hin waren, so viel ich weiß, ein bißchen merkwürdiger Art – wissen Sie?«
»Ich möcht's versuchen!« sagte Peycraft.
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Meine Phantasie versuchte, sich zu einer mächtigen Leistung aufzuschwingen – – und sank hoffnungslos in sich zusammen. »Wie ums Himmels willen stellen Sie sich das vor, Peycraft,« fragte ich, »wie Sie aussehen werden, wenn Sie mager sind?«
Aber da halfen keinerlei Vernunftgründe. Ich nahm ihm also das Versprechen ab, nie wieder – was auch geschähe – mir gegenüber ein Wort über seine widerliche Korpulenz zu verlieren, – nie wieder. – – Und daraufhin überließ ich ihm das kleine Stückchen Pergament.
»Ekliges Zeug ist es,« sagte ich.
»Einerlei,« sagte er. Und nahm es.
Er glotzte es an. »Aber ... aber ...« stotterte er.
Denn er hatte eben entdeckt, daß es nicht Englisch war.
»Ich werde Ihnen, so gut ich kann, die Geschichte übersetzen,« erwiderte ich.
Ich übersetzte es auch – so gut ich konnte. Daraufhin redeten wir vierzehn Tage lang überhaupt nicht miteinander. So oft er sich mir näherte, runzelte ich die Stirn und bedeutete ihm, mir vom Leib zu bleiben. Und er respektierte unsern Vertrag. Aber nach den vierzehn Tagen war er so dick wie zuvor. Schließlich bestand er darauf zu reden.
»Ich muß reden,« sagte er. »Die Geschichte stimmt nicht. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Es hat nicht geholfen. Sie verunrechten Ihre Urgroßmutter!«
»Wo ist das Rezept?«
Er zog es behutsam aus seiner Brieftasche.
Ich überflog die einzelnen Zutaten.
»War das Ei faul?« fragte ich.
»Nein. Hätt' es das sein sollen?«
»Das,« erwiderte ich, »versteht sich ganz von selbst in allen Rezepten meiner geliebten Urgroßmutter. Wo besondere Vorschriften betreffs Qualität usw. fehlen, müssen Sie immer das Schlechteste nehmen. Wenn sie was war, so war sie drastisch ... Dann sind da – bei ein paar anderen Dingen – noch allerhand Möglichkeiten ... Sie haben frisches Klapperschlangengift genommen?«
»Ja. Ich hab' mir eine Klapperschlange verschafft. Sie kostete – kostete ...«
»Na ja, das ist Ihre Sache! Und hier – diese letzte Zutat ...«
»Ich weiß einen Mann, der ...«
»Jawohl. Hm. Na schön ... ich werd' alles noch einmal aufschreiben. Soweit ich's verstehe, sind die Zutaten gerade zu dem Rezept besonders scheußlich. Übrigens – Hund – das soll hier wahrscheinlich Paria-Hund heißen.«
Von da ab sah ich Peycraft vier Wochen lang täglich im Klub – so fett und so sorgenvoll wie je. Er hielt zwar unsern Vertrag ein, brach ihn aber doch von Zeit zu Zeit im Geist, indem er verzweiflungsvoll den Kopf schüttelte. Dann – eines Tags, in der Garderobe, sagte er: »Ihre Urgroßmutter ...«
»Bitte! Kein Wort ...!« Und er gab wieder Frieden.
Schon dachte ich fast, er sei von der Sache abgekommen; eines Tages sah ich ihn sogar drei neuen Klubmitgliedern gegenüber von seiner Korpulenz sprechen, als ob er wieder auf der Jagd nach neuen Rezepten wäre. Da – ganz unerwartet – kam seine Depesche.
»Mr. Formalyn!« kreischte dicht unter meiner Nase ein kleiner Laufjunge. Ich nahm das Telegramm und öffnete es sofort.
»Ums Himmels willen kommen Sie! – Peycraft.«
»Hm!« sagte ich. Ehrlich gestanden – ich freute mich so über die Ehrenrettung, die dies für das Renommee meiner Urgroßmutter verhieß, daß ich mir ein ganz besonders gutes Frühstück leistete an diesem Tag.
Vom Portier erfuhr ich Peycrafts Adresse. Er bewohnte den Oberstock eines Hauses in Bloomsbury, und sobald ich meinen Kaffee und Likör zu mir genommen hatte, verfügte ich mich dorthin. Nicht einmal meine Zigarre rauchte ich zu Ende.
»Mr. Peycraft?« fragte ich an der Haustür.
Er sei krank – hieß es; schon seit zwei Tagen sei er nicht ausgegangen.
»Ich werde erwartet,« sagte ich. Darauf wurde ich nach oben gewiesen. An der Glastür klingelte ich.
»Na ja, er hätt' es eben nicht unternehmen sollen!« dachte ich.
»Ein Mensch, der frißt wie ein Schwein, der darf auch aussehen wie ein Schwein!«
Eine ungeheuer würdevolle Dame mit sorgenvollem Gesicht und schiefsitzender Haube erschien hinter der Glastür und begutachtete mich.
Ich nannte meinen Namen, und sie öffnete – nicht ohne Mißtrauen.
»Nun?« sagte ich, als wir endlich nebeneinander auf Peycrafts Korridor standen.
»Er hat gesagt, wenn Sie kämen, möchten Sie hineinkommen,« erwiderte sie. Dabei starrte sie mich an, machte jedoch keinerlei Anstalten, mich irgendwohin zu führen. Nach einer Weile fügte sie vertraulich hinzu: »Er hat sich eingeschlossen.«
»Eingeschlossen – gestern morgen – – und hat seither niemand zu sich gelassen. Und fluchen tut er dabei manchmal! Oh Gott!«
Ich blickte nach der Tür, die ihre Augen zu bezeichnen schienen. »Da drin?« fragte ich.
»Ja.«
»Was ist denn los?«
Sie schüttelte kummervoll den Kopf. »Er schreit bloß in einem fort nach Essen. Möglichst schwere Sachen will er. Ich tu ja, was ich kann. Schweinebraten hab' ich ihm gebracht und Pudding und Wurst und frisches Brot. All so was. Alles vor die Tür gestellt – bitte –! Ich selber muß immer weggehen. Essen tut er ... ganz fürchterlich!«
Ein fistelhaftes Kreischen kam durch die Tür: »Formalyn?«
»Peycraft?« rief ich. Ich lief an die Tür und klopfte.
»Schicken Sie sie weg.«
Das tat ich denn.
Darauf vernahm ich ein sonderbares Tappen an der Tür, fast, als ob jemand im Dunkeln nach der Klinke tastete, und dazwischen Peycrafts wohlbekanntes Gebrummel.
»Stimmt schon!« sagte ich. »Sie ist fort.«
Trotzdem dauerte es noch lange, bis die Tür aufging.
Endlich drehte sich der Schlüssel um, und Peycrafts Stimme sagte: »Kommen Sie!«
Ich drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür. Selbstverständlich erwartete ich, Peycraft vor mir zu sehen.
Und – na ja! – er war nicht da!
Mein Lebtag bin ich nicht so bestürzt gewesen! Sein Wohnzimmer, ja, das lag da vor mir, in einem Zustand greulicher Unordnung, zwischen Büchern und Papieren, Teller und Schüsseln – ein paar Stühle umgeworfen. – – Aber Peycraft ...?
»Schon recht, alter Freund! Machen Sie die Tür zu!« sagte er. Und jetzt endlich entdeckte ich ihn.
Da droben hing er – in der Ecke, am Türsims, als hätt' ihn jemand an die Zimmerdecke festgenagelt. Angstvoll und empört sah er aus. Und schnaufte und gestikulierte. »Machen Sie die Tür zu!« wiederholte er. »Wenn das Frauenzimmer erst dahinter kommt ...«
Ich schloß die Tür, trat ins Zimmer und starrte zu ihm hinauf.
»Wenn die Geschichte da droben bricht, und Sie herunterfallen, Peycraft,« sagte ich, »so brechen Sie so sicher wie was den Hals.«
»Ich wollt', ich könnt's!« wimmerte er.
»Ein Mann in Ihrem Alter und von Ihrem Gewicht ... Und solche kindische Geschichten machen ...!«
»So seien Sie doch still!« sagte er mit verzweiflungsvoller Miene. »Ich werd's Ihnen schon sagen ...« Und dabei gestikulierte er wie wild.
»Wie zum Kuckuck halten Sie sich denn da oben fest?«
Und dann – plötzlich – wurde es mir klar, daß er sich gar nicht festhielt, sondern daß er da oben einfach schwebte – wie ein gasgefüllter Ballon unter der Decke hätte schweben können. Er machte einen verzweifelten Versuch, loszukommen und an der Wand zu mir herunterzuklettern.
»Das Rezept!« schnaufte er. »Ihre Urgroß ...«
Während er sprach, packte er unvorsichtigerweise einen eingerahmten Stahlstich. Der gab nach, und Peycraft flog wieder zur Decke empor, während das Bild herunterstürzte. Bumms! Da hing er wieder an der Decke. Und jetzt wußte ich auch, warum er an allen hervorstehenden Teilen seines Körpers so weiß war!
Wieder machte er einen Versuch – diesmal vorsichtiger – am Kamin herunterzuklettern.
Es war wirklich ein ganz merkwürdiger Anblick – dieser große, dicke, schlagflüssig aussehende Mann, der, den Kopf voran, von der Decke auf den Fußboden zu gelangen strebte. »Ihr Rezept!« sagte er. »Hat zu gut gewirkt.«
»Wieso?«
»Abnahme des Gewichts – – – fast vollständig!«
Jetzt, natürlich, begriff ich.
»Herr des Himmels, Peycraft!« sagte ich. »Sie hatten eine Kur gegen Korpulenz vor! Aber Sie haben immer vom Gewicht gesprochen. Immer haben Sie vom Gewicht gesprochen –«
Ich weiß nicht warum – aber ich freute mich ganz diebisch. Fast mochte ich Peycraft gern – damals. »Kommen Sie – ich will Ihnen helfen!« sagte ich, indem ich seine Hand ergriff und ihn herunterzog. Er strampelte mit den Beinen und versuchte, irgendwo einen Halt zu finden ... Es war genau, als ob man an einem windigen Tag eine Fahne hielte ...
»Der Tisch dort,« sagte er, »ist massiv Mahagoni und sehr schwer. Wenn Sie mich unter den hinunterziehen könnten ...«
Das tat ich; und da schaukelte er nun herum wie ein gefesselter Ballon, während ich vor seinem Kamin stand und mit ihm sprach.
Erst steckte ich mir eine Zigarre an. »Jetzt erzählen Sie mal,« sagte ich dann, »was eigentlich geschehen ist.«
»Ich hab' es genommen,« begann er.
»Wie schmeckte es?«
»Oh, scheußlich!«
Ich glaube, das tun sie alle. Ob man die einzelnen Zutaten betrachtet oder die etwaige Mischung oder die möglichen Resultate – – fast alle Mittel meiner Urgroßmutter kommen mir, milde gesagt, merkwürdig wenig einladend vor. Was mich betrifft – – –
»Erst nahm ich bloß einen kleinen Schluck.«
»Ja?«
»Und als mir nach einer Stunde leichter und besser zumute war, entschloß ich mich, das ganze Gesöff zu nehmen.«
»Aber, lieber Peycraft!«
»Ich hab' mir die Nase zugehalten,« erklärte er. »Und dann wurde ich nach und nach immer leichter und leichter – und hilflos, wissen Sie – –« Und in einem plötzlichen leidenschaftlichen Ausbruch rief er: »Was um Gottes willen soll ich machen?«
»Eins jedenfalls ist ziemlich klar,« sagte ich, »was Sie nicht machen dürfen. Wenn Sie sich zum Haus hinaus wagen, so gehen Sie einfach hoch. Immer höher und höher.« Und ich fuchtelte mit dem Arm nach der Decke. »Man müßte Santos-Dumont hinter Ihnen dreinschicken, um Sie wieder herunterzuholen.«
»Aber es wird doch mit der Zeit wieder vergehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, darauf dürfen Sie nicht rechnen,« sagte ich.
Daraufhin folgte ein weiterer heftiger Ausbruch seinerseits. Er stieß mit den Füßen nach sämtlichen Stühlen, die in der Nähe standen, und hämmerte mit den Fäusten auf den Boden. Kurz, er benahm sich ganz so, wie ich es von einem großen, dicken, undisziplinierten Kerl seiner Art unter widrigen Verhältnissen erwartet hätte – nämlich außerordentlich schlecht. Von mir und meiner Urgroßmutter sprach er in Ausdrücken, die jeglichen Zartgefühls spotteten ...
»Ich hab' Sie nicht gebeten, das Zeug zu nehmen!« sagte ich.
Und in großmütiger Übergehung der Beleidigungen, die er auf mich häufte, setzte ich mich in seinen Lehnstuhl, und fing an, ihm ganz ruhig und vernünftig und freundlich zuzureden.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er sich sein Mißgeschick lediglich selber zuzuschreiben hätte, und daß fast eine Art poetischer Gerechtigkeit darin läge. Er hätte zu viel gegessen. Das bestritt er; und eine Weile erörterten wir diesen Punkt.
Schließlich wurde er heftig und ausfallend, und ich ließ diese Seite der Lektion fallen. »Fernerhin,« sagte ich, »haben Sie die Sünde des Euphemismus begangen. Sie nannten es nicht Fett – was zwar unrühmlich, aber richtig wäre – sondern Gewicht. Sie – –«
Er unterbrach mich und gab zu, er sähe dies alles ja ein. Aber was er tun solle?
Ich deutete an, er müsse sich eben seinen neuen Verhältnissen anpassen. Und nun kamen wir endlich zu der einzig vernünftigen Seite der Geschichte. Ich deutete weiter an, es müßte gar nicht so schwer für ihn sein, zu lernen, mit den Händen an der Decke herumzulaufen ...
»Aber ich kann nicht schlafen!« sagte er.
Das jedoch war weiter keine Schwierigkeit. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß es sehr gut möglich wäre, unter einer Sprungfedermatratze ein Bett zurecht zu machen, die unteren Teile mit Bändern zu befestigen, und Oberleintuch, Decke und Kissen an den Seiten festzuknöpfen. Er müsse eben seine Haushälterin ins Vertrauen ziehen.
Nach einigem Hin- und Hergerede erklärte er sich damit auch einverstanden. (Es war wirklich nachher eine wahre Freude zu sehen, wie selbstverständlich und praktisch die wackere Dame sich in all die merkwürdigen Umkrempelungen fand.) Eine Bibliothekleiter konnte er sich anschaffen; seine Mahlzeiten konnten ihm oben auf seinem Bücherschrank serviert werden. Wir erfanden auch einen sehr genialen Plan, wie er jederzeit auf den Fußboden gelangen konnte – nämlich ganz einfach, indem er das Große Konversationslexikon – (10. Auflage) – überall auf die offenen Fächer verteilte. Er brauchte bloß zwei Bände zu packen und sich daran festzuhalten, und da war er auch schon unten. Und unten am Paneel mußten eiserne Griffe angebracht werden, an denen er sich halten konnte, wenn er sich in den tieferen Regionen bewegen wollte.
Je weiter wir die Geschichte ausführten, desto lebhafter ward mein Interesse. Ich rief selber die Haushälterin herein, weihte sie in die Sachlage ein und brachte eigenhändig das hängende Bett an. Zwei volle Tage verbrachte ich ganz und gar in Peycrafts Wohnung. Ich habe überhaupt eine Schwäche für alles, was Handgeschick erfordert, und laufe ewig mit Hammer und Schraubenzieher herum. – Und so erfand ich alle möglichen genialen Hilfsmittel für ihn – zog einen Draht, damit er seine Klingeln erreichen konnte, stellte die elektrischen Lampen um – nach oben, statt nach unten – und so weiter. Die ganze Geschichte hatte für mich etwas ungeheuer Merkwürdiges und Interessantes, und geradezu eine Wonne war es, sich Peycraft so vorzustellen – wie er wie eine große, dicke Hummel an seiner Zimmerdecke herumkroch und an den Türvorsprüngen von einem Zimmer ins andere kletterte – und nie und nie und nie wieder in den Klub kam ...
Und dann – na ja – dann überrumpelte mich meine eigene Erfindungsgabe ... Ich saß ruhig am Kamin und ließ mir seinen Whisky munden, und er hockte in seiner Lieblingsecke hinter dem Kaminaufsatz und befestigte einen türkischen Teppich an der Decke, als mir ganz plötzlich ein Gedanke kam. »Herrgott, Peycraft!« rief ich. »Das alles ist ja doch ganz unnötig!«
Und noch ehe ich selber die Folgen meines Einfalls so recht übersehen konnte, platzte ich heraus: »Unterkleider aus Blei!« Und das Unheil war geschehen!
Peycraft war fast zu Tränen gerührt. »Wieder auf seinen Füßen stehen! ...« stieß er heraus ...
Und noch ehe ich selber überblickte, wohin das führen mußte, hatte ich ihm mein Geheimnis schon ausgeliefert. »Sie kaufen Bleiblech,« sagte ich, »und schneiden kleine Platten daraus. Die nähen Sie in Ihre Unterkleider ein – so viel wie nötig ist. In Ihre Stiefel legen Sie Bleisohlen, tragen eine Handtasche voll massiven Bleis mit sich herum – und die Geschichte ist gemacht! Statt daß Sie hier gefangen sind, können Sie wieder überall hingehen, Peycraft ... können reisen ...« Noch ein glücklicherer Gedanke kam mir da: »Sie brauchen sich nie vor einem Schiffbruch zu ängstigen. Sie brauchen bloß ein paar von Ihren Kleidungsstücken abzuwerfen – oder alle – das nötige Gepäck in die Hand zu nehmen – – und Sie schweben hinauf in die Luft. – –«
In seiner Erregung ließ er den Hammer fallen – einen Zoll näher, und er hätt' mich auf den Kopf getroffen. »Herrgott!« sagte er. »Und ich werde wieder in den Klub kommen können!«
Mir stand der Atem still. »Herrgott! Ja!« erwiderte ich stotternd. »Ja. Natürlich!«
Und er kam. Und er kommt. Da sitzt er, in diesem Augenblick, – hinter mir – und futtert! – Donnerwetter, ja! – futtert! Eine dritte Portion Butterkuchen! Und kein Mensch auf der ganzen Welt – außer mir und seiner Haushälterin – weiß, daß er tatsächlich nichts wiegt. Nichts! Daß er nichts ist als eine bloße widerliche Masse von Stoffanschwemmung, Wolkenbildung, die irgendwie in einem modernen Anzug steckt ... niente – nefas – – der nichtsbedeutendste aller Menschen! Da sitzt er und wartet, bis ich fertig bin mit Schreiben. Und dann wird er mich abfangen ... wenn er kann ... wird sich auf mich zuwälzen ...
Und wird mir wieder einmal von vorn an alles erzählen ... was für ein Gefühl das ist – – und was für ein Gefühl es nicht ist ... und wie er doch manchmal hofft, daß es ein bißchen vergeht. Und immer wieder – von Zeit zu Zeit – taucht es auf durch sein fettes, endloses Geschwätz: »Es bleibt doch unter uns, was? Wenn irgend jemand dahinter käme ... ich schämte mich ja zu Tode! ... Man stünd' ja da wie ein Narr ... was? An der Zimmerdecke herumkriechen ... und all so was ...«
Na denn – – jetzt ... los! Und Peycraft entwischen ... trotz seiner wunderbar strategischen Position zwischen mir und der Tür ...!