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Die Generation, die vor dem Kriege gelebt hat, war stolz auf Siege, die sie nicht erfochten hatte, sie betrachtete geistige Ergebnisse als ihr Eigentum, die andere für sie gewonnen hatten. Sie stand im Schatten Schopenhauers und Nietzsches, aber nicht in deren Licht, sie zehrte am Erbe Darwins und konnte es doch nicht mehren. Aber sie war der einzig überlebende Erbe und rühmte sich dieser Kräfte, sie war die Einzige und alles ihr Eigentum. Von dieser Generation trennt uns mehr als die Dauer eines Menschenalters. Wir stehen nackt und arm da. Der Glaube stützt nicht mehr. Die Wissenschaft ist nicht mehr fröhlich. Es gibt noch Genies, aber keinen Genius mehr. Denn: Genius ist das Genie mit seiner adäquaten Nebelhülle. Der Genius hat Schüler zu seinen Füßen, wie sie Platon, Moses, Christus, Buddha, Lao-Tse hatten, er hat Ahnen zu seinen Häupten. Leben, Wirksamkeit, Frieden hat er rings um sich.
Heute aber, wenn wir es auch leugnen, wenn wir uns auch zu verbergen suchen, es gibt nur eine Frage an die Zeit: was haben wir heute noch an Unverlierbarem, da wir so vieles verloren haben? Wie götternahe fühlte sich doch dies Geschlecht vor uns! Heute leben Menschen dieser Art nicht mehr. Emil Fischer, der Erfinder des künstlichen Eiweißes, glaubte den Urstoff der Natur in seiner Retorte zu mischen. Seine Zeit dachte, sie wäre dem Geheimnis ewig währenden Lebens auf der Spur, denn um ein ewig währendes Leben ging es ihr, nicht wie dem älteren (jüngeren) Goethe um ein ewig zeugendes Leben. Denn das ewig währende Leben, wie es die frühere Generation erstrebte, war ein Besitz, ein Lebensgut, eine Behaglichkeit im Hause. Das ewig zeugende aber war für Goethe eine furchtbare Forderung, ein Vorwurf für Götter, ein Meer ohne Grund und Boden für alle. Die Zeit vor uns erstrebte Ordnung. Ordnung fand sie in der Natur, vor allem im System der periodisch geordneten Urelemente. In diesem System ahnte man einen Zusammenhang zwischen Sein und Werden, der durchdringt bis in den stummen, starren Stein. Die ungeheuere, willensstrotzende Umarmung der Natur schien sinnvoll und offenbar, wie sie sich mit dem reinsten, stillsten Urkörper gattet. Die Spektralanalyse verband die Gelehrten dieser Zeit durch die Frauenhoferschen Linien des Fernrohres mit den Sternen, nun war man ihnen nahe, ihre feurig flüssigen Massen lösten sich unter den Fingern in sieben Farben, sie sonderten sich ohne Mühe in hellere und dunklere Schatten. Man wog das Licht und tat die Strahlen wie verschiedene Edelsteine auseinander.
Aus allem Wissen gewann damals die Technik Blut und Lebenssaft, das tägliche Leben wurde leise und bequem. Die Technik zeigte sich in ihrem damaligen Stadium nur als ungöttlich, nicht aber als dem Göttlichen entgegengerichtet und entgegengesetzt. Alles mochte auf schnellen Rädern eilen, an Schaltern und Spulen sich emsig entfalten, in Turbinen kraftvoll kreisen, in gläsernen Lampen ruhevoll glimmen, auf Drähten Worte tragen, in feingezackten Rillen den Schatten einer Stimme verewigen, auf flachen Flügeln sinnreich mit starken Motoren über die Felder und Seen schweben. Im Menschen wollte man nichts sehen als eine Meisterleistung der Technik, eine recht gut konstruierte Maschine. Man dachte, man habe sie bloß vor Abnützung zu schützen, nicht aber vor Tod. Hygiene war die große, die einzige Lehre dieser Tage. Es war eine Lust zu leben, oder eine lustvolle Arbeit. Dieses Lebensgefühl schien so stark, so unbesieglich, daß diese Generation den Tod nie tragisch begriff, das heißt, daß sie nie in ihres Herzens Heimlichkeit naiv vor ihm erschauerte; daß sie nie wortlos, vernunftlos, namenlos dem Tode wie einem magischen schweren Zauber ins Auge sah. Die Generation deutete den Tod um, sie sah ihn als ästhetische Lösung (bei Thomas Mann: Tod in Venedig), sie nahm den Tod als moralische Rechtfertigung, als sittsame (nicht sittliche) Sühne in Ibsens Dramen. Sie ließ sich den Tod als einfach praktische Lösung gefallen, als Ausscheidungsprozeß, nicht eben angenehm, aber nach naturwissenschaftlichen Grundsätzen heilsam und verständlich (in Hauptmanns naturalistischen Dramen). Und so sahen ihn auch die Menschen der ersten Kriegs jähre, ohne tiefste Erschütterung eben nur als Mittel zum höheren patriotischen Zweck.
Was blieb uns Lebenden von heute? Der Zweifel. Und auch dieser nicht mehr. Denn der große, schöpferische Zweifel des Cartesius, das dubito, ergo sum, ein Grundsatz, der die Franzosen bis zum heutigen Tag geistig richtet und rechtfertigt (Gide), dieser Zweifel ist nicht der unsere. Denn wir hungern so mit allen Fasern, mit dem letzten Atemhauch unseres Seins nach Glauben und Gewißheit, daß wir im Zweifel nicht den Halt finden könnten, den er, an sich, zu geben die Kraft hätte. Und kann sich jeder dem credo quia absurdum mit verbundenen Augen, entflammter Seele überlassen? Dieser Glaube ist keiner, den man in den Schulen lehren kann. So bleibt uns als letztes Wort Vaihingers »Als ob«, als letzte formale Lehre bleibt Mauthners redlich begonnene, aber nie bis zu Ende durchgeführte Sprachkritik und Ernst Machs grandioser Gesichtspunkt. Und wenn das »Als ob« als das letzte Wort der Philosophen gelten kann, so ist Einsteins Relativitätstheorie die letzte große wissenschaftliche Tat. Sie bestätigt in der Geschichte des menschlichen Geistes nur die alte Regel, daß die Naturforscher in ihren »wissenschaftlichen Tatsachen« stets das entdecken, was die reinen Philosophen und Logiker ihnen in »Gedanken« vorausgedacht haben. Unsere Welt ist leer, entgöttert, frei, frei – bis zu einem so fürchterlichen, so herrlichen, – so beklemmenden, so tief freudig lösenden Grade – wie keine uns bekannte Zeit vorher. Noch leben wir. Aber wird es unser enterbtes Geschlecht sein, das die Kraft zu einer Urschöpfung sammeln kann? Ist denn unsere Entscheidung nicht schon längst gefallen und so tief gefallen, daß wir Überlebenden nicht mehr aus der Asche aufsteigen können? Ja, haben wir denn noch genug Kraft in uns, um das wenige, was unverbrannt diese Jahre von 1914-18 überdauert hat, späteren Geschlechtern als ehrliche Treuhänder übermitteln zu können?
Wer kann daran zweifeln, daß alle, die wir wirklich lebten, einer Feuerprobe unterworfen waren, wie sie keine Vereinigung von Menschen unversehrt überlebt hat? Es hat kleinere Brände gegeben, in deren Flammen sich größere Völker, reichere Kulturen todesmutig gestürzt haben. Wir sind noch. Das äußere Gefüge scheint sich ordnen zu wollen. Das technische Resultat der Vorzeit liegt fast unversehrt vor uns. Aber unser Babylon ist doch gefallen, sein Schönes ist in die Winde zerstreut, wir, die wir noch atmen, hausen wie Hirten und Nomaden, von Unwissenden und schlecht oder schwach Wollenden angeführt, aber nicht geleitet. Heimatlos sind wir auf der Stätte der früheren Heimat. Von den Tagen einer neuen bösen Wendung trennt uns nur ein Augenblick, denn das, was damals möglich war, wäre heute ebenso möglich, wenn die Nationen, Führer, Parteien nur könnten, wie sie wollten. Wir haben das letzte, das zu fassen, zu begreifen, auszudenken war, erlebt – und nichts hat sich geändert. Gerade das ist das fürchterliche. Eben das erstickt, löst alles auf. Wie kann heute ein Lebender die Gewißheit eines Sinnes haben? Wer sieht noch eine höhere Bedeutung in der vergänglichen Erscheinung? So viel Tage, Taten, Siege, Demütigungen und Vernichtungen – und doch kein Sinn. Zweifel muß die leeren Räume füllen, das Wort, das heilig herrschende, das tröstend sprechende, das wissende und weisende, muß sich uns zwischen den Lippen verwirren, nur scheiden und trennen will es, wie beim Turmbau von Babel einst. Die alten Zeichen bedeuten nichts mehr, die Kirche ist tot, die Priester haben ihre heiligen Öle an unrechter Stelle verschüttet, und doch ist in der ganzen Welt keine Kirche neu geweiht worden, und wie sollte auch die Kirche und der kalte Dom neu geweiht werden, wenn vorher nicht der einzelne, der Mensch, der Beter neu geweiht worden ist?
Sollen wir wie die Tiere leben, stets auf der Suche nur nach Nahrung, Begattung, Schlaf? sollen wir uns dem Tier angleichen, dessen Fleisch wir essen, bis wir auch dessen Blut werden und durch Tieresaugen die Welt sehen? Was soll uns die Technik und Zivilisation? Technisch vollendet ist das »niederste« Tier viel mehr, als der höchste Mensch es je sein wird, aber nicht das Notwendige des Tieres tut uns not.
Schöpferisch ist eine Zeit nicht immer durch ihre Leistungen. Wer wird große Leistungen von einer ausgebluteten Gemeinschaft verlangen? Aber vielleicht ist eine Zeit auch schöpferisch bloß durch ihr Sein? Vielleicht sind wir es als ungeheures exemplum mundi? Vielleicht ist der Turm Babylons deshalb gefallen, daß wir neue vielfältige Sprachen lernen, daß die Masse vom Erdboden verschwinde und der einzelne neues, göttliches Leben gewinne? Die Himmlischen sind nicht mehr. Das Chaos von heute ist das götterloseste, das je unter der Menschheit war. Götterhaft war es, daß Babylon stürzte und Assur auferstand. Daß das Perserreich verging und Griechenlands volle Sonne über den gezackten Felsen und silbergrauen, leicht umgrünten Bergen sich ergoß. Daß Griechenlands müder gewordenes Licht dann niedertauchte und das kluge Auge Roms die Welt kalt überblickte: »Was ich erfasse, ergreife ich. Was ich ergreife, behalte ich. Was ich behalte, wird ich.« Das war Rom.
Aber unser Untergang war nicht götterhaft. In der Bibel spricht der Herr bei der Zerstörung des babylonischen Turmes nur das Wort: »Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des anderen Sprache vernehme. Also zerstreute sie der Herr von dannen in alle Länder.«
In welche Länder zu flüchten bleibt uns, den Heutigen, übrig? Können wir uns neue Götter setzen, da es doch Helden einst schon unter uns gab? Helden werden noch kommen können und herrlichere als je waren und solche, von derem menschlichen Glanz viele Geschlechter sich nähren und an derem jünglingshaften Stolz sie sich freuen mögen. Könnten wir die tragische Vereinsamung des Menschengeschlechtes von heute unter dem entgötterten Himmel heroisch ertragen! Heroismus müßte es heißen, daß Menschen diese grauenhafteste aller Zeiten überdauert haben, elend, schwach, verbittert, vergiftet, aber lebend trotz allem! Keinem alten Götterbilde wollen wir nachstreben. Sondern wir können uns vielleicht aus den großen, heiligschaffenden Menschen wie Bach, Mozart, Kant, Goethe, aus den großen Ärzten, den großen Forschern, den großen Lichtern in der Dunkelheit selbst neue Götter schaffen, die wir anbeten und in deren Schutz wir sicherer wären vielleicht als unter dem Dach der von Blut befleckten Kirche. Und nicht die großen schöpferischen Geister allein. Alle, die im Kleinen Gutes gewirkt haben, müßten angebetet werden, obgleich sie sterblich sind. Denn das Große ist nicht unter der Erde zu begraben, sondern soll immer über uns leben. Keine neue Heldensage hat den vergöttlichten Helden, den Menschen mit seinen ungeheueren Taten, wie einst den Herakles, in den Tempel vor die reichsten Altäre gestellt. Die Kirche nennt unter den Lebenden und Sterbenden von heute keine Heiligen mehr und ist zu Eis erstarrt auch hier. Die Ahnen werden zu wenig geehrt, die Kinder zu wenig gepflegt. Die namenlose Masse wird namenlos gezeugt, verwendet, vernichtet, vergessen. Was sollen uns die Massen mit ihrer Arbeit und ihrer technischen Vollendung, ihrer tönernen, tonlosen Macht? Können sie denn auch nur sich selbst schützen, namenlos blind und stumm wie sie sind und auf immer entweiht? Aus allen können nicht Götter, Helden und Heilige werden. Aber einige müssen wir erwählen und die andern sollten sie anbeten und derart auch teil an ihnen haben, so vergänglich auch alles ist.
Ein japanischer Weiser erzählt von einem alten Mann, der von seiner Höhe eine Springflut noch fern im Meere heranrollen sah. Das »Dorf mit 300 Seelen« lag am Strande. Er zündete seine Reisfelder an und die Garben alle, seinen ganzen Reichtum. Die Glocke des Buddhistentempels wurde geläutet, alle kamen eilig vom Strande zu dem Feuerbrande, um zu löschen. Inzwischen versank das ganze Dorf unten in der Springflut, in einer einzigen Welle, unter furchtbarem Getöse, in einem schrecklichen Gewitter. Aber die Menschen waren gerettet und wurden in dem Tempel untergebracht, bis neue Häuser gebaut waren. »Geschenke hätten nicht genügt, um die Gefühle der Verehrung für den Retter, Hamaguchi, auszudrücken,« erzählt der Weise, »sie konnten ihn nicht reich machen, er hätte es auch nicht zugelassen, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Sie glaubten, daß der Geist in ihm göttlich sei. So erklärten sie ihn zu einem Gott und nannten ihn Hamaguchi Daimyojin. Als sie das Dorf wieder aufbauten, errichteten sie seinem Geist einen Tempel und schmückten ihn mit einer Gedenktafel, die in chinesischen Goldlettern seinen Namen trug. Dort huldigten sie ihm mit Gebeten und Opfergaben. Er selbst lebte noch ein schlichtes Leben im Kreise seiner Kinder, Enkel und Urenkel in dem alten binsengedeckten Hause auf dem Hügel, während seine Seele in dem Heiligtum unten angebetet wurde.«