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Im Jahre 1828 sagte der greise Goethe zu Eckermann: »Da war Napoleon ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen. Sein Leben war das Schreiten eines Halbgottes von Schlacht zu Schlacht und von Sieg zu Sieg. Von ihm konnte man sehr wohl sagen, daß er sich im Zustand fortwährender Erleuchtung befand, weshalb auch sein Geschick ein so glänzendes war, wie es die Welt vor ihm nicht sah, und vielleicht auch nach ihm nicht sehen wird.«
Sind bloß mir diese Worte heute unverständlich? Sah Goethe nicht die grandiose Ironie im Schicksal Napoleons?
Napoleon stellt ein männliches Ideal auf. Klarheit, Zielstrebigkeit, Verachtung der Menschen, Willen zur Macht. Aber im tiefsten Grunde haben in diesem säkularen Manne ganz andere Ströme gewirkt: Sentimentalität und ihr Widerspiel, Eitelkeit. Goethe hat diesen Bruch ganz klar als einziger in seiner Zeit erkannt, »Napoleon hat die Tugend gesucht, und, als sie nicht zu finden war, die Macht genommen.« Als er aber die Macht hatte, regte sich die »Tugend« von neuem, das Streben nach irgendeiner glatten Harmonie, nach einer einfachen Auflösung, nach dem Frieden in dem weitesten, dem tiefsten, dem ergreifendsten Sinn.
Es gibt drei solche einfache Lösungen: Die ethische, welche Gott-Ordnung und Gerechtigkeit heißt, die Entscheidung Hiobs, sie ist die bitterste und die fruchtbarste zugleich.
Die zweite ist die ästhetische, die Auflösung der als unrettbar ungerecht erkannten Welt wenigstens in der Schönheit, in der Harmonie der Sternensphären, im Troste des überirdischen Einklangs. Dies ist die Gnadenwahl Goethes, und man kann in der italienischen Reise den Wendepunkt sehen, wo er von der Gerechtigkeit zur Ordnung, zur Schönheit, zum gefälligen Maß, zum freundlichen Leben übergeht. Ganz persönlich sagt Goethe darüber: »Die auf dem Rücken gefalteten Hände, der gesenkte, lächelnde Blick (man erinnere sich an Tischbeins Gemälde! ) sagen, daß man die Erde wohl und heiter zu betrachten habe; sie gibt Gelegenheit zur Nahrung; sie gewährt unsägliche Freuden; aber unverhältnismäßige Leiden bringt sie.«
Die dritte Lösung ist die egozentrische, monomanische, die sowohl die gerechte Entscheidung als auch die gefällige, schöne Harmonie draußen läßt und dafür durch Bändigung der inneren Triebe oder aber durch fesselloses Walten dieser innern Triebe sich Frieden innerhalb des eigenen Wesens zu schaffen sucht.
Auf dieser Stufe sehen wir Napoleon, und auch dies hat Goethe, im Widerspruch zu dem zitierten Ausspruch früher einmal völlig Idar erfaßt: »Der Mensch muß wieder ruiniert werden! … Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern: so ist zuletzt auch Napoleon unterlegen.« Das ist er auch. Napoleon hatte im italienischen Feldzuge zwar mit der Gerechtigkeit, wenn auch ihrer niedersten Stufe, der Sachgerechtigkeit oder Realpolitik, begonnen, hatte als »Kerl« bei Lodi und den andern Schauplätzen seines brillanten Beginnes seine Laufbahn eröffnet, er hatte, worauf Goethe selten hinweist, was aber das wichtigste ist, in einem kurze Zeit währenden Zustande echter Erleuchtung sich als König und Herrscher von der Sachgerechtigkeit zur ordnenden Gerechtigkeit, zur Zivilisation gesteigert, hatte in guten Gesetzen, fürsorglichen, weit voraussehenden, sanft fördernden Maßnahmen für sein Land gewirkt, durch Brücken, Straßen, Häfen, Schulen, Richter, durch gute, das heißt, bessere Gesetze, durch Ordnung, Ordnen und Ehrfurcht. Aber in der Zeit seiner Höhe, von 1805 angefangen, ist der welthistorisch waltende Napoleon völlig sich selbst entglitten, und damit auch der Beherrschung der Welt, die nur zu seinen Füßen liegt, weil sie nicht anders kann. Von da an bis zu seinem Tode ist er in ständiger Täuschung befangen über die Mächte Europas und die Gegenmächte, über den Kontinent und den Gegenkontinent. Moskau, Leipzig, Waterloo waren nicht einfach verlorene Schlachten, sondern Katastrophen von innen heraus, strategisch von vornherein vor dem ersten Flintenschuß verlorene Entscheidungstage, wie die Schlacht an der Marne für das alte Deutsche Reich. Hier haben wirklich Dämonen dem unseligen Menschen ein Bein gestellt. Wie aber erklärt es sich, daß Goethe, statt sich selbst als den erleuchtetesten Mann seiner Zeit anzusprechen, diesen Namen dem verblendetesten gab? Sehr richtig bringt Goethe zwar das glückhafte Leben eines Individuums mit dem Grade seiner Erleuchtung in Zusammenhang. Aber war denn Napoleon glückhaft? Er ging unter, er raste in einem Höllensturze von so gigantischen Massen vom gleißenden Himmel zur bittern Unterwelt nieder, daß uns heute, hundert Jahre nachher, der Atem stockt, sehen wir dies Schicksal von weitem. Aber wie konnte das Goethe entgangen sein? Bonapartes kummervolle Nächte vor und nach den hundert Tagen, Waterloo, Bellerophon, Sankt Helena? Ist hier, wie bei den Begegnungen Goethes mit Kleist, Hölderlin, Beethoven, ein Punkt seelischer Blindheit, doppelt grauenvoll bei dem herrlichsten Geschöpf der Erde?
Was ist Erleuchtung? Ist es nur eine praktische Gabe, das Leben am rechten Punkte anzufassen, das möglichst Angenehme, Reinliche, Gefällige, wenn auch Zufällige darin zu sehen und daraus zu ziehen? Die Erde »wohl und heiter zu betrachten«, ist das genug?
Goethe ging immer von dem heiliggehaltenen Zustande der Mitte aus und gelangte durch die seinem Genius gemäße Steigerung bis zu dem Übermenschlichen: die höheren Sphären öffneten sich ihm mühelos. Man fühlt das jetzt oft mit Entzücken, wie er, ohne Kraft, ohne Schwäche, wie ein Atemhauch sich erhebt. Er rührt nur den Finger, und die irdische Erde liegt unter ihm, er steigt nicht, er schwebt. Das ist es auch, was ihn fremd macht, denn wer könnte ihm darin folgen? Hält er aber in seiner geheiligten Mitte seinen Atem an, faßt er seine Glieder in Ruhe zusammen, dann eröffnet sich ihm ebenso mühelos, ja man kann sagen: glückhaft, das Unbewußte, Stein, Pflanze, Stern, der sanfte Zauber der Farbe wird ihm offenbar, und mit den Fingern greift er sehr zart und sehr sicher in das Rieseln des Regenbogens über den Wiesen am Abend. – Dieser Zustand der Mitte war schon den Zeitgenossen Goethes in Deutschland (dem zentralsten Gebiete der bewohnten Erde) schwer nachzuerleben. Uns ist er seit 1914 völlig verloren gegangen. Wir denken, wir fühlen, wir leben aus einem Grenzgefühl heraus. Daß wir gerade noch atmen, uns regen, daß wir ein Wort über die Lippen bringen, ein Werk aus unsern Händen entlassen können, unvollkommen wie es ist, aber doch als das Höchste, was unserm Besten, unserer äußersten angespannten Grenze entspricht, dieses Grenzgefühl läßt uns existieren; es begründet, es entschuldigt, es krönt unser Dasein in allen Ständen, allen Charakteren, allen Sphären unseres bürgerlichen und individuellen Daseins. Deshalb fühlen wir uns in der Kunst dem Shakespeare und den Vor-Shakespeareisten, einem Rembrandt, dem Kleist so verwandt, deshalb verstehen wir Balzac, wie ihn die frühere Zeit nicht verstanden hat. Aber wir beruhigen uns in der Welt der Dämonen nicht. Wir wissen, daß es anderes gibt und streben darnach mit aller Kraft, mit unsrer ganzen Seele und unserm ganzen Herzen. Der Weg zur völlig beruhigten Anschauung, zum reinsten, in sich selbst ruhenden und umfriedeten Lebensgefühl wird erahnt und gesucht wie nie zuvor. Aber er kann nicht erreicht werden. Mozart, dem dieses Gnadengeschenk durch ein Wunder zugefallen war, bleibt eine in Zeit und Ewigkeit einzigartige Erscheinung, er ist uns eine Göttergestalt, die uns von Tag zu Tag teurer wird, denn wir wissen, seinesgleichen trägt unsre Erde nimmermehr.
Was aber bleibt uns heute zu wollen? Nur das Gemußte zu wollen, das »Müssende«, wie es Beethoven nennt, freudig zu umarmen?
Es muß zwei Arten der Erleuchtung geben: die von innen heraus, die Einfühlung in die Welt. Nicht, daß wir unsere Harmonie in der Harmonie der Sternensphären finden; aber daß wir, anders, mutiger als Goethe, vor dem Abgrund, vor dem tragischen Sprung der Welt nicht zurückschaudern! Daß wir unsern Gott nicht reiner, nicht seliger erkennen, als wir selbst es sind. Daß wir im Anschauen einer tragisch erfaßten Gottheit unseren Abgrund kraft des Glaubens in den Abgrund dieser Gottheit versenken: credo quia absurdum.
Die andere Art der Erleuchtung ist die von außen. Wir wollen wirken und müssen es, wenn wir auch nicht wollen, durch unser Tun nicht minder als durch unser Leiden und Lassen. So wollen wir nicht ohne Belehrung sterben und vergehen, Belehrung, die wir nehmen und die wir weitergeben. Erziehung, Sinn zur Ehrfurcht sind Gebote von unendlich tieferer Bedeutung als das selbstverständliche Prinzip des Sozialen, der sogenannten »Nächstenliebe«, die nur das Nebeneinander, also die niederste Stufe kennt. Dienend und herrschend ist aber die Welt aufgebaut, wissend und voller Geheimnisse zugleich. Im Räume bewegt sie sich, nicht in der Fläche, und mehr als im kubischen Räume, im bewegten, zeitlichen und ewigen Räume, das ist, in Wahrheit, im unmeßbaren, weil dauernd wirksamen. Sehnsucht zur Erleuchtung ist es, wenn Goethe in der klarsten Fassung, in der je geistige Bezüge geschlossen worden sind, in seinem Tagebuche als Dreißigjähriger sagt: »Möge die Idee des Reinen immer reicher in mir werden.« Reichtum mit Reinheit zu vereinigen, vermag aber bloß die Erleuchtung.
Wir wollen herrschen, ohne zu erniedrigen. Wir wollen nicht herrschen durch Spott, durch Vernünfteln, Skepsis, billige Werke und Wege, nicht durch Kleinermachen des Großen und Hohen. Wenn Shaws König in der »Heiligen Johanna« sich über das ranzige Öl beschwert, womit er gesalbt worden, wollen wir ihm nicht folgen, denn ein König ist es nicht, der im Augenblick der Krönung an das Ranzigsein denkt. Und ist er nicht königlich, was soll er uns dann, seinesgleichen kennt die Welt genug und läßt sie sich schweigend gefallen wie anderes Ungeziefer mehr. Auf Ehrfurcht wollen wir nicht verzichten, denn sie kann groß sein und größer noch als Stolz und Herrschertum, als Napoleon und alle Dämonen in seiner großen Brust.
In einem alten chinesischen Buche finde ich ein Gleichnis, das von der Erleuchtung und von der Ehrfurcht spricht, ohne sie zu nennen; es heißt: Der weisen Könige Wirken. »Yang Dsi Gü suchte den Lau Dan (Lao Tse) auf und sprach: »Gesetzt, ein Mensch wäre eifrig und stark, von alldurchdringendem Verstand und allgegenwärtiger Klarheit und unermüdlich im Forschen nach dem Sinn: Könnte man ihn mit den weisen Königen (des Altertums) in eine Linie stellen?«
Lau Dan sprach: »Für den Berufenen ist solch ein Mensch nur ein Knecht und Kärrner, der mit allen möglichen Kleinigkeiten seinen Leib abmüht und seine Seele bekümmert. Außerdem zieht das bunte Fell der Tiger und Panther nur die Jäger an; weil die Affen geschickt sind, werden sie an Stricken geführt. Und einen solchen Menschen, der ihnen gleicht, den sollte man mit den weisen Königen in eine Linie stellen können?«
Yang Dsi Gü errötete und sprach: »Darf ich fragen, wie dann die weisen Könige regierten?«
Lau Dan sprach: »Der weisen Könige Wirken war so, daß ihre Werke die ganze Welt erfüllten und doch nicht den Anschein hatten, als gingen sie von ihnen aus.
Sie wandelten und beschenkten alle Wesen, und die Leute wußten nichts davon. Ihr Name wurde nicht genannt, und doch machten sie, daß alle Wesen innere Befriedigung hatten. Sie standen im Unmeßbaren.«
Welch ein Gegensatz zur christlichen Lehre!
So sieht der erleuchtete Osten die Welt.