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Man wirft den zeitgenössischen Künstlern vor, sie nähmen den Geist der Zeit, in der sie lebten und in der doch ihre eigentliche Wirksamkeit begründet sein müßte, trotz der erschütterndsten Eindrücke, die ihr in den Weltjahren des Krieges zuteil geworden, nicht ernst genug; sie ließen ihn, den Sinn dieser Zeit, beiseite, und doch hätte niemals, heißt es, eine Epoche mehr danach sich gesehnt, ihre Stütze in den festeren und edleren Formen der Kunst zu finden; als ein tröstendes Widerspiel, bleibendes Denkmal, hoffnungsreiches Erwarten, einen Abglanz des Göttlichen. Abglanz des Göttlichen, das ist es. Von den vielen großen Toten ist niemand noch durch die Hand eines Künstlers, durch die Gedankenmacht eines Weisen zu den Sternen versetzt worden; endlos und bedrückend lastet ein entgötterter Himmel, wer fühlt es mehr als wir selbst, über dem Europa von heute, über Asien auch und über den anderen Teilen der bewohnten Erde, der wir großmütig den Namen Welt gegeben haben.
Der letzte große Held, der letzte mythische Mann ist nahezu ein Jahrhundert tot. Napoleon ist es. Ihn hat wenigstens ein Genius, Beethoven, als mythische Gestalt erlebt, und so wird Bonaparte, selbst wenn die Kuppel des Invalidendoms in Staub zerfallen sollte, auf die Nachkommenschaft der heutigen Geschlechter kommen. Was gab ihm, dem Advokatensohn auf Korsika, den heroenhaften Glanz? Noch als er lebte, von Menschen verlassen, von seiner Mutter einzig zurückersehnt, nur noch von dem alten Diener Marchand behütet und gepflegt, stieg er zu den Sternen empor. Sein Leiden, an dem er nicht rüttelte, an dem er nichts änderte, das er unabwendbar ließ, wie es unabwendbar war, das machte ihn groß und menschlich zugleich. So endet ein Herakles.
Das Ende macht den Heros. Die zwölf Taten, die zwölf Erobertaten Napoleons sind zwar bereits gewaltig im Vergleich zu anderen Taten anderer Menschen. Das Ende aber macht Herakles zum Halbgott, das Ende macht Napoleon zum Mythos, mehr als Marengo und Austerlitz.
Unter den unsagbaren Leiden seines vergifteten Dejanirahemdes, auf dem selbst gewählten, von eigenen Händen aufgeschichteten Holzstoße, anderer Menschen Schuld nicht büßend, auf sich selbst gestützt, der einzige, große Mensch, der souveräne, fürstliche, er, der im Schwersten noch freudige, so erhebt sich der heidnische Held, anders als der christliche. Nie kehrt er zurück. Läßt er die Erde unter sich, dann nehmen die Sternennäheren Himmel ihn als ihresgleichen auf zu längerer Dauer, zu treuerem Bestand. Heilig steigt er in seinem Schmerz gegen den Olymp, dem Unabwendbaren sein strahlendes Antlitz unbesiegbar entgegenwendend. Eine Himmelfahrt auch hier, aber nicht eine aus Gräbern und Grüften, sondern im freien Lichte, in Überlegenheit, Mut, eine kühne Herrlichkeit … Solch ein Name vergeht nicht. Es ist nicht das Wunder, das diesen Staubgeborenen zum Halbgott macht, – die Wunder, die übermenschlichen Taten, ihr Marengo und ihr Austerlitz haben Herakles und Napoleon schon lange hinter sich, wenn sie sich heben über das Irdische. Nicht die Taten machen es also. Auch das Leiden nicht. Niemand hat diesen unchristlichen Heroen einen Schwamm mit Essig gefüllt und ihn um einen Ysop gelegt, und niemand war da, weder eine Schwester mitleidsvoll, noch eine Mutter schmerzerdrückt und stumm, die dies dem Sterbenden an die Lippen gehalten. Allein, seine ganze gesammelte Existenz dem Unabwendbaren kühn entgegengehalten, das Leben nicht durch Leiden, sondern trotz dem Leiden überwindend, es kraft der Halbgotteigenschaften des schwach geborenen Menschen zu Ende lebend und über sich hinaus, nüchtern, stumm, in keuscher Heiterkeit, nicht gestört durch das Dröhnen kosmischer Gewitter, zerreißender Altardecken und verlöschender Sonnen, so steigen diese Menschen aus der Reihe von uns allen in einen höheren Kreis.
Noch eine mythische Figur sei genannt: Don Juan, wie er in Mozarts Oper die steinerne Hand des Komturs zermalmend um seine eigene Rechte sich schließen fühlt und dennoch die hohe Treue gegen sich wahrt. Auch dieser ein Held, wenn auch einer im kleineren Kreis, denn diesen, den Genießenden, machen die vielen billigen Erfolge des Lebens klein. Der mythischen Menschen sind wenige. Man weiß nicht, woher sie kommen, wie sie werden. Napoleon wanderte, vielleicht noch, während er lebte, über die Meere, selbst den fernen Archipel der Fidschi-Inseln erreichte er, und in einer Märchensammlung der Südsee Verlag Eugen Diederichs, Jena. spricht ein Märchenerzähler, ein halbblinder, alter Tonganer, von ihm: »Kein Volk auf der ganzen großen Erde ist so edel und tapfer wie wir, die Leute auf Tonga. Aus unserem Volke sind die großen Krieger hervorgegangen, deren Namen jeder mit Bewunderung nennt, denn ihre Taten erfüllen die Welt mit Ruhm … Auch Napoleoni ist ein Sohn Tongas gewesen«, und er beginnt eine gewaltige Schilderung der Kämpfe mit Uelingtoni. Wie wählt man den gewaltigen Schwerthelden unter allen? Die Gesandten, die einen Führer suchen, »kamen spät am Abend an ein kleines Haus, das einsam und mitten im Walde stand. In ihm wohnte die Mutter von Napoleoni. Sie fragen nach einem Sohn von bestimmter Art, und die Mutter hat einen Sohn von dieser Art. »Euch sandten wirklich die Götter,« sagt sie, »ich habe einen Sohn, und sein Vater ist ein mächtiger Häuptling in Tonga. Aber mein Sohn ist taub. Er sitzt neben mir hier auf der Matte. Wie kann er denn euer Führer sein?« Aber der Sohn erhebt sich, zerschmettert die Feinde, vernichtet Uelingtoni bei Uatala und verbannt ihn auf eine einsame Insel, damit Uelingtoni dort sterbe, von Napoleoni zu Sankt Helena verurteilt.
Wunderbar, wie in dieses Sagengewebe von Napoleon, Wellington und Waterloo sich die Fäden von Herakles hineinspinnen, der unerkannt unter den Mägden sitzt, seinen Ruf erwartend und seine Bestimmung.
Unabwendbar ragt das Schicksal über jeden Helden. Unabwendbar ist aber das Christliche nie. Nichts ist im Christlichen auf Erden letzthin vollendbar, keine Tat hier zu Ende getan, kein Brot hier zu Ende gegessen, die Sättigung wartet drüben erst. Kein Tod ist hier auf ewig gestorben, denn selbst der größte, der entscheidende, der weltlösende, welterlösende Tod ist nicht tödlich, denn der Heiland steigt auf aus dem schweren Hügelgrabe, am nächsten Tage kehrt er heimlich, »menschlich« zurück, und vom Himmel bringt er nichts zurück. Seine Hände zeigt er bloß seinen Jüngern und seine Seite. Und wie er hier (Johannes 20, 20) den Tod auflöst und die Grenzsteine verrückt, so läßt er den moralischen Tod sich auflösen und trägt die moralischen Grenzsteine fort an einen wandelbaren Ort. »Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen. Und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.« (Joh. 20, 23.) Mit diesem Wort ist das Heroische aus der christlichen Welt verloren. Von diesem Worte an wird das Heroische des christlichen Menschen heidnisch sein (selbst bei den christlichen Märtyrern) oder gar nicht.
Und so ist es gar nicht bei uns. Götter wollen die Menschen nicht mehr über sich. Trost von den Göttern wollen sie, Hilfe von den Göttern ersehnen sie Tag für Tag und Nacht für Nacht. Aber das Unabwendbare ehren sie nicht. Sie sehen es nicht mehr und glauben, daß das Unabwendbare sie nicht sieht. Sie wollen mit den Spöttern auf einer Bank sitzen. So sind denn auch Spötter die Großen des Tages. Wie lange aber wollen sie noch spotten? Spotten sie doch nur über alte Götter und Helden, von deren überlieferter Größe sie sich nähren und die sie doch nicht begreifen. Lassen wir Shaw seinen Ruhm. Der Shaw von 1950 wird keine Jungfrau von Orleans, keinen Julius Cäsar, keinen Helden zu »vermenschlichen« haben. Die Welt wird das Heldenhafte, das heißt die Anbetung des Unabwendbaren durch wahre Größe, auch dem Namen nach, vergessen haben. Das Wendbare, das leichthin Wandelbare, das schnöde zu Erwerbende, das schmerzlos zu Verlierende, schmerzlos Aufzugebende, die billige, die vertauschbare Ware wird allen alles sein. Ohne Helden kann der Mensch zwar auf die Dauer nicht leben. So wird er sich dann seine kleinen Götter selbst kneten aus Lehm, die niedrigste Art der alten, römischen Götterverehrung wird unsere einzige sein, Ringer, Faustkämpfer, Läufer und der Genius der Muskeln werden nicht mehr wie in der großen Zeit der Menschheit, unten als letzter geehrt werden in der Reihe der Statuen und Altäre – sondern seelenlos sitzend thronen einzig und allein auf der entgötterten Stätte unserer Erde.