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III

Infolge dieser Verspätung kam Balzac erst am 9. Dezember in Bourg an. Die Hauptverhandlung war vorüber, die Zeugen vernommen, die Anklagerede des Staatsanwalts gehalten. Am nächsten Morgen sollte der Verteidiger Mr. Lablanche sprechen und darauf das Urteil von der Jury gefällt werden.

Balzacs erstes Wort ist: »Kann ich ihn sehen?«, worauf ihn Lablanche vom Posthofe zum Gerichtsgebäude führt. Der Anwalt holt sofort die Erlaubnis ein, daß Balzac den Gefangenen in der Zelle aufsuchen dürfe.

Auf dieser Reise ist dem Dichter sein Plan bis in die Einzelheiten klar geworden.

Muß er Europa verlassen, dann wird ihn Peytel, an dessen Freispruch er trotz des letzten Protokolls nicht einen Augenblick zweifelt, nach Amerika begleiten. Beider Vermögen ist dahin. Ihres Bleibens in Europa ist nicht länger. Balzac will dem Angeklagten wie ein Gott aus seinem Elend heraushelfen und von dann an wie ein leiblicher Bruder mit ihm verfahren und ihn nicht mehr von sich lassen, solange er lebt.

Nun, als er Peytel wirklich wiedersieht, kann er sich seiner Rührung nicht wehren. In einer Ecke liegt der Mann auf dem Boden hingestreckt, völlig gebrochen. Blaß, ohne Ausdruck im Gesicht, in den Augen. Balzac beugt sich zu ihm hinab, ruft ihn beim Namen, und als der Notar nicht antwortet, faßt Balzac den Freund mit einer Hand unter den Nacken, mit der andern unter die zitternden Kniekehlen und hebt ihn, nicht anders, als wäre der bleiche, bärtige Notar sein Kind, auf seine kurzen, aber kraftvollen Arme. Er bettet ihn auf die Pritsche, die der unselige Mensch nicht hat erreichen können, weil ihm die Kraft zu den wenigen Schritten gefehlt hat. Oder hat er sein Gesicht an die Fliesen des schmierigen steinernen Fußbodens gepreßt, um es zu kühlen? Balzac rollt seinen Überrock zusammen, obwohl es sein einziges und unter den bewußten Umständen derzeit unersetzliches Kleidungsstück ist, und gibt es dem Notar, der sich schon lebendiger regt und bewußter um sich blickt, unter den Kopf. Beide atmen schwer. Die Luft in dem engen Raum ist von dem abscheulichsten Gerüche nach Urin und faulendem Kohl erfüllt, da die Luken der Kellerräume sich gerade unter dem Zellenfenster öffnen und der Dunst trotz der geschlossenen Scheiben den Zutritt hierher gefunden hat.

Die kleine Lampe des Gefängniswärters, der mit Lablanche wispernd im Hintergrund sich hält, beleuchtet zur Genüge das Gesicht Peytels, seine schön gelockten, kastanienbraunen Haare, seine grauen oder grünlichen, durchdringenden Augen, seinen willensstark gezeichneten Mund, dessen äußerste Winkel sich nach innen zu wenden scheinen. Herrlich ernst ist sein Blick, wenn er, wie selten, aber jetzt eben, einem Menschen voll von vorne ins Gesicht schaut. Dann hat man das kaum zu beschreibende, nur nachzuerlebende Gefühl, jetzt endlich sei man dort, wohin man sich, unwissend im Grunde, zeit seines Lebens gesehnt; jetzt brauche man nur zu leben, gleichgültig, was zu tun oder zu denken, denn dieser da, der Notar, denke, fühle, handle für einen. So über alles beruhigend ist seine Nähe, besonders wenn er schweigt. Spricht er, dann fallen, wenn auch nicht in ungewöhnlich abstoßender Weise, seine Zähne auf. Sie sind zwar vollzählig und von angenehmer Elfenbeinfarbe, aber sie stehen wie bei Pferden etwas nach vorn, und die Oberlippe ist so kurz, daß sie oft das auffallend dunkelrote Zahnfleisch sehen läßt, wie denn die Lippen auch selbst tief dunkelrot, glänzend, korallenfarbig sind. Die Stimme aber hat keine Eigentümlichkeit, und im Gegensatz zum Blick vergißt man ihre Wesensart, sobald der Klang eben zu Ende ist, während die Gewalt des Auges in der Entfernung und in der Erinnerung sogar noch zuzunehmen scheint.

Man sieht, daß der Notar jetzt gebrochen, daß er nicht fähig ist, einen logischen Satz, ja auch nur die übliche Begrüßungsformel auszusprechen. Denn seine wie Mörtel brüchigen, kalkweißen Züge wogen und zittern wie Wasser unter starkem Winde, und die Verzerrungen sind gerade bei diesem Menschen so schmerzlich anzusehen, von dem man weiß, daß er sich beherrscht und sich keine Schwäche durchgehen läßt.

Dieser Widerstreit macht ihn für Balzac nur noch liebenswerter. Hat Balzac vielleicht doch, besonders während der ermüdenden Postwagenfahrt, manchmal leiseste Zweifel an dem Charakter des Notars nicht unterdrücken können (wenn er auch nie einen Mord für möglich hielt, eher schmutzige Vermögensverhältnisse), so ist er jetzt in der stummen Begegnung mit Peytel von einem noch nie erlebten Mitgefühl ergriffen und drückt dieses schweigend aus, indem er mit seiner schweren, festen und doch weichen Hand Peytel über die Wangen streicht. Er hat dabei ein halb schauriges, halb süßes Gefühl, denn die Wangen sind samtartig weich und dabei doch infolge zarter Blatternarben leicht angerauht.

Noch ist in den Augen des Notars nichts von der Freude des Erkennens zu bemerken, ja kaum leuchtet ein Strahl des Verständnisses in ihnen auf. Das Gefühl, den Freund so gott-, menschen- und sogar von sich selbst verlassen vorzufinden, überwältigt Balzac bis zu Tränen.

»Weinen Sie nicht«, sagt Peytel und hebt den Ärmel seines Rockes zu seinen Augen, als blende ihn das Licht oder als schäme er sich für den andern.

Balzac tritt, ebenfalls von Scham ergriffen, einige Schritte zurück. Von hier sieht das Gesicht des Freundes anders aus, ein breiter, hell kastanienfarbener, ringförmiger Bart rollt sich um die vollen, bleichen Wangen bis an die kleinen, mädchenhaften, rosafarbenen Ohren des Mannes. Seine Hände hat er hinter dem Rücken an dem Rand der Pritsche verborgen, seinen Kopf etwas nach vorn an die Brust gedrückt, die Glieder ineinander verschränkt, so daß er mehr das Bild der Abwehr als des freudigen Wiedererkennens bietet. Dazu im ganzen Raum der fast unerträgliche schlechte Geruch, dem man bloß in der Nähe der Tür etwas entgehen kann; dorther dringt aber ein schauriger Hauch, wie aus Kellern, reiner zwar, aber nicht erquickender, durch das viereckige Loch der Zellentür hinein. Vielleicht empfindet Balzac in diesem Augenblick zum erstenmal Müdigkeit nach der langen und der geringeren Kosten wegen auf einem schlechten Platze der Postkutsche zurückgelegten Reise. Er hat Hunger, da in den letzten Stunden kein längerer Aufenthalt möglich war. Aber wenn er gehen will, so hält ihn das Gesicht des Freundes zurück, sein unbeschreiblich durchdringender Blick, sein ernstes Lächeln, das die schiefen Zähne entblößt, dabei aber gleichzeitig einen Ausdruck von Sanftheit und Klugheit wie unter einem fortgehobenen Tuche aufdeckt, auf den man im kellerartigen Gelaß eines auf Tod und Leben angeklagten Verbrechers am wenigsten gefaßt ist.

Balzac tritt also wieder in die Zelle zurück, obwohl ihn Lablanche fortziehen möchte und ihm flüsternd Abendessen und ein gutes Zimmer in seinem Hause anbietet. Dies lehnt Balzac ab. Wenn man ihm aber etwas Essen hierher in die Zelle bringen kann, wird er dankbar sein. Vielleicht auch starken Kaffee, wozu sich die Bohnen, im Koffer des Dichters verpackt, im Posthofe vorfinden werden. Doch möge man die Papiere und Schriften nicht aus der Ordnung bringen, in der sie im Koffer geordnet sind.

Peytel scheint zu schlafen. Sein aus feinem, schwarzgrünem Stoffe gefertigter Anzug ist vom Liegen auf dem Boden verknittert, und man stört den Schlafenden nicht, wenn man die Falten über der Brust und an den Hüften sehr vorsichtig glättet. In kurzem erscheint Lablanche wieder, ein fettes, gebratenes Huhn hat er in einer silbernen Kasserolle mitgebracht, die in eine Damastserviette eingehüllt ist, auch eine Kanne Kaffee ist besorgt; diese ist in einen seidenen Schal eingewickelt, damit sie sich länger warm halte. Das Huhn bringt Lablanche, den Kaffee trägt Mercenaire, der Schreiber des Anwalts, um eine Gelegenheit zu haben, den berühmten Mann aus der Nähe zu sehen.

Balzac, ebenso von Diensteifer gegen Peytel erfüllt wie Lablanche gegen ihn selbst, schält das Fleisch von den festen Schenkeln des Huhns, schneidet auch die guten Stücke aus der Hühnerbrust heraus und füttert den wachgewordenen Notar mit seinem eigenen vergoldeten Taschenbesteck. Der Anwalt und dessen Schreiber sehen zu und schweigen.


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