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Sie erkannten kaum mehr den Weg wieder, als sie Hand in Hand zum Bahnhof gingen. Im Regen sah alles anders aus als in der strahlenden Sonne; die Straße mit ihren weißen Schottersteinen glänzte, aber die Berge waren matt, niedrig und tief verhängt – die Bäume hatten sich im Nebel verfangen, der hin und her wogte, und die hohen Wiesen waren nun ganz gedrückt, sie legten sich schwer an den Boden, an jede Senkung und Furche, so daß es aussah, als bekäme nun alles Falten und würde müde und alt. Sie gingen Hand in Hand am Hüttenwerk vorbei; die Hämmer klangen leise; die Glut loderte zart hellrot, irgendwo, weit oben, im Nebel verborgen. Dann kam ein kleines Feld. Gelbe, schwere Gerste stand darauf. Erik rührte die Ähren an im Vorübergehen, er streifte die zarten, glitzernden Haare, die im Nebel schwankten. Es war wie lichtes Menschenhaar, das er da mit seiner Hand sanft berührte und das unter seinen Fingern weich und schmiegsam dahinglitt. Es war wie Menschenhaar, das jemand im Nebel sanft streichelt.
Helene sah ihn an, mit großen Augen. Immer, immer mit ihm so dahingehen, tief beseligt, immer seine Nähe fühlen, beruhigend, schwer und doch sanft. Dies wollte sie ihm sagen, sie wartete nur, bis seine Hand, noch feucht von den regengetränkten Grannen des Getreides, die ihre suchte; dann wollte sie seine Hand an ihren Mund ziehen, dann wollte sie ein Wort finden, ein einziges nur, das alles sagte. Aber seine Hand vergaß die ihre, hatte ganz Helene vergessen. – Am Weg wuchs Klee, lichtrosa blühend mitten in tiefem Grün – dann kam wieder eine Wiese, dann eine Mauer, an der Birken standen und sich im Regen schüttelten wie ungeduldige Menschen. – Dann kam der Bahnhof und der Zug. –
Als Helene aus dem Fenster des Wagens hinaussah, da glitten die Birken an ihr vorbei, sich schüttelnd im Wind, dann das gelbe, schwer wogende Getreidefeld und dann das Hüttenwerk mit der lodernden Flamme. Dann kam ein Tunnel, starrende Dunkelheit und donnernder Lärm; als es plötzlich Licht wurde, fast erschreckend schnell, da war es eine andre Gegend, fremde Berge und Bäume, ein ganz andrer, fremder Tag und eine andre, fremde Welt.
»Warum bist du so still?« fragte Erik.
»Wir sind beide still«, sagte sie.
»Wir mußten ja doch einmal fort«, sagte er. »Du bist traurig, und ich weiß nicht, weshalb. Wenn du noch einen Tag hättest bleiben wollen –«
»Das ist es nicht, Erik.«
»Was ist dann?« Sie schwieg.
»Sag's doch!«
»Ich kann nicht.«
»Du hast uns gestern gesehen? Dina Ossonsky und mich?« Sie sah ihn an, mit hilflosen, großen Augen. Seine große, gerötete Hand lag auf seinem Schoß. Es war nicht mehr die Hand, welche die ihre bittend gestreichelt hatte. Warum? Warum lag all dies so unendlich fern? Warum sah sie jetzt sich und ihn am Ufer des Leopoldsteiner Sees gehen, in lautloser Mittagsstille, den lichten Weg entlang am dunklen Wasser, über das von weitem her, vom andern Ufer her, ein seichter Strand herüberleuchtete, weiß und sonnenbeglänzt – warum sah sie die Stunde, eben erst vergangen – unter den zitternden Birken, an dem wogenden Getreidefeld – jetzt schon ins Unendliche der Zeit versunken – so unsäglich weit entfernt von ihm, der sie ansah, und von ihr, die an seinen Lippen hing – als wären es zwei andere Menschen gewesen, die jene glücküberstrahlten Tage genossen und immer noch diese Wege gingen, Hand in Hand – jubelnden Gesang in sich, zwei fremde Menschen, aber nicht sie und Erik Gyldendal.
»Weshalb glaubst du mir nicht?« fragte er. »Bist du eifersüchtig? Sag's doch, ja oder nein?«
»Nein«, sagte sie leise. »Ich habe nichts anderes auf der Welt als dich.«
Nach einer Weile sagte er: »Ich dachte, du schliefest, als Dina und ich fortgingen.«
»Ich war erwacht und wollte Grimms Märchen von der Erde aufheben, da sah ich ihr weißes Kleid gerade noch in der Tür und hörte ihre sonderbare Stimme. Da wußte ich, es kann nur Dina Ossonsky sein.«
»Sonderbar? Sonderbar nennst du ihre Stimme?«
»Ich hätte auch sagen können, krankhaft oder hysterisch; ein Wort ist wie das andere.«
»Ich habe die Krankheit aus Dinas Stimme nicht herausgehört, als ich sie kennenlernte«, sagte er.
»Vielleicht war sie es damals nicht.«
»Kann das sein?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie ihr früher zueinander gestanden seid. Ich weiß nicht, was ihr gestern gesprochen habt. Ihr ...«
»Ja, Erik. Daß ihr nicht zwei Menschen seid, die einander ganz fremd sind – das konnte man hören. Und gestern – einen Augenblick hatte ich Angst um dich. Ich wußte, daß es lächerlich ist, und doch hatte ich Angst. Mir war es, als führe sie dich fort – und nicht du sie; als sei sie schwer krank und unglücklich und führe dich zur Strafe weg, für immer fort von mir. Ich habe früher nie verstanden – oder ich habe es nie recht geglaubt, daß Unglück und Krankheit eins werden können im Leben.«
»Und jetzt glaubst du es?«
»Ja, jetzt kann ich mir vorstellen – daß ein Mensch hysterisch wird. Einer tut dem andern weh, schrecklich weh, er verletzt ihn so durch Worte oder Handlungen, daß es gar nicht mehr gut werden kann – oder nur sehr schwer – und der andere ist gebunden, oder – er ist plötzlich ganz allein, er kann nicht mit beiden Fäusten toben und wüten – es muß sich ihm dann auf die Seele schlagen; dann muß die Seele krank werden – unglücklich und unheilbar krank.«
»Ist sie wirklich unheilbar? Und durch seine Schuld?«
»Schuld? Du bist sicher nicht schuld an Dinas Krankheit. Deine Hände, deine weichen Hände können gar nicht wehe tun.« Sie hob sie empor, beide auf einmal, jetzt endlich hatte sie den Mut dazu – jetzt legte sie seine Hände mütterlich in die ihren, jetzt zog sie Erik zu sich heran und sprach zu ihm, ruhig, sanft und gut, wie in früheren Tagen.
»Es ist alles gut. Das Leben ist schön, heute, und wird es morgen sein. In einer Stunde sind wir in Wien, und du fährst nach Döbling, in dein Laboratorium. Und ich ...«
»Und du?«
»Sag' selbst, Erik! Sag' doch, was ich tun soll?«
»Willst du nicht doch Frieden schließen?«
»Frieden mit Edith?«
»Wenn du es willst?«
»Versteh mich recht, Helene. Ich richte mich nach dir. Ich will dich zu gar nichts zwingen; ich will nur wissen, wie du dir dein Leben einrichten willst.«
»Ja, Erik. Ich fahre von der Bahn in die Sonnenfelsgasse, zu Edith.«
»Aber aus freiem Willen – nicht wahr, meine Heli, nicht mir zuliebe.«
»Dir zuliebe –? Erik – dir zuliebe?«
»Du könntest doch verlangen, denke ich – es wäre dein Recht, daß ich mich öffentlich, ganz öffentlich zu unserer Verbindung bekenne. Vor aller Welt.«
»Oh«, sagte Helene, »das wird kommen, ob wir es wollen oder nicht. Die Menschen werden uns die sieben Tage Hieflau nie verzeihen.«
»Weshalb bist du traurig, Liebling? Du darfst nicht traurig sein!«
»Laß mich, Erik, ach, laß mich! Frag' mich nicht! Du weißt ja doch nicht, was mir wohl tut – und was weh.«
»Weiß ich das nicht? Aber du – Helene, was sind das für Worte?«
»Worte, nichts mehr.«
Pause. Waidhofen, eine kleine Stadt mit leuchtend weißen Mauern und in der erwachten Sonne glänzenden Dächern gleitet vorbei; die Stadt liegt tief im Tal. Man sieht sie noch lange. Sie lächelt gleichsam und ist vergnügt. Dann kommen ernste Wälder. Die schwanken Bäume sind zurückgebogen vor dem brausenden Sturm, der den Schnellzug begleitet. Es ist, wie wenn die Zweige die Arme abwehrend ausstreckten. Und dann sind sie vorbei, und es kommt die weite leuchtende Ebene, ruhevoll. Und in ihr verklingt das Rauschen des Zuges wie am Ufer des Meeres.
Erik legt den Arm um Helenes schmalen Kopf, und sie sehen beide gegen den fernen Horizont, den immer unbewegten.
»Nein, verwöhn' mich nicht«, sagt sie und will sich freimachen – »mir ist es so schwer – mir ist, als sollte ich mitten im Winter in eiskaltes Wasser. Du sollst gar nicht so gut zu mir sein. So unvernünftig gut.« Sie macht sich los; und mit einer gleichsam verblaßten Stimme sagt sie: »Wir müssen endlich vernünftig sein. Was willst du nun anfangen?«
»Hab' ich dir's nicht schon gesagt? Es ist immer das gleiche. Röntgenstrahlen und die γ-Strahlung des Radiums. Das könnte meine neue Arbeit sein.«
»Woher das Radium? Wo das Laboratorium?«
»Meine Eltern werden nachgeben.«
»Bist du dessen sicher?«
»Ja.«
»Ich nicht, Erik. Was tust du, wenn sie nicht nachgeben?«
»Ja, das weiß ich nicht.«
»Wirst du mir nicht böse sein?«
»Ich dir böse, mein Liebling?«
»Darf ich dir dann das Geld geben, das du brauchst? Ich weiß ganz sicher, daß du deine Mutter nicht um Verzeihung bitten wirst.«
»Nein, das kann ich auch nicht. Verzeihung wofür? Ich darf mich gar nicht daran erinnern, heute will ich gar nicht an diese Jahre zu Hause denken. Drei Nächte kein Schlaf und nie viel Freude ... meine Mutter meint es gut ... meine Mutter versteht es nicht ... Heli, dir danke ich viel, dir allein.« Aber er sieht sie nicht an, als er dies sagt. Es sind Worte, die abgebraucht klingen, ohne Farbe, ohne Wärme. Der Zug fährt zwischen Felsen, von denen kleine Streifen Wasser über den dunklen Samt des Mooses fließen. Es ist dunkel im Kupee. Der Zug donnert.
»Heute bist du undankbar gegen deine Mutter«, sagt sie leise, so leise, daß er es nicht hört, »morgen bist du es gegen mich.«
Der Zug geht weiter, beflügelt, wie im Tanz.
Städte, Wälder, Flüsse, Sonne und Nebel, kleine Gärten und weite, unabsehbare Felder kommen vorbei. Ein Tal tut sich auf. Ein kleines, gleichsam gebücktes Tal. »Weidlingau.« – »Wie weit!« denkt er. Er sieht sich dort stehen, im Herbst, im duftenden Dunkel des Waldes, an einem Fenster stehen, über Dina gebeugt. Ihr Gesicht strahlt von Glück. »Sag', liebst du mich?« hört er sie sagen. »Erik, hast du mich wirklich lieb?« Da ist das Tal vorbei. Hohe Häuser, breite Mauern, endlose Vorortzüge. Auf einer kleinen Wiese, schon im Bereich der Stadt, sieht er unter einem aufgespannten Regenschirm ein junges Mädchen und einen jungen Mann sitzen. Sie winken beide dem Zug nach. »Wozu?« denkt Erik.
Schienen. Gleise. Schwere Weichen. Signale, grün und rot. Bogenlampen wie große Perlen hoch in der nebligen Luft. Und dann die Halle des Westbahnhofs, rauchgeschwärzt. Ein eleganter Zug steht da; die Maschine glitzert. Eine Menge Menschen steht vor dem Zug, der in zwei Minuten abgehen soll.
»Sonderbar«, sagt Erik zu Helene, »das alles erscheint mir jetzt wie ein Baum, der bereits geblüht hat – so entzaubert – die Halle und die Waggons und alles.«
»Wir sind ja auch um eine Woche älter geworden«, sagt Helene bitter.
Da, in diesem Augenblick fühlt er, daß sie ihm nicht gleichgültig ist, daß er sie nicht mehr haßt, wie vor zwei Tagen am Leopoldsteiner See, als Mozarts Andante die Erinnerung an Edith die Bahn des Erinnerns heraufgeleitet hat – – daß er nicht mehr vor ihr fliehen will, wie einen Tag zuvor, als Dina Ossonsky ihn rief. – Der Zug am andern Gleise gleitet davon. Weiße Tücher winken.
Erik küßt Helene; er küßt sie impulsiv, wie sich Leute küssen, die sich »Adieu« sagen. Auf lange, auf immer. Und als er seine Lippen von den ihren trennt, weiß er, daß es ein Abschiedskuß war. Er hat Ediths Schwester geküßt.
Sie hat alles gefühlt und nichts verstanden. Dankbar sieht sie ihren Geliebten an, ängstlich und dankbar. Sie geben einander die Hand und verabreden für den Abend ein Wiedersehen in einem Sieveringer Restaurant, dem »Schutzengel«.