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4

Sein zweites Erlebnis war das Stubenmädchen seiner Mutter; eine kleine Slowakin mit sehr brauner Haut und wilden, weißen Zähnen. Die Haare hatte sie ganz dicht geflochten; sie hatte viel Haar, aber ihre Zöpfe sahen aus, wie aus schwarzen Schuhbändchen geflochten.

Trotzdem verliebte er sich in sie; er hatte ja beide Hände voll von Zärtlichkeit und gab sie jedem, den er gerade traf. Während sie auftrug, sah er sie an und freute sich, wenn sie rot wurde. Hinter der Portiere zum Salon haschte er im Vorübergehen nach ihrer Hand, die sie ihm entzog. Schließlich verstanden sie einander doch. In ihren Augen war Erik Gyldendal ein gnädiger Herr, beinahe ein Herrgott. An einem Sonntagnachmittag – es war Besuch da – küßte er die kleine Slowakin.

»Hör zu«, flüsterte Erik, »heute abend komm' ich zu dir. Marie hat Ausgang, sie ist nie vor elf Uhr zurück ... Nicht wahr? Laß die Tür offen!«

»Aber gnädiger Herr ...«

Er sah sie an; sie zitterte und schwieg; dann besann sie sich und rannte in die Küche, um den Tee nicht zu lange kochen zu lassen. Das Dienstmädchen hatte den Sieg über das Weib in ihr errungen; aber abends in der Freude, in der Angst, in der stummen Erwartung, da war sie es wieder, war es vielleicht nie früher, nie später so wie an diesem Tag.

Erik war den ganzen Nachmittag über sehr nervös, aber seine Tante und die hübsche, rothaarige Kusine fanden ihn geistreich. Sein Herz klopfte; aber er bezwang sich und sprach von dem Gymnasium und von tausend Nebensächlichkeiten. Dann zählte er die Stunden, lief in seinem Zimmer hin und her, denn solange er sich bewegte, fühlte er nicht das bösartige Pochen des Herzens. Um halb elf zog er die Schuhe aus und schlich sich zu dem Dienstbotenzimmer; er öffnete die Tür, sah Bronislawa im Schein einer kleinen Petroleumlampe in ihrem Bett, die beiden Hände vor dem Gesicht gefaltet. Unter dem Polster lagen zwei Orangen, Geschenke der Schwester, die damit im fünften Bezirk hausieren ging.

Erik stand beim Bett. Mit gierigen, brutalen Händen riß er die Decke von dem Körper der Schlafenden. Die Slowakin erwachte, erkannte Erik anfangs nicht – dann schlug sie um sich und kratzte ihn mit ihren schwarzen Nägeln, mit den Nägeln ihrer abgearbeiteten Dienstbotenhand ins Gesicht. Er packte sie an den Handgelenken, es entspann sich ein Kampf zwischen ihnen, eine abstoßende und lächerliche Szene, stumm, ohne Worte, in dem Halbdunkel des Dienstbotenzimmers der Slowakin. Sie war stärker als Erik. Sie würgte ihn an seinem Halskragen, und er mußte sie loslassen. Tiefatmend standen sie einander gegenüber.

Da wandte sich das Mädchen zur Wand, begann tief zu schluchzen in ihrer Hilflosigkeit, in ihrer Sehnsucht nach ein bißchen Liebe, nach einem guten Wort ... sie weinte, wie jede Frau, die getröstet werden will.

Eine rotgemusterte Bettdecke war zur Erde gefallen; Erik sah Bronislawas jungen, schönen Körper unter dem kurzen Hemd – alle Konturen, die etwas gelbliche Farbe ihrer Haut – die braunen Flecken über beiden Knien und die grün und rot geringelten alten Strümpfe an ihren Füßen.

Wie schmutzig sie sind, dachte er; er war voll von Ekel und körperlichem Widerwillen. Ohne ein Wort zu sagen, ging er fort und ließ sie weinen, schluchzend, stoßweise weinen. Er schlich sich fort, leise, auf den Zehen, und war überzeugt, daß niemand davon wüßte.

Bronislawa Novacek weinte die ganze Nacht hindurch und kündigte am nächsten Tage den Dienst.

In dieser Zeit begann Erik Gyldendal schlecht zu schlafen – und diese Nacht war die erste schlaflose in seinem Leben. Er legte sich sofort zu Bett, starrte mit offenen Augen zur Decke, überlegte alles noch einmal, sah wieder die schmutzigen Füße des siebzehnjährigen Bauernmädchens vor sich. Als die Uhr zum zweitenmal schlug, dachte er: Es ist halb zwölf, und ich schlafe noch nicht? Aber er schlief auch um halb eins nicht. Er bereute jetzt seine Härte, seine Kälte – dachte daran, nochmals in das Dienstbotenzimmer zu gehen und die Wangen der Slowakin zu streicheln, die ihm zuliebe die Tür offengelassen hatte, wartend im Lichte der kleinen Petroleumlampe, bis er käme. Und inzwischen war sie eingeschlafen, er beneidete sie mit ganzer Seele um diesen Schlaf, er beneidete alle Welt um den Schlaf, er geriet in eine fürchterliche Wut darüber, daß alle andern ausruhen sollten, nur er allein nicht. Er wollte auf einem Klavier mit beiden Fäusten darauflosdonnern, keiner sollte schlafen, wenn er selbst nicht schlief.

Er stand auf, ging ans Fenster und sah lange in die blinkende, tiefe, gleichsam gelähmte Sommernacht hinaus – so lange, bis es dämmerte und Tag wurde. Er hatte später noch ein paar schlaflose Nächte, war dann bei Tage gereizt, unruhig und konnte nicht arbeiten. Zu dieser Zeit begann die Wissenschaft in seinem Leben eine Rolle zu spielen. Eine ungeheure Welt tat sich ihm auf, die erobert sein wollte, die alle Kräfte verlangte, Energie, Klarheit, Tiefe und so zwang er sich mit einer unerhörten Anstrengung zur Arbeit. Es gelang ihm. Er studierte durch sechs Jahre fast täglich bis tief in die Nacht hinein, experimentierte, machte Reisen nach Paris zu Curie, nach Berlin, zu Sabouraud in Lyon, nach London zu Rutherford, nach Würzburg zu Röntgen. In sein Abteil erster Klasse nahm er seine wissenschaftlichen Zeitschriften und Bücher mit; er lief der mit kolossalen Schritten voraneilenden Wissenschaft nach und bekam einen Vorsprung vor all den andern. Er fand Neues, begriff alles bisher Gefundene, er lebte nur seiner Wissenschaft und ging ganz in ihr auf. Er hütete sich vor allen fremden Eindrücken, er fürchtete die Erotik, er vermied jede starke Aufregung, jedes Mitleid, jede Mitfreude.

Da wurden seine Nerven ruhig, gehorsam, untertänig wie Haustiere. Er schlief Nacht für Nacht tief und mühelos, er hielt die Überanstrengung seiner geistigen Tätigkeit leicht aus. Er fühlte sich durchaus gesund. Aber Dina hatte recht. Er war der Mensch, der aus seinem Innern alle Gemeinsamkeitsgefühle und Interessen ausgepumpt hatte, wie die Quecksilberluftpumpe und der elektrische Motor alle Luft aus der Röntgenröhre pumpt. Er war Egoist durch Anlage und durch Entwicklung.

Die junge Russin kam; er traf sie bei der Kirche »Maria am Gestade«, sie gingen Hand in Hand spazieren – sie erzählte ihm alle möglichen Dummheiten, einmal war sie in die Universität gegangen und hatte die erste beste Tür geöffnet (genau so, wie sie es bei Doktor Erik Gyldendal getan hatte). Da war ein alter Professor, der vor drei Studenten orientalische Sprachen vortrug. Sie war die vierte. Eine Stunde lang mußte sie nun dasitzen und hören, welche Differenzen die einzelnen persischen Dialekte untereinander aufwiesen; dabei verfolgten sie die verwunderten und erfreuten Augen des alten Gelehrten. Ein andermal kam sie zu einem Germanisten, der von Richard Wagner und seinen Schlafröcken aus rotem Samt erzählte. »Und wenn er tausend Ellen roten Samt für seine weihevollen Kleider braucht, die deutsche Nation bewilligt sie ihm, wenn er eine ›Götterdämmerung‹ schreibt«, diktierte der Germanist. Ja, das war amüsant.

»Auf Abenteuer ausgehen«, nannte sie das, sie lief überall umher, staunte, freute sich wie ein Kind, wie ein Barbar über alles mögliche, das ihr auffiel. Sie kannte Wien sehr gut, viel besser als Gyldendal. Ihre Eltern wohnten in London. Sie hatte ein großes Vermögen, lebte aber sparsam, weil sie von nichts wußte, das sie sich hätte kaufen sollen.

An einem Regentage gingen sie in das Laboratorium in Gyldendals Wohnung. Er zeigte ihr alle Apparate; aber es machte wenig Eindruck auf sie.

Sie waren einander schon zu nahe, als daß irgend etwas Fremdes, Unpersönliches ihr Interesse hätte wecken können.

Sie schwiegen beide. Eine schwüle, bedrückende Wolke wuchs aus diesem Schweigen empor. Sie verabredeten einen Ausflug für den nächsten Tag. Sie trafen sich dann um sieben Uhr früh bei der Haltestelle der Stadtbahn »Nußdorfer Straße«. Dina, in einen grauen, englischen Paletot gehüllt, erwartete Erik.

Sie nahmen eine Karte nach Hadersdorf-Weidlingau. »Können Sie sich vorstellen, daß wir jetzt nach Paris fahren?« sagte sie. »Oder nach den Kanarischen Inseln ... und nie wiederkommen, hören Sie, nie!« Er antwortete nicht.

»Woran denkt der Herr Dozent?« fragte sie.

»Ach, Fräulein Ossonskaja«, meinte er, »fragen Sie mich nicht! Ich würde Sie ja doch nur langweilen.«

»Wie Sie wollen«, sagte sie kurz.

Sie stiegen in Hütteldorf um; der Einhalbacht-Uhr-Schnellzug nach München und Paris kam eben heran, hielt, glitt leise wieder vorbei.

»Morgen um sechs Uhr früh ist er an der gare de l'Est«, sagte er und sah nach der Uhr.

Sie schwieg. Erst in Hadersdorf, einem ganz kleinen Villenort, mitten in dem herbstlich verlassenen Wald, begann sie zu reden.

»Eigentlich ist es eine Grausamkeit, daß Sie die armen Tiere, die unschuldig gequälten Kreaturen martern!«

Sie meinte die drei Meerschweinchen, die Gyldendal täglich eine Stunde lang mit Röntgenröhren bestrahlte.

»Nennen Sie das grausam? Die Tiere spüren ja nichts.«

»Woher wissen Sie das?« sagte sie eigensinnig.

»Haben Sie denn nicht gesehen, daß sie ruhig ihren Kohl und Hafer fressen, auch wenn die Röhre geht?« antwortete er.

»Sie wissen ja immer alles besser«, sagte sie trotzig.

»Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte er aufgebracht.

»Vielleicht fürchten sich die Meerschweinchen doch vor dem blitzenden Licht?« fragte sie schüchtern. Erik zuckte die Achseln. Er lächelte leise; und in diesem Lächeln war etwas, das sie erschreckte und zugleich beglückte.

Ob er sie liebte? Vielleicht ja, vielleicht nein. Und doch war sie die erste Frau, die seinem Wesen nähergekommen war.

In einem kleinen Tal, zwischen entlaubten Birken und regenfeuchten Kiefern, war ein dürftiges Kaffeehaus »Zum Sillertal«.

Sie gingen hinein, riefen endlos lange, bis eine verschlafene Kellnerin kam. Sie bestellten: für Dina Tee, für Gyldendal ein Glas Wein.

Inzwischen standen sie vor dem Fenster.

Draußen schichtete ein alter Mann mit einem Rechen feuchtes, purpurnes, safrangelbes, goldbraunes Laub zusammen. Irgendein Vogel schrie durch das Schweigen, durch den Nebel, der langsam vom Boden aufstieg, seinen melancholischen Schrei. Ohne daß sie es wollten, fanden sich ihre Blicke. Sie sahen sogleich wieder fort. Gyldendals Herz begann zu klopfen, wie es nicht geklopft hatte seit dem Tage, an dem er die arme Bronislawa Novacek in ihrem Zimmer hatte küssen wollen. Von einer unnennbaren Kraft getrieben, legte er seinen Arm um Dinas bloßen Nacken. Sie machte sich wild los. Rot, zitternd, aufgewühlt. Gyldendal biß die Zähne zusammen, wandte sich ab.

Da warf sich Dina Ossenskaja an seine Brust und küßte seinen Mund. Erik hielt sie fest und streichelte langsam ihr Haar, ihr dunkles, weiches, feingesträhntes Haar. Er hielt sie an sich gepreßt, selbst dann noch, als das Mädchen mit dem Frühstück gekommen und der alte Mann im Vorgarten draußen verschwunden war.

»Sag', Erik, hast du mich lieb?«

»Ja«, flüsterte er.

»Sag's noch einmal, es ist so süß, das Wort zu hören«, sagte sie.

»Das Wort?«

»Hast du mich lieb? Wirklich lieb?«

»Ja –«, sagte er und log; er wußte, daß er sie nicht liebte. Seitdem sie ihn geküßt hatte, wußte er es.

Sie strahlte vor Glück und ließ seinen Arm an diesem Vormittag nicht mehr los. Sie lehrte ihn russische Kosenamen und lachte, wenn er sie nicht aussprechen konnte. Er küßte sie, und sie erwiderte seine Küsse. Er fühlte seine Sinne aufgeregt, aber sein Herz blieb kühl. Er dachte daran, sich loszumachen, und konnte die Worte nicht finden. Die Szene im Sillertal erschien ihm sentimental und geschmacklos, und doch war sie eine der schönsten seines Lebens.

Aber die Güte andrer machte ihn nicht gut. Dinas Glück machte ihn nicht glücklich. Dinas Instinkt hatte – wie der Instinkt jeder Frau – recht: Er kannte keine Gemeinsamkeit, weder in der Seligkeit noch im Schmerz. Er war ein leerer Raum, luftleere Seele, umhüllt von einem gläsernen Mantel, den nichts durchdringen konnte und der selbst alles durchdrang.

Aber Dina selbst wußte es nicht mehr.

Sie liebte ihn mit der ganzen ungebrochenen, ja barbarischen Gewalt einer ersten Liebe.


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